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Hochschule <strong>Vechta</strong> Band 1<br />

Online - Schriftenreihe zur Sozialen Arbeit<br />

Hochschule Ve<br />

Andreas Hoenig<br />

<strong>Konfrontative</strong> Pädagogik –<br />

Zauberformel für die Arbeit mit aggressiver Klientel?!<br />

Alltagstauglichkeit einer „besonderen“ Pädagogik<br />

VVSWF <strong>Vechta</strong>er Verlag für Studium, Wissenschaft und Forschung


Hochschule <strong>Vechta</strong> Band 1<br />

Online - Schriftenreihe zur Sozialen Arbeit<br />

Andreas Hoenig<br />

ist Diplom-Pädagoge, Sozialtherapeut und seit fünf Jahren<br />

praktizierender AAT/CT ® Trainer. Nach ca. 10 Jahren in der<br />

Jugendhilfe verlegte er seinen Arbeitsschwerpunkt in die<br />

Resozialisierungsarbeit mit Strafgefangenen, hierbei<br />

bevorzugt Gewalttäter. Seit 2007 ist er Lehrkraft für Soziale<br />

Arbeit an der Hochschule <strong>Vechta</strong>. Er ist Vater einer<br />

siebenjährigen Tochter.<br />

VVSWF ISBN 978-3-937870-06-7


<strong>Konfrontative</strong> Pädagogik –<br />

Zauberformel für die Arbeit mit aggressiver<br />

Klientel?!<br />

Alltagstauglichkeit einer „besonderen“ Pädagogik<br />

<strong>Vechta</strong> 2008<br />

Andreas Hoenig


Die Online - Schriftenreihe zur Sozialen Arbeit wird herausgegeben von:<br />

Prof. Dr. Klaus-Dieter Scheer, <strong>Universität</strong>sprofessor (Pädagogik und Sozialpädagogik) am Institut für<br />

Erziehungswissenschaft der Hochschule <strong>Vechta</strong><br />

Detlev Lindau-Bank, Dipl.-Päd., Dipl.-Sozpäd., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für<br />

Erziehungswissenschaft der Hochschule <strong>Vechta</strong><br />

Autor:<br />

Andreas Hoenig, Dipl.-Päd., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft der<br />

Hochschule <strong>Vechta</strong><br />

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme<br />

Andreas Hoenig: <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik – Zauberformel für die Arbeit mit aggressiver Klientel?!<br />

Alltagstauglichkeit einer „besonderen“ Pädagogik<br />

<strong>Vechta</strong>er Verlag für Studium, Wissenschaft und Forschung, 2008<br />

ISBN 978–3–937870–06-7<br />

Alle Rechte vorbehalten.<br />

© 2008 by VVSWF – <strong>Vechta</strong>er Verlag für Studium, Wissenschaft und Forschung<br />

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den<br />

gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der schriftlichen Einwilligung des Verlages.<br />

Umschlaggestaltung: Lindau-Bank, Scheer, Siemer


Gliederung<br />

Kapitel Titel Seite<br />

Vorwort<br />

1. Glen Mills Schools – zwischen Knast und Schule<br />

1.1 Historischer Überblick und pädagogisches Konzept 1<br />

1.2 Wirksamkeit der Glen Mills Schools 9<br />

1.3 Kritikpunkte und Übertragbarkeit des Programms auf Deutschland 13<br />

2. Jugendhilfe und Jugendrechts-pflege im Spiegel der<br />

<strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik<br />

2.1 Zum Stand der Diskussion 18<br />

2.2 Die Zielgruppen der <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik 21<br />

2.3 Die vergessene „väterliche“ Seite der Pädagogik 28<br />

2.4 <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik in Jugendhilfe und Jugendrechtspflege 30<br />

2.5 Lebensweltorientierung – ein Dogma mit Eigendynamik 36<br />

3. Das Anti-Aggressivitäts-Training<br />

3.1 Geschichte des Anti-Aggressivitäts-Trainings in Deutschland 41<br />

3.2 Das mehrphasige Anti-Aggressivitäts-Training 46<br />

3.2.1 Die biographische Analyse oder Deskritionsphase 46<br />

3.2.2 Die Konfrontationsphase (Heißer Stuhl) 52<br />

3.2.3 Die Attraktivitäts- oder Soziale Kompetenzphase 65<br />

3.2.4 Die Realisationsphase 78<br />

3.3 Nicht besser – aber auch nicht schlechter?! Wirksamkeitsforschung<br />

zum Anti-Aggressivitäts- Training 80<br />

4. <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik an der Schule Coolness-<br />

und <strong>Konfrontative</strong> Schulsozialtrainings<br />

4.1 Die Schulsozialarbeit in Zeiten der Veränderung 87<br />

4.2 Gewalt an der Schule 88<br />

4.3 Die Methodik des <strong>Konfrontative</strong>n Schulsozialtrainings 92<br />

5. Zusammenfassung und Abschluss<br />

5.1 Zusammenfassung 101<br />

5.2 Persönliches Schlusswort 108<br />

Literaturverzeichnis


Vorwort<br />

Diese Arbeit will versuchen den Beweis zu führen, dass die <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik<br />

in Deutschland eine Daseinsberechtigung hat und sich als alltagstauglich erwiesen<br />

hat.<br />

Methodisch werde ich dabei wie folgt vorgehen. Zum besseren Verständnis werde<br />

ich im ersten Kapitel die Anfänge der <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik in den Glen Mills<br />

