16 2/2009
einblicke Armin Pfahl-Traughber Thesen für eine aufgeklärte Religionskritik Das Aufkommen der „Neuen Atheisten“ veränderte die öffentlich wahrnehmbare Religionskritik: Zum einen erhöhte sich deren Breitenwirkung leicht, zum anderen verschärfte sich deren Ton stark. Dazu die folgenden zwölf Thesen für eine aufgeklärte Religionskritik und gegen einen selbstgefälligen Atheismus. 1. Eine Auffassung, die Religion lediglich als „Gotteswahn“ (Richard Dawkins) versteht oder meint, sie „vergiftet alles“ (Christopher Hitchens), kann nicht deren soziale Bedeutung als Erkenntnis-, Identitäts-, Integrations- oder Orientierungsfaktor begreifen und fällt hinter den Stand der Religionskritik von Feuerbach, Marx, Darwin und Freud zurück. 2. Die Annahme, „eine Welt ... in der es keine Religion gibt“, kenne „keinen Krieg zwischen Israelis und Palästinensern ... keine ‚Probleme‘ in Nordirland“ (Richard Dawkins), ignoriert, dass Religion nicht für alles Elend und Übel der Welt verantwortlich ist und häufig lediglich als ideologischer Deckmantel für anders motivierte Konflikte dient. 3. Die Behauptung, mit Darwin sei die Religion erledigt, verkennt zum einen, dass der sich als Agnostiker verstehende Naturforscher den Deismus für kompatibel mit seiner Evolutionstheorie hielt, und zum anderen, dass er eine überaus differenzierte Auffassung zu Entstehung, Funktion und Wertschätzung von Religion hatte. 4. Die Deutung, wonach die Religion „gewalttätig, irrational und intolerant“ (Christopher Hitchens) sei und „die Vernunft und die Intelligenz“ (Michel Onfray) hasse, verabsolutiert bestimmte Phänomene in spezifisch historisch-politischen Kontexten zu einem inhaltlichen Zerrbild, das andere und gegenteilige Tendenzen komplett ignoriert. 5. Der Umgang von Atheisten mit Religiösen sollte von den Prinzipien des Kantschen Kategorischen Imperativs geprägt sein. Oder: „Wenn Atheisten nicht von Theisten mit negativen Vorurteilen konfrontiert werden möchten, dann dürfen sie das auch nicht bei Theisten machen.“ (Michael Shermer) 6. Die Forderung, auch gegenüber den Gläubigen Toleranz zu üben, schließt keinen Verzicht auf inhaltliche Kritik ein, steht doch Toleranz als dialektischer Begriff entgegen einer weit verbreiteten Auffassung nicht für Indifferenz und Relativismus, sondern für die formale Akzeptanz einer abgelehnten Position als legitimer Meinung im Rahmen des Pluralismus. 7. Auch irrige Annahmen sind in einer offenen Gesellschaft zu dulden, denn: „So lange die Religion Wissenschaft und Freiheit nicht bedroht, sollten wir respektvoll und tolerant sein, weil unsere Freiheit, nicht zu glauben, untrennbar mit der Freiheit anderer, zu glauben, verbunden ist.“ (Michael Shermer) 8. Demnach können Absolutheitsansprüche und Dogmatismus in Teilbereichen der Gesellschaft – von der individuellen Ethik über den religiösen Glauben bis zur ostentativen Sportbegeisterung – als Ausdruck persönlicher Freiheit geduldet werden, solange sie keinen Anspruch auf die verbindliche Gestaltung des sozialen Miteinanders erheben. 9. In diesem Sinne mag auch ein Atheismus im Namen der Aufklärung öffentlich und vehement für die Überwindung des religiösen Glaubens eintreten, wobei sich sein Ansinnen auf die Überzeugungskraft der Argumente und nicht – wie eine Diktatur im angeblichen Namen der Vernunft – auf die Repressionspraxis eines Staates stützen darf. 10. Die Behauptung, „Religionsfeindlichkeit und Menschenfreundlichkeit sind schließlich zwei Seiten der selben Medaille“ (Andreas Müller), verkennt in ihrer Einseitigkeit, dass in der historischen Rückschau sowohl Atheismus wie Religiosität je nach historisch-politischer Situation mit Menschenfreundlichkeit wie Verbrechen einhergehen konnten. 11. Atheismus steht für einen negativen Sammelbegriff, der alle Begründungen für die Ablehnung von Religion und somit auch totalitäre Bestrebungen wie den Stalinismus einschließt, wodurch nicht nur aus demokratischer und menschenrechtlicher Sicht eine positive Identifikation des säkularen Selbstverständnisses über den Humanismus nötig wird. 12. Die bedeutenden Konfliktlinien verlaufen heute nicht zwischen Atheisten und Gläubigen, sondern zwischen Demokraten und Extremisten, Menschenrechtlern und Unterdrückern – was eine Kooperation von atheistischen und religiösen Demokraten gegen Fanatiker der unterschiedlichsten Richtungen möglich und notwendig macht. l Diese Thesen wurden am 4. März 2009 im Humanistischen Pressedienst (hpd) veröffentlicht. ausblicke 2/2009 17
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