Vor 60 Jahren - Landsmannschaft der Deutschen aus Russland eV
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--.,---<br />
W ALDEMAR SCHWlNDT, VIKTOR SCHÄFER, EDUARD STEPHAN ("SCHWISCHASTE":<br />
<strong>Vor</strong> <strong>60</strong> <strong>Jahren</strong><br />
D ie drei Verfasser dieses Beitrages haben<br />
Waldemar Schwindt<br />
als Vermächtnis ihres Landsmannes Kle-<br />
wurde arn 6.8.1948 in Kedmens<br />
Schäfer (24.11.1924 -20.5.2001)<br />
einen Teil <strong>der</strong> Flucht russlanddeutscher Kolonisten<br />
während des Zweiten Weltkrieges <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
entrissen. Sie haben in Wort und Bild<br />
auf über 400 Seiten den Exodus <strong>der</strong> russlanddeutschen<br />
Kolonisten so dargestellt, wie sie ihn<br />
anhand von Gesprächen mit Vertrete1'n <strong>der</strong> Erlebnisgeneration<br />
zurückverfolgen und durch einschlägiges<br />
Material <strong>aus</strong> unseren Heimatbüchern,<br />
rowka,Burjato-Mongolische ASSR, dem Verbannungsort<br />
seiner wolgadeutschen<br />
Eltern geboren. Er<br />
arbeitete als Schweißer sowie<br />
als Turn- und Sportlehrer<br />
in Estland, dann in<br />
Frunse. Setzte sich sowoW<br />
vor als auch nach seiner Ausreise nach<br />
DeutscWand arn 7.7.1975 aktiv fiir die Rechte<br />
<strong>der</strong> landsmannschaftlichen Monatsschrift "Volk <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> in <strong>der</strong> UdSSR ein.<br />
auf dem Weg" und dem Buch "Entstehung, Ent-<br />
Viktor Schäfer<br />
wicklung und Auflösung <strong>der</strong> deutschen Kolonien<br />
wurde arn 23.5.1938 m<br />
am Schwarzen Meer" von Anton Bosch und Joseph<br />
Lingor vervollständigen konnten.<br />
Eine große Rolle spielten auch Skizzen, Privatsammlungen<br />
und Erinnerungen von Klemens<br />
Schäfer, Johann Dauenhauer, Eduard Stephan<br />
und Katharina Schäfer, geb. Groß (1896-1991).<br />
Der Gesamttext beschäftigt sich in wesentlichen<br />
Friedenheim bei Landau<br />
(Odessa) geboren, 1944 in<br />
den Wartgegau umgesiedelt<br />
und 1945 wie<strong>der</strong> zurück in<br />
die UdSSR verschleppt.<br />
Nach unterschiedlichen Tätigkeiten<br />
siedelter er im<br />
Dezember 1977 nach<br />
Teilen mit den Gebieten auf dem Balkan, durch Deutschland <strong>aus</strong>, wo er bis zu seinem Ruhe-<br />
die <strong>der</strong> 7. Treck (<strong>der</strong> "Große Treck') 1944 führstand 1995 arbeitete und sich bis zum heutigen<br />
te. Jahrzehnte später hat <strong>der</strong> <strong>Russland</strong>deutsche Tag fiir seine Volksgruppe engagiert.<br />
Viktor Schäfer mit seiner rumänischen Ehefrau<br />
Rodica Schäfer diese Gebiete noch einmal mehrmals<br />
aufgesucht und sie auf zahlreichen Fotos<br />
festgehalten.<br />
Das Heimatbuch 2004 kann lei<strong>der</strong> nur einen<br />
kleinen Teil des reichhaltigen Materials <strong>der</strong> Autoren<br />
veröffentlichen und beschränkt sich dabei<br />
vornehmlich auf die Darstellungen von Waldemar<br />
Schwindt, Viktor Schäfer und Eduard Ste- -tätig.<br />
Eduard Stephan<br />
wurde arn 8.2.1931 m Peterstal,<br />
Odessa, geboren,<br />
1944 ins Deutsche Reich<br />
umgesiedelt und 1945 nach<br />
Kasachstan verscWeppt.<br />
War bis zu seiner Aussiedlung<br />
1979 als Bautechniker,<br />
TiscWer und Zimmerer<br />
Interessiert sich bephan.son<strong>der</strong>s<br />
fiir Geschichte. Rentner seit 1994.<br />
I.<br />
ten Vergeltungs schlag gegen die <strong>Deutschen</strong> ein,<br />
die er in seiner Gewalt hatte: die <strong>Russland</strong>deut-<br />
Am 22. Juni 1941 überfiel die Kriegsmaschinerie schen. Das wissen die wenigsten <strong>Deutschen</strong>.<br />
des nationalsozialistischen Führers Hitler die So- Diese provokative Behauptung stellen wir an den<br />
wjetunion. Das wissen die meisten <strong>Deutschen</strong>. Anfang unserer Schil<strong>der</strong>ung über den Auszug<br />
Bald darauf leitete Sowjetruhrer Stalin den letz- unserer Landsleute vom Schwarzen Meer vor <strong>60</strong><br />
6
<strong>Jahren</strong>. Dieser Flucht waren bereits Dezimierun- <strong>Russland</strong>s <strong>aus</strong>zumachen sein dürfte. Deutsche,<br />
gen und Liquidierungen <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> in Russ- die östlich dieser Linie lebten, blieben unter Staland<br />
vor dem Krieg und schlimmste sowjetische lins Knute, während diejenigen, die im Westen<br />
Maßnahmen gegen sie in den Kriegsjahren vor- <strong>Russland</strong>s unter Hitlers Einflussbereich gerieten,<br />
<strong>aus</strong>gegangen. Auf die Beschreib\mg des Terrors zuerst dem "Führer" gehorchen mussten und<br />
<strong>der</strong> 30er Jahre und die "Trudarmee" danach wol- nach Kriegsende von Stalin für alles, was in<br />
len wir verzichten. Darüber wird an an<strong>der</strong>er Stel- deutschem Namen geschehen war, zur Rechenle<br />
in diesem Heimatbuch geschrieben. Kurz sei schaft gezogen wurden.<br />
aber an die wichtigsten Etappen <strong>der</strong> Deportation, Wie es ihren Landsleuten auf <strong>der</strong> jeweils an<strong>der</strong>en<br />
Vertreibung und Flucht erinnert.<br />
Seite <strong>der</strong> Frontlinie erging, konnten die Russ-<br />
11.<br />
landdeutschen nur ahnen. Um die Wahrheit her<strong>aus</strong>zufinden,<br />
genügte es nicht, einfach das Gegenteil<br />
dessen zu glauben, was Sowjets bzw. Na-<br />
Schon im Juli 1941 wurden etwa 100.000 Deutzis berichteten. Dafür waren die Propagandisten<br />
sche, überwiegend <strong>aus</strong> den ukrainischen Gebie- um Joseph Goebbels o<strong>der</strong> Ilja Ehrenburg viel zu<br />
ten östlich des Dnjeprs, in den Ural, nach Ka- gerissen. Die meisten <strong>Russland</strong>deutschen im<br />
sachstan, Kirgisien und Tadschikistan "umgesie- Westen <strong>der</strong> Union trauten dem Frieden jedoch<br />
delt". Am 10. Juli 1941 begann die Deportation nicht und nahmen jede Gelegenheit wahr, sich<br />
<strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> auf <strong>der</strong> Krim.<br />
möglichst weit vom "großen Bru<strong>der</strong>" zu entfer-<br />
Am 28. August 1941 verkündete <strong>der</strong> Oberste Sonen. Diesen Wunsch hatten sie bereits vor<br />
wjet die Umsiedlung aller <strong>Deutschen</strong> <strong>der</strong> Wolga- Kriegsbeginn im Stillen gehegt. Die Parole<br />
regionen in den asiatischen Teil dei UdSSR. Die "Heim ins Reich" <strong>aus</strong> Bessarabien, Wolhynien,<br />
ASSR <strong>der</strong> Wolgadeutschen als größtes zusam- <strong>der</strong> Bukowina und dem Baltikum war ihnen trotz<br />
menhängendes Gebiet <strong>der</strong> <strong>Russland</strong>deutschenstrenger<br />
Verbote, Auslandssen<strong>der</strong> zu hören, nicht<br />
wUrde aufgelöst, wie wir heute wissen, für immer.<br />
verborgen geblieben.<br />
Als sich im Zuge <strong>der</strong> Kriegshandlungen die ers-<br />
Deportiert wurden aber auch alle an<strong>der</strong>en Deutten Möglichkeiten und Notwendigkeiten ergasc~en<br />
<strong>aus</strong> dem europäischen Teil <strong>der</strong> Sowjetuniben, nach dem Westen zu ziehen, folgten sie den<br />
on in den asiatischen, sofern das nicht wegen <strong>der</strong> Appellen <strong>aus</strong> Berlin zur Umsiedlung in den War-<br />
deutschen Besatzung o<strong>der</strong> Einkesselungen zuthegau mit gemischten Gefühlen, aber in <strong>der</strong><br />
nächst unmöglich war, was für die <strong>Deutschen</strong> <strong>aus</strong> richtigen Einschätzung, keine an<strong>der</strong>e Wahl zu<br />
dem Kaukasus, <strong>aus</strong> Leningrad und Zentralruss- haben.<br />
land galt.<br />
Die Richtigkeit dieser These haben die Deporta-<br />
Als Maßregelung muss man auch die Entfernung tion <strong>der</strong> Wolgadeutschen 1941 und die Ver-<br />
von russlanddeutschen Soldaten und Offizieren schleppung<strong>der</strong> Schwarzmeerdeutschen 1945 be<strong>aus</strong><br />
<strong>der</strong> Roten Armee und <strong>der</strong>en Abkommandie- WIesen.<br />
rung in die Trudarmee ansehen, <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Zehnt<strong>aus</strong>ende<br />
<strong>Russland</strong>deutsche todkrank ö<strong>der</strong> überhaupt<br />
nicht mehr zurückkehrten.<br />
IV.<br />
Von <strong>der</strong> ersten Umsiedlungsaktion waren 3.800<br />
1lI.<br />
Deutsche im Gebiet Leningrad betroffen. Sie<br />
wurden bei Lublin in Polen angesiedelt o<strong>der</strong> ka-<br />
Durch den: Krieg zwischen Deutschland und men zum Arbeitseinsatz ins Deutsche Reich. Zu<br />
<strong>Russland</strong> wurde unsere Volksgruppe in zwei Tei- diesen Umsiedlem gesellten sich noch etwa<br />
le <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong>gerissen, <strong>der</strong>en grobe Trennungsli- 1.000 Deutsche <strong>aus</strong> Kriegsgefangenenlagern<br />
nie im Juli 1941 am besten mit dem Lauf des o<strong>der</strong> weißrussischen Städten. Diese Transporte<br />
Dnjepr und einer gedachten Linie von seiner setzten Anfang 1942 ein. Das war <strong>der</strong> erste<br />
Mündung bis in den Norden des europäischen Treck.<br />
8
Der zweite Treck fand ein Jahr später statt und zum Warthegau wird aber immer unvollständig<br />
betraf etwa 10.000 Deutsche <strong>aus</strong> dem Gebiet <strong>der</strong> bleiben. Es sollte jedoch je<strong>der</strong> wissen, dass die-<br />
so genannten Heeresgruppe Mitte und <strong>aus</strong> Weißser "große Treck" nichts an<strong>der</strong>es war als eine<br />
russland. Diese <strong>Deutschen</strong> wurden in den War- Flucht, bei <strong>der</strong> es um Leben o<strong>der</strong> Tod ging.<br />
thegau im heutigen Polen und damaligen Deut- Die kleine Auswahl persönlicher Berichte von<br />
schen Reich ("Großdeutschland") umgesiedelt. Flüchtlingen in diesem Heimatbuch möge dazu<br />
Vom dritten Treck wurden die verbliebenen beitragen, eine von <strong>der</strong> Welt kaum wahrgenom-<br />
<strong>Deutschen</strong> <strong>aus</strong> dem Nordkaukasus, <strong>der</strong> Kalmümene Seite unserer Geschichte aufzuarbeiten.<br />
ckensteppe und <strong>der</strong> östlichen Ukraine erfasst. Es<br />
handelte sich um 11.800 Flüchtlinge, die von <strong>der</strong><br />
Deportation nach Sibirien verschont geblieben<br />
v.<br />
waren. Ihre Umsiedlung erfolgte im Februar Die Evakuierung <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>aus</strong> Transnistri-<br />
1943, ebenfalls in den Warthegau.<br />
en wurde von <strong>der</strong> so genannten "Volksdeutschen<br />
Der vierte Treck erfasste 72.000 Deutsche <strong>der</strong> Mittelsteile" ("Vomi"), die seit 1943 ihren Sitz in<br />
Städte Cherson, Nikolajew, Nikopol, Kiew, Odessa hatte, geleitet.<br />
Charkow, Kriwoj-Rog, Melitopol, Mariupol,<br />
Dnjepropetrowsk, Kirowograd und Saporoshje<br />
Geplant waren zwei Trassen:<br />
sowie die verbliebenen Krimdeutschen. Auch 1. Der Nordtreck. Die <strong>Deutschen</strong><br />
diese Umsiedler kamen in den Warthegau. Der<br />
Transport vollzog sich von September 1943 bis<br />
<strong>der</strong> Beresaner und Glückstaler Kolonien.<br />
März 1944 unter witterungsbedingten schlimmen Unter <strong>der</strong> Oberleitung eines SS-Führers im<br />