Schools, Pennsylvenia, USA darstellen. Nach einem kurzen historischen Überblick<br />

werde ich mich dem pädagogischen Selbstverständnis der Glen Mills Schools und<br />

ihres Leiters Cosimo (Sam) Ferrainola zuwenden. Im weiteren Verlauf dieses<br />

Kapitels werde ich den Stand der Wirksamkeitsforschung zu Glen Mills näher<br />

betrachten. Als Grundlage hierfür sollen eine Studie von Grant Grissom und William<br />

Dubnov aus dem Jahr 1989, sowie eine Expertise des Deutschen Jugend Instituts im<br />

Auftrag der Bundesregierung aus dem Jahr 2002 dienen. Abschließen möchte ich<br />

dieses Kapitel mit der Überprüfung der Frage, ob sich ein Glen Mills Programm auch<br />

in Deutschland zur Arbeit mit aggressiv-delinquenter, jugendlicher Klientel realisieren<br />

ließe. Auch hierbei werde ich mich weitgehend auf die Studie des Deutschen<br />

Jugendinstituts beziehen.<br />

Das zweite Kapitel soll sich dann mit der aktuellen Diskussion um eine <strong>Konfrontative</strong><br />

Pädagogik in Deutschland beschäftigen. Unter dem Titel „Jugendhilfe und<br />

Jugendrechtspflege im Spiegel der <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik“ soll versucht werden,<br />

die kontroverse Diskussion um zentrale Fragen einer pädagogischen Haltung mit<br />

ihrem Für und Wider zu beleuchten. Neben vielen persönlichen Erfahrungen werden<br />

hierbei die Protagonisten dieser besonderen pädagogischen Schule zu Worte<br />

kommen. Hierbei werde ich besonders die Autoren Jens Weidner, Rainer Kilb und<br />

Reiner Gall, sowie Wolfgang Tischner und Jörg-Michael Wolters zu Worte kommen<br />

lassen. Aber auch die Kritiker sollen hier zu Wort kommen, namentlich allen voran<br />

Albert Scherr. Auch auf die Gefahr hin, dass diese Vorgehensweise wenig<br />

wissenschaftlich erscheinen mag, werde ich zu diesem frühen Zeitpunkt eigene<br />

Erfahrungen aus Jugendhilfe und Justiz einfließen lassen. Im Sinne der Authenzität


habe ich mich gegen die Risiken einer solchen Vorgehensweise bewusst dafür<br />

entschieden.<br />

Das dritte Kapitel wird sich dann mit einer bereits seit ca. 20 Jahren in Deutschland<br />

praktizierten Methode der <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik auseinandersetzen, dem Anti-<br />

Aggressivitäts-Training. Auch hier werde ich zunächst einen kurzen historischen<br />

Überblick liefern, um im weiteren Verlauf das mehrphasige Modell des Anti-<br />

Aggressivitäts-Trainings nach Michael Heilemann und Gabriele Fischwasser von<br />

Proeck vorzustellen. Zur besseren Verdeutlichung werde ich aber in diesem Kapitel<br />

auch Praktiker zu Worte kommen lassen, die hohe Erfahrungswerte mit der Methode<br />

haben. Hierbei handelt es sich um das Ulmer Team von Anti-Aggressivitäts-Trainern,<br />

Rupert Morath, Sandra und Thea Rau und Wolfgang Reck.<br />

Den Abschluss dieses Kapitels soll dann ein Blick auf die Wirksamkeitsforschung<br />

zum Anti-Aggressivitäts-Training bilden. Zu diesem Zweck werde ich eine Studie des<br />

Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen unter Leitung des ehemaligen<br />

niedersächsischen Justizministers Christian Pfeiffer von Thomas Ohlemacher und<br />

anderen im Jahr 2001 veröffentlicht wurde.<br />

Coolness- oder auch <strong>Konfrontative</strong> Schulsozialtrainings sollen als weitere Methode<br />

im vierten Kapitel betrachtet werden. Hierbei gilt es zunächst eine Blick auf sich<br />

verändernde Schullandschaft aus der Perspektive der Schulsozialarbeit zu werfen.<br />

Hierzu erscheint es mir nützlich den 12. Jugendbericht der Bundesregierung aus<br />

dem Jahr 2005 heran zu ziehen, der sich unter anderem mit diesem Thema<br />

beschäftigt. Für eine <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik ist das Thema Gewalt an der Schule<br />

von Bedeutung, dass ich unter Zuhilfenahme einer Studie von Klaus-Jürgen Tillmann<br />

und Heinz-Günther Holtappels unter Leitung von Wolfgang Heitmeyer von der<br />

<strong>Universität</strong> Bielefeld im Jahr 1997 veröffentlicht wurde, vertiefen werde.<br />

Den Abschluss dieses Kapitels soll dann eine Vorstellung der Methodik dieser<br />

Trainigsform bilden, die von den Autoren geprägt sein wird, die auch schon bei der<br />

Methodik des Anti-Aggressivitäts-Trainings zu Worte kamen.<br />

Den Abschluss dieser Arbeit sollen schließlich eine Zusammenfassung des<br />

Geschriebenen, der Versuch der Beantwortung der Eingangsfragestellungen, sowie<br />

persönliche Schlussworte bilden.<br />

.


