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erwachsen werden - medizin individuell

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ZEITSCHRIFT FÜR ANTHROPOSOPHISCHE MEDIZIN<br />

13. JAHRGANG | AUSGABE 45/46<br />

<strong>medizin</strong><br />

INDIVIDUELL<br />

<strong>erwachsen</strong><br />

<strong>werden</strong>


inhalt<br />

4 Zur Eigenständigkeit befähigen.<br />

Prof. Dr. Peter Matthiessen über seine<br />

Erfahrungen beim Aufbau der Psychiatrischen<br />

Station für Jugendliche und junge<br />

Erwachsene in Herdecke<br />

10 Vertrauen aufbauen in die eigenen Fähigkeiten.<br />

Ein Gespräch mit der Oberärztin Barbara<br />

Blankenburg und drei Jugendlichen.<br />

19 Psycho-Diabetologie: Der Balanceakt<br />

zwischen Freiheit und Einschränkung.<br />

20 Appetit machen auf das Leben. Die Behandlung<br />

von Magersucht und Bulimie an der<br />

Filderklinik bei Stuttgart.<br />

23 Junge Menschen als Gegenüber ernst<br />

nehmen. Die psychosomatische Station für<br />

junge Erwachsene in Havelhöhe.<br />

28 Auf dem Weg durch das tiefe, tiefe Tal.<br />

Die heilsame Arbeit von Parceval – Jugendund<br />

Suchthilfe im Verbund.<br />

Impressum: <strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong>, Nr. 45/46, Sommer 2012 | 13. Jahrgang | ISSN 1439-3220 | Nachdruck<br />

und Vervielfältigung von Artikeln (auch auszugsweise) nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung durch<br />

den Herausgeber Herausgeber und Verlag: Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke gGmbH, Gerhard-Kienle-<br />

Weg 4, 58313 Herdecke, Telefon (0 23 30) 62-3638, www.gemeinschaftskrankenhaus.de, in Kooperation<br />

mit den Gemeinschaftskrankenhäusern Die Filderklinik, Stuttgart-Filderstadt, und Havelhöhe, Berlin<br />

Redaktion und Text: Dipl.-Biol. Annette Bopp, Hamburg, www.annettebopp.de | herdecke intern:<br />

Mitarbeit: Matthias Riepe und Mitarbeiter des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke Redaktionsrat:<br />

Annette Bopp, Dr. Christoph Rehm, Carsten Strübbe, Peter Zimmermann (v.i.S.d.P.) Gestaltung:<br />

Hilbig Strübbe Partner, Büro für Design und Kommunikation: Annette Czempik, Carsten Strübbe, www.<br />

hilbig-struebbe-partner.de Illustrationen: Ari Plikat, www.ariplikat.de Titel: Axel Ketz, www.axelketz.de<br />

Fotonachweis: Seite 4-6: Carsten Strübbe | Seite 10/11: Stephan Brendgen, www.brendgen-fotodesign.de<br />

Seite 12: Carsten Strübbe | Seite 16/17: Annette Bopp | Seite 18: Stephan Brendgen | Seite 19: Carsten Strübbe<br />

Seite 20/21: Maks Richter (www.maks-richter.com) | Seite 22: Maks Richter, Carsten Strübbe | Seite 23:<br />

Stockphoto | Seite 26: Stephan Brendgen | Seite 28/29: Annette Czempik | Seite 30-33: Parceval | Herdecke<br />

Intern: Seite 1-4: Stephan Brendgen Druck und Verarbeitung: enßen print+media, Hattingen<br />

Erscheinungsweise: Die nächste Ausgabe erscheint im Herbst 2012 Anzeigen: Bitte fordern Sie unsere<br />

Anzeigenpreisliste an Aufl age: 20.000 Exemplare<br />

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER!<br />

EDITORIAL<br />

Erwachsen <strong>werden</strong> ist keine Krankheit – zum Glück. Aber<br />

die Entwicklungs-Herausforderungen für junge Menschen<br />

sind groß und führen nicht selten zu Krisen, in denen auch<br />

therapeutische Hilfe gefragt ist. Das setzt Verständnis und<br />

Interesse für den Heranwachsenden voraus. „Jeder junge<br />

Mensch braucht (mindestens) eine Person, die wirklich an<br />

ihm interessiert ist“ – so heißt es in einem der Gespräche mit<br />

Therapeuten in dieser Ausgabe.<br />

Peter Matthiessen, erfahrener Psychiater aus Herdecke, stellt<br />

die Befähigung zu mehr Selbstständigkeit und die Zukunftsorientierung<br />

in den Mittelpunkt. Er stellt sie der „paralysierenden<br />

Perspektivlosigkeit“ gegenüber, die die moderne Gesellschaft<br />

dem nicht angepassten Jugendlichen bietet. Barbara<br />

Blankenburg schildert das aktuelle Konzept der Station<br />

für junge Erwachsene in Herdecke, die Bedeutung der<br />

Gruppe und die Übergangshilfen nach einer stationären<br />

Behandlung. Michaele Quetz, Silke Biesenthal-Matthes und<br />

Stefan Dörner aus dem Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe<br />

in Berlin beschreiben Ursachen für die wachsende<br />

Verunsicherung junger Menschen und typische Störungsbilder<br />

des Erwachsen<strong>werden</strong>s heute.<br />

Karl-Heinz Ruckgaber und Boris Krause aus der Filderklinik<br />

stellen am Beispiel der Essstörungen dar, wie es in der Therapie<br />

gelingen kann, eigene Gefühle zuzulassen und mehr<br />

Selbstbewusstsein zu gewinnen. Haci Bayram von der<br />

Jugend- und Suchthilfe Parceval in Berlin zeigt, wie befristete<br />

therapeutische Lebensgemeinschaften jungen Menschen mit<br />

Suchtproblemen Beziehungsangebote machen können. Dörte<br />

Hilgard und Michael Meusers aus Herdecke beschreiben<br />

die speziellen Probleme von Heranwachsenden mit chronischen<br />

Krankheiten am Beispiel des Diabetes.<br />

Ganz besonders zur Lektüre empfehlen möchten wir<br />

die Berichte der Jugendlichen selbst, die offen und Mut<br />

machend über ihre Probleme und Zukunftshoffnungen<br />

erzählen: Lena und Marie, Jonas und Johanna, Jan, Lilli<br />

und Katharina. Auch wenn ihre Namen aus verständlichen<br />

Gründen in Wirklichkeit anders lauten, so spricht doch aus<br />

jedem Schicksal eine authentische, <strong>individuell</strong>e Facette des<br />

Erwachsen<strong>werden</strong>s.<br />

Peter Zimmermann, Vorstand Förderverein<br />

Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke<br />

<strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong><br />

3


zur<br />

eigenständigkeit<br />

befähigen<br />

LeitartikeL<br />

Prof. Dr. Peter Matthiessen (68),<br />

Facharzt für Neurologie, Psychiatrie<br />

und Psychotherapie, war<br />

1982 am Gemeinschaftskrankenhaus<br />

Herdecke Mitgründer der<br />

Psychiatrischen Modellabteilung<br />

für Jugendliche und junge<br />

Erwachsene mit 32 Betten und<br />

einer umfangreichen Ambulanz,<br />

die er seitdem bis 2004 leitete.<br />

Etwas Vergleichbares gab es in<br />

Deutschland bis dahin nicht –<br />

und gibt es bis heute nur noch in<br />

Havelhöhe (siehe Seite 23) sowie<br />

an wenigen anderen Einrichtungen.<br />

Sein Essay blickt zurück<br />

auf diese langjährige Erfahrung<br />

und schaut voraus auf die Notwendigkeiten<br />

von heute.