Umständen, worüber in unseren Heimatbüchem Hauptmannsrang sollte <strong>der</strong> Nordtreck mit 72.000<br />
bereits wie<strong>der</strong>holt berichtet wurde.<br />
Personen, 39.000 Pferden und einer großen Men-<br />
Der fünfte Treck betraf 73.000 Schwarzrneerge Viehs nordwärts nach Falciu zur Pruthbrücke<br />
deutsche und dauerte von August 1943 bis Mai ziehen und dort übergesetzt werden. Der Treck<br />
1944. Auch diese Menschen wurden in den War- setzte sich am 16. April 1944 in Bewegung, änthegau<br />
geführt.<br />
Der sechste Treck betraf das Gebiet Shitomir.<br />
<strong>der</strong>te aber seine Route und zog in Richtung Kagul.<br />
Wegen <strong>der</strong> nachrückenden Sowjets, <strong>der</strong><br />
44.<strong>60</strong>0 "Ost-Wolhynier" kamen zuerst nach Bia- Bombenangriffe und <strong>der</strong> deutschen Truppenbelystok<br />
und dann in den Warthegau.<br />
wegung waren 1944 Än<strong>der</strong>ungen von Marsch-<br />
Den dramatischsten Verlauf nahm jedoch <strong>der</strong> routen nichts Beson<strong>der</strong>es. Die Fahrzeuge fuhren<br />
siehte Treck. Ihm gilt in erster Linie unsere ständig hin und her, überall gab es Stockungen.<br />
Rückschau auf den folgenden Seiten.<br />
Schließlich zog <strong>der</strong> Treck quer durch Rumänien<br />
Etwa 135.000 Deutsche kehrten bei dieser Akti- zur ungarischen Grenze bei Haja, über den Oion<br />
in ihre geschichtliche Heimat zurück. Die sich tuz-Pass o<strong>der</strong> den Bicaz-Pass nach Dej (Des;<br />
nach Westen verschiebende Frontlinie im Rü- sprich: Desch), wo am 4. Mai die Verladung auf<br />
cken, die überbeanspruchten Verkehrswege, die Eisenbahnwaggons zur Fahrt ins Deutsche Reich<br />
Ungunst des Wetters, die mangelhafte Verpfle- begann. Der Treck stellte ungeheure Anfor<strong>der</strong>ungung<br />
und vieles mehr machten diesen Treck zur gen an Mensch, Tier und Material. Kolonisten,<br />
schlimmsten Flucht <strong>der</strong> <strong>Russland</strong>deutschen, ver- die in ihrer Heimat nur die flache Ebene kennen<br />
gleichbar nur mit den Exzessen bei <strong>der</strong> Deporta- gelernt hatten, mussten plötzlich mit Wagen<br />
tion unserer Landsleute 1941 in die umgekehrte ohne Bremsen mit den Unwegsamkeiten <strong>der</strong> Ber-<br />
Richtung.<br />
ge zurecht kommen. Der gesamte Treck war bis<br />
Am 1. April hatten die letzten Fahrzeuge mit zu 450 km lang. Ein Trost: In Ungarn wurden die<br />
Flüchtlingen den Dnjestr überquert. Was dann Flüchtlinge großzügig von ungarischen Militär-<br />
kam, war und ist Gegenstand zahlreicher BerichsteIlen verpflegt.<br />
te und Bücher. Die Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> unvorstellba- Der größte Teil des Weges des Nordtrecks führte<br />
ren Leiden auf dem Weg vom Schwarzen Meer durch Rumänien. Wichtige Punkte waren: Bilard<br />
Q
VI.<br />
(Barlad), Adjud, Onesti, <strong>der</strong> Oituz-Pass o<strong>der</strong> Ba- Aber die nachrückende Front, die unterschätzten<br />
cau, Piatra-Neramt, <strong>der</strong> Bicaz-Pass, Dej, Gheor- Strapazen auf <strong>der</strong> Fahrt über schlechte Wege und<br />
ghenie. Topliza, Regin.<br />
2. Der Südtreck. Die <strong>Deutschen</strong> <strong>der</strong><br />
Großliebentaler und Kutschurganer Kolonien<br />
sowie die <strong>Deutschen</strong> <strong>aus</strong> Odessa.<br />
Brücken sowie das Wetter brachten alle <strong>Vor</strong>sätze<br />
durcheinan<strong>der</strong>.<br />
Am 13. März 1944, einem Montag, um 3 Uhr<br />
Der Südtreck wurde ebenfalls von einem SS- früh befahl ein Funkspruch <strong>der</strong> "Vomi" <strong>aus</strong><br />
Führer im Rang eines Hauptmanns geleitet und Odessa den Abmarsch. Das bedeutete, dass die<br />
begann am 23. April 1944. Er führte nach <strong>der</strong> Trecks innerhalb weniger Stunden losziehen<br />
Überquerung <strong>der</strong> Donau durch die Dobrudscha. mussten. Schnell wurden die Fuhren irgendwie<br />
Die Donau... Rumänen sagen zu dem zweitgröß- und mit irgendwas bespannt, und ab ging es in<br />
ten Strom Europas "Dunarea", Ungarn "Dunha", die Ungewissheit, zuerst in Richtung Tiraspol.<br />
Jugoslawen und Bulgaren "Dunav", Russen, Die Wagen wurden <strong>aus</strong>schließlich von Frauen<br />
Ukrainer und Slowaken "Dunaj".<br />
und Kin<strong>der</strong>n gefi1hrt. Die Männer waren fort.<br />
Der größte Teil des Südtrecks zog nach Reni Bald saßen viele Gruppen bei kaltem Regen<br />
zum Grenzübergang, überquerte dort den Pruth fest.<br />
mittels einer Pontonbrücke und zog dann nach Am schwersten hatten es die Flüchtlinge <strong>der</strong> Be-<br />
Galati (Galatz) bzw. Braila, um von dort nach resaner Kolonien. Sie lagen dem Bug am nächs-<br />
Überquerung <strong>der</strong> Donau weiter in Richtung Isacten und hatten die wenigste Zeit zum Aufbruch<br />
cea, Tulcea und Cernowoda bis Silistra zu fah- gehabt. Außerdem waren <strong>aus</strong> ihren Dörfern in<br />
ren. Die einzelnen Routen können anband <strong>der</strong> <strong>der</strong> Zeit davor einige hun<strong>der</strong>t Pferdegespanne für<br />
Autbruchberichte unserer Zeitzeugen in diesem den Transport an die Front eingezogen worden.<br />
Bericht genauer verfolgt werden. Vielleicht ent- (S. Bericht von Gertrud Braun auf den nächsten<br />
schließt sich <strong>der</strong> eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Leser auch<br />
dazu, den Weg seiner Eltern und Großeltern nach<br />
Seiten.)<br />
Die Kutschurganer hatten etwas mehr Zeit. Sie<br />
<strong>60</strong> <strong>Jahren</strong> unter günstigeren Umständen nachzu- waren jedoch im Ungewissen, da sie nicht wussvollziehen,<br />
wie dies das Ehepaar Viktor und Roten, wann bei ihnen zum Aufbruch geblasen wurdica<br />
Schäfer vor fünf <strong>Jahren</strong> getan hat.<br />
de. So schlachteten, brieten, backten und packten<br />
Die <strong>Vor</strong>bereitungen des Auszuges wurden in al- sie Tag und Nacht.<br />
ler Stille getroffen, was gar nicht so einfach war,<br />
da <strong>der</strong> Treck nur mit den landesüblichen Pferdegespannen<br />
("Panjewagen") durchgeführt werden<br />
VII.<br />
konnte, wofür Pferde, Wagen und Geschirr be- 16. März 1944. Über den Aujbruch <strong>der</strong> Gemeinnötigt<br />
wurden. Die Dörfer wurden in Gruppen zu de Landau schreibt die spätere Präsidentin <strong>der</strong><br />
jeweils zehn Fuhren unterteilt. Jedes Dorf bildete <strong>Landsmannschaft</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>aus</strong> <strong>Russland</strong>,<br />
einen Treck. Etwa zehn Trecks wurden zu einer Gertrud Braun (1906-1984):<br />
Marschsäule ("Bereichskommando") zusammen- Seit Weihnachten lebten wir unter ständigem<br />
gefasst. Insgesamt gab es 20 solcher Bereichs- Druck: Müssen wir fort o<strong>der</strong> dürfen wir bleiben?<br />
kommandos. Jedem größeren Treck wurde ein Man schwankte zwischen Hoffen und Bangen.<br />
SS-Mann im Rang eines Unteroffiziers zugeteilt, Anfang März machte ich mich auf die Fahrt nach<br />
<strong>der</strong> zusammen mit dem Bürgermeister und den Hoffnungstal, wo eine meiner Mitarbeiterinnen<br />
Vertretern des Selbstschutzes die Trecks in die mit ihren Mütterberatungsstunden, Kin<strong>der</strong>nach-<br />
vorgegebene Richtung leiten sollte. Er hatte auch mittagen, Stick- und Nähabenden eine gute Frau-<br />
die Verantwortung für die Unterkünfte bzw. enarbeit aufgezogen hatte. Alles sah so freudig<br />
Nachtlager seines Trecks und die Versorgung und zukunftssicher <strong>aus</strong>. Nur <strong>der</strong> "Kommandant"<br />
von Mensch und Tier.<br />
machte ein ernstes Gesicht und meinte, dass er in<br />
10
Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> schwarzmeerdeutschen Trecks
Es war Sonntag, <strong>der</strong> 12. März 1944.<br />
Um 11 Uhr, als ich noch einmal -getrieben<br />
von innerer Unruhe -zur Kommandantur<br />
ging, fand ich dort einen<br />
Kreis von Männern versammelt, die<br />
sehr ernst dreinschauten. Soeben wurde<br />
eine telefonische Meldung <strong>aus</strong><br />
Odessa durchgegeben. Alarmstufe 4!<br />
Da wurde es ganz still im Raum. Zwar<br />
war <strong>der</strong> Anruf nur die <strong>Vor</strong>stufe zum<br />
Alarm, aber bei einer endgültigen Bestätigung<br />
dieser Alarmstufe bedeutete<br />
es, dass sich die Trecks innerhalb weniger<br />
Stunden abmarschbereit zu halten<br />
hätten. Die Russen hatten den Oberlauf<br />
des Bug überschritten!<br />
Wir wussten, was das hieß! -Minutenlang<br />
sagte niemand ein Wort. Dann kamen<br />
mit möglichst ruhiger Stimme<br />
<strong>Vor</strong>schläge und Gegenvorschläge, was<br />
nun zu tun sei. Die gemeisterte Erregung<br />
sah man jedem <strong>der</strong> Männer an.<br />
Noch dürfe nichts nach draußen drin-<br />
Kür.ze eine schwerwiegende Entscheidung erwargen. Noch war <strong>der</strong> endgültige Befehl nicht da.<br />
te.<br />
Ich wollte versuchen, am nächsten Morgen um 6<br />
Da war sie schon wie<strong>der</strong>, diese dunkle Wolke, Uhr -sofern dazu noch Zeit war -die nächste<br />
die wir immer nicht sehen wollten!<br />
Bahnstation zu erreichen, um nach Landau zu<br />
12
fahren. Da, um 3 Uhr morgens stand zitternd eine Treckwagen auf <strong>der</strong> Anhöhe in Richtung Rohr-<br />
unserer bekannten Bäuerinnen im Zimmer. Eben bach vor dem Dorf, die Fuhren bedeckt mit Bret-<br />
war die Nachricht <strong>aus</strong> Odessa durchgekommen, tern, Blech o<strong>der</strong> Tüchern o<strong>der</strong> was man sonst auf<br />
die Alarmstufe gelte rur den ga~en Bezirk. dem Hof gefunden hatte, um ein Dach über den<br />
Da ging nun die Schreckens stunde durch den Wagen zu spannen. Außen baumelte <strong>der</strong> notwen-<br />
Draht hin<strong>aus</strong> in die Dörfer, jagte die verschlafedigste H<strong>aus</strong>rat: Eimer, Milchkannen, Futtertröge.<br />
nen Bürgermeister <strong>aus</strong> ihren Betten. Diese be- Hoch aufgeladen waren Kisten und Säcke. Dagriffen<br />
kaum, dann rannten sie hin<strong>aus</strong> auf die zwischen lugten die Gesichter <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>. Die<br />
Straßen, riefen Boten zusammen, und dies~ Erwachsenen mussten zu Fuß nebenher gehen.<br />
klopften an Tore und Türen. Her<strong>aus</strong>! Her<strong>aus</strong>! Fast konnten die Pferde die Last nicht ziehen.<br />
Der Russe kommt.<br />
Dazu <strong>der</strong> klebende Dreck.<br />
Es war eine furchtbare Nacht.<br />
Alle Wagen wurden einer genauen Prüfung un-<br />
In höchster Aufregung liefen die Menschen zuterzogen, ob nicht eine Fuhre zu wenig beladen<br />
sammen. Die Dunkelheit, <strong>der</strong> Schlamm -es hatte sei, um Ausgleich für an<strong>der</strong>e, überlastete Wagen<br />
seit Wochen geregnet -und dann die Herzens- zu schaffen.<br />
angst vergrößerten in <strong>der</strong> Phantasie <strong>der</strong> Men- Ich ging die Fuhren entlang. Dann musste ich<br />
schen die Gefahr ins Ungeheure.<br />
zum Dorf zurück. Erst nach Stunden setzte sich<br />
Was sollte man als Erstes tun? Was packen, was <strong>der</strong> Treck endgültig in Bewegung. Er ist am ers-<br />
backen? Konnte man noch schlachten? ten Tag wohl nicht weit gekommen. Vielleicht<br />