1. Glen Mills Schools – zwischen Knast und Schule<br />

1.1 Historischer Überblick und pädagogisches Konzept<br />

Die Geschichte der <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik ist international eng mit dem Namen<br />

Sam Ferrainola verbunden. Sein Konzept zur Resozialisierung jugendlicher Straftäter<br />

in den Glen-Mills-Schools in der Nähe von Philadelphia/USA steht exemplarisch für<br />

eine pädagogische Grundhaltung, die als konfrontativ zu bezeichnen ist. Nach<br />

Definition Ferrainolas handelt es sich um ein „Internat“, der besonderen Art (vgl.<br />

Ferrainola, 1984). Es liegt im Delaware County, Pennsylvania,, ca. 35 Km entfernt<br />

von Philadelphia. Hervorgegangen ist es aus einer ehemaligen “charity school”, die<br />

der Erziehung von Kindern, die im benachbarten Philadelphia in Armut lebten,<br />

verpflichtet war.<br />

Die Anlage wurde unter der Führung Ferrainolas renoviert und auf einen Standard<br />

gebracht, der dem von Eliteinternaten oder Colleges entspricht. Die Ausgestaltung<br />

der Räume entspricht dem amerikanischen Mittelstandsniveau. Alle<br />

Versorgungsleistungen wie zum Beispiel die Verpflegung sind auf hohem Niveau.<br />

Für die ärztliche und zahnärztliche Versorgung ist gesorgt. Die gesamte Anlage ist in<br />

gepflegtem Zustand und die Sportanlagen sind absolut hochwertig. In den<br />

Wohneinheiten sind die Gemeinschaftsräume ebenfalls hochwertig ausgestattet,<br />

während die Privatzimmer auf spartanischem Niveau liegen. Private Gegenstände<br />

sind bis auf einige Familienfotos nicht zugelassen. Die Türen zu den Privatzimmern<br />

wurden entfernt.<br />

Der Tagesablauf ist streng reguliert und vorstrukturiert. Neben diversen<br />

Schulabschluss- und Ausbildungsmöglichkeiten liegt ein wesentlicher Schwerpunkt<br />

auf Sport. Die Teilnehmer werden verpflichtet sich an den vielfältigen sportlichen<br />

Angeboten zu beteiligen (vgl, Ferrainola, 1984).<br />

Dazu äußert sich das Deutsche Jugend Institut (DJI) in einer Expertise aus dem Jahr<br />

2002, aus der ich im Zuge dieses Kapitels noch weiter zitieren werde, wie folgt:


„Was bei den Glen Mills Schools zuallererst beeindruckt, ist der Charakter eines<br />

Internats, einer Schule, wenngleich besonderer Art. Dazu gehört zunächst einmal<br />

das Konzept >Menschen statt Mauernprinciple of less eligibility< , (welches besagt, der Lebensstandard von<br />

internierten Straftätern müsse immer niedriger sein als derjenige, der der untersten<br />

gesellschaftlichen Schicht in Freiheit zugestanden wird), das für stationäre<br />

Einrichtungen der Justiz als unverzichtbar angesehen wird, ist in bewundernswerter<br />

Weise durchbrochen, mit der Folge, dass darauf basierende – freilich nicht alle –<br />

Stigmatisierungseffekte weniger wahrscheinlich werden. Angesichts der Alternative,<br />

des Horrors des amerikanischen Strafvollzuges, von dem viele der „students“<br />

während der Untersuchungshaft einen Vorgeschmack bekamen, dürfte sich das<br />

Weglaufen ohnehin nicht lohnen“ (DJI, 2002).<br />

Derzeit werden in 15 Wohneinheiten, den so genannten „Units“, mehr als 900<br />

Jugendliche „beschult“. Der wesentliche Wirkfaktor im pädagogischen Konzept der<br />

Glen Mills School ist dabei die Gruppe der „students“ im Sinne der „Positive Peer<br />

Culture“ nach Vorrath und Brendtro, „(…) deren zentraler Inhalt die Erkenntnis ist,<br />

dass Kinder und Jugendliche unabhängig von eigenen Störungsbildern und<br />

Auffälligkeiten in der Lage sind, andere Kinder und Jugendliche dabei zu<br />

unterstützen, sich sozial weiter zu entwickeln, selbstbewusst, eigenverantwortlich<br />

und selbstständig zu werden und sich sozial adäquat zu verhalten. In dem Maße, in<br />

dem ein Kind oder Jugendlicher ein anderes Kind bzw. einen anderen Jugendlichen<br />

in dessen Entwicklung fördert und unterstützt, entwickelt es sich selbst weiter<br />

(Vorrath/Brendtro, 1974). Eine gelingende „Positive Peer Culture“ nach Vorrath und<br />

Brendtro baut sich in vier Phasen auf, die die Teilnehmer durchlaufen.


