Materialien zur Vorlesung "Öffentliche und private Sphäre"

PD Dr. Wolfgang Fuhrmann, Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien
Vorlesung „Öffentliche und private Sphäre in der Musik des 19. Jahrhunderts“, SoSe 2011
- die Internationale (1871 Text: Eugène Pottier, 1888 Musik: Pierre Degeyter), die
mit einem kleinen Arbeiterchor auf einer Feier der Zeitungsverkäufer in Lille
uraufgeführt worden ist.
Literatur: Knepler, Fuhrmann, Seidl, Lammel
Volkslieder „von unten“, Musik der Unterschichten und der Straßenmusikanten
Volkslieder „von unten“ sind solche, die im Volk zwar nicht entstanden, aber
doch von selbst populär wurden, sich verbreiteten, mit denen sich im allgemeinen
keine Zielsetzungen politischer Natur verbanden. Es geht also um die Musik des
eigentlichen „Volks“, der Unterschichten, in der diese ihren Alltag reflektieren oder
auch ausklammern.
Diese Lieder sind in den seltensten Fällen musikalisch aufgezeichnet worden, oft
wurden sie auf wechselne Melodien gesungen, wobei sich auch die Texte ständig
veränderten. Erst mit der Entwicklung einer kommerziellen musikalischen
Unterhaltungsliteratur wird die Überlieferung von Notentexten häufiger.
Als Beispiel haben wir Berlin erörtert, weil zum Berliner Gassenhauer eine
ausgezeichnete Studie von Lukas Richter vorliegt, und weil Berlin im 19.
Jahrhundert eine ungeheure Veränderung erfahren hat. Hatte sie um 1800 keine
200 000 Einwohner, so waren es bei Gründung des Deutschen Kaiserreichs, 1871,
schon 800 000, und kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert, 1905, waren es
dann schon über zwei Millionen! Diese Verzehnfachung der Einwohnerzahl
innerhalb eines knappen Jahrhunderts war eine Folge der ungeheuren
Industrialisierung und wirtschaftliche Entfaltung der Stadt insbesondere nach 1871.
Man hat ausgerechnet, dass in den 80 Jahren von 1790 bis 1870 in Preußen etwa
300 Aktiengesellschaften gegründet wurden, aber allein 1871 und 1872 in Preußen
etwa 780 Aktiengesellschaften, d. h. im Durchschnitt jeden Tag eine. Der
Aufschwung der Gründerzeit, finanziert auch durch die ungeheuren
Reparationszahlungen des besiegten Frankreich, führte zu einem Aufschwung der
Industrialisierung, der Maschinenfabriken von Borsig, der Telegraphenbauanstalt
Siemens & Halske, der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft (AEG), die ungeheure
Menschenmassen anlockte, vor allem die Arbeitslosen der Agrarbevölkerung aus
den ostelbischen Gebieten des damaligen Deutschen Reichs. Diese Fabriks-,
Industrie-, Eisenbahn-, Straßenbauarbeiter bildeten das „Proletariat“. Sie arbeiteten
im allgemeinen zwölf bis sechzehn Stunden täglich. Ein Arbeiter verdiente 3 ½ bis
4 Taler die Woche, aber wenn er eine vier- bis fünfköpfige Familie hatte, brauchte
er schon die 3 ½ Taler, um sie auch nur durchzubringen.
Der Berliner Gassenhauer kann in der Vielfalt seiner Themen nicht auf den Punkt
gebracht werden. Wir haben u. a. an Beispielen vorgeführt:
- die polemische Entgegensetzung von „gemütlichem“ Alt- und hektisch-lärmendem
Neu-Berlin
- das Bedürfnis nach einer Befreiung vom Arbeitsalltag, vor allem durch Alkohol
und andere Vergnügungen
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