RA Nr. 218 - Rote Anneliese
RA Nr. 218 - Rote Anneliese
RA Nr. 218 - Rote Anneliese
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NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 / Fr. 8.– / www.roteanneliese.ch<br />
Frauenstreik<br />
Vor 20 Jahren, am 14. Juni 1991, legten Hunderttausende<br />
Frauen in der Schweiz ihre Arbeit nieder.<br />
Unter dem Motto «Wenn Frau will, steht alles still»<br />
wurde für die Durchsetzung des Gleichstellungsartikels<br />
gekämpft – auch im Wallis.<br />
SEITE › 8<br />
Aufgeflogen<br />
Gesucher Neonazi<br />
versteckt sich in Visp<br />
SEITE › 3<br />
Ausserdem:<br />
Obergommer Deponie wird<br />
endlich geräumt<br />
Seite 5<br />
C-Justiz deckt korrupte<br />
Vergabepraxis in Bitsch<br />
Seite 7<br />
Skandalöse Kündigung<br />
Guttet wehrt sich für<br />
seine Kindergärtnerin<br />
SEITE › 6<br />
Ronald M. Schernikau<br />
Dichter, Kommunist<br />
und schwul<br />
SEITE › 12
2 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 3<br />
Eine laienhafte Schulpolitik<br />
und korrupte Behörden<br />
Die Briger Posse um die Evangelische<br />
Schule zeigt eins: Auch die gewählten<br />
Behörden sind mit ihrem Latein bald<br />
einmal am Ende, wenn es darum geht,<br />
unsere Schulen für die Herausforderungen<br />
der Zukunft neu aufzustellen.<br />
Die Meisten Verantwortlichen sind froh,<br />
wenn sie den Status Quo verwalten und<br />
damit unpopulären Entscheiden aus<br />
dem Weg gehen können. In Brig führt<br />
diese Mentalität zur Schliessung der<br />
Evangelischen Schule – die bildungspolitischen<br />
Kleinkrämer mit deren Verwalter<br />
im Rücken haben gewonnen.<br />
Warum Kinder lieber an die Klein-<br />
Schule wechselten zeigt das Beispiel<br />
der Schülerin R. aus Brig. Sie wurde an<br />
der Schule gemobbt, von ihrer Lehrerin<br />
nicht unterstützt und sogar von ihr geschlagen<br />
– gegen die Lehrerin läuft jetzt<br />
ein Strafverfahren. (Seite 6)<br />
Schlimmer wird es, wenn nicht Kleinkrämer,<br />
sondern Schildbürger einer<br />
für die Zukunft des Wallis so wichtigen<br />
Behörde wie der Schulkommission<br />
vorstehen. Dies zeigt das Beispiel der<br />
Kindergartenlehrerin Andrea Wehrlin<br />
aus Guttet. Die Kindergärtnerin und<br />
ausgebildete Musikerin ist seit knapp<br />
IMPRESSUM<br />
HE<strong>RA</strong>uSgEbER Verein <strong>Rote</strong> <strong>Anneliese</strong><br />
Postfach 441<br />
3900 brig-glis<br />
Tel. 027 923 63 89<br />
rote.anneliese@rhone.ch<br />
INTERNET www.roteanneliese.ch<br />
REDAkTOR Cyrill Pinto (cp)<br />
MITARbEITERINNEN Hilar Eggel (he)<br />
DIESER NuMMER Elisabeth Joris<br />
Marie-Theres kämpfen<br />
Laura kronig)<br />
DRuCk s+z:gutzumdruck.<br />
3902 brig-glis<br />
20 Jahren als Kindergärtnerin in Guttet<br />
tätig. Vor zwei Jahren gab sich die<br />
Schulbehörde dort, nach der Gemeindefusion,<br />
eine neue Struktur. Nur: Die<br />
Schulkommission wird weiterhin von<br />
Laien geführt. Das Resultat: Wegen<br />
Missgunst und mit fadenscheinigen<br />
Argumenten wird die Lehrerin einfach<br />
auf die Strasse gestellt. Doch die Schulkommission<br />
hat die Rechnung ohne die<br />
Eltern der Kinder von Guttet-Feschel<br />
gemacht … Jetzt wehren sich Eltern<br />
gegen den Entscheid der Laienbehörde.<br />
(Seite 4)<br />
Einblick in das korrupte Vergabesystem<br />
im Wallis erlaubt der Fall des Bitscher<br />
Werkhof-Neubaus. Auf Seite 7 werden<br />
die Argumente der Beschwerdeführer<br />
gegen den skandalösen Vorgang einer<br />
Auftragsvergabe dargelegt und gezeigt,<br />
wie das Walliser C-Korruptionssystem<br />
von der Justiz gedeckt wird. Damit sich<br />
alle Bürgerinnen und Bürger von Bitsch<br />
ein Bild über die Vorgänge bei der<br />
umstrittenen Arbeitsvergabe machen<br />
können, wird diese Ausgabe der «<strong>Rote</strong>n<br />
<strong>Anneliese</strong>» an alle Bitscher Haushalte<br />
geliefert.<br />
ABONNEMENTE<br />
Jahresabo Fr. 50.–<br />
Jugendabo Fr. 25.–<br />
unterstützungsabo Fr. 80.–<br />
BANKKONTO PC 19-8382-6<br />
Cyrill Pinto<br />
TITELBILD<br />
Fabrikarbeiterin prüft elektrische geräte nach der<br />
Endmontage. Creative common/flickr.com<br />
Inhalt<br />
Aufgeflogen:<br />
Deutscher Neonazi<br />
versteckt sich im Oberwallis<br />
SEITE › 3<br />
Entlassung:<br />
Guttet-Feschel wehrt sich<br />
für seine Kindergärtnerin<br />
SEITE › 4<br />
Illegale Deponie:<br />
CVPO-Fraktionschef kämpft<br />
für Obergestler Schandfleck<br />
SEITE › 5<br />
Mobbing an Schule:<br />
Briger Lehrerin rutscht die<br />
Hand aus – Strafanzeige<br />
SEITE › 6<br />
Vergabe-Skandal:<br />
Kantonsgericht deckt<br />
CVP-Korruption<br />
SEITE › 8<br />
Frauenstreik:<br />
20 Jahre danach ist vieles<br />
noch nicht erreicht<br />
SEITE › 9<br />
Glasfasernetz:<br />
Der schnelle Anschluss soll<br />
zum Service public gehören<br />
SEITE › 10<br />
Buch:<br />
Eine Zeitreise<br />
in Serbien<br />
SEITE › 11<br />
Hilar Eggel:<br />
Ronald Schernikau – Dichter,<br />
Kommunist und Schwul<br />
SEITE › 12<br />
Agenda:<br />
Wohin Frau/Mann geht –<br />
die <strong>RA</strong>-Tipps …<br />
SEITE › 14<br />
Obwohl er gesucht wird: Der briefkasten des Neonazis ist angeschrieben Cyrill Pinto/Facebook<br />
Rechtsextremismus<br />
Mein Nachbar, der Nazi<br />
<strong>RA</strong>THENOW/VISP – Ein verurteilter und in Deutschland gesuchter<br />
Neonazi taucht im Oberwallis unter. Erst Recherchen der «<strong>Rote</strong>n<br />
<strong>Anneliese</strong>» bringen Bewegung in den Fall Thomas K*.<br />
Die vier jungen Männer wussten wohl nicht mehr<br />
mit ihrer Zeit anzufangen als sich vollaufen zu<br />
lassen. Anschliessend machten sie die Innenstadt<br />
von Rathenow – einer Kleinstadt im Deutschen<br />
Brandenburg – unsicher. Wahllos verprügelten<br />
sie Leute auf der Strasse. Laut Anklageschrift der<br />
Staatsanwaltschaft gingen die Männer zu viert<br />
auf zwei ihrer Opfer los und traktierten diese mit<br />
Faustschlägen.<br />
Die Neonazis zogen weiter – in der Innenstadt<br />
attackierten sie schliesslich drei Personen. Auch<br />
hier griffen sie ihre ausgesuchten Opfer mit brutaler<br />
Gewalt an – einem gelingt es zu flüchten und<br />
die Polizei zu rufen. Bis diese eintrifft, ist es fast<br />
zu spät: Eine Person erleidet bei dem Angriff ein<br />
Schädel-Hirn-Trauma. Die in Überzahl agierenden<br />
Neonazis schlagen auch dann noch zu, als<br />
ihre Opfer schon auf dem Boden liegen.<br />
Hinweis aus Deutschland<br />
Vier Tage lang lag eines der Opfer mit Kopfverletzungen<br />
im Spital. Die Gerichtsverhandlung zu<br />
diesem Übergriff vom Herbst 2009 war letzten<br />
April vor dem Amtsgericht Rathenow. Nur: Thomas<br />
K, der Anführer der Neonazigruppe, war für<br />
das Gericht «nicht auffindbar». Kein Wunder: Der<br />
21-Jährige ist abgetaucht. Sein letzter Wohnort:<br />
Visp.<br />
Den Hinweis auf Ks Aufenthalt in der Schweiz<br />
erhielt der auf das Thema Rechtsextremismus<br />
spezialisierte Journalist Hans Stutz. Die Meldung<br />
mit dem vermutlichen Aufenthaltsort von K. in<br />
der Schweiz bekam er von einem Informanten<br />
in Deutschland. Dort, in der brandenburgischen<br />
Region Westhavelland, fand der Prozess gegen<br />
drei der Neonazis am 13. April statt. Zwei wurden<br />
für ihren brutalen Übergriff vom Herbst 2009<br />
zu bedingten Gefängnisstrafen verurteilt. Gegen<br />
Thomas K. wurde das Verfahren eingestellt, wie<br />
der zuständige Richter am Amtsgericht Rathenow<br />
auf Anfrage sagt – «aber nur weil man die drei<br />
Mittäter schnell vor Gericht bringen wollte». Denn<br />
gegen K., der zu diesem Zeitpunkt für das Gericht<br />
bereits nicht auffindbar war, lag schon vor dem<br />
Gerichtsprozess von Mitte April genügend vor,<br />
um ihn für lange Zeit hinter Schloss und Riegel zu<br />
bringen. Der braune Schläger wurde in mehreren<br />
Fällen wegen Körperverletzung vom Rathenower<br />
Jugendgericht rechtskräftig verurteilt – drei Jahre<br />
und sechs Monate Jugendhaft erwarten ihn des-<br />
halb in Deutschland, wie die Behörden vor Ort<br />
bestätigen. Der junge Mann ist deshalb deutschlandweit<br />
zur Fahndung ausgeschrieben.<br />
Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Potsdam zitiert<br />
detailliert aus der Akte K. Der rechtsextreme<br />
Schläger wurde zu einer sogenannten Einheitsjugendstrafe<br />
verurteilt. Mehrere Straftaten zusammen<br />
ergaben demnach «die recht hohe Strafe»,<br />
erklärt der Sprecher. K. traktierte seine Opfer mit<br />
Faustschlägen ins Gesicht. Für seine Taten büsste<br />
er bisher nicht.<br />
Im Visper City-Rhone<br />
Irgendwann im letzten Jahr muss K. in die Schweiz<br />
abgetaucht sein. Bevor er nach Visp zog, arbeitete<br />
er für die Ausserberger Gleisbaufirma Railway<br />
Tech. Während dieser Zeit wohnt er in einem<br />
Hotel. Ende März dann wird K. bei der Railway<br />
Tech entlassen – seither ist er auf Arbeitssuche.<br />
Zur gleichen Zeit, am 1. April, bezieht er eine<br />
Zweizimmerwohnung in der zwölften Etage des<br />
Visper City-Rhone-Hochhauses.<br />
In Visp lebt der untergetauchte Neonazi ein unscheinbares<br />
Leben. Trotzdem wird er ab und zu in<br />
Begleitung von weiteren Glatzköpfen gesehen. In<br />
Visper Pubs legen die Neonazis Rechtsrock auf –<br />
ab und zu wird der Hitlergruss gezeigt.<br />
Vor seiner Zeit im Wallis soll K. in der Region Thun<br />
gewohnt haben – Fotos von ihm in Thun sowie ein<br />
Betreibungsregisterauszug stützen diese These.<br />
Bei der Gemeinde Visp kennt man den untergetauchten<br />
Neonazi aus Deutschland nicht – K. hat<br />
sich vorsichtshalber nicht beim Einwohneramt<br />
gemeldet. K. hat einen Telefonbucheintrag und eine<br />
Festnetznummer – nur seine Fotos auf seinem<br />
Facebook-Profil mit dem Pseudonym Thomas<br />
Braunhemd hat er vorsichtshalber gelöscht.<br />
Das löschen der Fotos von seinem alias Facebook-<br />
Profil hat K. aber wenig genützt. Noch bevor er<br />
seine Spuren im Netz verwischt, werden die Fotos<br />
von der Antifa gespeichert und ins Netz gestellt.<br />
Dies brachte die <strong>RA</strong> auf seine Spur.<br />
In der Szene aufgewachsen<br />
Der Amtsrichter in Rathenow hält K. für einen<br />
Mitläufer der Rechten Szene. Dass er sich «geistig<br />
mit dem Nationalsozialismus auseinander gesetzt<br />
hat», traut er ihm nicht zu. Dass Thomas K. in der<br />
rechtsextremen Szene in Brandenburg aktiv ist,<br />
bestätigen mehrere Dokumente. Erstmals wird K.<br />
2003, also bereits mit 14 Jahren, von der Antifa der<br />
rechtsextremen Jugendorganisation «Sturm 27»<br />
zugeordnet. Der Name der Organisation ist eine<br />
Anlehnung an den Namen einer Sturmabteilung<br />
SA während der Zeit des Nationalsozialismus.<br />
Als 18-Jähriger wird K. ein zweites Mal in einem<br />
Bericht über die Neonaziszene in Brandenburg<br />
erwähnt. Diesmal als Mitglied der rechtsextremen<br />
Anti-Antifa.<br />
Mit den Hinweisen zu Ks Aufenthaltsort in Visp<br />