1. Die Anfangsphase ist gekennzeichnet durch ein abwartendes, distanziertes<br />

und eher defensives Verhalten der Gruppenmitglieder. Aufgabe des<br />

Gruppenleiters zu diesem Zeitpunkt ist es das Konzept vorzustellen und dabei<br />

besonders die Notwendigkeit der Mitarbeit zu betonen. Problemsituationen<br />

sind den Teilnehmern in dieser Phase deutlich rückzumelden und die Lösung<br />

in die Gruppe zu geben.<br />

2. In Phase zwei nähern sich die Teilnehmer aneinander an und beginnen<br />

Interesse füreinander zu entwickeln. Der Gruppenleiter verstärkt die<br />

Problemlösungsverantwortlichkeit durch die Gruppe und zieht sich so weit wie<br />

möglich aus seiner Kontrollfunktion zurück.<br />

3. Die dritte Phase ist von entscheidender Bedeutung für das Gelingen des<br />

Gruppenprozesses. Für die Teilnehmer ist sie im Sinne einer Krise zu<br />

verstehen. Alte Verhaltensnormen verlieren ihre Gültigkeit, die neuen<br />

erwünschten Verhaltensnormen bieten noch keine ausreichende Sicherheit.<br />

Diese unterschiedlich stark ausgelebte „Ambivalenzphase“ stellt für den<br />

Gruppenleiter eine große Herausforderung dar. Zwar ist eine Steigerung der<br />

Gruppensolidarisierung und -kohärenz zu erwarten, allerdings ist zeitgleich bei<br />

Einzelnen mit durchaus starkem Abwehr- und Vermeidungsverhalten zu<br />

rechnen. Nach Vorrath und Brendtro soll der Gruppenleiter auf diese Abwehr<br />

und Vermeidungsmechanismen durch Isolierung der entsprechenden<br />

Jugendlichen bei gleichzeitiger Aktivierung der neuen Kompetenzen der<br />

„funktionierenden“ Gruppenmitglieder reagieren.<br />

4. In der letzten Phase dieses gruppendynamischen Prozesses wird der<br />

gewünschte Endzustand der Gruppe erreicht. Die Identifikation der einzelnen<br />

Mitglieder mit der Gruppe ist hoch. Gruppeninterne Splittungen haben sich<br />

abgebaut und die erwünschten pro-sozialen Normen finden ohne<br />

Unterstützung von außen in der überwiegenden Mehrheit der Fälle<br />

Anwendung.<br />

(vgl. Vorrath/Brendtro, 1974)


Für die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes hält die „Positive Peer Culture“<br />

zwei Grundbedingungen für erforderlich: „(…) zum einen das akzeptiert werden<br />

(beeing accepted), zum anderen Akzeptanz zu verdienen (deserving acceptance). In<br />

dem der Jugendliche anderen hilft, ihre Schwierigkeiten zu überwinden, kann er<br />

seinen eigenen Akzeptanzprozess aktiv fördern“ (Vorrath/Brendtro, 1974).<br />

Einer der Grundsätze aus der Sozialpsychologie zur Gruppendynamik heißt, dass die<br />

Sympathie und Akzeptanz innerhalb einer Gruppe mit der Häufigkeit der Kontakte<br />

zwischen den Mitgliedern der Gruppe zusammenhängen (vgl. Bourne/Ekstrand,<br />

2001). Diesem Gedanken folgend wird in Glen Mills darauf Wert gelegt, dass die<br />

Jugendlichen innerhalb der „Units“ soviel Zeit wie möglich miteinander verbringen.<br />

Neben allen anderen Aktivitäten des ausgefüllten Tages in Glen Mills finden<br />

zweimal täglich in den „Units“ Gruppensitzungen statt, die „Guided Group<br />

Interactions“, die dem Aufbau der „Positive Peer Culture“ dienen. Guder bezeichnet<br />

diese Vorgehensweise in einer Veröffentlichung als ein „(…) verhaltensorientiertes<br />

Spezialprogramm für gruppenorientierte Mehrfachtäter“ (Guder, 1999).<br />

Im Zuge der Expertise des Deutschen Jugendinstituts wurde unter anderem die<br />

Möglichkeit der Übertragbarkeit der pädagogischen Grundhaltung auf die deutsche<br />

Jugendrechtspflege und Jugendhilfe in Augenschein genommen. Gerade diese<br />

Punkte fügen sich nahtlos in die zentrale Fragestellung dieser Arbeit ein und aus<br />

diesem Grunde werde ich mich in diesem Kapitel umfassend mit ihr<br />

auseinandersetzen.<br />

Nach den Ergebnissen dieser Expertise verfolgen die Glen Mills Schools ein<br />

„(…) außerordentlich striktes Konzept der Gruppenerziehung (positive peer culture,<br />

peer counceling, peer group pressure). Dem liegt der einleuchtende Gedanke<br />

zugrunde, dass die Jugendlichen größenteils ihre Straftaten als Mitglieder einer<br />

Gang begangen haben und dass sie in Subkulturen leben, in denen sie ihre<br />

dissoziale Normen tradieren. Dieser antisozial ausgerichteten Gruppenerfahrung<br />

sollen intensive, aber positiv gepolte Gruppenerfahrungen entgegengestellt werden.<br />

