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aia 1 pdf - Slavko Kacunko

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artintact 5<br />

338<br />

VIII<br />

Indem ich diese Passagen von Proust wieder und wieder lese, werde<br />

ich auf mein eigenes Leben zurückgeworfen, auf die therapeutische<br />

Wirkung des Schreibens, auf meine Versuche, die Zeit anzuhalten, ja, die<br />

Zeit zurückzudrehen nach dem plötzlichen Tod meiner Freundin, die<br />

von einer Wespe in die Lippe gestochen wurde, an einem warmen<br />

Sommerabend vor nunmehr acht Jahren, den sie mit Freunden auf einer<br />

Dachterrasse verbrachte. Der Tod trat aufgrund eines anaphylaktischen<br />

Schocks, wie es die Ärzte nannten, fast sofort ein. In der Nacht, in der<br />

mich der Schicksalsbote aufgesucht hatte, begann ich zu schreiben:<br />

Am Scheideweg von Nacht und Dämmerung wird dies geschrieben // die tödliche Grenze<br />

ist erschreckend nahe // wird dein Begräbnis rechtzeitig stattfinden? // Du bist nicht gestorben,<br />

doch tot // wenn ich mit äußerster Intensität in den Spiegel schaue, sehe ich deine<br />

Augen noch in den meinen, kann ich noch mit dir sprechen …<br />

Ich schrieb weiter, über mehrere Monate, spät nachts zumeist, wenn<br />

ich am verzweifeltsten war. Ich saß an meinem Computer zu Hause, las<br />

und schrieb, und auch an öffentlichen Orten, auf Bahnfahrten, in Cafés<br />

im Ausland. Ich tippte auch die handgeschriebenen Texte in den Computer,<br />

formulierte um, glättete den Text, las ihn mir halblaut vor. Nach einer<br />

Weile änderte ich nichts mehr, aus Angst, daß durch zuviel Schliff meine<br />

Gefühle verlorengehen könnten. Es beruhigte mich, meine Erinnerungen<br />

im Schreiben festzuhalten, es gab mir das Gefühl, ich hätte die Zeit angehalten,<br />

nicht für sehr lange zwar, aber doch während des Prozesses von<br />

Schreiben und Lesen. Es war (und ist es immer noch) ein fast vollständig<br />

persönliches Tagebuch. Mehr als ein Jahr später druckte ich einige wenige<br />

Seiten aus und fügte sie einer Reihe von Erinnerungsschachteln bei, die<br />

Rollen mit digitalisierten Fotos von Memorabilien meiner Freundin enthalten,<br />

Fotografien, eine Tonkassette von der Beerdigung, einige Stücke<br />

aus ihrer Sammlung parfümierter Seifen, die sie besonders mochte. Einige<br />

enge Freunde bekamen eine solche große Schachtel, mit dem Hinweis,<br />

daß sie den Text nicht sofort lesen müßten, sondern daß er ein Zeugnis für

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