Es gab einen kurzen, harten Abschied fiir mich. noch bis zum nächsten Bahnhof Rohrbach.<br />
Keiner hatte Zeit fiir den an<strong>der</strong>en.<br />
Ich konnte noch nicht fort, denn das Schicksal<br />
Nach erlebnisreicher Fahrt erreichte ich noch am <strong>der</strong> Leute ohne Fuhren war noch nicht entschie-<br />
gleichen Tag Landau, das Dorf, zu dem ich geden. Endlich kam die Nachricht: Unsere Leute<br />
höl:te. Ernste Gesichter auch hier.<br />
würden alle her<strong>aus</strong>kommen, wenn auch nicht mit<br />
Ich erfuhr, dass in den letzten Tagen einige hun- Pferd und Wagen, wenn auch keine Lastwagen<br />
<strong>der</strong>t Gespanne zum Transportdienst an die Front mehr zur Verfügung stünden und keine Bahn<br />
beor<strong>der</strong>t worden waren. Nun saßen die Familien mehr ging. Sie sollten nach Odessa her<strong>aus</strong>geflo-<br />
da ohne Familienoberhaupt und ohne die Möggen werden. Wir atmeten auf.<br />
lichkeit, mit eigener Kraft fortzukommen. Woher Es war dunkel, als sich unsere Kolonne in Bewe-<br />
fiir sie alle den La<strong>der</strong>aum nehmen?<br />
gung setzte. Unsere Wagen waren aneinan<strong>der</strong>ge-<br />
Wohl war es gelungen, drei Züge von <strong>der</strong> beseilt wie zu einer Bergtour. Ganz vorne zog uns<br />
nachbarten Station auf den Weg zu bringen. Aber ein Traktor. Meter um Meter kämpften wir uns<br />
dieser Transportraum reichte bei weitem nicht durch den Schlamm. Für 25 Kilometer bis zur<br />
<strong>aus</strong>.<br />
Die Alten, Kranken und Mütter mit Kleinkin<strong>der</strong>n<br />
festen Straße brauchten wir fast zehn Stunden.<br />
wurden zuerst fortgebracht. Da gab es die ersten<br />
herzzerreißenden Abschiedsszenen, denn notge-<br />
VIII.<br />
drungen mussten die Familien <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong>geris- 16. März 1944. Aufbruch <strong>der</strong> Familie Zanker,<br />
sen werden, um die Bahn nur mit den Bedürftigs- Landau. Nacherzählt von M Zanker, 2001.<br />
ten zu rullen. Einige Kleinkin<strong>der</strong> starben bereits Am 16. März sammelten sich die Landauer vor<br />
in <strong>der</strong> ersten Nacht beim Warten auf die Verla- dem Dorf auf <strong>der</strong> Straße Richtung Rohrbach.<br />
dung unter freiem Himmel.<br />
Alle Fuhren waren überladen. Überall ernste Ge-<br />
Am Donnerstag früh sollte sich <strong>der</strong> Treck in sichter, gespannte Blicke. Ein klebriger und auf-<br />
Marsch setzen. Aber was würde <strong>aus</strong> den an<strong>der</strong>en geweichter Boden machte es uns noch schwerer.<br />
werden, die keine Fuhren hatten? Die Nerven Unsere Pferde schaillen es nur mit menschlicher<br />
waren angespannt bis zum Äußersten.<br />
Hilfe, den schweren Wagen auf den Schafberg zu<br />
Endlich war es soweit. In den frühen Morgen- ziehen. Plötzlich hatten wir eine Wagenpanne<br />
stunden des 16. März 1944 sammelten sich die und mussten zurück, um den Wagen zu reparie-<br />
13
en. Jetzt erst sahen wir, wie trostlos die verlasse- Friedhof. Es war aber kein Fliegeralann. Alle<br />
nen Höfe <strong>aus</strong>sahen, die leeren Häuser, die Hüh- Blicke richteten sich gen Himmel. Es waren keiner<br />
auf <strong>der</strong> Straße. In unserem H<strong>aus</strong> im großen ne Flugzeuge zu sehen. Dafür erblickten wir am<br />
Wohnzimmer hatte <strong>der</strong> Stab schon Pferde unter- klaren, wolkenlosen Himmel sieben Schwäne,<br />
gebracht, und es sah überall furchtbar <strong>aus</strong>. die friedlich in Reih und Glied einherflogen.<br />
Auf Anweisung musste unsere Familie am Der Militärtransport fuhr bald weiter. Wir blie-<br />
nächsten Tag mit einem Flugzeug nach Odessa ben ohne Lokomotive zurück.<br />
gebracht werden. Das war am 17. März. In <strong>der</strong> nächsten Nacht wurde zehn Kilometer von<br />
In Odessa machten wir zwei Tage Rast. Dann uns, in Arciz, heftig gebombt. Am Morgen beka-<br />
ging es mit dem Lastwagen nach Ovidiopol. An men wir endlich eine Lokomotive und fuhren<br />
<strong>der</strong> Fähre war ein Gedränge. Alle waren in Eile. nach Arciz. Dort aber gab es kein Weiterkom-<br />
Durcheinan<strong>der</strong>. Auf <strong>der</strong> Fähre rutschte ein voll men, da die Bahnstation zerbombt war. So wur-<br />
beladener Wagen mit Menschen ins Wasser. Ein den wir wie<strong>der</strong> zurück nach Sarata geleitet.<br />
Kind ertrank.<br />
Am nächsten Tag organisierte <strong>der</strong> SS-Stab Lan-<br />
In Galatz wurden wir in einen Eisenbahnzug verdau unseren Abtransport mit Lastwagen nach<br />
laden. Der Zug fuhr hin und her, hielt oft bei <strong>der</strong> Tarutino. Nach ein paar Tagen Aufenthalt hieß<br />
Fahrt durch Rumänien, Ungarn und die (spätere) es: "Ostern!"<br />
Tschechoslowakei ins Deutsche Reich bis Litz- Von Tarutino ging es auf den Lastwagen weiter<br />
mannschaft.<br />
nach Galatz. Auch die Stabchefs (Kazanowsky,<br />
Kreilmann, China und wie sie alle hießen) fuhren<br />
IX.<br />
mit uns.<br />
Einmal wurde früh am Abend eine Filmvorfüh-<br />
17. März 1944. Aujbruch <strong>der</strong> Familie Dauenhaurung organisiert. Man brachte an unserer Baer.<br />
Nacherzählt von Joh. Dauenhauer, 2002. racke, die am nächsten zum Donauufer lag, eine<br />
Da <strong>der</strong> Landauer Fuhrentreck keine Pferde hat- Leinwand an und baute die nötigen Apparaturen<br />
ten, brachen wir am 17. März mit Lastwagen des auf. Bei Dunkelheit sahen wir die deutsche Wo-<br />
Stabs Richtung Odessa auf. In Odessa waren wir chenschau, <strong>der</strong> ein Kriegsfilm folgte. Da heulten<br />
drei Tage, dann ging es mit denselben Lastwagen überraschend die Sirenen auf. "Oh, großer Him-<br />
nach Ovidiopol zur Fähre, mit <strong>der</strong> wir den Liman mel!"<br />
überquerten, um dann in Akkermann zu landen. Der Schreck war groß, die Panik noch größer.<br />
Nach einer Woche Aufenthalt in Akkermann Die Leute wurden in ein freies Gelände gelotst,<br />
fuhren wir mit <strong>der</strong> Eisenbahn Richtung Arciz. das etwa 200 Meter hinter den Baracken lag und<br />
Kurz vor Arciz wurde unser Waggon bei <strong>der</strong> von einer Steinmauer umgeben war. Dort fühlten<br />
kleinen Bahnstation Sarata -ca. <strong>60</strong> km von Ak- wir uns sicherer als in den Baracken.<br />
kermann -abgestellt und die Lok abgekoppelt. Der Himmel hing voller "Weihnachtsbäume", und<br />
Dort blieben wir drei Tage stehen.<br />
die Bomben prasselten wie Hagel herunter. Wer<br />
Am vierten Tag war Fliegeralarm. Es waren nur das erlebt hat, wird diesen echten "Kriegsfilm"<br />
zwei Flugzeuge. Sie flogen sehr hoch und warfen niemals vergessen können. Und keiner wird je-<br />
Bomben ab. Etwa 400 Meter bergabwärts von mals vergessen, was <strong>der</strong> achtjährige Peter Bern-<br />
<strong>der</strong> Bahnstation gab es drei Explosionen. Wähhard schrie, bevor er in den Annen seiner Mutter<br />
rend des Fliegeralarms verließen die Leute den starb: "Mama, mei Kuttelick kummen r<strong>aus</strong>."<br />
Zug und suchten Schutz auf einem nahegelege- Die Bombardierung dauerte eine Stunde, die uns<br />
nen Friedhof. Aber es passierte nichts.<br />
wie eine Ewigkeit erschien. Keiner ging in die<br />
Am nächsten Tag kam ein Militärtransport mit Baracken zurück, da man einen weiteren Angriff<br />
rumänischen Soldaten angerollt. Kaum hatte <strong>der</strong> befürchtete.<br />
Zug angehalten, als Panik <strong>aus</strong>brach. Die Soldaten Erst bei Tagesanbruch sah man den ganzen<br />
verließen fluchtartig und Schutz suchend durch Schaden. Es hatte viele Tote gegeben. Tot war<br />
Türen und Fenstern die Waggons in Richtung auch Kreilmann und seine Begleiterin im Auto<br />
14
mit <strong>der</strong> Filmapparatur. Kreilsmanns Pferde, die<br />
in Güterwaggons verladen worden waren, waren<br />
zerfetzt und zerfleischt. Es war schrecklich anzu- 17. März 1944. Aufbruch <strong>der</strong> Friedenheimer. Besehen.richtet<br />
von Klemens Schäfer, 1999.<br />
Da man weitere Angriffe erwartete, brachte man Schon Ende 1943 hatte es sich herumgesprochen,<br />
die Menschenmassen bei Tag in die umliegenden dass die Zeit des Abmarsches ins Reich kommen<br />
Dörfer. Es hatte sich herumgesprochen, dass wir würde. Als aber am 13. März 1944 die Alarmstu-<br />
eingeschifft und auf <strong>der</strong> Donau bis Wien gefe 3 durchgesagt wurde, waren doch viele schobracht<br />
würden. Doch dar<strong>aus</strong> wurde nichts, weil ckiert. Der einzige, <strong>der</strong> sich wirklich freute, war<br />
es auf <strong>der</strong> Donau zu viele Minen und Luftangrif- vermutlich unser Vater, <strong>der</strong> halbseitig gelähmt<br />
fe gab.<br />
war und nicht sprechen konnte. Sein Lächeln und<br />
Nach einer Woche wurden wir dennoch auf Gü- seine Handbewegungen verrieten: Endlich habe<br />
terwaggons verladen und über Rumänien, Buda- ich es geschafft, nachdem es vor 18 <strong>Jahren</strong> mit<br />
pest und Krakau nach Litzmannstadt (Lodz) zur <strong>der</strong> Ausreise nicht geklappt hat. Und das, obwohl<br />
"Entl<strong>aus</strong>ung" gebracht.<br />
ich 1926 bereits einen Reisepass nach Kanada in<br />
Am 5. Mai 1944 wurden wir in <strong>der</strong> Stadt Strelno meinen Händen hatte!<br />
im Warthegau in einem Übergangslager unterge- Von unserem BK-Führer, <strong>der</strong> seinen Sitz in Lanbracht<br />
und danach den umliegenden Dörfern und dau hatte, kam <strong>der</strong> Befehl, dass die Friedenhei-<br />
Gemeinden zugeordnet. Wir kamen mit mehremer noch am 13. März aufbrechen sollten. Aber<br />
ren an<strong>der</strong>en Familien nach Seedorf, direkt an <strong>der</strong> wie? Seit Wochen hatte es ununterbrochen ge-<br />
schönen Warthe, sechs Kilometer von Strelno regnet. Die aufgeweichten Straßen, <strong>der</strong> klebrige<br />
entfernt. Wir wurden dem Gutsbesitzer, einem Dreck und <strong>der</strong> Regen stellten sich wie abgespro-<br />
Herrn von Dehn, Baron litauischer Abstammung, chen dem Auszug entgegen. Selbst mit einem<br />
zug~wiesen, bei dem wir bis zur Weiterflucht vor leeren Wagen kam man nicht vom Fleck, wenn<br />
<strong>der</strong> anrückenden Roten Armee in einem Gemüse- er fast bis zu den Achsen im zähen Schlamm<br />
garten arbeiteten. Das war am 15. Januar 1945. steckte! So wurde <strong>der</strong> Aufbruch auf Freitag, den<br />
Nach <strong>60</strong> Kilometern erneuter Flucht holten uns 17. März verschoben. Den Vater aber brachte ich<br />
sowjetische Panzer bei Gnesen (polnisch: Gnes- schon am 14. März unter großen Schwierigkeiten<br />
no) ein.<br />
zum Bahnhof, wo ein Eisenbahnzug wartete, <strong>der</strong><br />
Auf unserem Weg hatten wir zwei Tote zu bekla- fast voll mit kranken und alten Menschen war<br />
gen: meine achtjährige Schwester Inna und ein und zur Abfahrt bereit stand. Man hatte uns er-<br />
Mädchen <strong>aus</strong> meiner Klasse. Unsere Mutter wurwartet und empfing uns gut.<br />
de verwundet.<br />
Binnen zwei Stunden war es soweit. Ich stand<br />
Im Februar 1945 wurden wir von <strong>der</strong> sowjeti- noch lange wie einbetoniert da und sah dem Zug<br />
schen Kommandantur ("Kommendantura") auf-<br />
,<br />
genommen und mussten zu Fuß nach Strelno zu-<br />
mit unserem Vater nach, <strong>der</strong> um die Kurve fuhr<br />
und schließlich verschwand. "Hoffentlich komrückgehen,<br />