Der Jugendliche ist von Anfang an permanent in Gruppenprozesse einbezogen, er<br />

ist – insbesondere in der ersten Zeit seines Aufenthaltes – fast nie allein. Er wird<br />

gleich zu Anfang mit den geltenden Regeln bekannt gemacht, erfährt die Hierarchie,<br />

die er bei positivem Verhalten in relativ kurzer Zeit empor klettern kann. Alle


subkulturellen Gruppierungen innerhalb der Schule werden strikt unterbunden,<br />

ausdrücklich ist es verboten sich zum Beispiel mit Hilfe von Begrüßungsritualen,<br />

Kleiderordnungen, sprachlichen Wendungen als Mitglied einer Subkultur gegenseitig<br />

zu erkennen zu geben. Ziel ist es neben der formalen Struktur der Institution<br />

möglichst keinerlei abweichende, informelle Strukturen zuzulassen, also eine<br />

Kongruenz von formeller und informeller Normenstruktur“ (DJI, 2002).<br />

Sollten die so genannten „students“ – wie die Teilnehmer an der Maßnahme dem<br />

Selbstverständnis der Glen Mills School als Internat - folgerichtig bezeichnet<br />

werden, durch eine Verletzung dieser Regeln oder der unzähligen anderen Regeln,<br />

die auf dem Campus herrschen auffallen, so erfolgt zwangsläufig die Konfrontation<br />

mit ihrem Fehlverhalten. Diese Konfrontation soll im Sinne der „positve peer culture“<br />

überwiegend von den anderen „students“ durchgeführt werden, die wiederum selber<br />

durch aufmerksames Beobachten von Normverstößen und anschließender<br />

Konfrontation die Möglichkeit haben, innerhalb der Hierarchie aufzusteigen - um in<br />

der Begrifflichkeit Glen Mills zu bleiben, „Bulls“ (Ferrainola, 1984) zu werden. Das<br />

Vorgehen bei der Konfrontation ist streng ritualisiert und in sieben Stufen gegliedert.<br />