konfrontiert, stellt der zuständige Amtsrichter bei<br />
den Schweizer Behörden ein Rechtshilfegesuch.<br />
Auf dieses hin wird der 21-Jährige verhaftet und<br />
dann an die Behörden in Deutschland ausgeliefert,<br />
wie Folco Galli vom Bundesamt für Justiz<br />
auf Anfrage sagt. Wenn K. gegen den Auslieferungsentscheid<br />
keinen Rekrus einlegt, kann er<br />
innerhalb von wenigen Tagen an die deutschen<br />
Justizvollzugsbehörden überstellt werden. (cp)<br />
*Name der Redaktion bekannt
4 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 5<br />
Würde gerne weiter hier arbeiten: Andrea Wehrlin vor dem Schulhaus guttet-Feschel. Cyrill Pinto.<br />
Schule Guttet-Feschel<br />
«Gestörtes<br />
Vertrauensverhältnis»<br />
GUTTET-FESCHEL – Eine Kindergartenlehrerin in Guttet-<br />
Feschel wird ohne Angabe von Gründen nach fast 20 Jahren im<br />
Schuldienst entlassen. Das Beispiel zeigt, wie das Lehrpersonal<br />
den Laienbehörden in den Gemeinden schutzlos ausgeliefert<br />
ist. Jetzt regt sich Widerstand.<br />
Von Cyrill Pinto<br />
Es kam völlig überraschend. Andrea Wehrlin wurde<br />
Ende April vom Präsidenten der Schulkommission<br />
zu einem Gespräch eingeladen. «Ich<br />
dachte mir nichts dabei», erinnert sich die bei<br />
den Kindern des Kindergartens Guttet beliebte<br />
Lehrerin. Grund zur Sorge hatte sie ja auch nicht.<br />
Die engagierte Lehrerin unterrichtet seit fast 20<br />
Jahren im regionalen Kindergarten der Schulregion<br />
Sonnenberge. Wehrlin erhielt nie eine Verwarnung.<br />
Nie gab es Anlass zu einer Reklamation,<br />
im Gegenteil. Die Lehrerin ist nicht nur bei den<br />
Kindern äusserst beliebt – Eltern schätzen ihre<br />
offene und freundliche Art. «Der Schulpräsident<br />
eröffnete mir, mein Anstellungsverhältnis mit der<br />
Schulgemeinde sei per 31. August aufgelöst», sagt<br />
Wehrlin Wochen nach ihrer Kündigung aus heiterem<br />
Himmel immer noch sichtlich schockiert.<br />
kündigung ohne Vorwarnung<br />
Gründe für die Kündigung konnte ihr der Präsident<br />
der regionalen Schulgemeinde Sonnenberge,<br />
Christian Pfammatter, auf Anhieb keine nennen<br />
– im schriftlichen Kündigungsschreiben ist lediglich<br />
von einem «gestörten Vertrauensverhältnis»<br />
die Rede. Erst auf Nachfrage Wehrlins nannte<br />
Pfammatter mündlich verschiedene Vorfälle, bei<br />
denen es um die Früheinschulung von Kindern<br />
ging. Was die langjährige Kindergartenlehrerin<br />
von Guttet besonders ärgert: Ihre Kündigung ist<br />
eine Farce – nur ein paar Tage nach der eröffneten<br />
Kündigung erscheint ein Stelleninserat: Gesucht<br />
wird eine neue Kindergartenlehrperson.<br />
beschwerde eingereicht<br />
Die engagierte Kindergartenlehrerin, die neben<br />
ihrem 75-Prozent-Pensum an der Allgemeinen<br />
Musikschule Oberwallis (amo) unterrichtet, will<br />
die Kündigung nicht einfach so hinnehmen. Sie<br />
hat einen Anwalt eingeschaltet, der nun beim<br />
Staatsrat eine Beschwerde gegen die Kündigung<br />
eingereicht hat. Der Beschwerde liegen Arbeitszeugnisse<br />
bei aus denen hervorgeht, dass ihre<br />
Arbeitgeber mit Wehrlins Arbeit im Kindergarten<br />
zufrieden waren. Erst im letzten Jahr bedankte<br />
sich die Schulkommission Sonnenberge bei<br />
Wehrlin schriftlich «für den gezeigten Einsatz<br />
bestens». Hervorragend sind auch ihre Leistungen<br />
als Musiklehrerin an der amo, wie ein im letzten<br />
Jahr ausgestelltes Arbeitszeugnis belegt.<br />
Gegen die Entlassung formiert sich nun Widerstand.<br />
Als die Kündigung am Kindergarten Guttet<br />
ruchbar wird, schreiben empörte Eltern der Kindergartenlehrerin.<br />
«Wir bedauern es sehr, dass die<br />
gute Zusammenarbeit Ende Juni aufhört», heisst<br />
es im Schreiben einer Familie aus Guttet, deren<br />
Kind zurzeit im ersten Kindergarten ist. Mehrere<br />
Schreiben erhält Wehrlin auch von Lehrerkollegen<br />
– ihr Tenor: Unverständnis wegen der ungerechtfertigten<br />
Kündigung.<br />
Motiv Missgunst?<br />
Erklären kann sich Wehrlin ihre Kündigung nur<br />
mit der Missgunst einzelner Mitglieder der regionalen<br />
Schulkommission. «Die Kinder lieben mich<br />
– das erzeugt bei einzelnen Müttern Eifersucht.»<br />
Wehrlin lebt mit ihrem Mann in einem beschaulichen<br />
Haus in Guttet – ihr ganzer Stolz sind ihre<br />
zwei Pferde. Missgunst als Motiv – in einem Dorf<br />
wie Guttet durchaus denkbar. Besonders ärgerlich<br />
für Wehrlin ist die Tatsache, dass sie dem Laiengremium<br />
Schulkommission völlig ausgeliefert ist.<br />
Die Missstände in der Schulkommission der<br />
Schulen von Albinen, Bratsch, Erschmatt und<br />
Guttet-Feschel greifen offenbar tiefer, als dies<br />
der Fall Wehrlin offenbart. Auch bei den Primarlehrern<br />
der Schulregion Sonnenberge herrscht<br />
zunehmend Frustration über den Führungsstil<br />
der Schulkommission. Mehrere Lehrer verlassen<br />
per Ende Schuljahr die Primarschule in Guttet,<br />
wie Wehrlin weiss. Tatsächlich sucht die Schulkommission<br />
Sonnenberge in ihrem Stelleninserat<br />
auch eine Primarlehrperson.<br />
Im Fall Wehrlin ist nun der Staatsrat am Zug.<br />
Wehrlins Beschwerde verlangt die Aufhebung<br />
ihrer Kündigung. Auch wenn man seit dem Fall<br />
Abgottspon weiss, dass die kantonalen Behörden<br />
Schulbehörden decken, die grundlos Lehrer<br />
entlassen, ist das Signal an die Schulbehörden<br />
klar: Einfach so lassen sich Lehrpersonen nicht<br />
abschieben.<br />
Die Schulkommission wollte «aus Gründen des<br />
Persönlichkeits- und Datenschutzes» keine Stellungnahme<br />
im Fall Wehrlin abgeben.<br />
Der Schandfleck: Die illegale Deponie eingangs Obergesteln. Cyrill Pinto.<br />
Illegale Baudeponie<br />
Beat Rieders Geschäfte<br />
mit illegalen Deponien<br />
OBERGOMS – In Obergesteln wird seit Jahren illegal eine<br />
Deponie betrieben. Alle Instanzen forderten, das Lager zu<br />
räumen. Trotzdem fechtet das Unternehmen diesen Entscheid<br />
bis vor Bundesgericht durch und unterliegt auch dort. Der<br />
Anwalt des Unternehmens: CVPO-Fraktionschef Beat Rieder.<br />
Von Cyrill Pinto<br />
Die Deponie am Ortseingang von Obergesteln<br />
ist ein Schandfleck. Mitten in der Wiese, gleich<br />
neben der Strasse, werden Baumaschinen und<br />
Baumaterial gelagert, Baucontainer sind aufgestellt.<br />
Ein Kurzbericht, der den Akten zum Fall<br />
beiliegt, offenbart die unhaltbaren Zustände auf<br />
dem Areal: «Baumaterial, Bauschutt, Altautos,<br />
Tankanlagen, Ölfässer, Schalungsmaterial usw.<br />
liegen relativ ungeordnet herum, befinden sich<br />
teils zwischen Bäumen und Sträuchern und sind<br />
teils schon überwachsen», heisst es darin.<br />
Erstaunlich ist an dem Fall eigentlich nur, dass<br />
die kantonale Baupolizei erst so spät intervenierte<br />
– immerhin besteht das Lager bereits seit den<br />
70er-Jahren. Illegal war es seit seiner Einrichtung.<br />
Denn: Das Grundstück, auf dem die Deponie und<br />
das Materiallager steht, liegt in der Landwirtschaftszone.<br />
Und: Eine Baubewilligung für das<br />
Lager gab es nie.<br />
komisches Rechtsverständnis<br />
Trotz der klaren Rechtslage versucht das Bauunternehmen<br />
Imwinkelried und Hallebarter AG<br />
den Obergestler Schandfleck durch alle Instanzen<br />
durchzuboxen. Und scheitert dabei jämmerlich<br />
vor jedem Richter. Das letzte Wort sprach das<br />
Bundesgericht erst kürzlich – am 7. April veröffentlichte<br />
es sein Urteil. Es lehnte die Beschwerde<br />
der Bauunternehmung gegen die Verfügung<br />
der Baupolizei ab. Die Prozessstrategie, welche<br />
CVPO-Fraktionschef Beat Rieder fuhr, und die<br />
Argumente, welche er für seine Mandanten ins<br />
Feld führte, offenbaren vor allem eins: das quere<br />
Rechtsverständnis des C-Fraktionschefs im<br />
Grossen Rat.<br />
In seiner Beschwerde an den Staatsrat gegen den<br />
Entscheid der Baupolizei beruft sich Rieder für<br />
seine Mandanten vor allem aufs Gewohnheitsrecht.<br />
Aus dem Urteil des Bundesgerichts, welches<br />
der «<strong>Rote</strong>n <strong>Anneliese</strong>» vorliegt, geht hervor, dass<br />
die Betreiber der Obergommer Deponie Aussagen<br />
über den schon lange bestehenden Zustand<br />
als Materiallager geltend machen. Dazu reichte<br />
Anwalt Rieder einen Brief des früheren Eigentümers<br />
bei, worin dieser bestätigt, den Boden<br />
bereits seit 1963 «als Materiallagerplatz vermietet<br />
und anschliessend verkauft» zu haben. Darüber<br />
hinaus legt Rieder seiner Beschwerde Schreiben<br />
der Gemeindeverwaltung und von zwei früheren<br />
Gemeindepräsidenten bei. Darin bestätigen diese,<br />
dass der Schandfleck von Obergesteln bereits seit<br />
30 Jahren besteht – was es natürlich nicht besser<br />
macht, wie das Bundesgericht in seinen Erwägungen<br />
festhält: Die Vorinstanz habe dargelegt, dass<br />
die Baufirma die Deponie während Jahren ohne<br />
Bewilligung betrieben habe. Zudem sei die Firma<br />
im Bauwesen tätig – es sei den Beschwerdeführern<br />
deshalb klar gewesen, dass für die Deponie eine<br />
Bewilligung erforderlich gewesen sei, schreiben<br />
die Lausanner Richter in ihrer Urteilsbegründung.<br />
Aus dem Urteil geht auch hervor, wie frech die<br />
illegalen Deponiebetreiber mit Beat Rieder als juristischen<br />
Beistand argumentieren: «Bis heute ist<br />
keine Beeinträchtigung der Umwelt entstanden»<br />
– es habe keine einzige Reklamation von Seiten<br />
der Gemeindebehörden, von Umweltverbänden<br />
oder von Nachbarn gegeben.<br />
Drei Monate zur Räumung<br />
Alles festhalten an der Vergangenheit, brachte<br />
Rieder und den Beschwerdeführern von der Imwinkelried<br />
und Hallenbarter AG nichts. Aufgrund<br />
der Grösse der Deponie ging schon das Kantonsgericht<br />
von «einer bedeutenden Abweichung des<br />
Zulässigen» aus. Die Deponie verstosse gegen<br />
den Grundsatz der Trennung des Baugebiets vom<br />
Nichtbaugebiet, heisst es im Urteil der Sittener<br />
Richter vom Herbst 2010. Und weiter: Die Baufirma<br />
sei «ausschliesslich aus finanziellen Gründen»<br />
gegen die Wiederherstellung.<br />
Man<br />
wolle den Aufwand<br />
für einen rechtmässigen<br />
Deponieplatz<br />
und einen Transport<br />
dorthin vermeiden.<br />
Sprich: Das Bauunternehmen<br />
sparte in<br />
den letzten Jahren mit<br />
der illegalen Deponie<br />
vor allem eins: Geld.<br />
beat Rieder: Der Anwalt<br />
und CVPO-Fraktionschef<br />
setzte sich mächtig für<br />
eine illegale Deponie ein.<br />
Mitprofitiert hat Advokat<br />
Beat Rieder, der<br />
mit seinem aussichtslosen<br />
Weiterzug des<br />
Verfahrens seinen Ruf<br />
als Berufsmann nicht<br />
gerade verbessert hat – dafür aber eins verdient<br />
hat: Geld.<br />
Das Bauunternehmen muss nun die Verfügung<br />
der kantonalen Baupolizei vom 12. August 2009<br />
umsetzen. Es muss nach dem Urteil des Bundesgerichts<br />
innert drei Monaten den rechtmässigen<br />
Zustand wiederherstellen. Sämtliche Materialien,<br />
Maschinen und Container müssen entfernt<br />