LEITARTIKEL<br />

Prof. Dr. med. Peter<br />

Matthiessen: „Es ist mir<br />

ein Herzensanliegen, all<br />

denjenigen Menschen für<br />

ihre kompetente, aufopferungsvolle<br />

und immer<br />

wieder von Begeisterung<br />

getragene therapeutische<br />

Arbeit zu danken, die<br />

in der Psychiatrischen<br />

Abteilung für Jugendliche<br />

und junge Erwachsene in<br />

der Zeit von 1983-2004<br />

tätig waren. Eigentlich<br />

müsste eine Darstellung<br />

dieser Abteilung und ihrer<br />

Geschichte die Namen<br />

aller Mitarbeiter und auch<br />

diejenigen unserer Patienten<br />

enthalten.“<br />

6 <strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong><br />

Wir haben diese Abteilung eingerichtet aus der Überlegung und der Erfahrung heraus, dass<br />

Jugendliche mit 18 in aller Regel nicht wirklich mündig und selbstbestimmungsfähig sind,<br />

vor allem dann, wenn eine psychiatrische Krankheit auftritt. Es ist ja eine willkürliche Festsetzung,<br />

dass man mit 18 <strong>erwachsen</strong> ist. Aus guten Gründen wurde traditionell das 21. Lebensjahr<br />

als dasjenige angesehen, in dem der Mensch mündig wird. Und auch die moderne Adoleszenzpsychiatrie<br />

nähert sich dieser Auffassung in letzter Zeit zunehmend an. Es handelt sich<br />

hier um Phänomene, die auch aus der vergleichenden anthropologischen und entwicklungspsychologischen<br />

Forschung bekannt sind, und die im Rahmen einer um das Ideengut und die<br />

Erkenntnismethode der Anthroposophie erweiterten Anthropologie, Pädagogik und Medizin<br />

eine vertiefende Deutung erhalten. Dazu möchte ich ein paar kurze Anmerkungen machen.<br />

Der bekannte Zoologe und Anthropologe Adolf Portmann hat das menschliche Neugeborene<br />

einen „sekundären Nesthocker“, ein „physiologisches Frühgeborenes“ genannt, weil es seiner<br />

Entwicklungsstufe nach eigentlich ein „Nestflüchter“ ist, aber eben nicht dessen Reife und<br />

Beweglichkeit besitzt. Im Gegensatz zum Tierreich erwirbt das Menschenkind die spezifisch<br />

menschlichen Fähigkeiten, nämlich den aufrechten Gang, Sprechen und Denken nicht erblich,<br />

sondern extra-uterin in einem „sozialen Uterus“ der menschlichen Umgebung. Gerade<br />

seine physiologische Unreife befähigt es, die vorgenannten Fähigkeiten nicht biologisch vererbt<br />

mit sich herumzutragen, sondern sie durch zwischenmenschliche Nachahmung zu<br />

erwerben. Die Kindheit ist also Teil einer spezifisch menschlichen Entwicklung. Aus Sicht<br />

einer anthroposophisch erweiterten Menschenkunde erstreckt sie sich auf einen Zeitraum<br />

von ca. 6-7 Jahren, nämlich bis zum Eintritt der sogenannten Schulreife. Diese geht leiblich<br />

mit dem ersten Gestaltwandel und dem Zahnwechsel einher und seelisch mit dem Auftreten<br />

einer neuen Qualität im Sinne einer Wissbegier. Zugrunde liegt diesem Phänomen aus<br />

anthroposophischer Sicht eine Umwandlung, eine Metamorphose der zuvor leibbezogenen<br />

Wachstumskräfte in Vorstellungs- und Denkkräfte, die jetzt in relativer Leibfreiheit für die<br />

anstehenden schulischen Aufgaben zur Verfügung stehen. Gemäß anthroposophisch-geisteswissenschaftlicher<br />

Forschungsergebnisse zeigt die dabei zugrundeliegende Zeitgestalt eine<br />

Eigengesetzlichkeit, sie ist also nicht manipulierbar.<br />

Ganz ähnlich stellt sich das Phänomen des Jugendalters, der Adoleszenz, dar. Auch hier handelt<br />

es sich um eine für den Menschen spezifische Entwicklungsverzögerung, die einen Reifungsprozess<br />

ermöglicht, der mit dem Erreichen der Mündigkeit um das 21. Lebensjahr seinen<br />

Abschluss findet. Nachdem mit der Pubertät weitreichende leibliche Umbauvorgänge als<br />

Ausdruck eines im und am Leib tätigen Seelenorganismus zum Abschluss gekommen sind<br />

und dessen Kräfte für die leibliche Umgestaltung nicht mehr benötigt <strong>werden</strong>, ist dieser Seelenorganismus<br />

frei für ein <strong>individuell</strong>es seelisches Innenleben. Mit dem Erwachsen<strong>werden</strong> in<br />

der Mündigkeit ist aus anthroposophischer Sicht eine „Ich-Geburt“ verbunden, ein Frei<strong>werden</strong><br />

des „Ich“ oder des „Wesenskerns“, dem der Mensch verdankt, dass er nicht nur ein materielles,<br />

lebendiges, zu seelischem Erleben und Sich-Darleben befähigtes Wesen ist, sondern – im<br />

Gegensatz zum Tierreich – ein geistiges, mit Selbstbewusstsein begabtes Wesen, das die Möglichkeit<br />

zur Selbstbestimmung, -verantwortung und -entwicklung besitzt. Die Adoleszenz findet<br />

sich also eingespannt zwischen den beiden Eckpfeilern der Pubertät und der Mündigkeit.<br />

EIN HEILSAMER ORT FÜR DIE NACHREIFUNG<br />

Das Jugendalter, das hier nicht im einzelnen dargestellt <strong>werden</strong> kann, ist im wesentlichen<br />

dadurch charakterisiert, dass es ein Übfeld ist, den neu gewonnenen seelischen Binnenraum<br />

mit der natürlichen und mitmenschlichen Umwelt in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.<br />

Und auch die Jugendzeit ist eine nur dem Menschen zukommende Reifungszeit, die<br />

offensichtlich notwendig ist und ihre Zeit braucht, damit sich verwirklichen kann, was exklusiv<br />

der menschlichen Existenz zukommt: eine selbstbestimmungsfähige Person und eine Persönlichkeit<br />

zu <strong>werden</strong>, die die eigene Entwicklung selbst in die Hand nehmen kann.<br />

Wenn bei Menschen vor oder in der Adoleszenz eine psychiatrische Erkrankung auftritt,<br />

bedeutet dies nicht nur eine erschwerte Entwicklung, sondern auch eine mehr oder weniger<br />

stark ausgeprägte Entwicklungsverzögerung. Die Folge ist dann, dass oft erst mit 22-25 Jahren,<br />

mitunter noch später, ein Erwachsenenstatus erreicht wird. Wenn in der Pubertät oder der frühen<br />

Adoleszenz eine psychiatrische Erkrankung aufgetreten ist, sind diese Menschen, wenn<br />

sie in die 20er Jahre kommen, nicht vergleichbar mit denjenigen, die erst am Ende der Adoleszenz<br />

erkranken. Die früh adoleszentär Erkrankten haben nur selten einen Schulabschluss,<br />

sie haben noch keine berufliche Ausbildung bzw. Qualifikation, sie haben in der Regel noch<br />

kein eigenes Zuhause, kurzum: sie haben sich noch nicht altersentsprechend verselbständigt