Bei diesen sieben Stufen handelt es sich um:<br />

1. „Friendly Non-Verbal“<br />

Wenn ein Jugendlicher oder ein Mitarbeiter einen anderen Jugendlichen<br />

bei einer Normverletzung beobachtet, gibt er diesem Jugendlichen mit<br />

einer freundlichen Geste zu verstehen, dass sein normwidriges<br />

Verhalten entdeckt wurde und er es umgehend ändern soll.<br />

Üblicherweise geschieht dies durch ein Nicken mit dem Kopf, einem<br />

freundlichen Blick oder durch einen kurzen Wink mir der Hand. Reagiert<br />

der Jugendliche nicht, erfolgt<br />

2. „Concerned Non-Verbal“


Bei der zweiten Stufe werden die Gesten ernst und deutlich. Der Blick<br />

wird streng, aus dem Wink mit der Hand wird ein direktes Zeigen mit<br />

dem Finger. Diese non-verbale Forderung nach Verhaltensänderung<br />

steigert sich bei Nichtbeachten zu<br />

3. „ Helpful Verbal“<br />

Der konfrontierende Jugendliche teilt dem anderen in freundlicher Weise<br />

wörtlich mit, dass er sein Verhalten jetzt ändern soll. Etwa: „Mach doch<br />

bitte… Würdest du bitte…“. Bewirkt diese Stufe der Konfrontation nichts,<br />

folgt<br />

4. „Concerned Verbal“<br />

Der Jugendliche teilt dem anderen in sehr deutlicher Weise mit, dass<br />

dies zu einer „großen Sache“ würde, wenn er sein Verhalten nicht<br />

ändere. Dabei werden die Gesten sehr eindeutig und die Stimme des<br />

Konfrontierenden laut. Aber es kommt zu keinem Körperkontakt mit dem<br />

Jugendlichen. Zeigt diese Stufe der Konfrontation keinen Erfolg, wandelt<br />

sich die Zweierinteraktion in eine Gruppenauseinandersetzung. Durch<br />

die körperliche Präsenz und verbale Unterstützung des<br />

Konfrontierenden durch andere Jugendliche, wird Solidarität<br />

demonstriert und massiver Gruppendruck auf den normabweichenden<br />

Jugendlichen ausgeübt. Die nächste Stufe wäre<br />

5. „Request for Staff and/or Student Support“<br />

Wenn der Betreffende die Konfrontation nicht akzeptiert, bittet der<br />

Konfrontierende andere Jugendliche oder Mitarbeiter ihm zu helfen. Dies<br />

soll noch einmal dazu dienen, dem betreffenden Jugendlichen deutlich<br />

zu machen, dass sein Verhalten nicht kontrollierbar ist und durch die<br />

Hinzuziehung der anderen Jugendlichen und dem von ihnen<br />

ausgehenden Gruppendruck versucht wird, die Situation zu lösen. Alle<br />

Schüler und Mitarbeiter sind verpflichtet, eine Konfrontation zu


unterstützen, da sie sonst wegen Nicht-Unterstützung ihrerseits<br />

konfrontiert werden. Lässt sich der Schüler durch die Stufe 5 nicht<br />

beruhigen, kommt es zur „Aufmerksamkeitsberührung“ (Stufe 6). Dies<br />

wiegt umso schwerer, weil sie – neben Stufe 7 – die einzig legitime<br />

Berührungsform in der „non-touch“-Konzeption von Glen Mills ist. Der<br />

Zugriff auf den Körper ist von dem Jugendlichen mit einer hohen<br />

persönlichen Bedeutung und einem ebenso hohen Kontrollniveau<br />

belegt.<br />

6. „Touch for Attention (Staff only)“<br />

Ein Mitarbeiter (nicht Mitschüler) faßt den konfrontierten Jugendlichen an<br />

den Schultern und um die Taille, um ihn ein weiteres Mal auf die Brisanz<br />

der Situation aufmerksam zu machen. Durch physischen Zwang wird der<br />

Blickkontakt hergestellt. Der Jugendliche hat bis zu diesem Zeitpunkt<br />

alle Konfrontationen ignoriert oder abgelehnt. Durch die körperliche<br />

Auseinandersetzung und damit dem Bruch des Verhaltensmusters,<br />

versucht der Mitarbeiter dem Konfrontierten das Ausmaß seines<br />

außergewöhnlichen Verhaltens zu verdeutlichen und gibt ihm die letzte<br />

Chance, sein negatives Verhalten zu ändern, ohne den Gruppenstatus<br />

zu verlieren. Lenkt der Jugendliche immer noch nicht ein, eskaliert die<br />

Konfrontation auf die Stufe 7.<br />

7. „Physical Restraint (Staff only)“<br />

Nachdem alle anderen Konfrontationsstufen nicht gewirkt haben und der<br />

Jugendliche in seiner Bedrängnis zur Gewalt greift, wird er auf der Stufe<br />

7 physisch ruhig gestellt. Mitarbeiter unterbinden durch Festhalten das<br />

Ausagieren und bringen den Schüler dazu sich zu beruhigen. Das<br />

geschieht so lange, bis der Konfrontierte weder für sich noch für andere<br />

oder das Sacheigentum eine Bedrohung darstellt. Ist dieses erreicht,


setzt dann wieder die Stufe 5 ein, bis die Konfrontation akzeptiert wird.<br />

Ist dies geschehen löst sich die Gruppe auf.<br />

(vgl. Grissom/Dubnov, 1989)<br />

Haben die „students“ die geforderten positiven Gruppennormen nach Meinung<br />

der Gruppenleiter ausreichend internalisiert und praktiziert und haben sie sich<br />

loyal gegenüber der Schule verhalten, besteht für sie die Möglichkeit, Mitglied<br />

im „Bulls Club“ (a.a.O.) zu werden. Bei dieser Organisation handelt es sich um<br />

die „(…) Referenzgruppe der verantwortungstragenden Gemeinschaft und das<br />

Gegenstück zu einer Anstaltssubkultur“ (DJI, 2002). Der Status der „Bulls“ ist<br />

gegenüber den anderen Schülern deutlich erhöht und sie nehmen unter<br />

anderem auch pädagogische Aufgaben mit wahr. So übernimmt ein „Bull“ die<br />

Verantwortung für neue Schüler im Sinne einer Patenschaft und führt den<br />

Neuen in die Gepflogenheiten der Schule und das Regelwerk ein. Der Status<br />

eines „Bulls“ in Glen Mills ist rigide definiert. Der Jugendliche kann den Status<br />

erreichen, allerdings wird er ihm bei Normverstößen auch wieder aberkannt.<br />

Die Verantwortlichen der Glen Mills School lassen sich bei ihrem<br />

pädagogischen Konzept nur höchst ungern „hinter die Karten schauen“. So gibt<br />

es keine offiziellen Darstellungen darüber, was ein Jugendlicher genau tun<br />

muss, um in den Status eines „Bulls“ erhoben zu werden. Allerdings gibt es<br />

inoffizielle Berichte von ehemaligen Schülern, die davon sprechen innerhalb<br />

von zwei Wochen 150 (!) dokumentierte „Konfrontationen“ durchgeführt zu<br />

haben (vgl. ebd.). Was das für die Atmosphäre auf dem Campus bedeuten<br />

würde, kann man sich leicht ausmalen. Nicht umsonst wird diese inszenierte<br />

„Blockwart-Mentalität“ (ebd.) stark kritisiert.<br />

Den Status eines „Bulls“ haben durchschnittlich 40 – 60% der Schüler von Glen<br />

Mills. Im Status übertroffen werden sie von den aus ihren Reihen gewählten<br />

„Unit Executive Bulls“ (ca. 6 – 7 Schüler pro Wohneinheit), die die<br />

Verantwortung für ihre „Unit“ tragen sowie den insgesamt 6 „Campus Executive<br />

Bulls“.<br />

Über eine durchschnittliche Verweildauer der „Students“ in Glen Mills lagen<br />

keine Zahlen vor.