werden und die Pflanzendecke ist wiederherzustellen.<br />
Ausserdem sind die Grundstücke wieder<br />
ihrem landwirtschaftlichen Nutzen zuzuführen<br />
sowie das Gelände wieder so herzurichten, dass<br />
es einem natürlichen Geländeverlauf entspricht.<br />
Gemäss Urteil des Bundesgerichts bleibt dafür<br />
drei Monate nach dem Urteil Zeit – also bis am 7.<br />
Juli. Der Präsident der Kantonalen Baukommission<br />
(KBK), Anton Ruppen, kennt zwar den Fall der<br />
Obergommer Deponie – das Urteil des Bundesgerichts<br />
war ihm aber noch nicht bekannt. Die KBK<br />
werde wohl an einer ihrer nächsten Sitzungen<br />
über die Umsetzung des Urteils aus Lausanne<br />
beraten, sagte Ruppen.<br />
Das Urteil in voller Länge: www.roteanneliese.ch
6 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 7<br />
Mobbing an Schulen<br />
«Es riecht nach<br />
Ausländerin hier»<br />
BRIG-GLIS – Eine Primarschülerin in Brig wird von ihren Mitschülern<br />
gemobbt. Von ihrer Lehrerin erhält sie keine Unterstützung,<br />
im Gegenteil: sie wird handgreiflich. Jetzt hat der Vater<br />
die Lehrerin angezeigt.<br />
Von Cyrill Pinto<br />
«Meine Tochter wurde gemobbt – von ihrer Klassenlehrerin<br />
erhielt sie keine Unterstützung.»<br />
Wenn R.* vom letzten Halbjahr seiner Tochter<br />
in der Schule von Brig berichtet, reiht er Vorfall<br />
an Vorfall, Aussprache an Aussprache. Am Ende<br />
der Eskalation steht eine Strafanzeige gegen eine<br />
Primarschullehrerin und die Versetzung seiner<br />
Tochter in eine andere Klasse. Was R. aber im<br />
Rückblick an das letzte Schulhalbjahr am meisten<br />
ärgert, ist, dass er von Seiten der Schulbehörden<br />
keine Unterstützung erhielt. «Die Schuldirektion<br />
und der zuständige Schulinspektor haben nur<br />
unter massivstem Druck an der unhaltbaren<br />
Situation etwas geändert», blickt der betroffene<br />
Vater zurück. Und: «Eine Entschuldigung gab es<br />
nie – weder von den Schulbehörden, noch von<br />
der Lehrerin.»<br />
Aber von vorn. Begonnen hatte das vermurkste<br />
vierte Schuljahr von H. R.* mit Sticheleien von<br />
Mitschülerinnen. Die 11-Jährige wurde aufgrund<br />
der Herkunft ihrer Mutter auch mit Rassismus<br />
konfrontiert.<br />
«Nutte, Hure, Negerin»<br />
Ultimativ Alarm schlugen die Eltern in einem<br />
Brief an Schuldirektor Robert Lochmatter im<br />
November 2010: Ihre Tochter werde von ihren<br />
Mitschülerinnen massiv bedroht, beleidigt und<br />
diskriminiert. «Unsere Tochter wird von ihren<br />
Mobbende Schüler: Auch an briger Schulen ist dies Realität.<br />
Mitschülern als ‚Tochter einer Nutte’ oder ‚Negerin’<br />
bezeichnet», heisst es im Schreiben der Eltern.<br />
Offenbar spielt Fremdenhass eine Rolle. «Es riecht<br />
nach Ausländern hier – Ausländer können nicht<br />
in der Schweiz bleiben», seien Ausdrücke mit<br />
denen die 11-Jährige durch ihre Mitschülerinnen<br />
konfrontiert werde, heisst es in der Stellungnahme<br />
an die Schuldirektion nach einer missglückten<br />
Aussprache zwischen Eltern und Lehrerin. Den<br />
Eingang der Stellungnahme bestätigt die Schuldirektion<br />
kurz mit einem Bestätigungsschreiben am<br />
1. Dezember. Man nehme interne Abklärungen<br />
vor und werde sich sobald als möglich melden,<br />
heisst es darin. Auf weitere Massnahmen wartete<br />
R. allerdings vergeblich, wie er sagt.<br />
Strafanzeige eingereicht<br />
In den folgenden Monaten häufen sich bei H.<br />
die schlechten Noten – die Situation spitzt sich<br />
zu. Trauriger Höhepunkt: Als die Schülerin nach<br />
dem Unterricht früher zu einem Anlass weg muss,<br />
behält sie die Lehrerin zurück. Als die 11-Jährige<br />
trotzdem weg geht, wird die Lehrerin handgreiflich<br />
– die Spuren des Griffs der Lehrerin am<br />
Handgelenk der Schülerin werden anschliessend<br />
vom Hausarzt des Mädchens in der Patientenakte<br />
festgehalten. Dieser Vorfall geschah Mitte März.<br />
Nach Rücksprache mit seinem Anwalt und dem<br />
Walliser Amt für Kinderschutz entschloss sich<br />
R. zu einer Anzeige – wegen einfacher Körperverletzung,<br />
eventuell wegen Tätlichkeit und versuchter<br />
Nötigung. Per Einschreiben schickte er<br />
die Anzeige an die zuständige Staatsanwaltschaft<br />
Oberwallis.<br />
Keine Entschuldigung<br />
Zwei Wochen später kam es zu einer ersten Einvernahme<br />
durch die Polizei. «Der Beamte sagte<br />
mir, dass es bisher im Oberwallis noch nie eine<br />
Strafanzeige gegen eine Lehrperson gab – ich<br />
antwortete ihm: Dann ist das jetzt das erste Mal.»<br />
R. will an der Anzeige mit Absprache seiner Noch-<br />
Ehefrau und der Tochter festhalten, auch nach<br />
Überredungsversuchen der Polizei, diese wieder<br />
fallen zu lassen: «Bei einer ersten Einvernahme<br />
musste ich feststellen, dass die Polizei bereits<br />
in Kontakt mit der Schuldirektion stand und so<br />
die Einstellung des Verfahrens erwirken wollte»,<br />
berichtet er.<br />
Nach dem Übergriff von H.s Klassenlehrerin reagierte<br />
die Schuldirektion endlich. Nach fast vier<br />
Monaten Funkstille teilte Direktor Robert Lochmatter<br />
den Eltern mit, dass ihr Kind in ein anderes<br />
Schulhaus der Schulgemeinde versetzt werde.<br />
Diese Massnahme werde «aufgrund des unwiederbringlich<br />
zerstörten Vertrauensverhältnisses<br />
zwischen der Lehrperson und H. erforderlich»,<br />
begründet Lochmatter den Entscheid.<br />
Inzwischen geht es H. in ihrer neuen Klasse gut:<br />
«Sie hat wieder Freude zur Schule zu gehen», berichtet<br />
ihr Vater. Eins kann er aber immer noch<br />
nicht verstehen: «Warum gehen die Schulbehörden<br />
nicht konsequenter gegen Mobbing an der<br />
Schule vor?» und «warum hat sich bisher niemand<br />
für die Vorgänge in H.s alter Klasse entchuldigt?»<br />
«Laufendes Verfahren»<br />
Schuldirektor Robert Lochmatter wollte auf Anfrage<br />
zum Fall R. keine Stellungnahme abgeben,<br />
« da es sich um ein laufendes Verfahren handelt,<br />
bin ich nicht befugt, dazu Auskünfte zu erteilen»,<br />
schreibt Lochmatter. Dass es an den Schulen<br />
von Brig-Glis keine Interventionsmöglichkeiten<br />
gegen Mobbing gebe, diesen Vorwurf weist Lochmatter<br />
zurück. Es gebe diverse Möglichkeiten,<br />
welche kaskadenartig eingesetzt würden. Dazu<br />
gehöre die Intervention auf Klassenstufe mit<br />
einem Schülerrat oder einem Klassenrat oder<br />
die Aufarbeitung mit spezieller Literatur in der<br />
Klasse – dies geschehe jeweils mit Beratung durch<br />
psychologische Instanzen. Auf Stufe Schule würden<br />
Mediatoren eingesetzt – am Ende der Kaskade<br />
stehen Interventionen durch die Schulsozialarbeit<br />
oder Kinder- und Jugendpsychologen.<br />
Lochmatter hält allgemein fest, dass Interventionen<br />
bei Mobbing an Grundschulen nur mit<br />
Hilfe der Eltern wirksam werden könnten – «sonst<br />
bleiben die Kinder im Konflikt mit der Loyalität<br />
zwischen den Eltern, der Lehrperson und den<br />
anderen Kindern hängen».<br />
Die Lehrpersonen an den Schulen von Brig-Glis<br />
arbeiteten fachlich und menschlich professionell<br />
und hielten sich an die ethischen und moralischen<br />
Vorgaben ihres Berufes, hält Lochmatter<br />
weiter fest. Es sei aber eine Tatsache, dass Schulen<br />
heute Erziehungsaufgaben übernehmen müssten,<br />
die eigentlich Aufgabe der Eltern wären, schreibt<br />
Lochmatter.<br />
* Name der Redaktion bekannt<br />
Die Offerte: So biegt das Architekturbüro berchtold das Submissionsgesetz – mit 12 525 Franken Rabatt.<br />
Vergabewesen<br />
«Dieses Urteil fördert<br />
die Korruption»<br />
BITSCH – Das Urteil des Kantonsgerichts im Fall des Bitscher<br />
Gemeinde-Neubaus erlaubt einen tiefen Einblick in das korrupte<br />
Walliser Vergabesystem. Dieses wird sogar von der Justiz<br />
gedeckt – auf Kosten der Bürger.<br />
Geld ist Macht. Unter diesem Motto werden im<br />
Wallis Aufträge an Günstlinge vergeben. Diese<br />
wiederum unterstützen die Geldverteiler in den<br />
Gemeinderäten bei den nächsten Wahlen. Die<br />
meisten Walliser nennen dies «sich untereinander<br />
helfen». Kritiker nennen es Vetterliwirtschaft. Aber<br />
eigentlich ist es Korruption.<br />
Trotz des Submissionsgesetzes, welches die Vergabe<br />
von öffentlichen Aufträgen regelt, werden immer<br />
wieder Aufträge Parteikollegen zugeschanzt.<br />
Die skandalöse Praxis der Walliser C-Behörden<br />
illustriert ein aktuelles Beispiel: Die Vergabe des<br />
Architekturmandats für das neue Feuerwehrdepot<br />
in Bitsch.<br />
Rückblick: Im letzten Herbst entschied die Gemeindeversammlung<br />
für insgesamt knapp eine<br />
Million Franken ein neues Gemeindegebäude<br />
zu bauen – einen Werkhof mit Feuerwehrdepot.<br />
Dann begann das Gerangel um die Aufträge.<br />
Zuerst stand die Vergabe des Architekturauftrags<br />
an. Obwohl der Bau des neuen Gebäudes auf<br />
830 000 Franken geschätzt wird und sich davon<br />
der Betrag für das Architekturlos ableiten lässt,<br />
entscheidet der Gemeinderat unter Führung von<br />
CVP-Mann Anton Karlen ein sogenanntes freihändiges<br />
Verfahren durchzuführen. Das Problem:<br />
Dieses lässt sich nur bei Aufträgen unter der 50<br />
000-Franken-Grenze anwenden. Bei einem Bau<br />
von der grösse des Bitscher Feuerwehrdepots<br />
bewegen sich die Kosten für Planung und Bauführung<br />
aber zwischen 63 000 und 90 000 Franken,<br />
wie zwei Offerten zum Werkhof-Bau belegen.<br />
Die Offerten wurden vom Bitscher Gemeinderat<br />
Rupert G. Haenni in Auftrag gegeben – sie sollen<br />
belegen, dass die letztlich zum Zuge gekommenen<br />
Offerten mit zu tiefen Preisen operieren. Der<br />
Vorwurf: Diese wurden nur so tief angesetzt, um<br />
das Submissionsgesetz zu umgehen.<br />
Tatsächlich vergab der CVP-dominierte Gemeinderat<br />
den Auftrag zur Planung des Feuerwehrlokals<br />
kurzerhand dem CVP-nahen Architekturbüro<br />
Ritzo GmbH aus Bitsch. Für 45 000 Franken will<br />
das Büro den Auftrag ausführen. Hintergrund:<br />
Kostet ein öffentlicher Auftrag, wie der in Bitsch,<br />
weniger als 50 000 Franken, kann die Gemeinde<br />
den Auftrag im sogenannten freihändigen Verfahren<br />
vergeben. Sie kann den Auftrag einfach erteilen,<br />
ohne weitere Offerten einzuholen. Das Kalkül<br />
der CVP-Behörden: Kostet der Auftrag trotzdem<br />
mehr als veranschlagt, werden die Kosten einfach<br />
später verrechnet.<br />
grosszügiger Rabatt<br />
Wer den Architekturauftrag für das Feuerwehrdepot<br />
bekommt, war eigentlich schon im Vornherein<br />
klar. Bereits an der Gemeinderatssitzung vom 25.<br />
Oktober 2010 wurde entschieden, das Architekturmandat<br />
für den neuen Werkhof im freihändigen<br />
Verfahren einem Büro in Bitsch zu vergeben, wie<br />
aus einem Gemeinderatsprotokoll hervorgeht,<br />
das der «<strong>Rote</strong>n <strong>Anneliese</strong>» vorliegt. Drei Büros<br />
wurden angeschrieben – darunter auch das Büro<br />
von Gemeinderat Rupert G. Haenni, dem späteren<br />
Beschwerdeführer gegen die Vergabe. Haenni weigerte<br />