wo man uns einem Lager zuwies. men sie gut nach Litzmannstadt!", dachte ich und<br />
Am 27. Mai 1945 wurden wir erneut in Güter- machte mich über W orms und Rohrbach auf den<br />
waggons gesteckt und in die Sowjetunion "re- Rückweg nach Friedenheim.<br />
patriiert". Unsere Route lautete: Warschau, Mutter und Tante Emilie hatten viel zu tun. Die<br />
Brest, Kujbyschew (Samara), Orenburg, Aktju- eine kochte, die an<strong>der</strong>e backte, dazwischen wurbinsk.<br />
Endstation war das Kohlengrubendorf den Klei<strong>der</strong> sortiert, Mutter rannte zu den Nach-<br />
"Schachta" (Ber-Tschogurskaja Shachta). bamhinüber.<br />
Das war am 15. August 1945. Wir landeten wie- Meine 17-jährige Schwester Florentine war zu<br />
<strong>der</strong> in Baracken. Aber es hagelte keine Bomben. dieser Zeit gerade in Rastatt, wo sie eine Ausbil-<br />
Dafür mussten wir uns regelmäßig jeden Monat dung als Rot-Kreuz-Helferin machte. Ich war 20<br />
melden und strengste Ausgangsverbote <strong>aus</strong> <strong>der</strong> und mit meinem 13-jährigen Bru<strong>der</strong> Philipp mit<br />
Siedlung beachten.<br />
Pferden und Wagen beschäftigt. Victor und<br />
X.<br />
15
Adam waren noch zu klein, um zu begreifen, was<br />
sich abspielte. Adam fragte immerzu: "Kommen<br />
wir schon heute zu Papa?"<br />
Die letzte Nacht in <strong>der</strong> Heimat war voller Spannung<br />
und Aufregung. Niemand konnte schlafen.<br />
Am frühen Morgen des 17. März waren alle auf<br />
16<br />
an einer Dnjestrbrücke lag und zu Ben<strong>der</strong>y gehörte.<br />
Da die Brücke nur noch fiir den Rückzug des Militärs<br />
frei war, fuhren wir nach Grigoriopol, dann<br />
in Richtung Dubossary, wo wir den Dnjestr überquerten.<br />
"Jetzt sind wir in Bessarabien", wurde<br />
den Beinen. Ich deckte die zurückgelassenengesagt.<br />
Kartoffeln, das Mehl und das Getreide zu und Gleich nach <strong>der</strong> Brücke ging es über hohe Hügel<br />
streute für die 20 Hühner und drei Gänse, die wir auf Kischinew zu. Man musste auf die Pferde gut<br />
nicht mitnehmen konnten, Futter.<br />
aufpassen, wenn es bergab ging. In <strong>der</strong> Feme<br />
Die beladenen Wagen standen gegen sieben Uhr donnerte es, und wir erhielten plötzlich die Nach-<br />
morgens auf den Höfen bereit für die Abfahrt in richt, dass wir uns hinter <strong>der</strong> Frontlinie befanden.<br />
Richtung Tiraspol über Rohrbach, Worms und Das hatte uns gerade noch gefehlt!<br />
Berjosowka. Der Friedenheimer Treck bestand Daraufhin wurde die Route geän<strong>der</strong>t, die uns<br />
<strong>aus</strong> 50 Fuhren und einem Traktor, <strong>der</strong> meistens jetzt streng nach Süden in Richtung Wadul-Lujan<br />
<strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Wagenkolonne fuhr. Ich ging Wode den Dnjestr entlang führte.<br />
neben dem Gespann mit drei Pferden, Viktor und Als wir von einem Hügel herunter fuhren und<br />
Adam saßen auf dem Wagen, Mutter und Tante fast unten waren, wo <strong>der</strong> Weg über 30 Meter hi-<br />
Emilie stapften hinterher durch den Straßennab geht, wurde mein Wagen schnell und immer<br />
dreck, und Philipp saß stolz auf einer <strong>der</strong> drei schneller. Ich konnte die Pferde nicht mehr hal-<br />
Kühe, die er ebenso wie zwei Kälber zusammenten, obwohl ich die Zügel so straff gezogen hatte,<br />
hielt. Seine Kuh ließ sich nur von ihm reiten und dass ich meine Hände nicht spürte. Im letzten<br />
gab obendrein während <strong>der</strong> gesamten Reise auch Moment machte ich einen harten Ruck, um die<br />
nocJ:l mehr Milch als die an<strong>der</strong>en Kühe.<br />
Pferde vom Anhang zu reißen o<strong>der</strong> den Wagen<br />
Der Zug bewegte sich sehr langsam, wie bei ei- zum Kippen zu bringen. Die Deichsel brach, ein<br />
ner Beerdigung, und wir kamen erst am nächsten Pferd fiel auf die Knie, <strong>der</strong> Wagen rutschte auf<br />
Tag in Rohrbach an, das nur acht Kilometer von dieses Pferd und blieb 2,5 Meter vor dem Ab-<br />
Friedenheim entfernt lag. Das Dorf war leer. Am hang stehen. Zwei vollgestopfte Säcke machten<br />
zweiten Tag schafften wir es bis Berjosowka, ehe sich dabei selbständig und rollten Richtung Ab-<br />
die Wege erheblich besser wurden.<br />
hang. An ihnen klammerten sich Viktor und<br />
Am vierten Tag bekamen wir den Befehl, Rich- Adam fest. Im letzten Moment gelang es mir, die<br />
tung Süden nach Ovidiopol zu ziehen, weil die beiden Kin<strong>der</strong> loszureißen, sonst wären sie ins<br />
Dnjestrbrücke bei Tiraspol durch das sich zu- Bodenlose gefallen. An<strong>der</strong>e Helfer kamen hinzu<br />
rückziehende deutsche Militär verstopft war. Die gerannt, spannten die Pferde <strong>aus</strong> und leerten den<br />
Straßen wurden wie<strong>der</strong> zunehmend schlechter. In Wagen. Beim Pferd aber war die Wirbelsäule ge-<br />
<strong>der</strong> Nähe von Odessa machten wir einen Tag brochen, und es musste erschossen werden.<br />
Rast und konnten dann endlich weiter nach Ovi- Die Reparatur dauerte an<strong>der</strong>thalb Stunden. Mit<br />
diopol ziehen. Ovidiopol und Umgebung war einem Baumstamm als provisorischer Deichsel<br />
von Umsiedlern überfüllt.<br />
ging es weiter.<br />
Nach zwei Tagen zogen wir wie<strong>der</strong> nordwärts Und es donnerte und krachte überall. Man hatte<br />
durch Alexan<strong>der</strong>hilf und Josefstal in Richtung uns gewarnt: Kein Feuer machen, nicht zu laut<br />
Tiraspol, um den Dnjestr zu überqueren. In Selz, und immer auf <strong>der</strong> Hut sein! Wir sind in <strong>der</strong><br />
wo nur Ukrainer zurückgeblieben waren, mach- Nähe des Feindes!<br />
ten wir am 29. März eine weitere Tagesp<strong>aus</strong>e. Es Da die Gefahr, auf Partisanen zu stoßen, hier un-<br />
war ein frostiger Tag, und wir genossen die warvermeidlich war, zogen wir bei Wadul-Luj-Wode<br />
men Stuben. Von dort fuhren wir auf guten Stra- wie<strong>der</strong> westwärts nach Kischinew und nach einer<br />
ßen bis Tiraspol und dann weitere elf Kilometer kurzen Rast südwärts nach K<strong>aus</strong>chany und wei-<br />
bis zur bulgarischen Siedlung Parkany, die direkt ter nach Borodino, Beresino, Tarutino, Tschady-
e-Lungar und Taraklija. Zuerst regnete es, dann den nach Farnen im Bezirk Kruschwitz-Land,<br />
fiel Schnee.<br />
Kreis Hohensalza, gebracht. Am 1. Dezember<br />
In Taraklija wurden wir am 9. April sehr freund- 1944 wurde unsere Familie in einem Eisenbahnlich<br />
und mit bunten Ostereiern empfangen. Wir waggon durchgeschleust und eingebürgert. Ich<br />
blieben eine ganze Woche und konnten uns gut war bereits kurz davor zu den Soldaten gerufen<br />
auf den weiteren Marsch vorbereiten.<br />
worden und konnte mich nicht an diesem feierli-<br />
Am 13. April hörte es auf zu schneien. Es wurde chen Akt beteiligen.<br />
wärmer. Am 14. April wurde <strong>der</strong> Kanonendonner Beim sowjetischen Einmarsch Ende Januar 1945<br />
lauter. Nachts flogen russische Flugzeuge gegen war ich im Einsatz in Jugoslawien und geriet<br />
Süden. Die <strong>Deutschen</strong> nannten diese Flieger bei Kriegsende in amerikanische Kriegsge-<br />
"Nähmaschinen", die Russen "Kukurusniki". fangenschaft. Erst nach <strong>der</strong> Entlassung <strong>aus</strong> <strong>der</strong><br />
Bald sah man auch an<strong>der</strong>e Flugzeuge, und es Gefangenschaft erhielt ich vom <strong>Deutschen</strong> Ro-<br />
krachte wie<strong>der</strong> über Galatz.<br />
ten Kreuz die Nachricht, dass meine Angehöri-<br />
Am frühen Morgen des 16. Aprils war sowohl gen nach ihrer zweiten Flucht im Winter 1945<br />
<strong>aus</strong> Galatz als auch voa Norden her Kanonen- von den Russen erfasst und im August 1945 in<br />
donner zu hören. Wir mussten daher unsere die kasachische Steppe verschleppt worden wa-<br />
Marschroute än<strong>der</strong>n, die jetzt so lautete: Kagul,<br />
Pruth-Brücke; Oancea, Beresti, Barlad (Bilari),<br />
ren.<br />
Onesti, rumänisch-ungarische Grenze bei Harja<br />
(sprich: Hyrsha).<strong>Vor</strong> Harja konnten wir in Poia-<br />
XI.<br />
na Sarata eine Kuh an einen deutschen Bauern 24. März 1944. Aujbruch <strong>der</strong> Gemeinde Karlsru-<br />
verkaufen und Futter fiir die Pferde kaufen. he. Berichtet von Philipp Frei, 2000.<br />
Ab Harja ging es unter strenger Begleitung unga- Unser Dorf konnte <strong>aus</strong> verschiedenen Gründen<br />
risc~er Soldaten zuerst über den Oituz-Pass, erst am 24. März aufbrechen, obwohl es in <strong>der</strong><br />
dann nach Targa Sekueisc, vorbei an <strong>der</strong> Eisen- Nähe donnerte und krachte und es nachts nördbahnstation<br />
und weiter über den Turia-Pass und lich und östlich des Bug blitzte.<br />
Richtung Gheorgheni und Dej.<br />
Der Karlsruher Treck setzte sich frühmorgens in<br />
Dej liegt am Somesch. Das Wasser des Flusses Bewegung. Um schneller vorwärts zu kommen,<br />
war noch kalt, aber die Kin<strong>der</strong> planschten trotz- wurden die Fuhren ziemlich leicht beladen.<br />
dem darin und hatten ihre Freude. Dort wurden Wir fuhren durch Landau. Dort nahmen wir un-<br />
die Flüchtlinge auf die Weiterfahrt per Eisenbahn sere verbliebenen Verwandten, die Familie He-<br />
vorbereitet. Nach einer Woche mussten wir Vergele, mit, die we<strong>der</strong> Pferde noch Wagen hatten<br />
pflegung fiir zehn Tage aufnehmen und uns zu und auf uns warteten.<br />
den Güterzügen begeben. Nachdem unser Ge- Wir zogen weiter durch die leeren Dörfer Rohrpäck<br />
zum Bahnhof transportiert worden war, bach und Worms. Nach <strong>der</strong> Stadt Berjosowka<br />
nahm eine Wehrmachtskommission unsere Pfer- wurde <strong>der</strong> Weg besser, und es ging recht flott<br />
de in Empfang und stellte uns entsprechende westwärts. Bald bogen wir nach Süden ab und<br />
Quittungen <strong>aus</strong>.<br />
erreichten an Odessa vorbei Ovidiopol. Dort ka-<br />
Damit war <strong>der</strong> Treck nach offizieller Version men wir nicht auf die Fähre und zogen in Rich-<br />
aufgelöst. Meiner Meinung nach wurde er jedoch tung Norden nach Tiraspol, dann weiter bis Du-<br />
nicht aufgelöst; man wandeltevielmehrdea Fuhbossary, wo wir den Dnjestr überquerten und<br />
rentreck in einen Eisenbahntreck um und erleich- vorbei an Kischinew das südlich gelegene Tarutiterte<br />
den Menschen den Transport ihres schweno erreichten. Nach kurzer Weiterfahrt machten<br />
ren Gepäcks.<br />
wir eine Woche Rast.<br />
Am 2. Juni 1944 überquerten wir die Reichsgren- Wir überquerten die Donau und folgten dem<br />
ze und erreichten am nächsten Tag Litzmann- Strom bis zur Eisenbahnstation Jassenowo, von<br />
stadt. Dort trafen wir unseren gelähmten Vater, wo <strong>aus</strong> wir mit <strong>der</strong> Eisenbahn in den Warthegau<br />
den wir vor<strong>aus</strong>geschickt hatten, wie<strong>der</strong> und wur- fuhren.<br />
17
Nach dem Einmarsch <strong>der</strong> Sowjettruppen wurde<br />
unsere Familie in das Dorf "Betschogurskaja<br />
Schachta" verschleppt.<br />
Sie blieben zwei Tage in Franzfeld, bis sie ihren<br />
Weg nach Ovidiopol zur Fähre über den Dnjestr-<br />
Liman fortsetzten. Sie erreichten die Fähre am<br />
22. März. Es verkehrten dort insgesamt zehn<br />