1.2 Wirksamkeit der Glen Mills Schools<br />

Im Rahmen der im vorherigen Kapitel erwähnten Expertise des Deutschen<br />

Jugendinstituts (DJI) wurde auch die bisherige Wirksamkeitsforschung näher<br />

betrachtet. Hierbei traten einige Fragestellungen zur Forschungsmethodik auf,<br />

die ich nunmehr etwas näher darstellen möchte.<br />

Glaubt man den Trivialmedien, so ist Glen Mills die Lösung der Frage nach der<br />

angemessenen pädagogischen Antwort auf die herausfordernden und<br />

gewaltbereiten delinquenten Jugendlichen und Heranwachsenden. Denn<br />

angeblich beträgt die Rückfallquote der dortigen Schüler allenfalls ein Drittel<br />

der ähnlich betroffenen deutschen Jugendlichen. Die Glen Mills Schools<br />

werben damit, dass 70% der Absolventen es dauerhaft schaffen (vgl. DJI,<br />

2002). Berufen wird sich hier meistens auf eine Studie von Grissom und<br />

Dubnov, die 1984 im Auftrag der Glen Mills School durchführt und von den<br />

Autoren in den Folgejahren fortgesetzt wurde. Von 1976 bis 1980 hatten die<br />

beiden für die ersten 27 Monate nach der Entlassung im Durchschnitt eine<br />

Wiederinhaftierungsquote von 37% errechnet; für 1985 gar nur eine Quote von<br />

35%. (vgl. Ferrainola, 1999). Gemessen an der deutschen Kriminalstatistik für<br />

Jugendkriminalität wäre dies tatsächlich ein traumhafter Legalbewährungs-<br />

Quotient, der geeignet wäre, sämtliche Kritiker in die Schranken zu weisen.<br />

Nach Meinung der Experten des DJI in gibt es Schwächen in der<br />

Forschungsmethodik, die tatsächlich validitätsbedrohend erscheinen und folgt<br />

man ihrer Argumentation, handelt es sich bei den Untersuchungen von<br />

Grissom und Dubnov keinesfalls um eine repräsentative Evaluation nach<br />

wissenschaftlichen Standards, sondern vielmehr um eine Stichprobe.<br />

Bevor ich darauf näher eingehen werde, möchte ich noch einen inhaltlichen<br />

Kritikpunkt der Autoren des DJI an der ausschließlichen Orientierung des<br />

Erfolges von Glen Mills an Rückfallquoten anführen. „In welchem Umfang<br />

Unterbringung und Programmteilnahme im Jugendstrafvollzug bzw. in den


Glen Mills Schools kausal für das nachfolgende Legalverhalten Jugendlicher<br />

geworden ist, bleibt ungewiss.“ (DJI, 2002).<br />

Laut DJI wurden von insgesamt 3302 Glen Mills-Absolventen der Jahre 1976 –<br />

1984, die ursprünglich befragt werden sollten, nur 1398 überhaupt ausfindig<br />

gemacht. Von diesen 1398 Teilnehmern, deren Adressen oder<br />

Telefonnummern ausfindig gemacht werden konnten, wurden mit 351 ein „face-<br />

to-face-Interview“ durchgeführt, 280 Teilnehmer wurden telefonisch befragt und<br />

über 790 Absolventen ( mehr als 50%) konnte kein direkter Kontakt hergestellt<br />

werden und die Informationen wurden über Dritte (Familienangehörige,<br />

Bewährungshelfer, etc.) eingeholt. Mehr als die Hälfte der Absolventen wurden<br />

nicht gefunden und konnten dementsprechend nicht befragt werden. Die<br />

Experten des DJI vermuten, dass bei dieser Gruppe die Rückfallquote höher<br />

einzuschätzen ist, als bei den – wie auch immer – Befragten (vgl. DJI, 2002).<br />

Auch die unterschiedliche Evaluationsmethodik wird an dieser Stelle im Sinne<br />

der Validität und Reliabilität kritisch hinterfragt. Die Autoren argumentieren<br />

dazu, dass es bedeutende Unterschiede im Sinne der sozial erwünschten<br />

Antworten zwischen „face-to-face Interview“, telefonischer Befragung und<br />

schriftlicher Befragung zuungunsten der ersten beiden Interviewtechniken gäbe<br />

und verweisen auf eine diesbezügliche Studie von Kury (vgl. Kury, 1994). Bei<br />

den Befragungen Dritter verweisen die Autoren auf die Gefahr, dass diese<br />

selbst unter Umständen über die tatsächliche Legalität ihrer Angehörigen nicht<br />

informiert sein könnten (vgl.DJI, 2002).<br />

Als besonders schwerwiegend wird die Tatsache gewertet, dass Grissom und<br />

Dubnov zur Beantwortung der Frage nach der Legalbewährung der<br />

Absolventen keine objektive Quelle, wie zum Beispiel ein amtliches<br />

Strafregister, zur Verfügung stand (ebd.).<br />

Als letzten Kritikpunkt an der Untersuchung von Grissom und Dubnov führen<br />

die Autoren an, dass es signifikante Unterschiede im sozialen Profil zwischen<br />

Befragten und Nicht-Befragten gäbe.<br />

� Deutlich mehr Absolventen der Interviewgruppe stammen aus<br />

vollständigen Familien.