sich, beim abgekarteten Spiel mitzumachen<br />
– er offerierte erst gar nicht.<br />
Interessant an den Angeboten der beiden Bitscher<br />
Büros die Offerten einreichten: Beide berechneten<br />
die Kosten für das Architekturmandat nach<br />
Vorgabe des Gemeinderats. Erstaunlich: Das Büro<br />
von Gemeinderat Renato Berchtold kam auf<br />
Planungskosten von 60 525 Franken – das Büro<br />
Twen Ritz berechnete Kosten von 60 169 Franken.<br />
Beide gaben danach aber ein Pauschalangebot<br />
von unter 50 000 Franken ein: 48 000 warens bei<br />
Berchtold, 45 000 bei Ritz der schliesslich den Zuschlag<br />
erhielt. Die beiden Büros gewährten damit<br />
einen sagenhaften Rabatt von rund einem Drittel.<br />
gericht überfordert<br />
Haenni zog den Entscheid des Gemeinderats<br />
Bitsch ans Kantonsgericht. Dieses fällte Mitte<br />
Mai sein Urteil: Es lehnte Hännis Beschwerde ab,<br />
worauf CVP-Gemeindepräsident Karlen über den<br />
«Walliser Boten» verlauten liess: «Wir haben korrekt<br />
gehandelt.» Nur: Das Gericht ging inhaltlich<br />
auf die Beschwerde gar nicht ein, wie Haennis<br />
Anwalt in einem Schreiben ans Kantonsgericht<br />
festhält: «Aus den Akten ist ersichtlich, dass die<br />
Gemeinde bei der Arbeitsvergabe falsch vorgegangen<br />
ist» – konkret hätte die Gemeinde gemäss<br />
Submissionsgesetz zuerst den Auftragswert bestimmen<br />
müssen, woraus sich dann das entsprechende<br />
Verfahren ergibt – «und nicht umgekehrt».<br />
Tatsächlich hatte das Kantonsgericht einfach den<br />
Schnitt zwischen den beiden Bitscher Offerten<br />
Ritz und Berchtold als Grundlage zur Berechnung<br />
des effektiven Werts der Architekturarbeiten genommen.<br />
«Das arithmetische Mittel der beiden<br />
Offerten liegt bei 46 500 Franken», schlussfolgerte<br />
das Kantonsgericht nach Beurteilung der Fakten.<br />
Damit hat das Verwaltungsgericht aber nur eines<br />
bewiesen: Das es zwar den Durchschnitt von zwei<br />
Summen berechnen kann – bei einem komplexen<br />
Fall, wie der Beurteilung eines Verfahrensfehlers<br />
bei der Auftragsvergabe aber überfordert ist.<br />
Entsprechend geharnischt fällt auch die Reaktion<br />
der Beschwerdeführer aus: «Es geht in diesem Fall<br />
nicht bloss um die Gemeinde Bitsch, sondern um<br />
den ganzen Kanton», schreibt Haennis Anwalt<br />
in einer Reaktion auf das Urteil und dessen Bekanntmachung<br />
an der Gemeindeversammlung<br />
von Bitsch. Mit der nun vom Kantonsgericht<br />
legitimierten Vergabepraxis «wird nicht nur Recht<br />
gebrochen, sondern zudem politischer und ökonomischer<br />
Korruption Vorschub geleistet, indem<br />
Politiker mit Auftragen politisieren können, und<br />
andererseits Handwerker und Dienstleister gezwungen<br />
sind, tiefer als realistisch zu offerieren,<br />
um den Auftrag zu erhalten», so die Stellungnahme<br />
der Beschwerdeführer zum Urteil. Auch<br />
Gemeinderat und Beschwerdeführer Haenni hat<br />
dem Gericht geschrieben, worin er seinen Unmut<br />
über das Urteil des Kantonsgerichts äussert. Er<br />
schliesst diesen mit einem Molière-Zitat: «Die<br />
volle Wahrheit kann ein Mensch ertragen, doch<br />
die Zweifel nagen an ihm.» (cp)
8 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 9<br />
Legt die Arbeit nieder: Sitzende Helvetia am Rhein in basel.<br />
20 Jahre Frauenstreik<br />
«Wenn Frauen wollen,<br />
kommt alles ins Rollen»<br />
Am 14. Juni 1991 beteiligten sich rund eine halbe Million<br />
Frauen am landesweiten Frauenstreik – ein nie zuvor erreichter<br />
Mobilisierungserfolg in der Geschichte der Schweiz.<br />
Von Elisabeth Joris *<br />
Der Erfolg des landesweiten Protestes von Frauen<br />
gegen die fehlende Umsetzung der seit zehn Jahren<br />
in der Bundesverfassung verankerten Gleichstellung<br />
war in diesem Ausmass von kaum jemandem<br />
erwartet worden und zeichnete sich auch erst<br />
im Laufe dieses geschichtsträchtigen Tages ab. Der<br />
14. Juni 1991 hatte fast überall ruhig begonnen:<br />
Der glasklare Himmel kündigte einen prächtigen<br />
Sommertag an, Geschäfte öffneten die Türen, Bus,<br />
Trams und Züge fuhren, als ob nichts wäre. Im<br />
Laufe des Tages überschlugen sich jedoch die Meldungen:<br />
von effektiven Streiks in öffentlichen und<br />
privaten Betrieben und spektakulären Aktionen in<br />
Spitälern über die Verweigerung der Hausarbeit,<br />
Sperrungen des Verkehrs und Solidarisierungsaktionen<br />
mit Verkäuferinnen in Kaufhäusern bis zu<br />
grossen Sternmärschen in den Städten und Grussbotschaften<br />
aus aller Welt. Parallel dazu löste sich<br />
die anfängliche Spannung, die Freude der beteiligten<br />
Frauen über das Gelingen verdichtete sich<br />
zu einem absoluten Hochgefühl. Denn so etwas<br />
hatte die Schweiz noch nie erlebt: Alte und Junge,<br />
Einheimische und Zugewanderte, Nonnen und<br />
Tänzerinnen, Arbeiterinnen und Lehrerinnen,<br />
in Städten und Dörfern, überall brachten Frauen<br />
ihren Unmut zum Ausdruck.<br />
uhrenarbeiterinnen als Initiantinnen<br />
Das Ineinandergreifen von spontanen Aktionen<br />
zum einen und organisatorischer sowie logistischer<br />
Arbeit der Gewerkschaften zum andern<br />
war zentral für diesen Erfolg. Entscheidend dazu<br />
beigetragen hat der institutionelle Rückhalt in den<br />
obersten Gewerkschaftsetagen durch Christiane<br />
Brunner, damals Präsidentin des höchst männerlastigen<br />
Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbandes<br />
(heute in der Unia integriert). Denn<br />
es war ein erheblicher Druck von Gewerkschafterinnen<br />
nötig, damit der Schweizerische Gewerkschaftsbund<br />
(SGB) trotz anfänglicher Skepsis zur<br />
breiten Unterstützung bereit war.<br />
Angefangen hatte alles in einer jurassischen Beiz<br />
im Vallée de Joux, wo sich einige Uhrenarbeiterinnen<br />
nach einer Gewerkschaftssitzung des SMUV<br />
darüber empörten, dass nach bald 10 Jahren<br />
Lohngleichheit in der Verfassung Frauen immer<br />
noch weit weniger verdienten als Männer. Ein<br />
Frauenstreik, das wäre die angemessene Antwort<br />
auf diese Situation. Und sie leiteten diese Idee<br />
umgehend an die Verbandspräsidentin Christiane<br />
Brunner weiter. Der Anstoss war gegeben, und<br />
löste – nicht zufällig – ein breites Echo aus.<br />
Vielfältige Netzwerke<br />
Zu Beginn der 1970er Jahre hatten sich Vertreterinnen<br />
der «alten Frauenbewegung» – die verschiedenen<br />
gut organisierten Frauenverbände<br />
politischer und gemeinnütziger Art – und der<br />
«neuen Frauenbewegung» – die im Zusammenhang<br />
mit den vornehmlich von jungen Leuten<br />
in den Städten getragenen Aufbruchbewegung<br />
von 1968 – klar von einander distanziert, sowohl<br />
bezüglich der Themen Schwangerschaftsabbruch,<br />
Sexualität und Rolle der Frauen als auch der Art<br />
des Politisierens: politische Eingaben und Partnerschaft<br />
mit den Männern oder Autonomie und<br />
spektakuläre Aktionen. In der Bekämpfung der<br />
atomaren Aufrüstung in Europa, neuer AKWs, der<br />
Gewalt gegen Frauen in all ihren Formen waren<br />
sich seit 1980 jedoch alte und junge Aktivistinnen<br />
näher gekommen. Die Empörung musste auf<br />
die Strasse getragen werden, damit sich etwas<br />
bewegte, dass hatten inzwischen Frauen aus unterschiedlichsten<br />
Milieus erlebt.<br />
Dessen war sich seit Ende der 1980er Jahre zunehmend<br />
auch das Pflegepersonal in Spitälern bewusst.<br />
Seine Zurückhaltung aufgebend, forderte<br />
es mit Bummelstreiks und öffentlichen Aktionen<br />
bessere Arbeitsbedingungen. Das Medienecho<br />
war enorm. Denn das war neu: Frauen und (wenige)<br />
Männer in Weiss, auf der Strasse, lautstark und<br />
unbescheiden, und gewerkschaftlich organisiert.<br />
Neben spezifischen Aktionsgruppen war auch der<br />
VPOD in diesen Kämpfen stark involviert, und<br />
es waren Frauen, die dabei den Ton angaben. So<br />
war der Boden für den Frauenstreik auf vielfacher<br />
Ebene vorbereitet. Die Kumulation des Jubiläums<br />
zehn Jahre Gleichstellung in der Verfassung und 20<br />
Jahre Frauenstimmrecht gab den idealen Rahmen<br />
für eine breit angelegte, öffentliche Empörung.<br />
Streikende Arbeiterinnen in Naters<br />
Am 14. Juni kam es auch im Wallis zu zahlreichen<br />
unterschiedlichen Aktionen, in Sitten gingen<br />
selbst Klosterfrauen auf die Strasse. Landesweites<br />
Aufsehen erzeugte der Streik in der auf Uhrenbestandteile<br />
spezialisierten Firma Microtechnic<br />
AG in Naters. Allen Drohungen der Direktion<br />
zum Trotz folgten rund 70 Arbeiterinnen – fast<br />
die gesamte weibliche Belegschaft – dem Aufruf<br />
des christlichen Metallarbeiterverbandes (CMV,<br />
heute Syna), die Arbeit niederzulegen, um auf<br />
die miese Lohnsituation aufmerksam zu machen.<br />
Bruttolöhne zwischen 1300 und 1800 Franken<br />
waren damals Realität! Vor den Türen des Betriebs<br />
diskutierten sie mit den staunenden PassantInnen<br />
und standen JournalistInnen Red und Antwort.<br />
Die Mehrheit von ihnen waren Migrantinnen,<br />
viele Italienerinnen. Lustvoll und unerschrocken<br />
zeigten sie sich auch im Radio und Fernsehen.<br />
Sie gaben dem Tag ein besonderes Gepräge, denn<br />
Angestellte und Arbeiterinnen aus der Privatindustrie<br />
hatten an diesem Tage kaum gestreikt, aus<br />
Angst vor Repression und Entlassung.<br />
Nachhaltige Wirkung<br />
Die entstandenen Aktionsgruppen und Netzwerke<br />
lösten sich nach dem erlebnisreichen 14. Juni 1991<br />
nicht auf. Dank der vielschichtigen und ebenso informellen<br />
als auch organisatorischen Vernetzung<br />
kam es zur breiten Empörung und Mobilisierung<br />
der Frauen nach der Nichtwahl von Christiane<br />
Brunner zur Bundesrätin 1993, die eine Woche<br />
später zu der von der SP geschickt eingefädelten<br />
Wahl von Ruth Dreifuss führte.<br />
Von «Brunnereffekt» sprach man, als in der Folge<br />
überall Fraueninitiativen Druck machten. Ohne<br />
diesen Druck wäre das Gleichstellungsgesetz<br />
von 1995/96 niemals im Parlament durchgegangen.<br />
Es stand absolut quer zur damaligen Politik<br />
der bürgerlichen Parteien, die nach Deregulierung<br />
schrien. Das Gleichstellungsgesetz dagegen<br />
schreibt verbindliche Regeln vor, wie der Verfassungsgrundsatz<br />
«Gleiche Rechte von Frau und<br />
Mann» in die Tat umgesetzt werden muss. Das war<br />
Ausgang und Ziel des 14. Juni 1991. Doch erreicht<br />
ist dieses Ziel bis heute nicht.<br />
Empört euch!<br />
Die Netzwerke haben sich seitdem verändert,<br />
die Situation ist eine andere. Neu ist: Im Zeichen<br />
der Dominanz des Finanzkapitals öffnet<br />
sich nicht nur in rasantem Tempo weiterhin die<br />
Schere zwischen Reichen und Armen, sondern<br />
seit der Finanzkrise wächst die Diskrepanz zwischen<br />
Frauen- und Männerlöhnen wieder neu.<br />
Der gegenwärtig diskutierte Aufruf gilt 20 Jahre<br />
nach dem Frauenstreik auch für den 14. Juni 2011:<br />
«Empört euch!»<br />
*Die Historikerin Elisabeth<br />
Joris stammt aus Visp und lebt<br />
in Zürich.