XII.<br />
Fähren, die jeweils bis zu 20 Fuhrwerke pro<br />
Fahrt aufnehmen konnten. Bei <strong>der</strong> Überfahrt gab<br />
19. März 1944. Auszug <strong>aus</strong> Kandel. Nach "Ent- es den ersten Todesfall. Es traf die Frau von Sestehung,<br />
Entwicklung und Auflösung <strong>der</strong> deutbastian Vogel.<br />
schen Kolonien am Schwarzen Meer" von A. In Akkermann machte man keine P<strong>aus</strong>e, son<strong>der</strong>n<br />
Hosch und J. Lingor, Stuttgart 1990.<br />
fuhr bis Monasche weiter, wo man übernachtete.<br />
Am frühen Morgen des 19. März waren alle auf Am nächsten Tag erreichte <strong>der</strong> Treck Sarata. In<br />
den Beinen. Die beladenen Wagen standen schon Tatar Bunar wurde Futter für die Pferde in Emp-<br />
um fiinfUhr vor den Höfen, um gegen sechs Uhr fang genommen. Danach zogen die Flüchtlinge<br />
in Richtung Süden nach Ovidiopo1 aufzubrechen. durch Cholm, Kirniski, Wasiljewka und an<strong>der</strong>e<br />
Die Kande1er waren die ersten <strong>aus</strong> dem Ku- bessarabische Dörfer in Richtung Bolgrad. Sie<br />
tschurganer Gebiet, die ihre Heimat verlassen übernachteten in einigen dieser Dörfer und zogen<br />
mussten... Es weinten nicht nur Kin<strong>der</strong>, alte über Vulkanesti in Richtung Reni.<br />
Menschen und Frauen, es weinte auch so man- Am 1. April 1944 kehrte man in dem Bulgarencher<br />
"harte" und "gestandene" Mann...<br />
dorf Tartar-Anamur (Cismikioj) ein. Wegen <strong>der</strong><br />
Am ersten Tag kam <strong>der</strong> Kandeler Treck nur lang- ungünstigen Witterungsverhältnisse in den Karsam<br />
und mühevoll vorwärts. Die Kühe wurden paten mit Regen, Schnee und Glatteis konnte<br />
zu Herden zusammengetrieben, liefen aber bald man nicht weiterfahren und blieb in Tartar-Ana-<br />
zwischen Kandel und Gradeniza <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong> und mur bis zum 17. April. Der Empfang durch die<br />
fand.en trotz des Wirrwarrs ihre Besitzer, um mit bulgarische Bevölkerung war <strong>aus</strong>gesprochen<br />
ihnen den langen Weg gemeinsam zu gehen. freundlich.<br />
Der wochenlange Regen hatte die Straßen <strong>der</strong>art Während des Aufenthalts wurden die Kandeler<br />
aufgeweicht, dass ein <strong>Vor</strong>ankommen nur sehr vom 5. bis 13. April von Schneefall überrascht,<br />
schwer war. Auf den voll beladenen Wagen <strong>der</strong> in dieser Gegend selten war. Das dortige<br />
konnten nur Kin<strong>der</strong> und ältere Menschen mitfah- Osterfest war das erste, das sie nicht in ihrer Heiren;<br />
die Erwachsenen mussten zu Fuß gehen, was mat feierten.<br />
im Schlamm mit kümmerlichem Schuhwerk Aus dem Dorf wurden ältere Menschen und<br />
nicht einfach war.<br />
schwangere Frauen in die rumänische Stadt Ga-<br />
Mit Mühe und Not kamen die Kandeler am erslatz gebracht, wo man sie in Sicherheit glaubte.<br />
ten Abend bis zu dem russischen Dorf Troitzkoje Am Tag darauf jedoch wurde Galatz bombar-<br />
und blieben dort über Nacht in den Wohnungen diert. Als einige Verwandte <strong>der</strong> Frauen und älte-<br />
<strong>der</strong> Einheimischen. Es gab dort die ersten Probleren Leute am nächsten Tag nach Galatz fuhren,<br />
me mit Russen, denn das Dorf war nach <strong>der</strong> Ok- stellten sie fest, dass es dort zahlreiche Tote und<br />
toberrevolution auf Staatskosten erweitert wor- Verwundete gegeben hatte und <strong>der</strong> Sanitätszug<br />
den, und man hatte in ihm viele Teilnehmer des mit den Frauen bereits abgefahren war. Erst spä-<br />
Bürgerkrieges angesiedelt. Der überwiegende ter erfuhr man, dass sich unter den Toten keine<br />
Teil dieser Bevölkerungsgruppe sympathisierte Kandeler befanden.<br />
mit den Partisanen und war gegen die <strong>Deutschen</strong>. Am frühen Morgen des 17. Aprils ging es end-<br />
Am nächsten Tag ging es weiter nach Franzfeld, lich weiter. Zunächst zurück nach Vulkanesti,<br />
dessen Bewohner ihr Dorf am gleichen Tag hat- dann über Gabanoasa und Pilnea über die Pruthten<br />
verlassen müssen. Als die Kandeler dort am brücke nach Kagul und nach einer Übernachtung<br />
Abend eintrafen, konnten sie sich wie zu H<strong>aus</strong>e auf rumänischem Boden über die Karpaten nach<br />
fühlen, zumal die Keller, Speicher und <strong>Vor</strong>rats- Birlad, Adjud, Cajuti, Pacau, Piatra, Gheorgheräume<br />
noch mit Lebensmitteln gefüllt waren. ny, Gehin und Dej.<br />
18
In Dej mussten die Kandeler eine Woche P<strong>aus</strong>e Es ging zunächst in Richtung Ovidiopol. Dieser<br />
einlegen und die notwendigen <strong>Vor</strong>bereitungen russisch-ukrainische Ort liegt am Ostufer des sie-<br />
zur Auflösung ihres Trecks treffen. Sie wurden ben bis neun Kilometer breiten Dnjestr-Limans.<br />
aufgefor<strong>der</strong>t, Verpflegung fiir zehn Tage aufzu- Am 25. März wurde <strong>der</strong> Treck mit <strong>der</strong> Fähre<br />
nehmen und sich in Güterzüge zu begeben. Nach über diesen Liman an das Westufer nach Akker-<br />
dem Abtransport des Gepäcks zum Bahnhof mann (Bessarabien) gebracht. Am ersten Tag<br />
nahm eine Wehnnachtskommission die Pferde in konnten alle Peterstaler übergesetzt werden und<br />
Empfang und stellte dafiir Quittungen <strong>aus</strong>. So verbrachten die Nacht in Bessarabien.<br />
mancher Bauer weinte bitter beim Abschied von Am nächsten Tag zog <strong>der</strong> Treck südwärts durch<br />
seinen treuen Helfern.<br />
Bessarabien. Es war ein kalter Märztag mit eisi-<br />
Wenige Stunden nach dieser Prozedur zog <strong>der</strong> gem Wind, <strong>der</strong> einen bis auf die Knochen frieren<br />
Zug weiter in Richtung Budapest und passierte ließ. Am nächsten Tag quartierten wir uns in<br />
vor <strong>der</strong> Ankunft in Litzmannstadt die Bahnhöfe dem großen ukrainischen Dorf Sophjanka ein,<br />
Banska Bystritza (Alt-Sohl), Powazka Bystriza machten Rast und warteten, bis die an<strong>der</strong>en Dör-<br />
(Neo-Sohl), Bohumi, Orlowa, Ostrau, Ratibor, fer des BK 34 in Bessarabien ankamen. Während<br />
Oppeln, Brief und Breslau.<br />
wir warteten, wurden wir von einem Schnee-<br />
In Litzmannstadt hatten die Menschen acht Tage sturm mit Frosteinbruch überrascht.<br />
frei, wurden gebadet und entl<strong>aus</strong>t, ehe sie am 28. Anfang April war <strong>der</strong> letzte Wagen mit dem letz-<br />
Mai 1944 in <strong>der</strong> Kreisstadt Jarotschin ankamen. ten Mann des BK 34 über den Dnjestr-Liman<br />
Insgesamt waren die Kandeler volle 70 Tage un- nach Akkermann gekommen. Nun war es an <strong>der</strong><br />
terwegs gewesen. Die Hälfte <strong>der</strong> 2.000 Kilometer Zeit, dass <strong>der</strong> Treck seinen Weg nach dem Wes-<br />
hatten sie zu Fuß zurückgelegt. Viele erreichten ten fortsetzte. Die Peterstaler brachen in Rich-<br />
den Bestimmungsort nicht.<br />
tung Tatar-Bunar auf, wo sie sich mit den Flücht-<br />
In J~otschin wurden die Menschen zunächst in lingen <strong>aus</strong> Neuburg und Alexan<strong>der</strong>hilf trafen.<br />
Schulen untergebracht und am 5. Juni von Ver- Tatar-Bunar war ein großes und schönes bulgaritretern<br />
<strong>der</strong> umliegenden Gemeinden abgeholt sches Dorf. Auch dort spürte man die Unruhe<br />
und auf an<strong>der</strong>e Quartiere verteilt.<br />
angesichts <strong>der</strong> heranrückenden Front. Viele<br />
An diesem Tag hörte die Gemeinde Kandel auf Gutsbesitzer und reiche Bauern waren bereits ge-<br />
zu existieren. Bis dorthin waren die Flüchtlinge flohen. Sie hatten Scheunen voll Futter zurück-<br />
gemeinsam gekommen, von jetzt an wurden sie gelassen, so dass für Pferde und Vieh genug da<br />
im gesamten Kreis verstreut angesiedelt. Sie war. Am 9. und 10. April feierten wir in Tatarmerkten,<br />
dass sie keine Bauern mehr waren, BunarOstern 1944.<br />
denn sie wurden als landwirtschaftliche Zeitar- Bei <strong>der</strong> Weiterfahrt waren die aufgeweichten und<br />
beiter auf den umliegenden Bauernhöfen ver- <strong>aus</strong>gefahrenen Feldwege allmählich <strong>der</strong>art voller<br />
pflichtet. Sie mussten auf ehemaligen polnischen Schlamm, dass sie von unseren Fahrzeugen<br />
Bauernhöfen arbeiten, auf Anwesen, die seit kaum bewältigt werden konnten.<br />
1939/1940 von deutschen Bauern <strong>aus</strong> Bessarabi- Es ging in Richtung Westen, dann nach Süden,<br />
en, <strong>der</strong> Bukowina und <strong>der</strong> Westukraine bewirt- Norden und wie<strong>der</strong> Süden, bergauf und bergab -<br />
schaftet wurden.<br />
ein Hin und Her. An manchen Tagen waren wir<br />
XIII.<br />
so müde und zerschlagen, dass wir das nächste<br />
Dorf, in dem wir übernachten wollten, nicht er-<br />
20. März 1944. Aujbruch <strong>der</strong> Gemeinde Petersreichten. Es blieb uns deshalb nichts an<strong>der</strong>es übtal.<br />
Eduard Stephan berichtet im Jahr 2000. rig, als unter freiem Himmel zu campieren, ob-<br />
Das BK 34 umfasste Peterstal, Josephstal, Mariwohl die Nächte im April noch immer sehr kalt<br />
ental, Kleinliebental, Neuburg, Alexan<strong>der</strong>hilf waren.<br />
und Großliebental. Unser Dorf Peterstal lag in Immer öfter sahen wir bei Nacht leuchtende<br />
diesem Bereich am nördlichsten und musste "Christbäume". Sie wurden von russischen Flug-<br />
schon am 20. März aufbrechen.<br />
zeugen herabgelassen, um die Ziele für die fol-<br />
19
Bil<strong>der</strong> mit Stationen des "Großen Trecks ", aufgenommen bei einer Reise des Ehepaares Schäfers nach 55 <strong>Jahren</strong>.<br />
20
genden Bombardierungen zu markieren. Es Jugend bleibt Jugend, auch in extremen Situatio-<br />
krachte und donnerte überall. Galatz wurde nen. Unsere Jugendlichen hatten sich sehr<br />
mehrmals bombardiert. Das eine Mal bekam <strong>der</strong> schnell an die neuen Umstände angepasst. Bei<br />
Treck die Anweisung, in Richtung Reni zu zie- schönem Wetter organisierten sie kleine Lagerhen,<br />
ein an<strong>der</strong>es Mal sollte er Richtung Galatz feuer, an denen Späße gemacht und vielleicht<br />
fahren. Als wir uns dem Fluss näherten, sahen auch geflirtet wurde. Und man sang die alten<br />
wir in <strong>der</strong> Feme die hohen Berge <strong>der</strong> Karpaten, Heimatlie<strong>der</strong>. Viele Jahre später, schon in <strong>der</strong><br />
die zum Greifen nahe schienen. Unser Treck zog Verbannung in Sibirien, erinnerten sich viele<br />
an <strong>der</strong> Stadt Reni vorbei und bewegte sich zum Landsleute an diese kurze romantische Phase im<br />
Grenzübergang am Pruth.<br />
Frühling 1944, als noch alle Peterstaler zusam-<br />
<strong>Vor</strong> <strong>der</strong> Einreise in Rumänien wurden alle Pemen waren.<br />
terstaler von <strong>der</strong> rumänischen Gendarmerie nach Als wir donauaufwärts in Ruse anlangten, gehör-<br />
Schusswaffen befragt; es durften keine Waffen in te dieser schöne Abschnitt unserer Flucht in Bul-<br />
das Land eingefiihrt werden. Nach kurzer Befragarien <strong>der</strong> Vergangenheit an. Der Ernst des Legung<br />
konnte <strong>der</strong> Treck auf einer Pontonbrücke bens hatte uns bald wie<strong>der</strong> voll im Griff.<br />
den Pruth überqueren und auf <strong>der</strong> rumänischen In Ruse setzten wir zum linken Donauufer bei<br />