und sozialisiert. Ein Zurück in die Herkunftsfamilie kommt<br />

bei diesen Patienten nur in seltenen Ausnahmen in Frage.<br />

Sie befinden sich in einer klassischen Übergangssituation:<br />

nicht mehr Kind und noch nicht <strong>erwachsen</strong>.<br />

Für diese Patienten sollte die jugendpsychia-<br />

trische Modellabteilung neben einer krankheitsspezifischen<br />

psychiatrischen und psycho-<br />

therapeutischen Behandlung ein Ort der<br />

Nachreifung sein. Ziel war und ist es, diesen<br />

jungen Menschen gezielt Strategien zur<br />

Krankheitsbewältigung, aber auch Fähigkeiten<br />

zur Lebensbewältigung zu vermitteln,<br />

letztlich ihnen zu ermöglichen, so weit als<br />

möglich ein eigenständiges Leben zu führen.<br />

Therapeutisch haben wir ein breites Angebot<br />

an Arbeits-, Ergo- und Kunsttherapien angewandt:<br />

Weben, Spinnen, Garten-, Holz- und<br />

Metallarbeit, Bewegungs-, Musik- und Tanztherapie,<br />

Bogenschießen, Therapeutisches<br />

Malen, Plastizieren und Formenzeichnen,<br />

Theaterspiel, Sprechtherapie, Eurythmie und<br />

vieles andere mehr. Sie erweisen sich in dem<br />

Sinne als „ganzheitlich“, dass sie die kognitivgedankliche,<br />

die emotional-erlebnishafte<br />

und die motorisch-willenhafte Dimension<br />

des Menschen gleichermaßen ansprechen<br />

und harmonisieren. Was die uns<br />

anvertrauten Jugendlichen hier üben und<br />

erlernen können, sind Hingabefähigkeit,<br />

Durchhaltevermögen, Affektkonstanz,<br />

Liebe zur Sache und zum Detail, Konzen-<br />

tration, Achtsamkeit, Sensibilisierung für<br />

die Wahrnehmung, vertiefte Erlebnisfähigkeit,<br />

Kennenlernen der eigenen<br />

schöpferischen Potentiale ebenso wie der<br />

eigenen Gestaltungsschwächen, Selbsterkenntnis<br />

in der Begegnung mit dem<br />

eigenen Werk u.a.m.Neben einer medikamentösen<br />

Behandlung, die dort, wo<br />

dies angezeigt war, auch mit anthroposophischen,<br />

homöopathischen und phytotherapeutischen<br />

Arzneimitteln erfolgte,<br />

und einer psychothrapeutischen Be-<br />

handlung haben wir auf nichtmedika-<br />

mentöse Behandlungsverfahren in Form<br />

von physiotherapeutischen und äußeren<br />

Anwendungen gesetzt.<br />

Wichtig war uns zudem die Gestaltung eines<br />

therapeutischen Milieus. Auch hier haben<br />

wir versucht, unsere Patienten – so weit wie<br />

ihnen dies möglich war – einzubeziehen.<br />

Es war uns ein Anliegen, mit den Patienten<br />

zusammen eine heilsame Atmosphäre zu<br />

schaffen, die es dem einzelnen Kranken<br />

nicht nur erlaubt, <strong>individuell</strong> aktiv und<br />

initiativ zu sein, sondern zugleich an<br />

Formen der Gemeinschaftsbildung im<br />

Sinne von Übfeldern für das Erlernen<br />

von sozialer Kompetenz teilzuhaben.<br />

LEITARTIKEL<br />

<strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong><br />

7


LEITARTIKEL<br />

Neben einer engen Zusammenarbeit mit regionalen wie<br />

überregionalen komplementären psychiatrischen Einrichtungen<br />

bei der Weiterbehandlung gehörte es zum Selbstverständnis<br />

unserer Modellabteilung, uns breit mit nicht<br />

primär therapeutischen, „lebensweltlichen“ Einrichtungen<br />

zu vernetzen, wie Gartenbaubetrieben, Schreinereien, Bauernhöfen,<br />

Tierheimen, Großküchen, Reisebüros, um den<br />

Jugendlichen bei der Berufsfindung zu helfen und sie auf<br />

eine Ausbildung vorzubereiten. Da sie sich in einer ausgesprochenen<br />

Übergangssituation befinden und zudem oft an<br />

der Erstmanifestation einer psychiatrischen Erkrankung leiden,<br />

bei der die langfristige Prognose noch nicht abschätzbar<br />

ist, waren wir herausgefordert, die Entscheidungen über<br />

die weitere Form der Behandlung genau abzuwägen. Es galt,<br />

das mittel- und langfristig von unseren Patienten erreichbare<br />

Autonomieniveau abzuschätzen, um sie weder zu über-<br />

noch zu unterfordern. Ein zentrales Element unserer Arbeit<br />

war es daher, eine verantwortungsvolle biographische Weichenstellung<br />

zu leisten, wo immer möglich mit dem Patienten<br />

zusammen.<br />

EMPATHIE ALS WERKZEUG FÜR DIAGNOSE UND THERAPIE<br />

Eine besondere Bedeutung hatten bei uns die Patientenbesprechungen.<br />

Dazu haben sich alle Mitarbeiter einer Station<br />

zusammengefunden, eine interprofessionell aus Ärzten, Psychologen,<br />

Pflegenden, Kunst- und Soziotherapeuten zusammengesetzte<br />

diagnostisch-therapeutische Gemeinschaft,<br />

um sich über die bisherigen Erfahrungen auszutauschen<br />

und über das zukünftige Vorgehen bei einem Patienten<br />

zu verständigen. Erinnerlich ist mir dabei eine Erfahrung,<br />

die wir immer wieder gemacht haben: Obwohl der besprochene<br />

Patient nicht wusste, dass die Besprechung ihm galt, war<br />

es nahezu immer gerade dieser Patient, der wegen irgendeiner<br />

Frage am Besprechungsraum anklopfte. Da ich selbst in Situationen,<br />

in denen kein akuter Handlungsbedarf besteht, kein<br />

Anhänger von vernünftlerisch ausgedachten Therapieentscheidungen<br />

bin, habe ich gegen Ende solcher Besprechungen<br />

angeregt, erstmal darüber zu schlafen und dann zu schauen,<br />

welche therapeutischen Ideen in unser Bewusstsein getreten<br />

sind. Das war dann auch zum Teil so. Sehr viel spannender<br />

war aber, dass der besprochene Patient selbst häufig im Verlauf<br />

der nachfolgenden Tage ausgesprochen originelle, weiterführende<br />

„Einfälle“ hatte. Für uns, die wir an der Besprechung<br />

dieses Patienten mitgewirkt hatten, war es unmittelbar<br />

evident, dass der Patient diese Gesichtspunkte nicht<br />

ohne unser Bemühen in der Besprechung hätte finden können.<br />

Wenn uns solche Phänomene bewusst <strong>werden</strong>, bemerken<br />

wir, dass wir viel sozialere Wesen sind, als wir uns das<br />

gemeinhin eingestehen. Und dass auch Gedanken eine Wirklichkeit<br />

sind. Spätestens im Schlaf sind wir ja nicht mehr so<br />

getrennt wie im Tagesbewusstsein, da durchmischen sich die<br />

Seeleninhalte der einzelnen Menschen. Das waren ganz handfeste<br />

spirituelle Erfahrungen, die wir da machen konnten.<br />

Mir selbst ist es in meiner Arbeit als Arzt, Psychiater und<br />

Psychotherapeut mit der Zeit immer wichtiger geworden,<br />

die Empathie als Werkzeug für Diagnose und Therapie<br />

einzusetzen und weiterzuentwickeln. Mit Diagnose meine<br />

ich allerdings nicht nur das Auffinden von Merkmalen, die<br />

dann einem Kästchen in einem Klassifikationssystem zugeordnet<br />

<strong>werden</strong> können. Ich verstehe darunter vielmehr die<br />

Gesamtheit der sogenannten Kontextfaktoren: z. B. die bishe-<br />

8 <strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong><br />

Man muss den Dingen<br />

die eigene, stille,<br />

ungestörte Entwicklung lassen,<br />

die tief von innen kommt,<br />

und durch nichts gedrängt<br />

oder beschleunigt <strong>werden</strong> kann;<br />

alles ist austragen -<br />

und dann<br />

gebären...<br />

Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt<br />

und getrost in den Stürmen<br />

des Frühlings steht,<br />

ohne Angst,<br />

dass dahinter kein Sommer<br />

kommen könnte.<br />

Er kommt doch!<br />

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,<br />

die da sind,<br />

als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,<br />

so sorglos still und weit ...<br />

Man muss Geduld haben,<br />

gegen das Ungelöste im Herzen,<br />

und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,<br />

wie verschlossene Stuben,<br />

und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache<br />

geschrieben sind.<br />

Es handelt sich darum, alles zu leben.<br />

Wenn man die Fragen lebt,<br />

lebt man vielleicht allmählich,<br />

ohne es zu merken,<br />

eines fremden Tages<br />

in die Antwort hinein.<br />

Rainer Maria Rilke<br />

rige Persönlichkeitsentwicklung, die Konstitution, die soziale,<br />

familiäre und berufliche Situation, das <strong>individuell</strong>e Wertemuster,<br />

die Bedeutung der bisherigen Biographie für die<br />

aktuelle Erkrankung und den Umgang mit ihr, aber auch<br />

die Bedeutung der aktuellen Erkrankung für die zukünftige<br />

Biographie und die weitere Persönlichkeitsentwicklung.Ferner<br />

rechne ich auch die empathische Teilhabe am er-lebten<br />

und ge-lebten Kranksein hinzu und schließlich ein Herantasten<br />

an die bewussten oder vorbewussten Lebenssehnsüchte<br />

eines Patienten sowie den Versuch, sich der Lebensmelodie<br />

des Kranken anzuverwandeln.