10 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 11<br />
Schnelle Datenübertragung per glasfaserkabel: Im Oberwallis sind diese kabel in vielen gemeinden noch Zukunftsmusik.<br />
Service public Glasfasernetz<br />
Verpasst das Oberwallis den<br />
Anschluss mit Highspeed?<br />
OBERWALLIS – Das Oberwallis droht den Anschluss an ein<br />
flächendeckendes Glasfasernetz zu verpassten. Die SPO<br />
macht Druck, damit jeder Oberwalliser Haushalt an das<br />
Hochgeschwindigkeits-Datennetz angeschlossen wird.<br />
Die Kosten für eine flächendeckende Versorgung<br />
des Oberwallis mit einem Glasfasernetz sind<br />
immens: Auf zwischen 130 und 200 Millionen<br />
Franken werden sie von Experten geschätzt. Da<br />
ein Anschluss ans Glasfasernetz nicht als Aufgabe<br />
des Service public definiert ist, drohen<br />
die Randregionen abgehängt zu werden. Denn:<br />
Für Kabelnetzbetreiber ist die Verlegung in den<br />
Zentren mit verhältnismässig vielen Kunden um<br />
einiges interessanter, als eine teure Verlegung in<br />
die Peripherie mit wenigen Endkunden.<br />
SAb-Vorstoss verläuft im Sand<br />
Obwohl die Technologie seit den frühen 90er<br />
Jahren benutzt wird und sich diese zur Datenübertragung<br />
durchgesetzt hat, bewegt sich in Sachen<br />
Glasfaser-Service-Public bisher nicht viel. Das<br />
wollen die Oberwalliser Sozialdemokraten nun<br />
ändern. Eigentlich lancierte Thomas Egger von<br />
der Schweizer Arbeitsgemeinschaft der Berggebiete<br />
(SAB) einen Vorstoss in Sachen Glasfasernetze<br />
in den Berggebieten mit einem Rundschreiben<br />
an alle Oberwalliser Parteien. Der Wunsch zu<br />
einer Berggebietskonferenz zu diesem Thema<br />
unter Führung der SAB wurde im April geäussert<br />
– anschliessend sollten alle Parteien eine Kontaktperson<br />
nennen. Bis Ende Mai hatte nur die SPO<br />
eine Person gestellt, Egger intervenierte nochmals<br />
mit einem Erinnerungsschreiben an alle Parteien,<br />
worauf sich noch die CSPO meldete.<br />
Daraufhin warf Egger die Flinte ins Korn: «Ich<br />
interpretiere das so, dass das Interesse an einer<br />
Konferenz der Parteien im Berggebiet zum Thema<br />
Glasfasernetz doch nicht so gross ist», schrieb<br />
Egger frustriert.<br />
Lächerliche Übertragungsraten<br />
Auf Bundesebene läuft zurzeit ein Vernehmlassungsverfahren<br />
zur Anpassung der Grundversorgung<br />
bei der Breitbandkommunikation. Auf Druck<br />
der SAB ist seit 2007 eine lächerliche Grundversorgung<br />
im Gesetz festgehalten – die minimale<br />
Übertragungsrate soll nun auf 1000/100 kB pro<br />
Sekunde angehoben werden. An die Übertragungsraten<br />
eines Glasfasernetzes reicht dies aber<br />
bei weitem noch nicht heran.<br />
Alpen-Connection wird aktiviert<br />
Die SP nimmt nun deshalb das Heft selbst in die<br />
Hand und aktiviert ihre Alpen-Connection: In<br />
einem Schreiben an alle Alpen-Kantonalparteien<br />
lädt die SPO nun zu einem Treffen zum Thema<br />
Glasfaser. Die Einladung ging an alle SP-Kantonalparteien<br />
in den Berggebieten. Ziel ist es, eine<br />
gemeinsame Strategie auf dem Weg zu einem<br />
flächendeckenden Glasfasernetz zu erarbeiten.<br />
Denn die Gefahr, dass die Randregionen den Anschluss<br />
ans Hochgeschwindigkeitsnetz verpassen<br />
könnten, hat viel mit ökonomischer Logik zu tun:<br />
Zum Beispiel konzentriert sich die Swisscom<br />
beim Ausbau des Glasfasernetzes vorab auf die<br />
lukrativen Zentren. Dabei setzt sie auf ein besonders<br />
teures Mehrfasermodell, welches eigentlich<br />
gar nicht nötig wäre. «Das ist als würde man am<br />
Gotthard vier NEAT-Tunnel bauen», beschrieb es<br />
der ehemalige Swisscom-Chef Jens Alder treffend.<br />
Pakt mit dem Monopolisten<br />
Gleichzeitig arbeitet im Hintergrund der Verein<br />
Region Oberwallis (RWO) an einer Vorwärtsstrategie<br />
für ein Glasfasernetz im Oberwallis. Im<br />
Zentrum steht dabei ein Deal mit der Swisscom –<br />
allerdings dürfte der Anschluss nur etappenweise<br />
realisiert werden – kleine Dörfer müssten lange<br />
auf einen Anschluss warten.<br />
Und dieses Modell birgt einen gewichtigen Nachteil:<br />
Erhält die Swisscom den Zuschlag und übernimmt<br />
damit teilweise die Finanzierung eines<br />
Glasfasernetzes im Oberwallis, ist die Region an<br />
einen Monopolisten gebunden. Dieser kann dann<br />
die Tarife für den Datentransfer diktieren. (cp)<br />
Ein anderer Blickwinkel<br />
Warum uns Mühleberg<br />
alle angeht<br />
Laura Kronig<br />
An den Mauerfall kann ich mich nicht erinnern.<br />
Ich war damals erst sechs Jahre alt. «Fast sieben!»,<br />
hätte ich wohl zur Antwort gegeben und<br />
die entsprechende Anzahl Finger in die Höhe<br />
gehalten. Sehr wohl erinnere ich mich jedoch<br />
an den Reaktorunfall von Tschernobyl. Obwohl<br />
ich dann nur halb so alt war. Doch im Gegensatz<br />
zum Mauerfall hatte der Reaktorunfall einen<br />
unmittelbaren Einfluss auf mein Leben. Ich<br />
erinnere mich daran, wie meine Eltern darüber<br />
diskutierten, mit welchem Gemüse und aus<br />
welchen Früchten meinem kleinen Bruder Brei<br />
gekocht werden sollte. Ob Pilze gegessen werden<br />
durften. Wahrscheinlich erinnere ich mich nicht<br />
zuletzt wegen den Pilzen an Tschernobyl, denn<br />
Pilze ass ich sehr gerne.<br />
Im Bayrischen Wald können übrigens noch heute<br />
nicht alle gesammelten Pilze und geschossenen<br />
Wildschweine verzehrt werden, weil deren radioaktive<br />
Belastung den Grenzwert überschreitet. In<br />
Tschernobyl stiegen damals radioaktive Stoffe in<br />
die Atmosphäre, ein paar Tage später verteilte<br />
der Regen diese über Europa. In diesem Teil<br />
Bayerns hat es Ende April 1986 besonders stark<br />
geregnet.<br />
Ich wurde älter, Tschernobyl lag länger und länger<br />
zurück, aber die Atomenergie liess mir keine<br />
Ruhe. Mit wachsendem Interesse an der Welt<br />
– aber noch ohne Stimmrecht – wollte es mir<br />
nicht in den Kopf, wie Tag für Tag radioaktiver<br />
Abfall produziert wird, ohne zu wissen, wohin<br />
damit. In Gamsen grub man damals dörfliche<br />
Siedlungen aus fernen Zeiten aus. In der Schule<br />
hörten wir von den ägyptischen Pyramiden<br />
und Malereien. Immer wieder hiess es «Es wird<br />
vermutet, dass...», «Dies könnte heissen, dass...».<br />
Das Bronzedorf in Gamsen wurde vor 3 400 Jahren<br />
gegründet.<br />
Die alten Ägypter bauten ihre Pyramiden<br />
vor nicht ganz 5 000 Jahren. Und wir produzieren<br />
radioaktiven Müll, den wir für<br />
10 000 Jahre sicher entsorgen müssen. Und<br />
unsere Nachkommen in 3 400, 5 000 oder gar<br />
9 000 Jahren müssen wissen, dass sie die Finger<br />
davon lassen sollen. Ich schüttelte den Kopf.<br />
Und nun Fukushima. Die Erinnerungen an die<br />
Gespräche am Mittagstisch nach Tschernobyl<br />
kehrten zurück. Ich sah in den Medien die<br />
Bilder aus Japan und schüttelte abermals den<br />
Kopf. Vielen Menschen schien es ähnlich zu<br />
gehen. Noch vor einem Jahr nahmen knapp 5<br />
000 am Demospaziergang MenschenStrom gegen<br />
Atom teil. Dieses Jahr waren es 20 000, gut<br />
viermal mehr. Ihnen wurde bewusst, dass selbst<br />
ein hochentwickeltes Land wie Japan nicht vor<br />
Atomunfällen gewappnet ist.<br />
Das sicherste AKW ist jenes, das gar nicht erst<br />
läuft. Auch dem Bundesrat kamen Zweifel. Er<br />
will nun bis 2034 aus der Atomenergie aussteigen.<br />
Dann werde ich 51 Jahre alt sein. Beinahe<br />
doppelt so alt wie jetzt.<br />
Aber der Bundesrat warnt uns: Der Atomausstieg<br />
werde etwas kosten. Die Strompreise würden<br />
steigen. Ich habe inzwischen Wirtschaft studiert:<br />
Aufgrund der Ölkrise anfangs der 70er Jahre stieg<br />
der Benzinpreis und die Menschen wollten ihre<br />
Vielsäufer loswerden. Fiat, Peugeot und andere<br />
setzten auf kleine, kompakte, sparsame Autos.<br />
Diese fanden reissenden Absatz. Wird der Strom<br />
teurer, werden Hersteller von elektronischen<br />
Geräten mehr Wert auf Energieeffizienz legen.<br />
Dadurch würden wir ähnlich viel für den Strom<br />
zahlen wie heute, aber weniger davon verbrauchen.<br />
Es wird sich erst recht lohnen, Solarzellen<br />
aufs Dach zu bauen. Und die Forschungs- und<br />
Entwicklungszentren wissen nun, dass sich die<br />
Schweiz in den nächsten 23 Jahren allmählich<br />
von der Atomenergie verabschiedet. Wer die<br />
effizientesten Solarzellen, die besten Windräder<br />
baut, gewinnt. Auf die Plätze, fertig, los!<br />
Tschernobyl und Fukushima hatten Einfluss auf<br />
mein Leben hier in der Schweiz und gingen mich<br />
deshalb ganz persönlich etwas an. Mühleberg,<br />
Gösgen, Beznau stehen in der Schweiz, gehen<br />
mich deshalb ganz persönlich etwas an. Darum<br />
will ich jetzt aussteigen. Endgültig.<br />
Buchtipp:<br />
Serbische Zeitreise<br />
Die Villa am Rande der Zeit<br />
Von goran Petrovic<br />
Verlag: dtv München, 2010<br />
ISbN: 13 9783423248242<br />
Im Roman «Die Villa am Rande der Zeit» des Belgrader<br />
Autors Goran Petrocvic haben Menschen<br />
die Fähigkeit, beim Lesen so tief ins Geschehen<br />
einzutauchen, dass sie das Gelesene als wirklich<br />
erleben. Und sie können sich sogar mit anderen<br />
Menschen treffen, die gerade dasselbe Buch lesen.<br />
Der Belgrader Student Adam erhält den lukrativen<br />
Auftrag, einen längst vergriffenen Roman mit dem<br />
Titel «Mein Vermächtnis» zu überarbeiten. Anastas<br />
Brancia, der Verfasser dieses Romans, versinkt 1906<br />
als Zwölfjähriger beim Lesen eines Abenteuerromans<br />
so tief in die Beschreibung eines Strandes,<br />
dass er ins Meer watet und Sand und Wasser in seinen<br />
Schuhen hat. Als er so ins Arbeitszimmer seines<br />
Stiefvaters eintritt, erteilt ihm dieser eine Ohrfeige.<br />
21 Jahre später begegnet Anastas in einem Buch<br />
über hellenistische Architektur Nathalie Houville,<br />
welche ebenfalls in Belgrad lebt. Doch leider ist sie<br />