Seite in Richtung Galatz ziehen, wo er mit einer Giurgiu über. Wir mussten die Fähre benutzen,<br />
Fähre die Donau überquerte. Das nächste Ziel da die Donaubrücke nur für Mi1itärtransporte<br />
war die Stadt Tulcea, wo Rast angesagt war. freigegeben war. Von Giurgiu zogen wir durch<br />
Bei <strong>der</strong> Weiterfahrt in Richtung Dobrudscha bis die Walachei in Richtung Westen. Dort lebten<br />
zur rumänisch-bulgarischen Grenze wurden die rumänische Bauern, die ärmer als ihre bulgari-<br />
Wege auf <strong>der</strong> bulgarischen Seite besser. Es wurschen Nachbarn auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Don<strong>aus</strong>eite wade<br />
auch immer wärmer und die Stimmung besren.ser. Es war Mai!<br />
In klaren Nächten sahen wir oft Feuerleuchten<br />
Nachdem wir die Grenze schnell und ohne <strong>aus</strong> dem Norden und Nordosten. Das waren die<br />
Schwierigkeiten passiert hatten, kam unser Treck brennenden Ölfel<strong>der</strong> Rumäniens, die von briti-<br />
im flachen Land zügig voran. Die Bulgaren waschen Bombern, die in Griechenland stationiert<br />
ren uns gut gesonnen und hatten Mitgefühl mit waren, heimgesucht wurden.<br />
uns. Das Leben dort sah noch recht friedlich <strong>aus</strong>. Nach <strong>der</strong> Stadt Tumu Severin mit <strong>der</strong> berühmten<br />
Wir beneideten die Bulgaren.<br />
römischen Donaubrücke <strong>aus</strong> dem Jahr 105 n.<br />
Da die Nächte immer kürzer und wärmer wur- Chr. kam eine neue Welt auf uns zu. Dort traten<br />
den, waren wir nicht mehr gezwungen, in den die Berge zusammen und ließen <strong>der</strong> Donau nur<br />
Dörfern Nachtquartier zu suchen. Nach je<strong>der</strong> Ta- einen ganz schmalen Durchgang. Die riesigen<br />
gesroute wurde ein geeigneter freier Platz neben Felsen und Klippen in <strong>der</strong> Mitte des zusam-<br />
<strong>der</strong> Straße <strong>aus</strong>gemacht; man richtete die Trecks mengepressten Flusses sahen geradezu bedroh-<br />
in Reih und Glied <strong>aus</strong> und spannte die Pferde lich <strong>aus</strong>.<br />
<strong>aus</strong>. Die Männer und Burschen ritten zur Donau, Wir kamen zu den "Eisernen Toren" (die Rumä-<br />
um die Pferde zu tränken und anschließend granen sagen nicht "Eisernes Tor", wie wir es gesen<br />
zu lassen. Zum Abendbrot kamen sie zurück. wohnt sind; son<strong>der</strong>n "Eiserne Tore"; sie haben<br />
Die Frauen hatten es längst her<strong>aus</strong>, wie man un- Recht damit, denn die Donau ist 250 km flussaufter<br />
diesen Bedingungen rasch ein Essen zubereiwärts nach Orsova immer noch nicht frei von<br />
ten konnte. Während <strong>der</strong> Rast wurde ein Loch in den Karpaten, und es gibt dort weitere "Tore 'j,<br />
die Erde gebuddelt, ein Topf darauf gestellt, und und plötzlich zeigte sich die schöne Insel "Adaschon<br />
war die Kochstelle fertig. Aus <strong>der</strong> Feme Kaleh". Es folgten <strong>der</strong> Karpatendurchbruch bei<br />
sah <strong>der</strong> Platz <strong>aus</strong> wie ein romantisches Zigeuner- Orsova und <strong>der</strong> "Kessel", eine weitere Enge, in<br />
lager. Nur waren dort keine "schwarzen" Zigeu- <strong>der</strong> die Donau r<strong>aus</strong>cht und sprudelt.<br />
ner, son<strong>der</strong>n schwarzmeerdeutsche Ex-Kolonis- Unsere Reisewege wurden immer schmäler und<br />
gefährlicher. Rechts die steilen Felsenwände,<br />
21
links nur ein paar Meter entfernt <strong>der</strong> reißende<br />
Strom.<br />
Zwischen dem Ufer und unserem Weg gab es oft<br />
intakte Schützengräben, in denen deutsche Sol-<br />
das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben<br />
wurden.<br />
Nach wenigen Tagen fühlten wir uns wie Hans<br />
im Glück auf dem Weg nach H<strong>aus</strong>e. Wir wurden<br />
medizinisch und sanitär betreut, das heißt wir<br />
konnten uns baden, wurden "entl<strong>aus</strong>t". Deutsche<br />
daten postiert waren. Das galt den Partisanen Titos,<br />
für die das Terrain an dieser Stelle ideal war.<br />
Sie suchten am linken (rumänischen) Ufer Kon- Jungen in strammen HJ-Uniformen und deutsche<br />
taktmöglichkeiten zu britischen Sabotagespezia- Mädchen in BDM-Kleidung hatten für unseren<br />
listen, was <strong>der</strong> deutschen Abwehr aber nicht ver- Empfang sogar ein Konzert mit Musik und<br />
borgen geblieben war, wie es damals hieß. Volkslie<strong>der</strong>n vorbereitet. Auf ihren Armbinden<br />
Dank Gottes Hilfe kamen wir ohne beson<strong>der</strong>e stand in großen Buchstaben "BANAT". Es wa-<br />
<strong>Vor</strong>fälle durch die gefährlichen Donauengen und ren Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Don<strong>aus</strong>chwaben in Serbien, die<br />
konnten über Coronini und Moldova Veche in dort in <strong>der</strong> Nachbarschaft lebten.<br />
westliche Richtung weiterziehen.<br />
Inzwischen bereiteten wir uns auf die Weiterfahrt<br />
Die Karpaten entfernten sich immer weiter von mit <strong>der</strong> Bahn vor. Es gab Verpflegung für zehn<br />
<strong>der</strong> Donau, und vor uns breitete sich eine herrli- Tage, und wir wurden in Güterwagen gepfercht,<br />
che Ebene <strong>aus</strong>, das fruchtbare und schöne Banat, zuerst unser Gepäck und obendrauf wir selbst!<br />
das zwischen Rumänien, Ungarn und Serbien Glückliche Reise durch Serbien, Rumänien, Un-<br />
liegt und entsprechend aufgeteilt ist. Im rumänigarn, die Tschechoslowakei und Polen bis Litzschen<br />
Teil gab es stattliche und schöne Dörfer, in mannstadt!<br />
denen wir Deutsche antrafen, die Don<strong>aus</strong>chwa- Die längste Eisenbahnstrecke führte uns durch<br />
ben. Beson<strong>der</strong>s fielen uns die altmodischen Ungarn. Beson<strong>der</strong>s beeindruckt waren wir dort<br />
Trachten <strong>der</strong> Bäuerinnen mit Klei<strong>der</strong>n und Rö- von den schönen Bauerndörfer, die uns voller<br />
cken bis zu den Fußknöcheln auf. Bei uns in <strong>der</strong> Sehnsucht an unsere Heimat am Schwarzen Meer<br />
Ukraine hatten wir ähnliche Trachten nur von denken ließen.<br />
Bil<strong>der</strong>n unserer Ahnen gekannt.<br />
Wir fuhren bei Nacht durch Budapest, das hell<br />
Bei <strong>der</strong> Fahrt durch die Dörfer boten uns Bauern erleuchtet war. Es war für uns neu, dass es so et-<br />
immer wie<strong>der</strong> Pferde und Kühe zum Kauf an, was in Europa gab -mehr als vier Jahre nach<br />
weil man ihnen "da vorne" doch alles wegnehmen<br />
würde. Welcher Bauer verkauft schon sein<br />
Kriegs<strong>aus</strong>bruch.<br />
Nach über drei Monaten auf einem beschwerli-<br />
letztes Tier, dachten wir. Wir verstanden jedoch chen, aber interessanten Fluchtweg kamen wir<br />
schon bald, warum.<br />
Ende Juni 1944 in <strong>der</strong> Aufnahmezentrale für Ost-<br />
Nachdem wir die rumänisch-serbische Grenze flüchtlinge in Litzmannstadt an. Dort wurden wir<br />
bei Jassenowo passiert hatten, war unser Treck registriert und in die Gruppe <strong>der</strong> "Ost-Volksdeut-<br />
mit Pferdegespannen zu Ende. Die leeren Wagen schen" eingetragen.<br />
und das Vieh, das wir noch hatten, wurden zur<br />
Aufnahmestelle außerhalb des Ortes gebracht,<br />
wo es eine riesige Koppel gab, die von Wagen<br />
XlV.<br />
umgeben war und vielen Pferden Platz bot. Auf 30. März 1944. Aufbruch <strong>der</strong> Gemeinde Kleinlie-<br />
einer kleineren Koppel daneben waren Rin<strong>der</strong>, bental. Kurzfassung <strong>der</strong> drei Autoren dieses Bei-<br />
die laut muhten und brüllten. Dort standen ebentrages, 2003.<br />
falls viele Wagen, zu denen wir auch unsere Der Treck des Dorfes Kleinliebental setzte sich<br />
stellten.<br />
am 30. März 1944 in Richtung Ovidiopol in Be-<br />
Den Empfang unserer Fuhrwerke und Tiere wegung. Ein Teil <strong>der</strong> Kleinliebentaler kam we-<br />
quittierte ein Beamter. "Bewahren sie die Quitgen ungünstiger Witterungsverhältnisse erst am<br />
tung gut auf', sagte <strong>der</strong> Mann, "das Deutsche 2. April auf die Fähre. Die an<strong>der</strong>en mussten süd-<br />
Reich wird euch später dafür entschädigen." lich von Ovidiopol über die Sandbank Karolino-<br />
Heute wissen wir, dass diese Quittungen nicht Bugas nach Bessarabien flüchten. Von Bessara-<br />
22
ien ging es mit <strong>der</strong> Fähre in <strong>der</strong> Nähe von Is- samt waren es 235 Fuhrwerke mit 575 Pferden;<br />
mail über die Donau in die Dobrudscha, dann <strong>der</strong> die erste Fuhre war die des Bürgermeisters Hein-<br />
Donau entlang bis Jasenewo in Serbien und anrich Schöpp.<br />
schließend per Eisenbahn durch Rumänien, Un- Die Strecke Alexan<strong>der</strong>hilf-Oviopol beträgt neun<br />
garn und die Tschechoslowakei bis zum Warthe- Kilometer. Der Zustand <strong>der</strong> Straße hatte sich vergau<br />
bei Litzmannstadt.<br />
schlechtert, denn etliche Trecks hatten bereits<br />
xv.<br />
den gleichen Weg wie wir benutzt.<br />
Um 11 Uhr kamen wir in Ovidiopol an, wo uns<br />
eine Fähre <strong>der</strong> Wehrmacht über den Liman be-<br />
29. März 1944. Aujbruch <strong>der</strong> Gemeinde Alefor<strong>der</strong>n sollte. Da ein Nordwind das Wasser ins<br />
xan<strong>der</strong>hi/f Bericht von Eduard Mack, 1998. Schwarze Meer hin<strong>aus</strong>getrieben hatte, konnten<br />
Mit dem Näherrücken <strong>der</strong> Front wurde uns mit die Fähren jedoch nicht anlegen. Wir mussten<br />
jedem Tag klarer, was uns bevorstand, obwohl daher in den Höfen <strong>der</strong> ansässigen Ukrainer<br />
noch keine Anweisungen von den deutschen Be- übernachten. Die meisten von uns hatten aber in<br />
hörden vorlagen. Wir hörten auch, dass die deut- Ovidiopol Bekannte, von denen sie freundlich<br />
schen Gemeinden, die östlich und nordöstlich aufgenommen wurden. So auch wir. Wir über-<br />
von uns lagen, die Beresaner und an<strong>der</strong>e Nachnachteten zweimal, wurden verköstigt.<br />
barkolonien also, bereits vollständig evakuiert Am 31. März 1944, einem Freitag, konnten wir<br />
worden seien. Und so kam <strong>der</strong> Tag, an dem man endlich auf die Fähre fahren. Jede <strong>der</strong> zehn<br />
uns Männer in <strong>der</strong> Kirche zusammenrief und uns Fähren nahm 20 Fuhren auf. Die Überfahrt über<br />
den Befehl des Bereichskommandoführers BK den neun Kilometer breiten Liman dauerte etwas<br />
34 bekannt gab. Laut diesem Befehl mussten alle weniger als eine Stunde. Um 9 Uhr abends ka-<br />
Volksdeutschen unseres Bereiches in den Warmen wir in Akkermann an und übernachteten autheg~u<br />
evakuiert werden. Zur vollständigen <strong>Vor</strong>ßerhalb <strong>der</strong> Stadt am Straßenrand in <strong>der</strong> Nähe<br />
bereitung gab man uns acht Tage Zeit.<br />
des Dorfes Babaschoi.<br />
Das ganze Dorfwurde in Gruppen aufgeteilt. Die Am 1. April fuhren wir ab 9 Uhr früh auf einem<br />
Gruppen bestanden meistens <strong>aus</strong> fünf bis sieben sehr guten Weg in Richtung Manaschi und wei-<br />
Wagen; jede Gruppe bekam eine Nummer, die ter bis Baramtscha, wo wir nach insgesamt 40<br />
auf den Wagen sichtbar angebracht wurde. Unse- Kilometern Fahrt Wohnraum und Ställe für die<br />
re Gruppe erhielt die Nr. 14. Gruppenführer war Übernachtung bekamen.<br />
