SCHWERPUNKT chrIstIAn Breme Joseph AschwAnDen BezIehungspäDAgogIk eIne erzIehung zur BezIehungs- fähIgkeIt In den vergangenen Jahren konstatieren Ärzte, Psychologen und Pädagogen übereinstimmend eine markante Zunahme von Situationen, in denen eine weitgehende Unfähigkeit, soziale Beziehungen aufzunehmen, vorliegt und auf das Ganze gesehen eine abnehmende Bereitschaft, länger anhaltende soziale Beziehungen und Partnerschaften einzugehen. In den Medien wird immer wieder die Frage gestellt: Gehen wir auf eine Single-Gesellschaft zu, in der jeder seine eigenen Bedürfnisse optimal organisiert und soziale Verantwortung so weit es geht meidet? Als Pädagogen und Erzieher müssen wir fragen: Welchen Raum hätten Kinder in einer solchen Gesellschaft, Kinder, die das Soziale nur im sozialen Zusammenhang lernen können und die in ihren frühen Beziehungen die Basis für spätere, emotional sichere Partnerschaften und wiederum für die Erziehungsverhältnisse der Zukunft bilden? CHRISTIAN BREME Studium der Architektur, Bildhauerei und Pädagogik, 12 Jahre Klassenlehrer an der Waldorfschule Bonn, seit 1989 Werk- und Kunstlehrer an der Rudolf Steiner Schule Basel, Veröffentlichungen über plastisch erarbeitete Embryologie. Seit 3 Jahren Beratungen von Rudolf Steiner Schulen im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft. Thema: Konzeption und Methodik eines Beziehungskundeunterrichts JOSEPH ASCHWANDEN ist Oberstufenlehrer an der Rudolf Steiner Schule Solothurn, war 9 Jahre Klassenlehrer und ist seit 10 Jahren in den Klassen 9/10 tätig. Vorher langjährige Tätigkeit als Heilpädagoge. Braucht es heute eine Erziehung zur Beziehungsfähigkeit? Wenn ja, welche Leitideen können in Elternhaus und Schule unser Handeln bestimmen? Die Metamorphose denken lernen Die Wurzeln der Beziehungsfähigkeit liegen eindeutig im 1. Jahrsiebt. Sie zu erkennen, ist nicht ganz einfach. Wollen wir bei der Grundlegung dieser kostbarsten Fähigkeit helfen, ihre Entwicklung begleiten, so müssen wir erstaunliche Metamorphosen denken lernen: Ein zartes Mädchen, das ohne Geschwister aufwächst, steht im Kindergarten aus Angst vor den groben Buben immer abseits. Zu Hause aber spielt es phantasievoll und ausdauernd. Wird es ein ängstlicher, zurückgezogener Mensch werden? Als Jugendliche finden wir sie wieder in der Jugendarbeit. Wenige Jahre später als Organisatorin von Jugendtreffen und Sozialeinsätzen in Entwicklungsländern. Ein Junge sitzt über lange Zeit beim Freispiel in den höchsten Ästen eines Baumes und schaut hinunter auf die spielenden Kameraden. Bleibt er ein Einzelänger? In der Schulzeit ist er plötzlich der Mittelpunkt eines Freundeskreises, den er zusammenhält. Im Sozialen und Beruflichen zeigt er später grosse Liebefähigkeit und Verantwortung. Wir dürfen bei der Grundlegung sozialer Fähigkeiten nicht (nur) darauf schauen, ob das Kind die Spielregeln des Sozialen schon beherrscht, ob es mit anderen gleichberechtigt kommuniziert und die Mitte findet zwischen dem «den eigenen Willen durchsetzen» und dem «zurückstehen, den anderen zum Zug kommen lassen, ihm helfen». Die Sache ist viel komplizierter und lässt sich nicht hochrechnen. Gäbe es eine Botschaft, ein Handbuch für die Kinder im ersten Jahrsiebt mit dem Titel: «Wie bekomme ich soziale Fähigkeiten?» – ich denke an ein Buch, das mit der Geburt beginnt – so hiesse die erste Lektion: 1. «Versuche als Erstes deinen Leib zu ergreifen, in ihm zu wohnen. Versuche, dich selbst in einem dich ganz umfassenden liebevollen «Gespräch» mit der Umgebung zu empfinden. Das kannst du am Besten in der Berührung mit der Mutter!» Liebe erfährt der Mensch zuerst über die Haut, durch den Tastsinn. Da kann er leiblich eine Verbundenheit mit der Welt erleben, die später einmal als seelische Liebefähigkeit und Verantwortung in Beziehungen zu den Mitmenschen erscheinen wird. 2. «Versuche dich in dir wohl zu fühlen und das in dir auftauchende Unwohlsein zu ertragen. Versuche dich ganz zu spüren, denn diese Wahrnehmung gibt dir Heimat im Leib. Das ist ein Gefühl, das du später als seelische Selbständigkeit wieder finden wirst. Du wirst in dir ruhen können. Das ist eine Ausgangslage, ohne die soziale Beziehungen nicht in Freiheit begründet werden können.» Wir dürfen von der Entfaltung und Entwicklung eines gesunden Lebenssinnes sprechen. 3. «Versuche deinen Bewegungssinn durch Tanzen und Springen, Klettern und Schaukeln zu entwickeln. Gelingt dir das, so wirst du später eine Beweglichkeit und Geschmeidigkeit in der Gestaltung von Beziehungen zeigen können, weil du ein innerlich reger Mensch werden wirst.» 