schon vergeben und plant gerade ihre Heirat. So<br />
treffen sich die beiden immer wieder in den Büchern,<br />
welche sie gleichzeitig lesen. Anastas schreibt<br />
für sich und seine unerreichbare Liebe des Lebens<br />
einen Roman in Briefform. Dieser Liebesroman<br />
ohne Handlung beschreibt in allen Details eine<br />
fiktive Villa mit einem wunderschönen Garten.<br />
In den 30er-Jahren fällt der Roman in die Hände<br />
der Buchhändlerin Natalija, welche sich mittels<br />
Lektüre auf eine spektakuläre Reise begibt. Während<br />
Natalija älter wird, zieht fast ein ganzes<br />
Jahrhundert serbischer Geschichte vorüber; von<br />
der Regentschaft der Könige bis zum Ende von<br />
Titos Herrschaft. Auch Adam taucht beim Überarbeiten<br />
des Roman in die Handlung ein und trifft<br />
auf andere LeserInnen, welche ebenfalls über diese<br />
phantastische Gabe verfügen. Zum Beispiel die<br />
gealterte Buchhändlerin Natalija. Aber nicht alle<br />
LeserInnen hegen lautere Interessen. Als jemand<br />
ermordet wird, muss sich Adam entscheiden, ob er<br />
die Arbeit am Roman weiterführen will.<br />
Der Autor wurde 1961 in Kraljevo geboren und ist<br />
einer der meistgelesenen Schriftsteller in Serbien.<br />
Marie-Theres Kämpfen
12 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 13<br />
berühmte Pose: Schernikau auf einer Pop-Art-Arbeit. grafik dkp<br />
Ronald M. Schernikau:<br />
Dichter, Kommunist, Schwul<br />
VON HILAR EGGEL<br />
Was für ein seltsames Bild: Während im Herbst 1989<br />
Tausende Ostdeutsche sich aufmachen und in den Westen<br />
marschieren, läuft der junge Dichter und Schriftsteller<br />
Ronald M. Schernikau in die entgegengesetzte Richtung.<br />
Er beantragt die Staatsbürgerschaft der DDR. Als er sie<br />
schliesslich bekommen hat, findet er sich mitten im Westen<br />
wieder. Am 20. Oktober 1991 stirbt er an den Folgen von<br />
Aids, nachdem er sein Hauptwerk «legende» mit letzter Kraft<br />
abgeschlossen hatte.<br />
Ronald M. Schernikau wird 1960 in Magdeburg,<br />
DDR, geboren. Als sechsjähriges Kind wird er<br />
von seiner Mutter in den Kofferraum eines Autos<br />
gepackt und über die Grenze geschmuggelt. Der<br />
Kofferraum wird in Lehrte bei Hannover geöffnet.<br />
Die Freiheit und der Kapitalismus lächeln dem<br />
aufwachsenden Kind ins Gesicht. Die Schulzeit<br />
verbringt er in Lehrte und macht dort das Abitur.<br />
Wenige Wochen vor seinem Abitur erscheint 1980<br />
die Kleinstadtnovelle. Schernikau zieht nach Westberlin.<br />
Er tritt in die sozialistische Einheitspartei<br />
Westberlins (SEW) über und beginnt an der Universität<br />
Germanistik, Philosophie und Psychologie<br />
zu studieren. In den folgenden Jahren entstehen<br />
viele kleinere Arbeiten – Artikel, Gedichte, Aufsätze,<br />
Protokolle –, von denen einige veröffentlicht<br />
werden. Zudem entstehen mehrere umfangreichere<br />
Schriften, die nicht publiziert werden, weil<br />
er sie selbst für zu fragmentarisch hält oder weil<br />
er keinen Verlag findet.<br />
Anscheinend zweifelte Schernikau an den theoretischen<br />
Ansprüchen von Freiheit und Demokratie<br />
der kapitalistischen Gesellschaft. Denn<br />
1985 bewirbt er sich um einen Studienplatz am<br />
Johannes-R.-Becher-Institut für Literatur in Leipzig.<br />
Nach Umfang und literarischen Gewicht hat<br />
er nicht allzu viele Publikationen vorzuweisen.<br />
Aber über die Literaturszene in der DDR ist er<br />
gut informiert und er weiss, dass in der DDR<br />
SchriftstellerInnen wie zum Beispiel Peter Hacks<br />
und Irmtraut Morgner tätig sind, von denen er<br />
erwartet, dass sie ihm als Schriftsteller weit mehr<br />
Impulse vermitteln können als die Schreibgefährt-<br />
Innen im Westen. Ab 1986 – der zweite Schritt der<br />
Wiederannäherung an die DDR – studiert er die<br />
vorgesehenen drei Jahre in Leipzig. Schliesslich<br />
kehrt er wieder in die Bundesrepublik zurück. Im<br />
Gepäck hat er mehrere hundert Seiten Material für<br />
den Roman «legende», zu dem es Pläne schon seit<br />
1983 gibt. Zudem nimmt er noch seine Leipziger<br />
Abschlussarbeit mit in den Westen - ein Manuskript,<br />
von dem er annehmen muss, dass es in<br />
der DDR nicht gedruckt werden wird. Der Konkret<br />
Literatur Verlag veröffentlicht es unter dem Titel<br />
«die tage in l.»<br />
Schernikau lässt sich nicht in die Irre führen. Zu<br />
sehr ist er von den literarischen Qualitäten eines<br />
Peter Hacks überzeugt, so dass er die Staatsbürgerschaft<br />
der DDR beantragt. Wie er feststellen<br />
muss, ist dies nicht eine einfache Sache. Denn<br />
die DDR kann Leute zwar gebrauchen, zumal<br />
wenn sie noch nicht im Rentenalter und keine<br />
Kundschafter sind, aber schwule Kommunisten<br />
stossen auch hier auf Widerstand. Nach langen<br />
Diskussionen und heftigen Auseinandersetzungen<br />
erhält er schliesslich den Pass.<br />
Identität, Aufbruch, Tod<br />
Im Sommer 1989 geht Schernikau zurück in die<br />
DDR, bezieht seine Wohnung und nimmt seinen<br />
Arbeitsplatz ein; auf beides hat er als Bürger<br />
der DDR selbstverständlich ein Anrecht. Seine<br />
Mitbürger, die diese Rechte gering zu schätzen<br />
scheinen, beginnen kurz darauf, der 40 Jahre andauernden<br />
erfolglosen Demontage dieses Staates<br />
zum Erfolg zu verhelfen. Als Schernikau wieder<br />
DDR-Bürger ist, lebt die DDR nur noch ein Jahr.<br />
Auch Schernikau überlebt die DDR nicht lange:<br />
Ein Jahr danach stirbt auch er – am 20. Oktober<br />
1991 an den Folgen von Aids.<br />
Schernikaus Talent stand von Anfang an fest. 1980<br />
erschien die Kleinstadtnovelle. Er beginnt das<br />
Buch mit dem Satz: «ich habe angst, bin weiblich,<br />
bin männlich, doppelt, fühle meinen körper sich<br />
von meinem körper entfernen … ich will nicht<br />
doppelt sein; wer bin ich?»<br />
In einer Anekdote wird erzählt, die Lektorin des<br />
Rotbuch-Verlages in Westberlin habe das Geburtsdatum<br />
des Autors für eine Fiktion gehalten, für<br />
einen leicht lächerlichen Versuch zur Legendenbildung.<br />
Sie wollte das Buch trotzdem machen.<br />
Als sie dem Autor gegenüber sass, erwies sich die<br />
Fiktion als wahr.<br />
Die Novelle ist in strenger Form geschrieben, fünfteilig<br />
und zielstrebig. Der junge Mann versucht,<br />
mit der Fülle an Stoff in der Form einer Novelle<br />
fertig zu werden, die diesen Namen auch verdient.<br />
Was heisst Fülle an Stoff? Wenn ein Kleinstadtgymnasiast<br />
ein Buch über einen Kleinstadtgymnasiasten<br />
schreibt, muss ihm der Stoff wohl gross<br />
vorkommen. Die Details, die beschrieben werden,<br />
sind denn auch der Wirklichkeit abgerungen.<br />
Die Kleinstadtnovelle weisst eine merkwürdige<br />
Form von Verarbeitung der alltäglichen Geschehnisse<br />
auf. Da fügen sich Marxzitate, Werbeslogans,<br />
literaturwissenschaftliche Abhandlungen, Spickzettel,<br />
eigens erfundene Interjektionen, schier<br />
endlose Komposita, Schülerslang, Bürokratensprache<br />
und Witzeleien zu einem Textablauf zusammen.<br />
Schwulsein und Linkssein<br />
Was beinhaltet die Keinstadtnovelle? Ein junger<br />
Mann verursacht einen Skandal, weil er sich<br />
dafür schämt, von einem anderen jungen Mann<br />
verführt worden zu sein. Es wird einiges versucht,<br />
letzteren zum Opfer einer Kampagne und zum<br />
Objekt dieses Skandals zu machen, aber jener<br />
bemerkenswerte junge Mann lässt sich nicht zum<br />
Opfer oder zum Objekt machen. Obwohl es der<br />
junge, politisch interessierte Mann ist, der nun<br />
von sich weiss, dass er schwul ist, der am Ende<br />
weggeht, ist es die Kleinstadt, die scheitert. Die<br />
Provinz bleibt Provinz, der junge Mann aber wird<br />
in Berlin zum Prinzen.<br />
Es geht in der Kleinstadtnovelle ums Schwulsein,<br />
aber es geht nicht um irgendein Schwulsein; es<br />
geht ums Linkssein, aber nicht um irgendeine<br />
Identität. Es geht um einen anderen Entwurf. Der<br />
Protagonist b. möchte kein Linker mit wechselnden<br />
Bekenntnis-Plaketten sein, kein Schwuler,<br />
Matthias Frings: Der letzte<br />
Kommunist. Aufbau Berlin.<br />
der sich beklagt und leidet. Das ist das Ereignis,<br />
dass die Geschichte nicht als Passion erzählt wird,<br />
dass hier einer einen Weg sucht, der jenseits der<br />
Angebote der Kleinstadt liegt: «denn b. tut alles,<br />
die elegante lösung zu vermeiden.»<br />
Schernikau ist der Meinung, dass Kommunisten<br />
nur Menschen mit einem starken Ich werden<br />
können. Leute zum Beispiel, die – aus welchen<br />
Sozialisationsgründen auch immer – schon mit 19<br />
Jahren so viel Unbescheidenheit, so viel Eitelkeit,<br />
so viel Egoismus besitzen, dass sie ihren unstillbaren<br />
Hunger nach immer mehr Ich in eine lite-<br />
rarisch überzeugende Form zu bringen vermögen.<br />
Schernikau schreibt: «Wer nicht aus egoistischen<br />
motiven revolutionär ist, wird immer ein unzuverlässiger<br />
kämpfer bleiben.» Daraus folgert er, dass<br />
die Welt nicht Wille und Vorstellung ist, sondern<br />
Handlung und Veränderung. Mit anderen Worten:<br />
Der Hunger nach immer mehr Ich muss unter den<br />
gegebenen Bedingungen gestillt werden.<br />
Das wiederum heisst, dass die Individuen an<br />
ihrem Ich satt werden könnten, wenn sie sich<br />
ihre Bedingungen selber schaffen. «der kommunismus<br />
liegt so auf der hand! aber vielleicht<br />
haben die anderen keine hand?» Schernikau gibt<br />
auch einen Vorgeschmack, wie Sattwerden sich<br />
anfühlt. Er stellt fest: «jede gesellschaft gibt ihre<br />
metainformation. die perfektion des westens sagt<br />
dem einzelnen immer und immer: nichts geht.<br />
du kannst nichts tun. nichts. – die ungeheure<br />
schlamperei des sozialismus vermittelt plötzlich<br />
und unerwartet immer wieder diese eine und<br />
einzige information: es wird.»<br />
Schernikaus Bild vom Sozialismus sind «anarchische<br />