Für eine in diesem Sinne erweiterte Diagnosestellung bedeutet<br />

dies, dass wir nicht nur intellektuelles Kalkül, sondern alle<br />

unsere Fähigkeiten in den Dienst stellen müssen, den Anderen<br />

in seinen Erkrankungs- und Gesundungsvorgängen erken-<br />

nen und verstehen zu können. Die Diagnose ist damit nicht<br />

mehr nur ein einmaliger Akt, sie wird zu einem diagnostisch-<br />

therapeutischen Prozess, der von der Erstbegegnung mit dem<br />

Patienten bis zum Ende der Betreuung reicht. Das bedeutet<br />

aber auch, dass uns die Diagnose zu einer sich wandelnden<br />

und gegebenenfalls existentiellen Frage wird. Ich betone dies<br />

deshalb, weil wir in der Medizin oft herausgefordert sind,<br />

„zeitnah“, mitunter sofort eine Entscheidung treffen zu müssen.<br />

Daraus speist sich andererseits aber die Gefahr, ein dünkelhaftes<br />

Besserwissertum der Ärzte, insbesondere auch der<br />

Psychotherapeuten, auszubilden.<br />

Der sich uns anvertrauende Kranke sollte uns zur Frage <strong>werden</strong>,<br />

die wir nicht vorschnell durch eine (Standard-)Therapie<br />

beantworten, sondern die wir als eine uns bedrängende<br />

Frage aushalten und durch die ganze Zeit der Behandlung<br />

hindurch lebendig halten sollten. Es gilt, diese Frage zu<br />

„leben“, um eines Tages in die therapeutische Antwort hineinzuwachsen,<br />

wie Rainer Maria Rilke dies in dem nebenstehenden<br />

höchst bedenkenswerten Gedicht ausgedrückt hat.<br />

EIN KRAFTVOLLES GEGENÜBER SEIN<br />

Um stationäre Behandlung nachgefragt haben Menschen<br />

mit einem breitgefächerten Diagnosespektrum, mit einem<br />

Schwerpunkt bei Psychosen aus den affektiven und schizophrenen<br />

Formenkreisen sowie Essstörungen. In unserer Abteilung<br />

waren wir vorzugsweise mit heranwachsenden Men-<br />

schen konfrontiert, die krankheitsbedingt eine kraftvolle<br />

Pubertät und eine kraftvolle Adoleszenz nicht haben leben<br />

können. Beides scheint mir aber eine Voraussetzung dafür<br />

zu sein, im Erwachsenenalter nicht nur Krankheits- und<br />

Lebensbewältigung betreiben zu können und auch nicht<br />

nur als angepasster Staatsbürger das Leben zu fristen, sondern<br />

schöpferische Qualitäten entwickeln zu können.<br />

Ich habe den Eindruck, dass die Jugendlichen auch deshalb<br />

immer schwächer <strong>werden</strong>, weil wir Erwachsenen ihnen<br />

immer weniger ein kraftvolles und überzeugendes Gegenüber<br />

sind. Die nachfolgende Generation muss aber die Möglichkeit<br />

haben, sich an den Erwachsenen zu reiben. Es gibt<br />

nichts Schlimmeres als ach so verständnisvolle und alles<br />

verstehende Eltern! Wo soll man denn da Selbstreferenz<br />

entwickeln, wenn alle immer alles verstehen? Ich habe bei<br />

vielen Eltern, auch Kollegen, die berufsbedingt nur wenig<br />

Zeit für ihre Kinder hatten, die aber klar ihren Weg gegangen<br />

sind und ihre beruflichen Ziele verfolgt haben, erlebt,<br />

dass diese Kinder gut gediehen sind und ihren Weg gefunden<br />

haben. Und ich habe erlebt, dass dies Kindern, deren<br />

Vater oder Mutter bis zur Selbstaufgabe ständig für die Kinder<br />

da waren, nicht oder nur sehr schwer gelang.<br />

Es gibt einen höchst bedenkenswerten Satz von Novalis:<br />

„Mensch<strong>werden</strong> ist eine Kunst“. Es ist eben durchaus offen,<br />

ob es der Menschheit gelingt, „Mensch” zu <strong>werden</strong>, „menschlich“<br />

zu <strong>werden</strong>. Man kann diesen Satz auch auf die Selbstfindung<br />

eines Einzelnen oder einer heranwachsenden Generation<br />

beziehen. Das Drama der „Menschwerdung“ erfor-<br />

dert zu seinem Gelingen den intergenerationellen Konflikt,<br />

LEITARTIKEL<br />

die Auseinandersetzung zwischen den Generationen. Die<br />

Bedingungen dafür sind heute allerdings schmerzlich<br />

erschwert: Elternhaus, Schule, Lehrstellen, Fach- und Hochschulen<br />

sind immer weniger in der Lage, Menschenbildung<br />

und Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Hinzu kommen<br />

im Zuge einer immer brüchiger <strong>werden</strong>den Kultur und Zivilisation<br />

eine hemmungslose Kommerzialisierung und Vermarktung<br />

aller Lebensbereiche. Im Verbund mit einer extremen<br />

Medialisierung der Lebenswelt und einem rapiden<br />

Verfall der tradierten Werte entsteht für die heranwachsenden<br />

Menschen eine paralysierende Perspektivlosigkeit. Wo<br />

begegnen Jugendliche heute Ideen, für die sie sich begeistern<br />

könnten, die sie zu ihrem Ideal erheben könnten?<br />

So entsteht die nachvollziehbare, aber sachlich nicht begründete<br />

Tendenz, die Folgen einer systempathologischen Dauerkrise<br />

dem Gesundheitswesen im Allgemeinen und der Psychiatrie<br />

im Speziellen aufzubürden. Beide Bereiche sind damit<br />

natürlich überfordert. Sie damit zu beauftragen heißt aber,<br />

die wirklichen Ursachen nicht in den Blick nehmen zu wollen.<br />

Was ich den jungen Menschen wünsche, das ist die Fähigkeit,<br />

sich für Ideen zu begeistern, seelische Erwärmung und<br />

Enthusiasmus entwickeln zu können. Zugleich bekomme<br />

ich an dieser Stelle aber ein ungutes Gefühl, da ich mich mit<br />

der ungeheuren Bringschuld konfrontiert sehe, die wir als<br />

Erwachsene den Heranwachsenden gegenüber auf uns geladen<br />

haben. Statt mit Interesse und Ehrfurcht die Entfaltung<br />

dessen zu fördern, was als noch nicht verfügbares Entwicklungspotential<br />

in jedem Heranwachsenden schlummert,<br />

haben wir einen verbreiteten sozialisatorischen Mechanismus<br />

des Anpassungszwangs ausgebildet. Statt Originalität,<br />

Kreativität und lebendiges Weltinteresse bilden wir in weiten<br />

Bereichen angepasste Normopathen heran.<br />

Als deprimierend erlebe ich die stete Zunahme von Kindern,<br />

Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom<br />

(ADHS).<br />

Noch wesentlich deprimierender erscheint mir allerdings<br />

der Umstand, dass unsere Zivilisation und unsere Lebensformen<br />

von Aufmerksamkeitsunfähigkeit und einer dauerhaften<br />

aktionistischen Hyperaktivität gekennzeichnet sind.<br />

Parallel mit dieser Entwicklung geht ein massiver Verlust<br />

an zwischenmenschlicher Begegnung einher. Nicht nur im<br />

therapeutischen Setting der Psychiatrischen Abteilung für<br />

Jugendliche und junge Erwachsene, sondern „draußen“ und<br />

„mittendrin“ scheint mir der Aufbau von Quellorten notwendig,<br />

an denen Wahrnehmungsfähigkeit, Aufmerksamkeit,<br />

vertieftes Weltinteresse, Hingabefähigkeit, Andächtigkeit,<br />

Besinnung, Erkraftung des Denkens, Selbstfindung,<br />

Mut, Tatkraft, Selbstlosigkeit und Liebefähigkeit erworben<br />

und geübt <strong>werden</strong> können.<br />

Ich wünsche der Station 4 Ost, dass auch in Zukunft innerhalb<br />

und außerhalb unseres Krankenhauses ein hinreichendes<br />

Verständnis für diese Modellabteilung vorhanden ist<br />

und dass die jetzt und in Zukunft dort Tätigen ihre wichtige<br />

und heilsame Arbeit noch lange und mit Freude wahrnehmen<br />

können. Schließen möchte ich mit einem Satz<br />

des Paracelsus: „Die Ideale des Arztes seien die Liebe zur<br />

Wahrheit(ssuche) und die Liebe zum Kranken.“. Ich kenne<br />

nichts Schöneres als diese beiden Ideale: die Liebe zum Kranken<br />

und die Liebe zur Erkenntnis, auch in der Psychiatrie.<br />

<strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong><br />

9


FIL DERKL INIK STATION KUCKUCKSNEST<br />

appetit machen auf das leben<br />

20 <strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong><br />

Oben: Auf der Station<br />

„Kuckucksnest“ an der<br />

Filderklinik bereiten die<br />

Kinder und Jugendlichen<br />

die Speisen für das gemeinsame<br />

Mittagessen zu.<br />

Mitte: Eine Baucheinreibung<br />

bei einem magersüchtigen<br />

Mädchen – oft<br />

dauert es lange, bis so eine<br />

Berührung möglich ist.<br />

Unten: Das Plastizieren<br />

hilft Jugendlichen mit<br />

Bulimie, die eigenen<br />

Formkräfte zu entwickeln.<br />

Ganz rechts: Dr. Karl-<br />

Heinz Ruckgaber im Gespräch<br />

mit einem jungen<br />

Mädchen. Bevor das Kind<br />

stationär aufgenommen<br />

wird, gehen intensive<br />

Dialoge voraus, auch mit<br />

der ganzen Familie, um<br />

die Hintergründe für die<br />

Krankheit zu erkennen und<br />

bewusst zu machen.<br />

Die Behandlung von Magersucht und Bulimie an der Filderklinik bei Stuttgart<br />