Friedrich Gauck, <strong>der</strong> immer vor<strong>aus</strong> fuhr und star- Am 2. April erfolgte bei starkem Regen die Weike<br />
Pferde und gute Wagen hatte.<br />
terfahrt bis Sarata. Unmittelbar nach Baramtscha<br />
Die Pferde wurden beschlagen, Wagen repariert, erblickten wir einen hohen, steilen Berg. Da <strong>der</strong><br />
das Pferdegeschirr vorbereitet. Einige Familien Feldweg nach dem starken Regen tief ver-<br />
deckten ihre Wagen mit Sperrholz, an<strong>der</strong>e mit schlammt war, war es für uns mit <strong>der</strong> schweren<br />
Blech, Wachstischtüchem o<strong>der</strong> sogar mit Teppi- Last kaum möglich, den Berg zu bewältigen. Eichen.<br />
Das sollte vor Wind, Regen und Sturm nige, die oben angekommen waren, spannten ihre<br />
schützen. Außerdem musste man einen Trog für Pferde <strong>aus</strong> und gingen zurück, um den an<strong>der</strong>en<br />
die Pferde mitnehmen. Alle Fuhren waren bereits zu helfen. Hinter dem Berg war <strong>der</strong> Weg bis ei-<br />
am 28. März nachmittags beladen worden. nen Kilometer vor Sarata wie<strong>der</strong> besser, ehe er<br />
Mit dem Glockengeläut zum Abschied wurden sehr löchrig wurde. Zudem sank die Temperatur<br />
die Pferde am 29. März um 6 Uhr früh einge- plötzlich rapide, und <strong>aus</strong> dem Regen wurde<br />
spannt. Unsere Kuh, zwei Rin<strong>der</strong>, zwei Schafe Sturm. Man konnte kaum noch etwas sehen. Vie-<br />
und ein Schweinchen wurden losgebunden und le Fuhren blieben in den Löchern stecken, und<br />
<strong>aus</strong> dem Stall getrieben, damit sie nicht verhun- nicht alle kamen in Sarata an; die davon Betrofgerten.fenen<br />
mussten draußen im Sturm übernachten.<br />
Am Dorfende in Richtung Ovidiopol wurde <strong>der</strong> Am 4. April ging es am frühen Morgen in Rich-<br />
Treck unseres Dorfes zusammengestellt. Insge- tung Tatar-Bunar (Tataresti) weiter, am 6. April<br />
23
nach Spaska und weiter bis Fantana Zenala und Kardal auf eine große Fähre für 200 Fuhren ver-<br />
Ismail. Im gag<strong>aus</strong>ischen Dorf Derben<strong>der</strong>i Karaladen.tschan blieben wir sieben Tage und feierten dort Die Donau ist an dieser Stelle etwa zwei Kilome-<br />
Ostern.<br />
ter breit; unsere Fähre brauchte nur 15 Minuten<br />
Am 15. April erhielten wir die Anweisung, nach bis Isny (Isaccea) unweit <strong>der</strong> Stadt Tulcea, die<br />
Norden zu fahren. Wir überquerten den Pruth bei zur rumänischen Dobmdscha gehört.<br />
Kagul o<strong>der</strong> Falciu und zogen über die rumäni- So verließen wir Bessarabien, bevor wir drei<br />
schen Karpaten nach Ungarn.<br />
Tage in Nikolitel verbrachten und dann die Do-<br />
Weiter bewegte sich <strong>der</strong> Treck in Richtung Mosnau entlang nach Süden durch die Dobmdscha,<br />
covcii. Wir fuhren von 5 Uhr morgens bis 8 Uhr Bulgarien und die Walachei (Alt-Rumänien) bis<br />
abends, schafften aber nur die Hälfte <strong>der</strong> Strecke. in das Banat zogen.<br />
Es war ein sehr schwerer Feldweg, den wir nach Am 22. Juni 1944 verließen wir die letzte Über-<br />
dem langen Regen antrafen. Wir übernachteten nachtungsstelle auf rumänischem Boden. Um 3<br />
mitten auf dem Feld in einem Tal zwischen zwei Uhr bewegte sich <strong>der</strong> Treck vom Aufenthaltsort<br />
beachtlich hohen Bergen. Der Treck <strong>aus</strong> Großlie- Belobreschi (Diritsch) zur Grenze. Zwei Kilomebental<br />
war bereits vor uns dort, und die Leute ter nach <strong>der</strong> rumänisch-serbischen Grenze fuhren<br />
warnten uns davor, Feuer zu machen, da wir uns wir durch das schöne große Dorf Rotkirchen, das<br />
in Feindesnähe befanden. Es dauerte auch nicht zur Hälfte von deutschen Banatern besiedelt war.<br />
lange, bis wir ein Flugzeug hörten, das sich uns Dann ging es sieben Kilometer weiter zum Sam-<br />
näherte. Bald krachte es einmal und dann noch mellager Jassenowo in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Bahnstation<br />
einmal. Es ist unmöglich zu beschreiben, wie vor Weißkirchen.<br />
allem die Frauen und die Kin<strong>der</strong> schrieen, was Sonntag, 25. Juni 1944: Wir sind in einem Eisen-<br />
für eine Panik folgte! Die Pferde wieherten, zerrbahnzugund fahren in Richtung Warthegau...<br />
ten an den Leinen. Dann wurde alles still.<br />
Wir blieben drei Tage in Moscovci, wo sich die<br />
Trecks <strong>aus</strong> Alexan<strong>der</strong>hilf, Neuburg und Marien-<br />
XVI.<br />
tal sammelten. Man teilte uns mit, dass die Brü- Ende März 1944. Aufbruch <strong>der</strong> Gemeinde Selz.<br />
cke über den Pruth bei Kagul gesprengt worden Bericht von Eduard Stephan, 2000.<br />
sei und russische Panzertruppen im Norden nicht Dass die Lage <strong>der</strong> Flüchtlinge Ende März 1944<br />
allzu weit von uns operierten. Jede Nacht sahen immer brenzliger wurde, konnte man am Bei-<br />
wir, wie Galatz bei Nacht vom Licht <strong>der</strong> Scheinspiel <strong>der</strong> Gemeinde Selz sehen. Selz gehörte zum<br />
werfer und Leuchtkörper beim Bombardement Rayon Kutschurgan und wurde vom BK 23 be-<br />
<strong>der</strong> Stadt durch sowjetische Flieger taghell wurtreut. Die sowjetische Armee hatte den Bug überde.quert<br />
und dann nördlich von Dubossary den<br />
Am frühen Morgen des 21. Aprils fuhren wir in Dnjestr und schließlich auch den Pruth in <strong>der</strong><br />
südlicher Richtung weiter. Wir bemühten uns, Nähe <strong>der</strong> Stadt Jassy. Es kam fiir die Flüchtlinge<br />
von <strong>der</strong> Front wegzukommen, da man den Kano- zu großen Stauungen an den Dnjestr- und Limannendonner<br />
schon deutlich hörte. Nach einer Fahrt überquerungen. Die Partisanen wurden immer<br />
von 30 Kilometern kamen wir in <strong>der</strong> moldaui- aktiver und leisteten gute <strong>Vor</strong>arbeit fiir die Rote<br />
schen Siedlung Kuzawoda an, die in <strong>der</strong> Nähe Armee.<br />
von Vulcanesti liegt. Das Futter für Pferde und Als8elz von deutschen Soldaten als letztes Dorf<br />
Kühe war sehr teuer. Ein Kilo Mais kostete 20 des BK 23 mit <strong>der</strong> Fähre bei Majaki über den<br />
Lire. Wir blieben sechs Tage in Kuzawoda. In Dnjestr geschleust wurde, tauchten plötzlich am<br />
dieser Zeit sammelten sich dort die Fuhren <strong>aus</strong> Ostufer unbekannte Truppen auf und feuerten auf<br />
sechs Schwarzmeerdörfern und Odessa. die Fähre. Ein großer Teil <strong>der</strong> Selzer, die am<br />
Am 28. April wartete eine Wehrmachtsfahre in IUfer noch auf ihre Überfahrt warteten, wurde<br />
Kargatschi auf uns, um uns über die Donau zu festgenommen und zurück nach Selz gebracht,<br />
bringen, und am nächsten Tag wurden wir in wo sie bis Kriegsende blieben. Nach dem 9. Mai<br />
24
1945 wurden sie in den hohen Norden nach Workuta<br />
verbannt.<br />
Drommina und Umgebung. Nun waren die einstigen<br />
Nachbarn <strong>aus</strong> Peterstal 30 Kilometer voneinan<strong>der</strong><br />
entfernt, und dieser Trend sollte sich in<br />
<strong>der</strong> Zukunft mit je<strong>der</strong> Flucht, Umsiedlung und<br />
XVII.<br />
Empfang im Warthegau im Sommer 1944. Be-<br />
Evakuierung dramatisch verstärken.<br />
<strong>Vor</strong>erst aber hatten wir endlich eine feste Adresrichtet<br />
von Eduard Stephan, 2000.<br />
se: Dorf Sitzenroten, Gemeinde Reichwald,<br />
Wir wurden in <strong>der</strong> Kreisstadt Konin <strong>aus</strong>geladen Kreis Konin, Warthegau-6.<br />
und noch im Dunkel <strong>der</strong> ersten Nacht in zwei Wir konnten wie<strong>der</strong> in richtigen Betten schlafen.<br />
Flüchtlingslagern untergebracht. Das war <strong>der</strong> Da es Arbeit so schnell nicht gab, suchte sich je-<br />
Anfang <strong>der</strong> Trennung und des Auseinan<strong>der</strong>le<strong>der</strong> eine Beschäftigung. Alle Peterstaler bekamen<br />
bens <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> unserer Gemeinde Peterstal. Hilfen vom Staat, und man wies uns auch Le-<br />
Die eine Hälfte <strong>der</strong> Peterstaler wurde im Zentbensmittelkarten zu, ohne die man we<strong>der</strong> Brot<br />
rum <strong>der</strong> Stadt neben einer Kirche in Gemeinde- noch Fleisch, Fett, Zucker o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Lebensräumen<br />
einquartiert, die für Flüchtlinge hergemittel kaufen konnte. Für Kleinkin<strong>der</strong> gab es eirichtet<br />
wurden. Dort gab es auch große Lagerhalnen Kin<strong>der</strong>platz, schwarzmeerdeutsche Schüler<br />
len für das gesamte Gepäck <strong>der</strong> Peterstaler. Die wurden Schulen zugewiesen.<br />
an<strong>der</strong>e Hälfte <strong>der</strong> Peterstaler wurde südöstlich In <strong>der</strong> Erntezeit konnten sich einige Flüchtlinge<br />
am Rande <strong>der</strong> Stadt neben <strong>der</strong> Warthe in einem bei den Bauern als Tagelöhner verdingen. Unser<br />
dreistöckigen Schulgebäude untergebracht, auf Leben passte sich nach und nach den Umständen<br />
dessen Hof sich mehrere einstöckige Häuser be- an. Allgegenwärtig aber blieb angesichts <strong>der</strong> hefanden.<br />
In diesen Unterkünften blieben wir zwei ranrückenden Front die Angst um unsere Zu-<br />
Wochen und wurden dort auch verpflegt. Es gab kunft.<br />
wa~e Mahlzeiten, oft Gemüsesuppen und Kaf- Es war die Zeit, da sich die Ereignisse auf den<br />
feeersatz. Viele Peterstaler kannten die Speisen Kriegsschauplätzen überschlugen. Am 6. Juni<br />
nicht und verpflegten sich so lange und so gut es 1944 waren die Alliierten in <strong>der</strong> Normandie ge-<br />
ging mit ihrem Proviant.<br />
landet, am 20. Juli misslang ein Attentat auf Hit-<br />
Konin war keine große Stadt, in <strong>der</strong> nur wenig ler, und im August organisierten Wi<strong>der</strong>stands-<br />
los war. Da wir nichts zu tun hatten, bummelten kämpfer einen Aufstand in Warschau, <strong>der</strong> von<br />
wir öfter durch die Stadt, wo die Gaststätten fast Wehrmacht und SS blutig nie<strong>der</strong>geschlagen wur-<br />
menschenleer waren. Um in einer Gaststätte zu de, nachdem die Aufständischen vergebens auf<br />
essen, benötigte man Lebensmittelmarken, die Unterstützung durch die Rote Armee gewartet<br />
wir aber nicht hatten. Immerhin konnte man Li- hatten. Die <strong>Deutschen</strong> begannen an <strong>der</strong> UnfeWmonade<br />
und Bier ("Dünnbier"; Anm. d. Red.) barkeit des "Führers" zu zweifeln. Sie waren ge-<br />
kaufen Es gab auch einige Kinos, die wir fleißig for<strong>der</strong>t wie noch nie in ihrer Geschichte.<br />
besuchten. Das war etwas Neues und erinnerte Gefor<strong>der</strong>t waren auch die Volksdeutschen, also<br />
uns an die <strong>Vor</strong>kriegszeit. Gezeigt wurden meis- WIr.<br />
tens friedliche Heimatfilme. Lediglich die W 0- In den Monaten September bis November 1944<br />
chenschau erinnerte an den gr<strong>aus</strong>amen Krieg. wurden alle wehrtauglichen Männer <strong>der</strong> Volks-<br />
Eines Morgens standen Pferdegespanne <strong>der</strong> poldeutschen zur Wehrmacht, zur Waffen-SS o<strong>der</strong><br />
nischen Bauern vor dem Lager. Die Fahrer hatten zum Volkssturm eingezogen. Man sprach vom<br />
die Aufgabe, uns in die verschiedenen Dörfer zu "letzten Aufgebot des Führers". Die Männer<br />