formen der vergesellschaftung». Sein<br />
Verständnis von Sozialismus ist sicher nicht das,<br />
Schernikau: Legende. ddp<br />
goldenbogen, Dresden.<br />
«Wenn er aus Europa<br />
reitet ist es stille –<br />
unsre Freiheit das war<br />
sein letzter Wille»<br />
Schernikau: Aus dem Gedicht «Amerika»<br />
Schernikau: Kleinstadtnovelle.<br />
Konkret Literatur Verlag.<br />
was unter der «immer besseren planmässigen Befriedigung<br />
der wachsenden materiellen und kulturellen<br />
Bedürfnisse der Werktätigen» verstanden<br />
wurde. Deshalb konnten «die tage in l.», die von<br />
der ersten bis zur letzten Seite von Schernikaus<br />
anarchischem Sozialismus handeln, in der DDR<br />
nicht erscheinen.<br />
Die Legende<br />
Was sich in der Kleinstadtnovelle schon andeutet<br />
und im Leipzig-Buch verfeinert wird, findet, in der<br />
«legende» eine extreme Zuspitzung. Das Manuskript<br />
von über 600 zweispaltig-eng betippten Seiten<br />
ist eine Mischung aus Bibel, Sage, Parabel und<br />
grotesken gedankengängen. Es ist eine Montage<br />
von Erzählung, Dialogen, Zeitungsüberschriften,<br />
Versen, Parodien, Selbstreflexionen des Verfassers,<br />
Parolen, Szenenanweisungen, Witzen, Gedichten,<br />
Träumen, Poetik-Bruchstücken, Zitaten und’ inneren<br />
Monologen.<br />
In «legende» ist die Beschreibung des Kommunismus<br />
äusserst real. Eine befreite Menschheit<br />
könnte in dieser Form ihre Vorgeschichte artikulieren<br />
und den Opfern ein Eingedenken widmen.<br />
Immer im Präsens geschrieben, findet «legende»<br />
immer dann statt, wenn man in ihr liest. Es gibt<br />
keine Handlung und es gibt doch eine, Gedanken,<br />
Feststellungen und Thesen tauchen auf, werden<br />
wieder aufgegriffen, verschwinden. «legende» liest<br />
sich, als denke jemand laut; sie ist freie Assoziation<br />
im kommunistischen und im psychoanalytischen<br />
Sinne. «denn kunst funktioniert. wer es schafft,<br />
die noch nicht toten daran zu erinnern, dass sie<br />
leben wollen, der macht kunst. wer gerade so viel<br />
zu essen kriegt, dass er nicht stirbt, will nicht nur<br />
mehr essen. er will sich auch vorstellen können,<br />
dass es anders wird. kunst ist nicht möglich ohne<br />
diese hoffnung.» Das Buch «legende» ist auch<br />
humorvoll und wirkt irgendwie komisch. In der<br />
Komik besitzen die Menschen noch einen Rest<br />
Würde, der heute nur mehr dort zum Ausdruck<br />
kommt, wo man über sich lachen kann. Das Lachen<br />
über die Verhältnisse wird von den einen als<br />
Element der Rebellion begriffen, von den anderen<br />
als Eingeständnis der Überforderung und der<br />
Ohnmacht. «komisch ist jemand, der das richtige<br />
weiss aber scheitert. jemand der das richtige tut<br />
und scheitert, ist tragisch. komik ist das ungenügen<br />
am objektiven. am komischsten ist schuld.<br />
lachen ist erkenntnis», bemerkt Schernikau.<br />
Schernikau: Die Tage in L.<br />
Konkret Literatur Verlag.
14 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011 15<br />
Tipp<br />
Frauenstreik<br />
Dienstag, 14. Juni, ab 11.30 uhr, Sebastiansplatz<br />
brig<br />
www.14juni2011.ch<br />
Wir haben ein Ziel – gleich viel! Unter diesem<br />
Motto findet am 14. Juni auf dem Sebastiansplatz<br />
in Brig eine Veranstaltungsreihe zum 20-Jahr-Jubiläum<br />
des Frauenstreiks statt. «Einiges hat sich verbessert,<br />
trotzdem besteht noch kein Grund zum<br />
Feiern», schreiben die Veranstalterinnen, die Unia<br />
Frauen, auf dem Flyer zur Veranstaltung. Konkret<br />
verdienen Frauen immer noch durchschnittlich<br />
fast 20 Prozent weniger. Fast 300 000 Frauen in der<br />
Schweiz verdienen unter 4000 Franken pro Monat.<br />
Frauen leisten zweimal mehr unbezahlte Arbeit<br />
als Männer. Die Unia Frauen fordern deshalb 50<br />
000 Kita-Plätze sowie einen Vaterschaftsurlaub.<br />
Um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen<br />
trifft man sich am 14. Juni ab 11.30 Uhr auf dem<br />
Sebastiansplatz zum Mittagessen. Ab 14 Uhr spielt<br />
die All-Girl-Band «Labyrinthzero». Ab 18.30 Uhr<br />
serviert der Oberwalliser Gewerkschaftsbund ein<br />
Feierabend-Apéro. (ra)<br />
kINO ASTORIA, VISP<br />
DER bESONDERE FILM<br />
www.kino-astoria.ch<br />
Montag, 13. Juni, 20.30 uhr<br />
The Kings speech<br />
Das oscargekrönte Werk erzählt die geschichte<br />
Alberts (Colin Firth), dem zweiten Thronfolger<br />
grossbritanniens in den 1930er Jahren. Seine<br />
unfähigkeit vor Publikum zu sprechen war bis zur<br />
Übertragung seiner ersten öffentlichen Rede ein<br />
gut behütetes geheimnis. Mit dem beginn des<br />
Zweiten Weltkriegs steht Albert, nun king george<br />
VI, vor der wichtigsten Rede seines Lebens. Mit<br />
Hilfe seines Sprachtrainers Lionel Logue (geoffrey<br />
Rush) und seiner Ehefrau (Helena bonham Carter)<br />
will der könig sein nervöses Stottern überwinden.<br />
Montag, 20. Juni, 20.30 uhr<br />
Biutiful<br />
Der Film erzählt die geschichte von uxbal (Javier<br />
bardem). Er ist ein hingebungsvoller Vater, verzweifelter<br />
Liebhaber und kleinganove im untergrund. Ein<br />
Mann, den die Last seines Lebens erdrücken würden,<br />
hätte er nicht die Liebe zu seinen kindern Ana<br />
und Mateo. Sie gibt ihm kraft, wenn er das Licht am<br />
anderen Ende des Tunnels aus den Augen verliert.<br />
uxbal bewegt sich dabei zwischen den Welten am<br />
Rande eines modernen, unbekannten barcelonas.<br />
.<br />
Montag, 27. Juni, 20.30 uhr<br />
In a better world<br />
Anton lebt den Spagat zwischen zwei Welten. Mehrere<br />
Monate im Jahr rettet er als idealistischer Arzt<br />
in einem afrikanischen Flüchtlingscamp Menschenleben.<br />
Zuhause, in der Idylle der dänischen Provinz,<br />
muss er sich als engagierter Vater und Ehemann den<br />
Herausforderungen des Familienalltags stellen.<br />
Montag, 4. Juli, 20.30 uhr<br />
The Fighter<br />
Auf der Siegerstrasse des Lebens befindet sich<br />
Micky Ward (Mark Wahlberg) nicht. Aus dem wenig<br />
glamourösen Städtchen Lowell hat es der Sohn einer<br />
Arbeiterfamilie nie herausgeschafft, die beziehung<br />
zur Mutter seiner Tochter ist längst gescheitert und<br />
für den Lebensunterhalt pflastert er Strassen. Selbst<br />
im boxring läuft es trotz hartem Training nicht rund.<br />
Montag, 11. Juli, 20.30 uhr<br />
Fliegende Fische<br />
Roberta ist 38 und alleinerziehende<br />
Mutter von<br />
drei kindern. Einen festen<br />
Job hat sie keinen, dafür<br />
ständig wechselnde Männerbekanntschaften<br />
und<br />
eine Vorliebe für Alkohol.<br />
Ihre 15-jährige Tochter<br />
übernimmt deshalb kurzerhand<br />
die Mutterrolle.<br />
ZEugHAuS kuLTuR, gLIS<br />
www.zeughauskultur.ch<br />
Donnerstag, 9. Juni, 20 uhr<br />
Abusitz<br />
Live-Radio bob Dylan zum 70.<br />
Donnerstag, 16. Juni, 20 uhr<br />
Abusitz<br />
«Tanzkultur» Jazz/Modern<br />
Freitag, 8. Juli, 20 uhr<br />
Sommer-Liebeslieder<br />
Ein klassisches konzert<br />
POLIT-AgENDA<br />
www.roteanneliese.ch<br />
unia Jugend<br />
Mittwoch, 15. Juni, 19 uhr, Zeughaus glis<br />
Die Entwicklung der Rechtsextremen Szene in<br />
der Schweiz und im Oberwallis<br />
Vortrag mit Hans Stutz, Journalist und kenner der<br />
Rechten Szene in der Schweiz.<br />
Samstag, 18. Juni, 18 uhr, Regenbogenfest Visp<br />
Infostand<br />
Rassistische Diskriminierung am Arbeitsplatz: Was<br />
kann man dagegen tun?<br />
Samstag, 2. Juli, ab 9 uhr, Sportplatz «Chatzuhüs»<br />
Visp<br />
Antira-Cup Alto Vallese<br />
Das Oberwalliser Fussballturnier gegen Rassismus.<br />
Infos und Anmeldung unter<br />
www.uniajugend-oberwallis.ch/antiracup-anmeldung<br />
Sonntag, 31. Juli<br />
Partisanen-Wanderung<br />
Mit dem diplomierten Wanderleiter german Eyer auf<br />
den Spuren der Partisanen.<br />
Veranstaltungen für den alternativen Oberwalliser<br />
Veranstaltungskalender: rote.anneliese@rhone.ch<br />
Dicke Eier<br />
binner Wasserzinsen zurück an<br />
den Absender: an gott<br />
BINN – Was manche Walliser Behörden so alles<br />
mit unserem Geld anstellen … Uns wundert es<br />
schon gar nicht mehr. Eine «Üsserschweizerin»,<br />
die im Wallis ein Ferienchalet hat, war ob dem<br />
Schreiben der Elektrizitätsgenossenschaft Binn<br />
aber so erstaunt, dass sie dieses der «<strong>Rote</strong>n <strong>Anneliese</strong>»<br />
zukommen liess.<br />
Im Brief der im April an alle Binner Strombezüger<br />
ging, teilt die Elektrizitätsgenossenschaft mit,<br />
dass man auf «ein erfolgreiches Geschäftsjahr<br />
zurückblickt und aufgrund der vorhandenen Reserven<br />
die Strombezüger am guten Geschäftsjahr<br />
teilhaben lässt». Konkret: Jeder Binner Strombezüger<br />
erhält sozusagen als Dividende einen kleinen<br />
Geldbetrag bar in die Hand gedrückt – abzuholen<br />
bei der Raiffeisenbank Binn.<br />
Merkwürdig ist das Vorgehen bei nicht abgeholten<br />
Geldbeträgen: «Alle Beträge, die bis zum<br />
31. Oktober 2011 nicht bei der Raiffeiseinbank<br />
abgeholt werden, gehen zu Gunsten der Pfarrei<br />
Binn», heisst es im Schreiben der Elektrizitätsgenossenschaft.<br />
Eigentlich logisch: Denn wer sonst ist für den Regen<br />
und damit die Grundlage der Stromerzeugung<br />
im Wallis verantwortlich? Ja, genau: Gott. Und wer<br />
sorgt für den direkten Draht zu ihm? Genau: die<br />
Pfarrei. (cp)<br />
«Die Chefredaktion» und<br />
der Stünzi-Leserbrief<br />
BRIG-GLIS – In der Februar-Nummer berichteten<br />
wir über die zahlreichen Drohungen und Anwürfe<br />
aus dem christlich-fundamentalistischen<br />
Millieu gegen Freidenker Valentin Abgottspon.<br />
Erschüttert von den Hassbriefen an den Staldner<br />
Ex-Lehrer, schrieb Kollegiumslehrer Charles<br />
Stünzi einen Leserbrief und sandte diesen an den<br />
«Walliser Boten». Nur kurze Zeit später erhielt er<br />
Antwort: «Die Chefredaktion» sei der Meinung,<br />
dass es nicht an ihm sei, auf anonyme Briefe oder<br />