Was machen Eltern, wenn Jugendliche nicht mehr essen?<br />

Wenn sie immer dünner und hagerer <strong>werden</strong>, nur noch<br />

Haut und Knochen sind – magersüchtig? Oder wenn sie<br />

zwar essen, aber vor allem anfallsweise, und dann wahllos<br />

alles in sich hineinstopfen, um es anschließend sofort wieder<br />

absichtlich zu erbrechen – typisches Zeichen für eine<br />

Bulimie? Was geht in diesen Jugendlichen vor, was treibt sie<br />

in dieses Verhalten? Und vor allem: Wie kommen sie wieder<br />

auf einen gesunden Weg?<br />

„Die Essstörungen sind heute vielfältiger geworden, früher<br />

begannen sie meist im Alter von 13/14 Jahren, heute geht<br />

es oft schon vor der Pubertät los, mit 9 oder 10 Jahren, das<br />

sind noch richtige ‚Küken’“, sagt Dr. Karl-Heinz Ruckgaber,<br />

Kinder- und Jugendpsychiater und zuständig für die Station<br />

„Kuckucksnest“, in der Kinder und Jugendliche mit Essstörungen<br />

behandelt <strong>werden</strong>.


Bevor sie in die Filderklinik zur Therapie kommen, finden<br />

jedoch erst einmal ein bis drei „motivierende Gespräche“<br />

statt. „Wir laden dazu die ganze Familie ein, nicht nur das<br />

betroffene Kind“, sagt Dr. Ruckgaber. „Denn bei der Magersucht<br />

steht meist gar nicht so sehr im Vordergrund, einem<br />

durch Models oder TV-Sendungen geprägten Vorbild nachzueifern,<br />

wir verstehen sie eher als Zeichen für ein inneres<br />

Leiden, das seine Wurzeln oft in der Familie hat. Wenn man<br />

in einer Überflussgesellschaft vor gefüllten Schüsseln verhungert,<br />

ist das schon ein sehr drastisches Signal.“<br />

Häufig stehen die Kinder und Jugendlichen unter Druck –<br />

durch Krankheiten, materielle Sorgen in der Familie, existenzielle<br />

Bedrohungen. Oder sie <strong>werden</strong> mit etwas nicht<br />

fertig, was sie seelisch extrem belastet und ihre Unbeschwertheit<br />

zerstört hat. Oder sie erleben subtile Kränkungen,<br />

die sie mit Fress- und Kotzanfällen kompensieren.<br />

FIL DERKL INIK STATION KUCKUCKSNEST<br />

Oder sie haben Angst vor der Gefühlswelt, in die sie mit der<br />

Pubertät eintauchen, in das Auf und Ab von Himmelhochjauchzend<br />

und Zutodebetrübt.<br />

„In der Pubertät wird die gesamte Welt des Empfindens<br />

intensiviert und wie neu geboren, das Gefühlsleben erwacht,<br />

ein Jugendlicher will sich anders und tiefer auf sein Gegenüber<br />

einlassen als ein Kind“, sagt Boris Krause, Leitender<br />

Arzt der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie<br />

an der Filderklinik. „Eine Magersucht ist oft Ausdruck davon,<br />

dass das Mädchen oder der Junge vor diesen Gefühlstiefen<br />

zurückschreckt und die leiblichen Voraussetzungen dafür<br />

verweigert, indem er dem Körper nicht die Nahrung gibt,<br />

die er braucht. So wird die Pubertät und das, was sie mit sich<br />

bringt, rückgängig gemacht, dann muss man sich auch emotionalen<br />

Herausforderungen nicht stellen.“ Krause verwendet<br />

für diesen Zustand gern das Bild einer großen Seelen-<br />

<strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong> 21


FIL DERKL INIK STATION KUCKUCKSNEST<br />

Die Aquarellkreide ist<br />

weich und so pulverig,<br />

dass sie sich auf dem<br />

Papier verwischen lässt.<br />

Magersüchtigen Jugendlichen<br />

hilft das, die eigene<br />

Kreativit zuzulassen. Das<br />

Plastizieren mit Stein und<br />

Ton ist dagegen eher für<br />

Bulimiekranke geeignet,<br />

weil es ihre Formkräfte<br />

freilegt und stärkt.<br />

22 <strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong><br />

badewanne, in der die Jugendlichen sitzen, und in der ein viel zu starker Seegang herrscht.<br />

Was macht man dann? Man lässt das Wasser aus der Wanne und dreht den Haupthahn zu.<br />

Man kontrolliert, worauf man direkten Zugriff hat: den eigenen Körper.<br />

Die Therapie in der Filderklinik zielt deshalb darauf ab, die Jugendlichen zu ermutigen, die<br />

Gefühlswelt zuzulassen und ein Selbst-Bewusstsein zu erlangen, das auch erlaubt, Fehler zu<br />

machen, nicht perfekt sein zu müssen. Nach den motivierenden Vorgesprächen wird eine Art<br />

Kontrakt geschlossen für die Zeit des stationären Aufenthaltes. Die Jugendlichen erfahren,<br />

wie der stationäre Alltag aussieht, welche Regeln es gibt, was passiert, wenn sie eine gewisse<br />

Gewichtsgrenze unterschreiten – bei fast der Hälfte ist im Verlauf eine künstliche Ernährung<br />

über Magensonde nötig. Es sind Regeln, die sich nicht gegen den Jugendlichen richten, sondern<br />

gegen die Krankheit. „Wir zeigen Verständnis für diese Krankheit, wir akzeptieren die<br />

Jugendlichen hundertprozentig so, wie sie sind, und wir arbeiten mit ihnen gemeinsam daran,<br />

dass sie die Sucht, die Krankheit, überwinden“, sagt Dr. Ruckgaber.<br />

Dabei geht es vor allem darum, die krankhaften Gewohnheiten zu verändern. Wer an Bulimie<br />

leidet, erhält zum Beispiel in den ersten zwei Wochen eine Kost, die keine freien Kohlenhydrate<br />

und Zucker enthält. „Die hohen Zuckerspiegel sind ja oft der Kick, den die Jugendlichen<br />

bei ihren Fressattacken erleben, sie sind dann wie aufgeputscht, und in den zwei Wochen<br />

erleben viele einen regelrechten Entzug mit Zittern und Schwitzen und Alpträumen“, sagt<br />

Dr. Ruckgaber. In dieser oft schwierigen und harten Einstiegsphase <strong>werden</strong> sie von Pflegenden,<br />

Therapeuten und Ärzten intensiv begleitet und gestützt. Auch die künstlerischen Therapien<br />

helfen mit: Bei Bulimie hilft es, ein Gedicht im Versmaß des Hexameters laut zu sprechen<br />

und dabei rhythmisch zu gehen. Die strenge äußere Form stärkt die inneren Formkräfte im<br />

Jugendlichen, der dann besser in der Lage ist, sich zu disziplinieren und nicht mehr den Fressattacken<br />

ausgeliefert zu sein. Oder sie springen bei der Bothmer-Gymnastik eine Dreiecks-<br />

Form. Oder sie arbeiten direkt an den eigenen Formkräften, indem sie mit Ton plastizieren.<br />

Bei magersüchtigen Jugendlichen dagegen kommt es eher darauf an, die Kreativität anzuregen,<br />

damit sie aus sich herausgehen. Sie würden am liebsten nur Formen zeichnen, vorzugsweise<br />

mit feinem Bleistift. In der Maltherapie lernen sie, über die Kreiden, deren Farben sich auf<br />

Papier verwischen lassen, sich irgendwann auch an eine Nass-in-Nass-Malerei heranzutasten,<br />

wo sie Übergänge gestalten müssen, wo sich Farben begegnen und vermischen, wo ein Dialog<br />

stattfindet. Dabei kann etwas entstehen, was vorher nicht im Kopf ausgedacht und kon-<br />

trolliert wird. Oder in der Musiktherapie beginnt das Musizieren streng im Takt, um sich<br />

dann immer stärker davon zu entfernen, bis hinein in die Improvisation und das musikalische<br />

Gespräch mit dem Therapeuten. So können sich die Jugendlichen in Bereiche vorwagen,<br />

die zu betreten sie sich bisher noch nicht getraut haben.<br />

Auch die äußere Gestaltung der Station spielt eine wichtige Rolle. Im „Kuckucksnest“ stehen<br />

in den Zimmern keine Krankenhausbetten, sondern Betten aus Holz wie in einem normalen<br />

