Bildende Kunst und Literatur
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<strong>Bildende</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> <strong>Literatur</strong><br />
<strong>und</strong> der sie von der Mauer isolierte; die Fehler dieser Mauer <strong>und</strong> die<br />
Schicksale des Raumes kamen hinzu, um die, wie es scheint, unabwend-<br />
bare Verderbnis des Bildes zu entscheiden 1 .<br />
Durch das Mißglücken eines ähnlichen technischen Versuchs scheint das<br />
Bild der Reiterschlacht bei Anghiari untergegangen zu sein, das er spä-<br />
ter in einer Konkurrenz mit Michelangelo an eine Wand der Sala del<br />
Consiglio in Florenz zu malen begann <strong>und</strong> auch im unfertigen Zustand<br />
im Stiche ließ. Es ist hier, als ob ein fremdes Interesse, das des Experi-<br />
mentators, das künstlerische zunächst verstärkt habe, um dann das<br />
<strong>Kunst</strong>werk zu schädigen.<br />
Der Charakter des Mannes Leonardo zeigte noch manche andere un-<br />
gewöhnliche Züge <strong>und</strong> anscheinende Widersprüche. Eine gewisse In-<br />
aktivität <strong>und</strong> Indifferenz schien an ihm unverkennbar. Zu einer Zeit, da<br />
jedes Individuum den breitesten Raum für seine Betätigung zu gewin-<br />
nen suchte, was nicht ohne Entfaltung energischer Aggression gegen<br />
andere abgehen kann, fiel er durch ruhige Friedfertigkeit, durch Ver-<br />
meidung aller Gegnerschaften <strong>und</strong> Streitigkeiten auf. Er war mild <strong>und</strong><br />
gütig gegen alle, lehnte angeblich die Fleischnahrung ab, weil er es nicht<br />
für gerechtfertigt hielt, Tieren das Leben zu rauben, <strong>und</strong> machte sich<br />
einen besonderen Genuß daraus, Vögeln, die er auf dem Markte kaufte,<br />
die Freiheit zu schenken 2 . Er verurteilte Krieg <strong>und</strong> Blutvergießen <strong>und</strong><br />
hieß den Menschen nicht so sehr den König der Tierwelt als vielmehr die<br />
ärgste der wilden Bestien 3 . Aber diese weibliche Zartheit des Empfindens<br />
hielt ihn nicht ab, verurteilte Verbrecher auf ihrem Wege zur Hinrich-<br />
tung zu begleiten, um deren von Angst verzerrte Mienen zu studieren<br />
<strong>und</strong> in seinem Taschenbuche abzuzeichnen, hinderte ihn nicht, die grau-<br />
samsten Angriffswaffen zu entwerfen <strong>und</strong> als oberster Kriegsingenieur<br />
in die Dienste des Cesare Borgia zu treten. Er erschien oft wie indifferent<br />
gegen Gut <strong>und</strong> Böse, oder er verlangte mit einem besonderen Maße ge-<br />
messen zu werden. In einer maßgebenden Stellung machte er den Feld-<br />
zug des Cesare mit, der diesen rücksichtslosesten <strong>und</strong> treulosesten aller<br />
Gegner in den Besitz der Romagna brachte. Nicht eine Zeile der Auf-<br />
zeichnungen Leonardos verrät eine Kritik oder Anteilnahme an den<br />
Vorgängen jener Tage. Der Vergleich mit Goethe während der Cam-<br />
pagne in Frankreich ist hier nicht ganz abzuweisen.<br />
1 Vgl. bei v. Seidlitz (1909, Bd. 1 [205 ff.]) die Geschichte der Restaurations- <strong>und</strong><br />
Rettungsversuche.<br />
2 E. Müntz (1899, 18). (Ein Brief eines Zeitgenossen aus Indien an einen Medici spielt<br />
auf diese Eigentümlichkeit Leonardos an. Nach J. P. Richter [1939, Bd. 2, 103–4, Anm.].)<br />
3 F. Bottazzi (1910, 186).<br />
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