Telefonate an Drittpersonen zu reagieren, lautete<br />
die mit «Redaktion» unterzeichnete Absage an die<br />
Adresse Stünzis. Die «<strong>Rote</strong> <strong>Anneliese</strong>» holt den<br />
Abdruck des Briefes mit dem Titel «Für Valentin<br />
und gegen die Feiglinge» nun noch nach:<br />
«Ich kenne einige Leute, welche – entgegen meiner<br />
Meinung – für das Kruzifix im Walliser Schulzimmer<br />
plädieren, und trotzdem sind wir gute<br />
Freunde. Meinungsfreiheit sowie Toleranz sind<br />
dazu vorausgesetzt und für zivilisierte Menschen<br />
im 21. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit.<br />
Was aber Valentin Abgottspon momentan für<br />
anonyme Briefpost von religiösen Extremisten<br />
und intoleranten Hassern erhält, ist zutiefst verachtenswert.<br />
Mit Ratschlägen bis hin zur Aufforderung<br />
zum Suizid stehen diese Schmierfinken<br />
dem islamistischen Terrorismus näher als der<br />
christlichen Botschaft zur Nächstenliebe. Dass<br />
sie ihre selbstgerechten, fundamentalistischen<br />
und sowohl sprachlich als auch intellektuell ungenügenden<br />
Elaborate anonym senden, zeigt<br />
einerseits, dass sie erbärmliche Feiglinge sind,<br />
und anderseits, dass sie insgeheim wissen, dass<br />
ihr Tun unmoralisch und unchristlich bzw. ‘des<br />
Teufels’ ist.<br />
Ich erwarte übrigens von den sich ansonsten<br />
christlich gebenden Meinungsmachern der CVP<br />
und der SVP, dass sie sich öffentlich und eindeutig<br />
von den Hasstiraden dieser primitiven Feiglinge<br />
distanzieren. Alles andere stünde der christlichen<br />
Botschaft, welche diese Parteien vertreten wollen,<br />
diametral entgegen. Und als Letztes: Falls jemand<br />
mir eine anonyme Botschaft zustellen will, ist es<br />
die Mühe nicht wert, denn alle Briefumschläge,<br />
auf denen hinten drauf kein detaillierter Absender<br />
steht, landen ungeöffnet im Abfalleimer.»<br />
Charles Stünzi, Brig-Glis<br />
Rückblick &<br />
Reaktionen<br />
<strong>RA</strong> <strong>Nr</strong>. 217<br />
Bauschutt im Stundhaus –<br />
alles sauber?<br />
In der April-Nummer deckte die <strong>RA</strong> einen<br />
Bauschutt-Skandal im Sevenett-Areal bei<br />
Visp auf. Nach der Veröffentlichung erreichte<br />
uns folgende anonyme Mail:<br />
Mit Interesse habe ich Ihren Artikel «Bauschutt<br />
im Stundhaus-alles sauber?» gelesen.<br />
Hierbei möchte ich vielleicht noch erwähnen,<br />
dass eines der Hauptprobleme nicht erwähnt<br />
wurde. Nämlich: Bei der Aufbereitung von<br />
sämtlichem Material entsteht ein nicht unerheblicher<br />
Anteil an Feinstoffen (Feinanteil).<br />
Dieser kann weder in der Beton noch in der<br />
Asphaltproduktion verwendet werden – ist<br />
also ein unverwertbares Produkt. Richtigerweise<br />
müsste dieser gepresst und endgelagert<br />
werden. Es wäre einmal interessant zu wissen,<br />
wo dieser Schlamm von der Firma Imboden<br />
gelagert wird. Abgesehen davon, dass<br />
diese nötige Infrastruktur im Stundhaus nicht<br />
vorhanden ist …<br />
Die «<strong>Rote</strong> <strong>Anneliese</strong>» bleibt dran. (cp)<br />
<strong>RA</strong> <strong>Nr</strong>. 217<br />
Luftschloss mit Solardach<br />
In der letzen Nummer berichtete die «<strong>RA</strong>»<br />
über die Genesis Solartec, welche ankündigte<br />
in Raron eine Solarpanelfabrik bauen<br />
zu wollen. Nach der Veröffentlichung des<br />
Berichts verlangte die Genesis Invest eine<br />
Richtigstellung, welche wir nun hier veröffentlichen.<br />
Die <strong>RA</strong> hält aber fest, dass die<br />
wiedergegebenen Fakten im Artikel richtig<br />
sind.<br />
Wir wollen festhalten, dass unser Unternehmen<br />
in keinster Weise etwas mit den von<br />
Ihnen genannten Unternehmen zu tun hat<br />
oder je zu tun hatte. Auch wir wissen, dass in<br />
anderen europäischen Ländern Firmen mit<br />
dem Namen Genesis existieren und dasselbe<br />
gilt für den Namen Solartec. Niemand aus<br />
unserem Unternehmen hatte je Kontakt zu<br />
den von Ihnen genannten Firmen, mit denen<br />
wir uns auch nicht vergleichen wollen. Für<br />
das Projekt in Raron haben wir die Gelder<br />
durch unsere Investoren erhalten und werden<br />
mit dem Bau im Sommer 2011 beginnen.<br />
Wir werden in Raron ca. 200 neue Stellen<br />
schaffen. Die Gemeinde Raron hat nach<br />
gründlichen Abklärungen diesem Projekt zugestimmt.<br />
Andreas Bachmann Genesis Invest AG
16 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>218</strong> / Juni 2011<br />
Wird auf der Domaine angepflanzt: Auch sonst hat<br />
der Staat mit seinem gutsbetrieb nun Mais. flickr.com<br />
AZB 3900 Brig • NR. <strong>218</strong> / Juni 2011<br />
Adressänderungen bitte melden bei:<br />
Verein <strong>Rote</strong> <strong>Anneliese</strong>, Postfach 441, 3900 brig-glis<br />
Misswirtschaft auf Kantonsgut<br />
Cinas Gutsbetriebe ernten<br />
vor allem eins: Kritik<br />
VOUVRY – In seinem neuen Bericht stellt das Finanzinspektorat<br />
«bedeutende Mängel» beim Landgut Barges des Kantons fest.<br />
Eine Strafanzeige wurde eingereicht. Das Inspektorat fragt jetzt<br />
zurecht: Ist es Aufgabe eines Kantons landwirtschaftliche<br />
Betriebe zu unterhalten?<br />
«Bei der Kontrolle der Rechnungen 2008 und 2009<br />
des Landgutes ‘des Barges’ stellten wir bedeutende<br />
Mängel in der Verwaltungsführung fest», schreibt<br />
das Finanzinspektorat in seinem Anfang Juni<br />
veröffentlichten Bericht über die Rechnungsführung<br />
verschiedenster Walliser Behörden. Mit den<br />
nun im Detail bekannt gewordenen Missständen<br />
beim Unterwalliser Gutsbetrieb gerät Staatsrat<br />
Jean-Michel Cina unter Druck. Denn: Es ist nicht<br />
das erste Mal, dass ein Landwirtschaftsbetrieb im<br />
Besitz des Kantons negative Schlagzeilen erntet:<br />
Zuletzt standen die von den kantonalen Landwirtschaftsbetrieben<br />
bezahlten Hungerlöhne an<br />
Erntehelfer am Pranger.<br />
Über die Missstände in der «Domaine des Barges»<br />
nahm die Öffentlichkeit bisher nur über<br />
eine kurze Meldung Anfang April Notiz. Der<br />
Staatsrat gab damals<br />
«Es ist zu prüfen,<br />
ob es Aufgabe des<br />
Kantons ist, ein<br />
Landgut zu führen»<br />
nur bekannt, dass der<br />
Verwalter der Domaine<br />
«aufgrund festgestellter<br />
Probleme<br />
vorübergehend seiner<br />
Funktion enthoben»<br />
wurde. Jetzt offenbart<br />
der FI-Bericht das<br />
wahre Ausmass der<br />
Misswirtschaft auf<br />
dem kantonseigenen<br />
Landwirtschaftsbetrieb<br />
auf Boden der Gemeinde Vouvry, der bis<br />
Ende der 90er Jahre noch dem Chemieunternehmen<br />
Syngenta gehörte.<br />
Als das Finanzinspektorat im letzten Jahr den<br />
Rinderzucht- und Getreideanbaubetrieb unter<br />
die Lupe nahm, stellte man fest, dass für gelieferte<br />
Waren nicht systematisch Lieferscheine erstellt<br />
wurden und das Inkasso für erbrachte Leistungen<br />
nicht überwacht wurde, heisst es im Bericht. Dies<br />
in einem Betrieb, der im letzten Jahr immerhin<br />
eine Million Franken umsetzte.<br />
Auf die Unregelmässigkeiten aufmerksam gemacht<br />
wurden die Inspekteure durch einen Hinweis.<br />
«Wir versuchten einen uns zugetragenen<br />
Vorfall sowie Äusserungen, wonach Einnahmen<br />
aus Lieferungen ohne Lieferschein nicht der Kasse<br />
des Landgutes erfasst werden zu überprüfen»,<br />
schreibt das FI im Bericht.<br />
Die Kontrolleure kamen mit einem Adjunkten<br />
der Dienststelle für Landwirtschaft auf Platz und<br />
befragten den Verwalter des Landgutes. Dieser<br />
Kantonales Finanzinspektorat<br />
knickte sofort ein und gab die schwarze Kasse<br />
beim Landgut des Kantons zu: «Bei unserer Befragung<br />
anerkannte der Verwalter, Waren ohne<br />
Lieferscheine verkauft und die Einnahmen nicht<br />
in der Buchhaltung des Landgutes erfasst zu haben»,<br />
heisst es im FI-Bericht. Doch damit nicht<br />
genug: Das FI stellte bei seiner Kontrolle auch fest,<br />
dass der Verwalter landwirtschaftliche Maschinen<br />
im Besitz des Kantons an Dritte weiter vermietet<br />
hatte. Ausserdem wurden Helfer, welche ausserhalb<br />
der Arbeitszeit auf dem Landgut arbeiteten<br />
«direkt entschädigt», heisst es im Bericht.<br />
Die Begründung des Verwalters für sein strafbares<br />
Verhalten: Mit den Einnahmen seien Überstunden<br />
der Angestellten und Rechnungen für Arbeiten<br />
am Landgut, für die kein Budget zur Verfügung<br />
stand, bezahlt worden. Das Inspektorat handelte<br />
sofort: Aufgrund seiner<br />
Kontrolle konnten nachträglich<br />
insgesamt 72<br />
000 Franken einkassiert<br />
werden. 41 000 Franken<br />
für den Verkauf von 20<br />
Tieren ohne Lieferschein<br />
an einen Viehändler und<br />
31 000 Franken für Lieferungen<br />
an ein spezialisiertes<br />
Unternehmen.<br />
Doch damit ist die Sache<br />
für den Verwalter der<br />
Domaine nicht ausgestanden: «Stellt das Finanzinspektorat<br />
eine mögliche strafbare Handlung<br />
fest, die von Amtes wegen verfolgt wird, erstattet<br />
es sofort dem zuständigen Richter, dem Staatsrat<br />
und den Präsidenten der Geschäfts- und Finanzkommission<br />
Meldung», lautet das Vorgehen nach<br />
Gesetz. Das Dossier des Landguts des Kantons<br />
liegt nun bei der Zentralen Staatsanwaltschaft<br />
in Sitten.<br />
In seinen Schlussfolgerungen aus der Misswirtschaft<br />
in Barges übt das FI unverhohlene Kritik<br />
am Departement Cina, das den 160 Hektaren<br />
grossen Betrieb führt. Es sei zwingend, dass<br />
«die Verantwortlichen des Departements und der<br />
Dienststelle für Landwirtschaft Massnahmen treffen,<br />
damit die erlassenen Direktiven befolgt und<br />
die verschiedenen Kaufs- und Verkaufsverfahren<br />
klar definiert werden», schreibt das FI. Und: «Auch<br />
ist zu überprüfen, ob es zweckmässig ist, dass der<br />
Staat das Landgut als kommerziellen Betrieb führt<br />
und ob dies eine Aufgabe des Kantons ist.» (cp)