Geographie der Obdachlosigkeit - Freie Universität Berlin
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Restriktive Raumaufwertungsstrategien basieren auf den vier genannten Interventionsdi-<br />
mensionen. Gleichzeitig verknüpfen sie inhaltlich die For<strong>der</strong>ung nach Ordnung an das Krite-<br />
rium <strong>der</strong> öffentlichen Sicherheit, um ihr Vorgehen moralisch zu rechtfertigen. Eine soziologi-<br />
sche Grundlage für diese umstrittene Korrelation bietet die 1982 postulierte Broken Win-<br />
dows-These von James Q. WILSON und George L. KELLING. Sie führt aus, dass das negative<br />
Erscheinungsbild einer Wohngegend (z.B. eine zerbrochene Fensterscheibe) unabhängig<br />
von <strong>der</strong> objektiven Sicherheitslage Kriminalitätsfurcht bedinge. Dies führe zu einer abneh-<br />
menden Präsenz <strong>der</strong> Menschen und somit zu einer geringeren sozialen Kontrolle, was wie-<br />
<strong>der</strong>um weitere Ordnungswidrigkeiten und Kriminalität bewirke. Parallelen zur Obdachlosig-<br />
keit ziehen die Autoren mit den Worten „The unchecked panhandler is, in effect, the first bro-<br />
ken window.“ (WILSON & KELLING 1982) Gemäß dieser Idee entwickelten 1994 <strong>der</strong> New Yor-<br />
ker Bürgermeister Rudolph Giuliani und <strong>der</strong> Polizeichef Bill Bratton das restriktive Sicher-<br />
heitskonzept <strong>der</strong> Zero-Tolerance (vgl. MITCHELL 1997: 264). Es beinhaltet die Verschärfung<br />
des Rechts, umfassende Präventionsmaßnahmen im öffentlichen Raum und hartes Durch-<br />
greifen <strong>der</strong> Polizei selbst bei kleinen Vergehen (vgl. BRÜCHERT & STEINERT 1998). Es hat<br />
international, beson<strong>der</strong>s unter Konservativen und Wirtschaftsliberalen großen Zuspruch ge-<br />
wonnen (vgl. SIMON 2001: 26 ff.). Die Maßnahmen <strong>der</strong> Zero-Tolerance-Politik betreffen im<br />
beson<strong>der</strong>en Maße das Leben <strong>der</strong> Obdachlosen, weil sie alltägliche Tätigkeiten sanktioniert,<br />
denen Menschen ohne Wohnung im öffentlichen Raum nachkommen müssen (vgl. MITCHELL<br />
1997: 259). Dadurch werden Obdachlose, nicht aber die <strong>Obdachlosigkeit</strong> an sich bekämpft.<br />
MITCHELL erkennt in dieser Politik den Charakter <strong>der</strong> von Neil Smith 1996 postulierten „re-<br />
vanchistischen Stadt“ (vgl. ebd. 1997: 258). Ihr Ziel sei die vollständige Rückeroberung <strong>der</strong><br />
Innenstädte durch die funktionalen Eliten <strong>der</strong> gegenwärtigen Gesellschaft. Dabei tragen die-<br />
se ihre suburban geprägten Vorstellungen von „geordneten Landschaften“ in die Zentren. Sie<br />
for<strong>der</strong>n und för<strong>der</strong>n die Aufwertung des urbanen Raums und setzen sie auch unter Zuhilfe-<br />
nahme staatlicher Repression durch. Das Ergebnis einer so vollzogenen radikalen Gentrifi-<br />
cation ist dann die vollständige Verdrängung <strong>der</strong> dort ursprünglich lebenden Armen (vgl. Giu-<br />
liani in: SMITH 1996: 230).<br />
Um Politik <strong>der</strong> Verdrängung gesellschaftlich zu rechtfertigen, werden die Ursachen <strong>der</strong> Ar-<br />
mut im politisch-medialen Diskurs zunehmend individualisiert (vgl. WEHRHEIM 2006: 25, BE-<br />
LINA 1999: 60). Strukturelle und wirtschaftliche Gründe für <strong>Obdachlosigkeit</strong> werden hingegen<br />
vornehmlich ausgeblendet (vgl. MITCHELL 1997: 274). Demnach verweigerten Obdachlose<br />
selbst die Vorzüge <strong>der</strong> Gesellschaft. Sie gelten in dem Sinne als freiwillig obdachlos. Gleich-<br />
zeitig forcieren Medien anhand von öffentlichkeitswirksamen Einzelfällen vorrangig das Ge-<br />
fühl einer allgegenwärtigen Unsicherheit im öffentlichen Raum (vgl. GARLAND 2001: 287 ff.,<br />
NCJC 1995, SIEBEL 2003: 256). Sie schaffen eine Korrelation zwischen Armut und Kriminali-<br />
tät und tragen maßgeblich zur Manifestation von Stereotypen bei (WEHRHEIM 2006: 25).<br />
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