Jugendzimmer. Es gibt einen gemeinsamen zentralen Aufenthaltsraum, zu dem alle Zimmer<br />

münden, und eine Wohnküche, wo das Essen angeliefert wird oder wo auch oft selbst<br />

gekocht wird. Gegessen wird grundsätzlich gemeinsam – Jugendliche, Pflegende, Therapeuten,<br />

Ärzte. „Die Atmosphäre trägt maßgeblich dazu bei, dass alle essen“, sagt Dr. Ruckgaber.<br />

„Wir zwingen die Magersüchtigen nicht dazu, etwas zu essen, aber wir haben die Abmachung,<br />

dass sie wenigstens von allem probieren. Wir führen Tischgespräche, wir reden miteinander,<br />

auch über krankheitsfördernde Gewohnheiten.“ Wenn Magersüchtige zum Beispiel anfangen,<br />

die Fettstückchen aus der Salami zu pulen oder auf dem Teller Dämme zu bauen, um die<br />

Sahnesauce vom Gemüse fernzuhalten, wenn sie hoch angespannt auf der Stuhlkante sitzen,<br />

anstatt sich bequem zurückzulehnen, <strong>werden</strong> sie darauf direkt angesprochen. Nicht einfach<br />

mit „Lass das!“, sondern: „Schau, das, was Du gerade machst, gehört zu Deiner Krankheit. Das<br />

solltest Du ändern.“ Es ist keine Kritik am Kind, sondern eine Hilfe, etwas bewusst zu machen<br />

und dann auch verändern zu können.<br />

Der Tagesablauf auf der Station ist rhythmisch eingeteilt und so strukturiert, dass gemeinsame<br />

Aktivitäten mit Einzeltherapien abwechseln, das gibt den Jugendlichen eine Orientierung.<br />

Jeder Tag beginnt mit einem Morgenkreis und endet mit einem Rückblick auf das<br />

Erlebte sowie einem Themenabend, den die Jugendlichen selbst bestimmen, und wo sie einbringen<br />

können, was sie beschäftigt und bewegt. Mit diesem Konzept gelingt es der Filderklinik,<br />

rund 80 Prozent der Jugendlichen zu heilen oder die Essstörung zumindest erheblich zu<br />

bessern, so dass sie in die weitere ambulante Nachbehandlung entlassen <strong>werden</strong> können. Sie<br />

haben Appetit bekommen auf das Leben!


auf dem weg<br />

durch das<br />

tiefe, tiefe tal<br />

Wahrnehmung und begegnung<br />

parcevaL<br />

Unter dem Namen „Parceval –<br />

Jugend- und Suchthilfe im<br />

Verbund“ wurden seit 1999 in<br />

Berlin, Brandenburg und Sachsen<br />

von dem „gemeinnützigen Verein<br />

zur Förderung und Entwicklung<br />

anthroposophisch erweiterter<br />

Heilkunst e.V.“ verschiedene<br />

Hilfe-Einrichtungen für Jugendliche<br />

zwischen 14 und 21 Jahren<br />

aufgebaut. Haci Bayram,<br />

Geschäftsführer und Mit-<br />

Initiator von Parceval, schildert<br />

das Konzept, nach dem dort<br />

gearbeitet wird. Und drei<br />

Jugendliche berichten, warum<br />

sie bei Parceval sind.<br />

<strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong> 29


WAHRNEHMUNG UND BEGEGNUNG<br />

In der Türkei hat Parceval eine Einrichtung etabliert, in der die Jugendlichen Abstand gewinnen können zu den<br />

Problemen, die sie zuhause belasten. Oft fahren sie gemeinsam mit den Betreuern mit dem alten Fischerboot aufs Meer.<br />

„Die wichtigste Frage ist diejenige nach dem Wesen des Menschen selber:<br />

den Menschen erkennen, den Menschen verstehen, mit den Menschen auskommen,<br />

mit den Menschen gemeinsam leben können. Das ist schließlich<br />

dasjenige, wohin im Grunde alles menschliche Denken doch tendieren muss,<br />

wenn der Mensch nicht den Boden unter den Füßen verlieren will.“<br />

Rudolf Steiner<br />

Parceval<br />

Jugend- und Suchthilfe<br />

im Verbund<br />

Geschäftsstelle:<br />

Kladower Damm 221,<br />

Haus 24<br />

14089 Berlin<br />

Telefon 030-364 313 73<br />

Email: gs@parceval.de<br />

www.parceval.de<br />

30 <strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong><br />

Parceval – das ist natürlich ein mit Bedacht gewählter Name. Zum einen ist es natürlich<br />

die Parzifal-Mythologie, die Suche nach der eigenen Identität und dem Sinn des Lebens.<br />

Parzifal schafft es durch Begegnungen mit anderen Menschen, trotz vieler Schwierigkeiten<br />

seinen Platz in der Welt zu finden. Das ist auch unser Ziel für die Jugendlichen, die wir<br />

betreuen. Zum anderen ist es wörtlich eine Übersetzung aus dem Französischen: par ce<br />

val heißt „durch dieses Tal“. Und die Jugendlichen gehen ja tatsächlich durch eine Talsohle<br />

ihres Lebens, wenn sie drogenabhängig, misshandelt worden oder auf die schiefe Bahn<br />

geraten sind und mit dem Leben nicht mehr klarkommen. Die Menschen, die bei uns Hilfe<br />

suchen, haben ganz unterschiedliche Vorgeschichten. Die meisten haben Drogenerfahrung<br />

und schwere Störungen im Sozialverhalten. Etwa 40 Prozent kommen aus einem psychiatrischen<br />

Umfeld oder haben Erfahrungen mit der Psychiatrie, ein Drittel wird dauerhaft<br />

medikamentös behandelt.<br />

Die Idee hinter Parceval ist, einen Raum zu schaffen für die jungen Menschen, den sie mitgestalten<br />

können. Hier sind keine Erwachsenen, die wissen, was für sie gut ist. Bei uns arbeiten<br />

viele junge Menschen in der Betreuung mit, teilweise wurden sie selbst hier betreut<br />

wurden und haben dann eine pädagogische Ausbildung gemacht, um beruflich wieder zu<br />

uns zurückzukommen. Partizipation wird bei uns groß geschrieben. Die Jugendlichen sollen<br />

erkennen: hier geht es um sie und nur um sie. Dafür haben wir mehrere Einrichtungen,<br />

seit 2003 auch eine in der Türkei, in Truva, nahe am Meer. Denn oft springt der Funke<br />

über, wenn die Jugendlichen besondere Erlebnisse machen oder weit weg sind von dem,<br />

was sie an Zuhause erinnert oder an die Umgebung, die für sie so problematisch war. Wir<br />

hatten zum Beispiel mal ein schwer traumatisiertes 16-jähriges Mädchen, die nicht gesprochen<br />

hat, schwer drogen- und alkoholabhängig war und in der Prostitutionsszene ausgebeutet<br />

wurde. Einmal ist sie fast umgebracht worden. Sie konnte nicht auf weichem Unter-