4. «Versuche einen Gleichgewichtssinn zu entwickeln. Balanciere über Mauern und Baumstämme. Es wird dich später seelisch im Gleichgewicht halten. Du wirst als ein Ich der Meister sein in deinem Leib und nicht ein Mensch werden, der allen auftauchenden Neigungen und Begierden gleich folgen muss.» Der Gleichgewichtssinn stärkt die Souveränität der Seele gegenüber dem Leib. Auch das ist eine Grundbedingung des sozialen Lebens.» Wie würde für Eltern und Kindergärtnerinnen dieselbe Botschaft heissen? «Willst du ein beziehungsfähiges Kind, so unterstütze es bei den geschilderten Aufgaben. Schenke ihm eine Umgebung, die ihm Schutz, Hülle und reiche Sinneserfahrungen gibt. Du weißt: Durch die Nachahmung verwurzeln sich die Kinder in der Welt. Gestalte Deine Beziehungen zum Kind – aber auch zu anderen Erwachsenen – so, dass sie nachahmenswert sind.» Das ist ein Ideal, das wir heute kaum erfüllen können. Aber die Richtung zu wissen ist wichtig. Ertragen des Mangels Ganz entscheidend sind in unserem Zusammenhang zwei Fähigkeiten, die gelernt werden müssen: das Ertragen des Mangels und das Kultivieren des Genusses. Es müssen Zeiten der Schlichtheit und der Entbehrung da sein, um den Reichtum der Feste erleben und geniessen zu können. Beide Erlebnisse zusammen geben erst ein Wahrbild des späteren «wIllst Du eIn BezIehungsfähIges kInD, so schenke Ihm eIne umgeBung, DIe Ihm schutz, hülle unD reIche sInneserfAhrungen gIBt. gestAlte DeIne BezIehungen zum kInD – ABer Auch zu AnDeren erwAchsenen – so, DAss sIe nAchAhmenswert sInD.» Lebens in Beziehungen. Das Schlimmste, was wir in dieser Richtung tun können, ist die sofortige Befriedigung aller auftauchenden Bedürfnisse des Kindes. Es bildet Gewohnheiten und lebensfremde Erwartungen, in denen ein Scheitern von sozialen Beziehungen programmiert ist. Doktorspiele Ich möchte ein drittes Kind erwähnen. Ein Junge, der immer mitten in einer Schar von Kindern zu finden war, beteiligte sich interessiert an den Doktorspielen in der Scheune. Die Erwachsenen machten sich wie immer Sorgen: Kommen die Kinder auf Abwege, nehmen sie nicht Schaden? Der besagte Junge wird später Autor ergreifender Bücher. Er beschreibt mit grösster Sensibilität die Entwicklung seiner Beziehungsfähigkeit und schaut dabei dankbar auf diese Erlebnisse in der Scheune zurück. Es ist Jaques Luceyran.* Wir müssen hier auf eine allgemeine, sehr berechtigte Sorge zu sprechen kommen, eine Sorge, die im Zusammenhang mit der Erkenntnis der Häufigkeit und der fatalen Folgen des Missbrauchs an Kindern rapide gewachsen ist. Die von Politikern beauftragten Expertenkomissionen** fordern in diesen Tagen den obligatorischen Schritt der Gewaltprävention und der Sexualaufklärung von der Schule in den Kindergarten. Das Motiv ist verständlich. Doch wo dies nicht mit der grössten Sorgfalt geschieht, können verheerende Begleitschäden entstehen, die man noch nicht ganz im Auge hat. Wie wollen wir die Problematik anfassen? Können die Rudolf Steiner Schulen sich mit ihren Kompetenzen der ge- steigerten Entwicklungswahrnehmung als Stimme in diesen gesellschaftlichen Vorgang einbringen? Wer jüngere Kinder vor Gefahren und Übergriffen in ihrer näheren oder weiteren Umgebung bewahren will, wird mit der schützenden Gebärde allein nicht auskommen. Er wird in dem Masse, in dem er das Kind frei lassen möchte, in dem er es grössere Wege allein gehen lassen möchte, in dem er es einen nächsten Schritt in die Selbständigkeit entlassen möchte, auf Gefahren aufmerksam machen und seine innere Wehrhaftigkeit zu stärken versuchen. Wie schult man das Selbstvertrauen, den Mut, in die Welt hinauszugehen und zugleich die Sensibilität für die Gefahr? Wie stärkt man, die Hilfsbereitschaft, die Offenheit dem anderen gegenüber und im selben Moment den berechtigten Argwohn und die Kraft für die Verweigerung, für das «Nein- Sagen? Wir stecken in einem Dilemma: Träumenlassen und Gefahren in Kauf nehmen oder aufwecken und ein (weiteres) Stück Kindheit verlieren? Wehrhaftigkeit und Du-Pol Alle mir bekannten und den Schulen angebotenen Präventionsmassnahmen zielen auf ein immer früheres Erwachen des Selbstbewusstseins. Sie wecken die Kinder für Konflikte und Gefahren, die in Menschenbegegnungen liegen können. Manche trainieren schon mit 2. Klassen spielerisch den Ernstfall, das Verhüten beim Geschlechtsverkehr, das Verhalten bei und nach einem Übergriff. Sie wissen, die offene, allem hingegebene Seele des Kindes ist das Einfallstor des Übergriffs. Die Präventionsmassnahmen lösen diese an sich ge- 4 Der <strong>Schulkreis</strong> 4/09 Der <strong>Schulkreis</strong> 4/09 5 SCHWERPUNKT