bringen. Unsere Peterstaler, die in den Häusern wurden an verschiedenen Fronten eingesetzt und<br />
neben <strong>der</strong> Warthe untergebracht waren, wurden kamen auch in verschiedene Gefangenschaften -<br />
in das 18 Kilometer entfernte Städtchen Reichwald<br />
mit den umliegenden Dörfern Sitzenroten,<br />
amerikanische, britische, französische, sowjetische<br />
-o<strong>der</strong> starben für Deutschland. Die noch ar-<br />
Grochowje, Weißfrauen, Ljubina und an<strong>der</strong>en beitsfähigen Männer und Frauen wurden zum<br />
gebracht. Die übrigen Peterstaler kamen nach Arbeitsdienst einberufen, um Schützengräben<br />
25
<strong>aus</strong>zuheben o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Arbeiten zu verrichten. Durch den fluchtartigen Aufbruch waren bald<br />
Jugendliche zwischen 15 und 17 <strong>Jahren</strong> kamen in alle Wege hoffnungslos verstopft. Der Treck<br />
Arbeitsdienst-Lager (o<strong>der</strong> auch schon zur Wehr- kam nur langsam voran. Die Frauen waren auf<br />
macht o<strong>der</strong> Waffen SS. Anm. d. Red.). Unsere sich allein angewiesen, denn ihre Männer waren<br />
Mädels zwischen 15 und 18 Jahten kamen in<br />
BDM-Lager, wurden Krankenpflegerinnen und -<br />
beim Volkssturm o<strong>der</strong> bei den Soldaten. Die<br />
Flucht über die O<strong>der</strong> schafften die meisten<br />
helferinnen in Lazaretten, Telefonistinnen, Ar- Volksdeutschen nicht mehr. Sie wurden von sobeiterinnen,<br />
Angestellte.<br />
wjetischen Panzern eingeholt und in Zügen bald<br />
Alle außer Alten, Kranken und Müttern mit in den hohen Norden des europäischen Russ-<br />
Kleinkin<strong>der</strong>n waren im Einsatz. Es wurde kein lands, nach Sibirien, Kasachstan usw. gebracht.<br />
Unterschied zwischen Einheimischen und Was darauf folgte, wissen <strong>Russland</strong>deutsche bes-<br />
Flüchtlingen gemacht, als es um den letzten<br />
Kampf ging. Für die Volksdeutschen <strong>aus</strong> <strong>der</strong><br />
ser als <strong>der</strong> Rest <strong>der</strong> Welt.<br />
Ukraine hatte sich in kurzer Zeit viel geän<strong>der</strong>t.<br />
Konstant blieb nur die Angst vor einer ungewis-<br />
KATHARINA SCHÄFER<br />
sen Zukunft.<br />
Im Oktober 1944 beschleunigte die nationalso-<br />
Januar -Mai 1945<br />
zialistische Führung die Einbürgerungsaktion <strong>der</strong> Im Januar 1945 war es kalt. Auch bei uns in<br />
Volksdeutschen. Es wurden sogar Eisenbahnzü- Farnau im Warthegau, wohin wir vor gut einem<br />
ge zu Einbürgerungsbüros umfunktioniert und halben Jahr <strong>aus</strong> Friedenheim im Schwarzmeerge-<br />
von Ort zu Ort zu den Flüchtlingen geschickt, biet evakuiert worden waren. Die Rote Armee<br />
um möglichst viele neue Deutsche zu erfassen. kam von Tag zu Tag näher. Unruhe und Angst<br />
Die Zeit war aber knapp, und die Front rückte hatten sich bei <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung <strong>aus</strong>ge-<br />
unwi<strong>der</strong>stehlich näher, so dass nicht alle Volksbreitet.deutschen eingebürgert werden konnten. Unter Am frühen Morgen des 21. Januars war das gan-<br />
den nicht eingebürgerten Flüchtlingen befanden ze Dorf auf den Beinen. Unser Gutsherr ließ vor<br />
sich auch viele Peterstaler, die in Drommin und unserer Tür ein Pferde gespann auffahren und<br />
in d~r Umgebung lebten.<br />
sagte: "Katharina, es ist sehr eilig. Die Russen<br />
Weihnachten 1944. An diese Weihnachten im werden noch heute einmarschieren. Wir müssen<br />
Warthegau erinnern sich alle Schwarzrneerdeut- schnell aufbrechen. Nimm nur das Notwendigste<br />
sche, die dabei waren und noch am Leben sind. und warme Klei<strong>der</strong> mit. Unser Treck geht nach<br />
Es war ihr erstes und letztes Weihnachtsfest in Dresden."<br />
"Großdeutschland" nach ihrer Auswan<strong>der</strong>ung Unter großen Schwierigkeiten brachten wir mei-<br />
<strong>aus</strong> dem Schwarzmeergebiet.<br />
nen Mann auf den Wagen; Johann war gelähmt<br />
Am 12. Januar 1945 begann die Winteroffensive und konnte auch nicht sprechen, war aber geistig<br />
<strong>der</strong> Roten Armee. Die Weichsel war inzwischen voll auf <strong>der</strong> Höhe. Nach ihm kamen die beiden<br />
fest zugefroren. Sowjetische Truppen drangen Kleinen, Viktor und Adam, dran. Der Gutsherr<br />
auch in den W arthegau ein und hinterließen eine brachte uns noch zwei Fe<strong>der</strong>bettdecken und vier<br />
blutige Spur von Vergewaltigungen, Verschlep- Fe<strong>der</strong>kissen. Zum Schluss stiegen auch unser<br />
pungen und Tod. Die <strong>Deutschen</strong> flohen. Sohn Philipp, unsere Tochter Emilie und ich auf<br />
Mitte Januar 1945 erfolgte die erste große den Wagen. Der älteste Sohn Klemens war be-<br />
Fluchtwelle. Es bildeten sich Trecks nach Sachreits deutscher Soldat und Tochter Florentine in<br />
sen, Brandenburg und Bayern sowie in das Sude- Lübeck zur Ausbildung. Wir begaben uns ohne<br />
tenland. Ende Januar 1945 for<strong>der</strong>ten die deut- sie wie<strong>der</strong> auf die Flucht in eine neue Ungewissschen<br />
Behörden alle Umsiedler auf, sofort den heit. Wir waren wie<strong>der</strong> mitten in einem Treck.<br />
Warthegau in Richtung Westen zu verlassen. Der Unser erstes Ziel war die Stadt Kruschwitz, die<br />
Befehl kam spät, für viele zu spät. Waren die in <strong>der</strong> Nähe unseres Dorfes lag. Von Kruschwitz<br />
Behörden etwa selbst überrumpelt worden? mussten wir über die Netze-Brücke fahren, die<br />
26
KatJiarina Schäfer (vorne Mitte), geb. Groß, geb. 17. Oktober 1896 in Marjanowka bei Selz, Odessa, bei ihrer<br />
Feier zum 90. Geburtstag in Karlsruhe mit Kin<strong>der</strong>n, Schwiegerkin<strong>der</strong>n, Enkeln und Urenkeln.<br />
von <strong>der</strong> Wehrmacht bewacht wurde. Plötzlich lauter. Die Überlebenden begannen mit <strong>der</strong> Berrannte<br />
ein Soldat auf uns zu und umarmte uns. gung ihrer toten und verwundeten Angehörigen.<br />
Wir waren so überrascht, dass wir den Mann Als wir unser Gefährt auf die Ch<strong>aus</strong>see zurücknicht<br />
sofort erkannten. Es war unser Sohn Kle- bringen wollten, hörten wir plötzlich wie<strong>der</strong><br />
mens! Nach einer kurzen Begrüßung sprang er Schreie: "Sie kommen, sie kommen zurück!"<br />
wie<strong>der</strong> von unserem Wagen herunter und sagte: Alles rannte wie<strong>der</strong>. Johann, mein Mann, zeigte<br />
"Hinter Kruschwitz zieht <strong>der</strong> Treck in Richtung auf Philipp und Emilie. Er meinte wohl, sie soll-<br />
Strelno. Das sind elf Kilometer. Ich hole euch ten in dieser Situation auf keinen Fall fliehen,<br />
mit dem Fahrrad ein, und wir nehmen dann einen was sie auch nicht taten. Adam und Viktor mussan<strong>der</strong>en<br />
Weg, denn <strong>der</strong> Treck ist zu langsam. Es ten schnell auf den Wagen klettern und wurden<br />
empfieWt sich zur Zeit auch nicht, auf <strong>der</strong> mit Fe<strong>der</strong>kissen zugedeckt. Johann und ich leg-<br />
Ch<strong>aus</strong>see zu blieben. Jetzt aber schnell weiter. ten uns auf die beiden und zogen uns die Fe<strong>der</strong>-<br />
Wir müssen die Brücke sprengen..." decken über die Ohren. Schon trommelten die<br />
Wir erreichten Strelno nicht. Nach einer Stunde Kugeln. Dann ein Wiehern, <strong>der</strong> Wagen machte<br />
war eine Panik <strong>aus</strong>gebrochen. Menschen schrien, einen gewaltigen Ruck, ich weinte und betete so<br />
sprangen von ihren Wagen, rannten auf das zuge- laut wie noch nie. Bald hörte ich nur noch Heufrorene<br />
Feld und warfen sich auf den Boden. len, Schluchzen und Stöhnen. Schnell schob ich<br />
Zwei sowjetische Flugzeuge kamen so nahe an die Decken zur Seite, um zu sehen, wie es den<br />
uns heran, dass man sogar die Gesichter <strong>der</strong> Flie- Kin<strong>der</strong>n ging. Und wie<strong>der</strong> die Schreie: "Sie komger<br />
erkennen konnte. Sie flogen den Treck ent- men!" Doch diesmal war es ein deutsches Jagdlang<br />
und schossen auf alles. Als die Flugzeuge flugzeug, während die russischen "Mstitel" ("Räverschwunden<br />
waren, wurde das Geschrei noch cher") verschwunden waren. Endlich vorbei!<br />
27
Ich hatte ein paar Beulen abbekommen. Eine Ku- In Farnen hatte sich alles verän<strong>der</strong>t. Polnische<br />
gel hatte Johanns gelähmtes rechtes Bein getrof- Bauern hatten wie<strong>der</strong> ihre Güter zurückbekomfen,<br />
was ich aber erst später entdeckte. Die Pfermen, und auf den Straßen wimmelte es von bede<br />
bluteten und konnten sich kaum bewegen. trunkenen Freiheitskämpfern und sowjetischen<br />
Philipp und Emilie kamen zurück. Philipp war Soldaten. Jedes H<strong>aus</strong>, alle Zimmer, Keller und<br />
am Nacken getroffen worden und blutete. Wir Dachgeschosse, Scheunen und Ställe wurden<br />
bandagierten ihn und schauten uns um: Überall durchsucht. Gefragt waren Schmuck, Uhren und<br />
Leichen und Verwundete. Einige standen auf, Frauen; Vergewaltigungen waren an <strong>der</strong> Tages-<br />
brachen aber wie<strong>der</strong> zusammen. Hinter uns lagen ordnung. Ich meine, dass die ehemaligen Frei-<br />
angespannt tote Pferde. Es war ein furchtbares heitskämpfer noch gründlicher als die sowjeti-<br />
Bild, das sich uns bot.<br />
schen Soldaten waren. Es gab keine Nacht, in <strong>der</strong><br />
Es dauerte nicht lange, bis wir son<strong>der</strong>bare Geräu- sie nicht kamen, um etwas zu suchen. Und sie<br />
sche vernahmen. Sie wurden lauter und lauter. suchten überall. Sogar Johann wurde mehrmals<br />
Schließlich zeigten sich sowjetische Panzer, die <strong>aus</strong> dem Bett geworfen.<br />
sich uns näherten und mit ihren Ketten alles zer- Ende April 1945 wurde es in Farnen ruhiger, und<br />
quetschten. Viele Panzer hatten Aufschriften: am 25. Mai verlud man uns auf Güterwaggons<br />
"Smertj Faschistam" o<strong>der</strong> "Mstitelj", also "Tod und brachte uns in die UdSSR. Am 18. August<br />
den Faschisten" bzw. "Rächer".<br />
kamen wir in Ber- Tschuguskaja Schachta, Rayon<br />
Obwohl je<strong>der</strong> etwas Weißes zum Zeichen <strong>der</strong> Tschelkarskij, Gebiet Aktjubinsk, Kasachstan,<br />
Aufgabe herzeigte, wurde alles, was nicht ent- an, wo wir in Baracken untergebracht wurden.<br />
kommen konnte, nie<strong>der</strong>gewalzt.<br />
Johanns Gesundheit verschlechterte sich unauf-<br />
Wir saßen wie versteinert auf unserem Wagen, haltsam. Die Stelle um die Schusswunde am ge-<br />
<strong>der</strong> immer noch am Rande <strong>der</strong> Ch<strong>aus</strong>see stand, lähmten Bein entwickelte sich zu einer unheilba-<br />
und 't"arteten auf das Ende. Es kamen immer ren Gangräne. Er starb daran am 29. Mai 1946.<br />
mehr Panzer hinzu. Ihnen folgten die Infanterie Erst als mich Jahre später die Nachricht erreich-<br />
und Spezialeinheiten, die uns wie<strong>der</strong> nach Farte, dass Florentine noch lebte, in Sibirien, und<br />
nen brachten. Die Brücke über die Netze stand Klemens den Krieg in Jugoslawien und die ame-<br />
noch. Also hatten die <strong>Deutschen</strong> es nicht mehr rikanische Kriegsgefangenschaft überstanden<br />
geschafft, sie zu sprengen.<br />
hatte, bekam mein Leben wie<strong>der</strong> einen Sinn.<br />
2~