grund stehen, nicht ohne Licht schlafen, aufgrund ihrer<br />

Erlebnisse war sie immer wieder abwesend, dissoziiert.<br />

Sie hat in unserem Türkei-Projekt ihre Sicherheit wiedergefunden,<br />

weit weg von allem, was sie als bedrohlich und<br />

schmerzlich erlebt hat.<br />

Wir haben viele Jugendliche, die sozial kaum zu halten<br />

sind. Das geht nicht mit Betreuern, die im Schichtdienst<br />

arbeiten, eine Form der Lebensgemeinschaft ist da stabiler.<br />

Die Haltequote ist für uns sehr wichtig. Wenn wir drei Viertel<br />

der Jugendlichen ein Jahr und länger halten können,<br />

entsteht eine Qualität, die sich auch auf die Arbeitsatmosphäre<br />

für die Mitarbeiter auswirkt. Wenn Jugendliche ständig<br />

kommen und gehen, kann keine Stabilität entstehen.<br />

Dann kann auch das pädagogische Konzept nicht greifen.<br />

Wir wollen, dass die Jugendlichen sich selbst erkennen<br />

und so urteilsfähig <strong>werden</strong>, welche Lebensform für sie die<br />

geeignete ist. Oft ist das etwas ganz anderes als sie sich<br />

gewünscht hatten. Unser Ziel ist, dass sie im gesellschaftlichen<br />

System einen Platz finden. Auf diesem Weg <strong>werden</strong> sie<br />

dann auch dem nahekommen, was mit ihrem Wesen und<br />

ihrer Person zu tun hat. Wenn man Jugendliche heute fragt,<br />

was sie sich für die Zukunft wünschen, dann kommt meist<br />

als Antwort: Schulabschluss, Beruf, Auto, Haus. In dieser<br />

Reihenfolge. Schulabschluss, damit ich einen Beruf erlenern<br />

kann. Beruf, damit ich Geld verdienen kann. Auto,<br />

damit ich cool bin. Und dann noch ein Haus. Damit hört<br />

es dann auf. Nur selten geht es um die Frage, die eigene<br />

Persönlichkeit zu entwickeln, das soziale Umfeld zu gestalten,<br />

einen Beruf zu wählen, der innerlich erfüllt und nicht<br />

nur zum Geldverdienen da ist. Zu diesen Fragen bringen<br />

wir sie hier. Oder sie sich gegenseitig.<br />

IN BEZIEHUNG KOMMEN<br />

Im Unterschied zu anderen Institutionen ähnlicher Art steht<br />

bei uns die Beziehungsorientierung viel mehr im Vordergrund.<br />

Wir bieten uns den Jugendlichen als Gegenüber für<br />

eine tragfähige Beziehung an. Wir richten uns dabei nach<br />

einem Leitsatz von Rudolf Steiner aus der Philosophie der<br />

Freiheit: „Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen<br />

im Verständnis des fremden Wollens ist die Grundmaxime<br />

des freien Menschen.“ Es geht darum, eine Idee davon<br />

zu bekommen, was der andere meint, was er biographisch<br />

will. Das ist uns wichtig. Es gibt ja nicht ein pauschal gültiges<br />

Bild für Störungen in der Entwicklung oder im Sozialverhalten.<br />

Es geht um einen <strong>individuell</strong>en Lebensweg.<br />

In anderen Einrichtungen sind die Jugendlichen oft sich selbst<br />

überlassen, man stellt ihnen nur den Rahmen. Da gibt es<br />

dann eine gewisse Hackordnung und eine Subkultur, eine<br />

Polarisierung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen. Sie<br />

erleben das nicht als eine neue Form des sozialen Miteinanders.<br />

Für uns ist die Arbeitszeit der Mitarbeiter immer Kontaktzeit<br />

mit den Jugendlichen. Sie haben alle immer miteinander<br />

zu tun. Jeden Tag gibt es vier oder fünf Reflexionen<br />

bzw. Gruppengespräche. Die Jugendlichen sind ausdrücklich<br />

dazu angehalten, alles, was sie erleben, zu thematisieren.<br />

Sie dürfen die Themen der Gespräche mitbestimmen.<br />

Wenn es Konflikte gibt, kann das jeder ansprechen. Die<br />

Jugendlichen <strong>werden</strong> gebeten zu spiegeln, was sie erleben,<br />

auch bei den Mitarbeitern. Was schätzen sie, womit haben<br />

sie ein Problem, was wünschen sie sich? Das kriegen sie<br />

ganz gut hin. Und wir als Mitarbeiter sind bereit, uns in<br />

Frage stellen zu lassen. Es schafft ein großes Vertrauen,<br />

dass Erwachsene bereit sind, sich zu verändern. Wenn die<br />

Jugendlichen erleben, dass sie gehört <strong>werden</strong>, dass man sie<br />

