peter winterhoff-spurk
Heimkatastrophen
Peter Winterhoff-Spurk, einer der führenden deutschen Medienpsychologen, beschäftigt sich seit
Langem mit der zunehmenden medialen Präsenz von Katastrophen in unserem Alltag und zeigt in
seinen Publikationen, welch verheerende Folgen für die menschliche Psyche damit einhergehen.
Anna-Verena Nosthoff und Alexander Pühringer trafen den ehemaligen Professor der Universität
des Saarlandes zum Gespräch über das schlechte Spendengewissen auf dem Sofa, das unangenehme
Gefühl, im Zug gegen die Fahrtrichtung zu fahren und die Frage, warum wir vor allem dann
gute Gastgeber sind, wenn Hiobsbotschaften um Einlass in unsere gute Stube bitten.
Herr Winterhoff-Spurk, ist es zynisch,
zu behaupten, dass Katastrophen
für uns in erster Linie Unterhaltung
darstellen?
Peter Winterhoff-Spurk: Nein, überhaupt
nicht. Der Blick auf die Massenmedien
zeigt das ja jeden Tag.
Katastrophen haben einen hohen
Nachrichtenwert. All das, was kurz,
dramatisch und blutig ist, hat eine
sehr hohe Chance, auf der Medienagenda
ganz oben zu stehen. Viele
Katastrophen haben mit uns persönlich
ja kaum etwas zu tun. Da kann
man schon berechtigterweise die Frage
stellen, warum wir uns überhaupt
in einer solchen Intensität mit ihnen
auseinandersetzen. Sicherlich ist einer
der Gründe dafür ihr Unterhaltungswert.
Sie skizzieren in Ihren Publikationen
die Herausbildung des so genannten
„histrionischen Charakters“, der
einerseits von einem verstärkten
Bedürfnis zur ständigen Dramatisierung,
andererseits auch von großer
Unsicherheit geprägt ist. Ist diese
starke Tendenz hin zum Konsum von
Katastrophen auch eine kompensatorische?
Das glaube ich nicht. Der Histrio, den
man früher als „hysterische“ Persönlichkeit
charakterisiert hat, hat in der
Tat einen hohen Anregungsbedarf im
Sinne des „Sensation seeking“. Aus
medienpsychologischen Untersuchungen
weiß man, dass Katastrophen
immer physiologische Erregung beim
Betrachter auslösen. Das ist ein Zustand,
den der Histrio gern hat. Ich
würde das aber nicht als Kompensation
bezeichnen. Vielmehr fördern die
Medien in ihrer Bereitschaft, Katastrophen
zu zeigen, die Ausbildung
des histrionischen Sozialcharakters.
Wie muss man sich den „Histrio“
denn genau vorstellen? Ist das ein
Mensch, der nach einer unmittelbaren
Realkonfrontation mit dem Schrecklichen
strebt, der sich damit tagtäglich,
vielleicht sogar in seinem Beruf,
umgibt?
Das muss nicht zwangsläufig so sein.
Ein Histrio kann beispielsweise auch
jemand sein, der selbst stark unter
Ängsten leidet. Wenn ich sehe, dass
ein anderer eine Katastrophe erleidet,
ist das auch etwas, was mich beruhigen
kann. Das ist sicherlich auch
eines der Motive, das uns zu einem
verstärkten Katastrophenkonsum verleiten
kann. Das Beobachten von Katastrophen
kann beispielsweise auch
eine Form der Angstabwehr sein.
Nun gibt es aber auch gewisse
„Urfunktionen“. Häufig löst es beispielsweise
unangenehme Gefühle
aus, wenn wir im Zug in die entgegengesetzte
Fahrtrichtung fahren. Wir
schauen lieber in die Richtung, in die
wir uns bewegen.
Stimmt, das Zugbeispiel ist sehr passend.
In der Tat ist es so, dass Menschen
lieber sehen möchten, was auf
sie zukommt. Das ist auch einer der
Gründe, warum heute eher schlechte
als gute Nachrichten Aufmerksamkeit
erregen. Viele Journalisten vertreten
aus diesen Gründen auch die
Auffassung: ‚Only bad news are good
news.‘ Wir haben häufig Angst, etwas
zu verpassen, wenn uns schlechte
Nachrichten entgehen. Wenn ich auf
eine schlechte Nachricht nicht adäquat
reagiere, kann das individuell
in eine Katastrophe führen. Das Wort
„Nachricht“, das ‚Sich-nach-etwas-
Richten‘ kommt nicht von ungefähr.
Der Reflex, der hier ein unangenehmes
Gefühl verursacht, ist uralt.
Insbesondere die Bildmedien nutzen
ihn für eigene Zwecke und bauen
ihn wuchtig aus. Die Medienma-
Das Leid, das uns
alltäglich durch die
Medien erreicht,
überfordert uns. Wir
sind soziale Wesen, in
deren Bekanntenkreis
höchstens ca. 25
bis 100 Menschen
passen. Wenn jedoch
tagtäglich Tausende
von Menschen sterben,
dann interessiert uns
das nicht mehr.
interview
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untitled 004 Herbst 2012
Peter Winterhoff-Spurk
geboren 1945 in Grimma / bis 2010 Professor für Medienpsychologie
und Leiter der Arbeitseinheit für Medien- und Organisationspsychologie
an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken /
Autor zahlreicher Fach- und Sachbücher / Mitbegründer und langjähriger
Herausgeber der Zeitschrift „Medienpsychologie“ / heute
Verleger beim Seume-Verlag in Leipzig.
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