ernst nimmt, ist das Konflikthafte meist ganz schnell weg.<br />

Es wird ein Schutzraum geschaffen, und die Jugendlichen<br />

bekommen eine andere Werteorientierung. Sie lernen, dass<br />

man respektvoll miteinander umgehen kann.<br />

Viele Jugendlichen haben heute nicht mehr den geeigneten<br />

Raum für ihre Entwicklung. Die Erwachsenen sind zu<br />

sehr mit sich selbst beschäftigt, und oft können sie nicht<br />

den richtigen seelischen Raum schaffen. Viele sind auch<br />

einfach überfordert. Wir erreichen die Jugendlichen nur<br />

über Beziehung und Inhalte, über sinnvolle Arbeit. Es gibt<br />

nicht viele solcher Einrichtungen, weil es anstrengend<br />

ist, mit jungen Erwachsenen zu arbeiten. Man muss sich<br />

ihnen stellen, sie sind frech und widerborstig, sie haben<br />

keinen Respekt. Die meisten haben keinen unmittelbaren<br />

Leidensdruck, und sie liegen auch nicht in der Gosse<br />

wie viele schwerst Drogensüchtigen. Aber sie sind über<br />

Inhalte und Beziehung sehr gut erreichbar, sogar spirituell.<br />

Das weiß ich, weil sich in Gruppengesprächen einmal ein<br />

Thema entwickelt hat über Karma. Dann haben wir dazu<br />

eine eigene Gruppe angeboten, sonntagmorgens um 8 Uhr,<br />

Wir waren platt, wie viele da nicht im Bett geblieben sind!<br />

Es sind eben doch Fragen, die sie berühren, über die sie<br />

schon nachgedacht haben, über die aber niemand mit<br />

ihnen gesprochen hat. Es sind Grundfragen des Lebens,<br />

die einem in diesem Alter durch den Kopf gehen, zum<br />

Beispiel: Warum lebe ich, wenn ich doch wieder sterben<br />

muss? Wenn man das ernsthaft anspricht, stellen sich viele<br />

Jugendliche dieser Herausforderung und sind dankbar,<br />

selbst darüber sprechen zu können.<br />

SINNVOLLE ARBEIT LEISTEN<br />

PARCEVAL<br />

Wir machen Arbeitspädagogik, Unterricht, Sport. Die<br />

Jugendlichen müssen sich auspowern können – die meisten<br />

wollen das auch. Laufen und Kraftsport ist beliebt, aber<br />

nicht mit Gewichten oder an Maschinen, sondern nur mit<br />

dem eigenen Körper – mit Klimmzügen oder Liegestütz.<br />

Wenn einer jeden Tag 100 Klimmzüge macht, entwickelt<br />

sich sein Körper enorm. Die Jugendlichen geben sich dabei<br />

gegenseitig positive Verstärkung. Manche treffen sich<br />

dafür extra in den Pausen. Und wir haben viele künstlerische<br />

Projekte, von Eurythmie und Tanz über Bildhauerei<br />

und Malerei bis hin zur Hip-Hop-Produktion im eigenen<br />

Tonstudio. Wir haben allerdings kein festes therapeutisches<br />

Konzept, das sich schematisch wiederholt.<br />

Wir arbeiten mit dem, was wir haben und was uns von<br />

den Mitarbeitern entgegenkommt. Letztes Jahr hatten<br />

wir zum Beispiel ein Projekt in Thailand, zwei Jugendliche<br />

waren mit zwei Mitarbeitern in der „School for Life“ in<br />

Chiang Mai und haben dort in einem Kinderheim Musik<br />

und Englisch unterrichtet. Das war für sie sehr beglückend<br />

und eine ganz neue Erfahrung. Die thailändische Kultur<br />

mit ihrer Gelassenheit, Toleranz und Großzügigkeit hat da<br />

ein übriges getan. Sie fühlten sich rundum angenommen,<br />

alles, was sie machten, wurde wertgeschätzt. Das war ein<br />

Lebensgefühl, das sie überhaupt noch nicht kannten. Sie<br />

<strong>werden</strong> das nie wieder vergessen.<br />

<strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong> 31


PARCEVAL<br />

JAN, 17 JAHRE<br />

Ich bin zu Parceval gekommen, weil ich zuhause nicht<br />

mehr tragbar war. Ich bin nicht mehr zur Schule gegangen,<br />

sondern gekommen und gegangen, wann ich wollte. Meine<br />

Eltern kamen nicht mehr mit mir klar.<br />

Ich habe ein Doppelleben geführt. Zuhause war ich der<br />

brave Junge, habe einen auf Engel gemacht. Und wenn<br />

ich draußen war, habe ich meinen Film gefahren – Party,<br />

Drogen, Klauen. Ein Gangsterleben. Irgendwann hat die<br />

Schule das Jugendamt eingeschaltet, weil ich nicht mehr<br />

zum Unterricht kam. Sie haben mir Psychotherapie verordnet<br />

und mir einen Einzelfall-Helfer zur Seite gestellt.<br />

Aber das hat alles nichts genutzt. Den habe ich den ganzen<br />

Tag nur verarscht. Schließlich wollte er mich anzeigen,<br />

weil ich ihn beklaut hatte. Da hat mir mein Jugendamt Parceval<br />

vorgeschlagen, meine Eltern haben das auch befürwortet.<br />

Anfangs wollte ich nicht, aber dann habe ich mich<br />

doch dazu entschlossen. Jetzt bin ich seit zwei Jahren hier.<br />

In der ersten Zeit bin ich mehrfach abgehauen und habe<br />

noch einige Dinger gedreht. Aber bei Parceval wird man<br />

nicht rausgeschmissen. Die legen nur die Latte höher, damit<br />

man bleiben darf. Ich musste in einer Selbsthilfeeinrichtung,<br />

die mit Parceval kooperiert, arbeiten. Dort sind nur<br />

runtergekommene Erwachsene, alles Junkies, Obdachlose.<br />

Für die ist der Laden die letzte Hoffnung, sonst gehen<br />

sie drauf. Man darf dort nicht rauchen. Bei Parceval sind<br />

acht Zigaretten am Tag erlaubt, am Wochenende zehn. Ich<br />

durfte auch nicht meine eigenen Klamotten tragen wie<br />

hier. Das hat mir die Augen geöffnet, und mir wurde klar,<br />

welche Chancen ich bei Parceval habe.<br />

Ich hatte ansonsten keine Perspektive mehr. Meine Eltern<br />

wollten mich nicht mehr mit all den Lügen. Was sollte ich<br />

dann machen? Ich habe mir gesagt: Entweder ich bleibe<br />

hier, erreiche mein Ziel und habe dann etwas in der Hand.<br />

Oder ich habe nichts. Dann gehe ich zurück und baue wie-<br />

32 <strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong><br />

Links: Ein Jugendlicher<br />

arbeitet gemeinsam mit<br />

einem Betreuer an einem<br />

neuen Zaun für die Tiere.<br />

Dazu gehört auch, Löcher<br />

auszuheben für die Pfähle<br />

und nachzuschauen,<br />

ob sie tief genug sind und<br />

ob keine großen Steine<br />

die Stabilität gefährden.<br />

Rechts: Wenn man mit<br />

Tieren umgehen möchte,<br />

darf man keine Angst<br />

haben und entwickelt ein<br />

gesundes Selbstbewusstsein.<br />

Die Betreuung und<br />

das Füttern der Pferde<br />

ist bei den Jugendlichen<br />

besonders beliebt.<br />

der irgendwelchen Mist. Theoretisch wäre ich jetzt sicher<br />

im Knast, wenn ich nicht nach Parceval gekommen wäre.<br />

Ich habe hier Leute gefunden, die sich für mich interessieren.<br />

Leute, denen ich erzählen kann, wie es mir geht. Draußen<br />

war das nicht so. Wenn ich mit meinen Freunden unterwegs<br />

war und mich vor denen beweisen wollte, konnte ich<br />

keine Schwäche zeigen. Das habe ich hier gelernt. Ich habe<br />

gelernt, meine Konflikte zu lösen, ohne anderen eins in die<br />

Fresse zu hauen.<br />

An der Arbeit auf dem Bauernhof hier finde ich toll, dass<br />

man lernt, mit Tieren umzugehen. Da darf man nicht<br />

ängstlich sein. Damit man mit denen überhaupt zurechtkommt,<br />

muss man Selbstbewusstsein entwickeln. Und die<br />

Arbeit ist echt anstrengend. Es sind ja nur drei bis vier<br />

Stunden am Tag, aber trotzdem! Davor habe ich noch nie<br />

so viel gearbeitet!<br />

Seit ich klein bin, möchte ich Pilot <strong>werden</strong>. Aber das wird<br />

wahrscheinlich ein Traum bleiben. Nach dem Schulabschluss<br />

jetzt am 1. September fange ich erstmal eine Ausbildung<br />

an, das ist ein duales Projekt, man macht Fachabitur<br />

und zusätzlich eine Ausbildung als Assistent für<br />

Medientechnik.<br />

Die Beziehung zu meinen Eltern hat sich komplett verändert.<br />

Wir haben jetzt ein richtig gutes, enges Verhältnis.<br />

Zuhause ist für mich dort, wo die Menschen mich akzeptieren.<br />

Jedenfalls nicht mehr auf der Straße. Klar habe ich<br />

noch Angst vor der Realität da draußen. Der Rahmen, den<br />

wir hier haben, ist ja schon irgendwie künstlich. Ich weiß,<br />

irgendwann muss ich raus, es wird nicht immer jemand da<br />

sein, der sich um mich kümmert und mir zeigt, wo’s lang<br />

geht. Ich muss auf eigenen Beinen stehen. Aber irgendwann<br />

werde ich das auch können. Ein bisschen Zeit habe<br />

ich ja noch!


LILLI, 17 JAHRE<br />

Ich bin hierher gekommen, weil ich gekifft und exzessiv<br />

Alkohol getrunken habe. Meine Mama hat das spitz<br />

gekriegt und ist dann mit mir zum Jugendamt. Dort haben<br />

sie uns Parceval empfohlen. Das war vor drei Jahren. Seitdem<br />

bin ich hier.<br />

Zwischendurch war ich für fast ein Jahr in dem Türkei-<br />

Projekt. Das war cool. Nicht nur, weil es wärmer ist als hier,<br />

und weil es am Meer liegt. Es war einfach ein ganz anderes<br />

Feeling. Da hatte ich zum ersten Mal wieder das Gefühl<br />

von Zusammengehörigkeit, wie Familie.<br />

Jetzt will ich erstmal den Realschulabschluss machen,<br />

und dann vielleicht noch das Fachabitur. Ich habe lange<br />

gedacht, dass ich Fliesenlegerin <strong>werden</strong> möchte, aber im<br />

Moment tendiere ich mehr zu etwas Sozialem. Mal sehen.<br />

Hier bei Parceval lernt man die Menschen besser kennen<br />

als draußen. Man bekommt einen ganz anderen Bezug zu<br />

fremden Jugendlichen, die man vorher nicht kannte. Ich<br />

lasse da viel mehr zu, ich lasse die Leute dichter an mich<br />

ran. Und ich kann mich selbst auch zeigen.<br />

Natürlich denke ich darüber nach, wie es wäre, jetzt hier<br />

rauszugehen und wieder rückfällig zu <strong>werden</strong>. Dazu hat<br />

jeder seine eigene Einstellung. Manche sagen: das mache<br />

ich auf jeden Fall, ich will wissen, wie das ist. Und andere<br />

sagen: Nein, auf keinen Fall. Die Drogenzeit war schon eine<br />

coole Zeit, ich habe mich da nicht unwohl gefühlt, ich habe<br />

viel erlebt, und wir haben viel gelacht. Aber es hat eben<br />

keine Perspektive. Ich kann damit später nichts anfangen.<br />

Die Angst vor dem Leben draußen, die kann man nur mit<br />

eigener Einsicht überwinden. Mit Klarheit.<br />

KATHARINA, 17 JAHRE<br />

Ich bin hier wegen Drogen und Schuleschwänzen und<br />

aggressivem Verhalten. Ich habe alles mögliche genommen<br />

an Drogen, quer durch die Bank. Davor hatte ich<br />

schon diverse Einrichtungen verschlissen, Psychiatrie,<br />

WGs. Da bin ich immer wieder abgehauen. Ich sah nicht<br />

ein, warum ich dort bleiben sollte. Und ich hatte auch keinen<br />

Bock, an meinem Leben etwas zu verändern. Dann<br />

kam mein Jugendamt mit dem Vorschlag: geh zu Parceval,<br />

das ist deine letzte Chance. Ein halbes Jahr lang habe<br />

ich mich noch davor gedrückt. Dann war ich soweit. Das<br />

ist jetzt anderthalb Jahre her. Ich bin geblieben, weil ich<br />

gemerkt habe, dass ich hier weiterkomme. In den anderen<br />

Einrichtungen war das nicht so. Wenn ich etwas will, dann<br />

mache ich das auch.<br />

Die Arbeit im Stall war für mich gewöhnungsbedürftig.<br />

Kuh- und Schweinestall ausmisten fand ich echt eklig, es<br />

stinkt bestialisch. Das war hart. Obwohl ich den Umgang<br />

mit Tieren mag.<br />

Früher habe ich mich schnell angegriffen gefühlt und<br />

aggressiv reagiert. Das ist anders geworden. Ich kann besser<br />

damit umgehen, zuhören und annehmen. Hier werde ich<br />

verstanden, draußen nicht. Da bin ich einsam, alleine. Aber<br />

die Leute hier verstehen mich.<br />

Und dann sind hier auch noch so viele andere Jugendliche,<br />

denen es ähnlich geht wie mir. Ich kann hier so sein,<br />

wie ich wirklich bin. Ich fühle mich ernst genommen und<br />

angenommen. Draußen muss ich mich immer dick anziehen<br />

– hier kann ich nackt sein. Ich brauche mich nicht<br />

mehr zu verstellen. Erst wenn man keine Fassaden mehr<br />

um sich herum hat, kann man gesehen <strong>werden</strong>. Dann kann<br />

man erkennen, wie die Person wirklich ist.<br />

Irgendwann will ich wieder frei sein. Etwas Eigenes aufbauen.<br />

Verantwortung übernehmen.<br />

<strong>medizin</strong> <strong>individuell</strong> 33

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