� Die Beurteilungen der Mitarbeiter über die Absolventen der<br />

Befragtengruppe waren durchgehend besser.<br />

� Die Gruppe der Befragten hatte signifikant häufiger schon vor<br />

dem Glen Mills-Aufenthalt einen Schulabschluss und damit<br />

bessere bildungsmäßige Voraussetzungen.<br />

� Ebenso erwarben die Angehörigen der Interviewgruppe während<br />

ihres Aufenthalts bei Glen Mills häufiger als die Nicht-<br />

Interviewten einen Schulabschluss.<br />

� Die Angehörigen der Interviewgruppe absolvierten signifikant<br />

häufiger das Glen Mills-Programm bis zum Ende als die Nicht-<br />

Interviewten; und sie wurden signifikant seltener durch<br />

Gerichtsbeschluss als die Restlichen aus dem Programm<br />

genommen.<br />

(vgl. DJI, 2002)<br />

Einige dieser Kritikpunkte hatten Grissom und Dubnov nach Beendigung ihrer<br />

Untersuchung selber erkannt und 1989 ihre Rückfallquote um den Faktor 1,26<br />

nach oben korrigiert. Nach dieser Korrektur stellte sich das Ergebnis ihrer<br />

Untersuchung zum Punkt der Legalbewährung folgendermaßen dar.


Jahr des Zugangs „admission“ Wiederinhaftiert „reincarcerated“<br />

Nach 27 Monaten (%)<br />

1976 62<br />

1977 43<br />

1978 40<br />

1979 52<br />

1980 55<br />

1981 45<br />

1982 43<br />

1983 45<br />

1984 42<br />

Skizze 1: vgl. Grissom/Dubnov, 1989<br />

Als Kontrollgruppe zogen Grissom und Dubnov 417 zufällig ausgewählte<br />

Absolventen, die von Gerichten aus Philadelphia nach Glen Mills geschickt<br />

worden waren. „Nach Aktenlage waren von diesen 417 Absolventen innerhalb<br />

von 6 Jahren nach ihrer Entlassung aus den Glen Mills Schools 360 (86,3%)<br />

wieder unter dem Vorwurf von Straftaten festgenommen („rearrested“) und 229<br />

(54,9%) wieder zu Freiheitsentzug verurteilt worden („reincarcerated“). Auf 27<br />

Monate nach der Entlassung heruntergerechnet waren es freilich nur 184<br />

Absolventen (44,1%), die wegen neuer Straftaten wieder inhaftiert wurden.<br />

(ebd.).<br />

Gerade die Auswahl der Kontrollgruppe erscheint nicht ausreichend durchdacht<br />

gewesen zu sein, da sie dasselbe Treatment (Glen Mills Schools) erhalten<br />

hatte und somit zur Kontrolle eigentlich nicht geeignet ist.<br />

1.3Kritikpunkte und Übertragbarkeit des Glen Mills-<br />

Programms auf Deutschland


Resümieren lässt sich dieses Kapitel erstens dahingehend, dass es bis heute<br />

keine Wirksamkeitsuntersuchung im Sinne einer Legalbewährung für das Glen<br />

Mills-Programm gibt, die den Anforderungen wissenschaftlicher Standards<br />

genügt und als repräsentativ zu betrachten wäre. Weiterhin bleibt festzustellen,<br />

dass die von Grissom und Dubnov ermittelten Rückfallquoten bei den<br />

Absolventen keine signifikant positive Abweichung zur Vergleichsgruppe<br />

ergeben haben. Betrachtet man dieses Ergebnis vor dem Hintergrund der<br />

durch das DJI aufgeworfenen Kritikpunkte an der Erhebungsmethodik, kann<br />

günstigstenfalls von einer minimalen Verbesserung der Rückfallquote bei<br />

denjenigen Jugendlichen ausgegangen werden, die das „Treatment“ Glen Mills<br />

durchlaufen haben.<br />

Um die Kritik an dieser „knallharten Konditionierung“, wie es ein Dozent der<br />

Hochschule <strong>Vechta</strong> einmal in einem Gespräch mit dem Verfasser ausdrückte,<br />

besser verstehen zu können und die Möglichkeiten eines Transfers des<br />

Programms nach Deutschland zu prüfen, macht es Sinn, sich noch einmal kurz<br />

mit dem pädagogischen Konzept und dem Selbstverständnis der Glen Mills<br />

Schools und deren „Übervater“ Sam Ferrainola auseinanderzusetzen.<br />

1. Nach Ferrainola ist Delinquenz „(…) kein psychiatrisches Syndrom,<br />

sondern ein soziales Faktum, genauso wie Armut und Scheidung<br />

soziale Faktoren sind“ (Ferrainola, 1999). Vor dem Hintergrund dieser<br />

Basisaussage finden viele der anderen Theorien abweichenden<br />

Verhaltens, die sich gerade auch auf Jugendliche und<br />

Heranwachsende anwenden lassen könnten, in Glen Mills keine oder<br />

nur rudimentäre Beachtung. Hier wären besonders erwähnens- und<br />

beachtenswert die Subkulturtheorie von Albert Cohen, die<br />

Chancenstrukturtheorie von Richard Cloward und Lloyd Ohlin, die<br />

Theorie der differentiellen Assoziation von Edwin Sutherland, aber<br />

auch durchaus die Anomietheorie nach Emile Durkheim oder Robert<br />

Merton, sowie der „Labeling Approach“. Der Blick auf den delinquenten<br />

Jugendlichen ist extrem subjektiviert im Sinne eines „produktiven<br />

Verarbeiters von Realität“ (s. Kapitel 2.3) nach Klaus Hurrelmann.<br />

Dieser monokausale Erklärungsansatz von delinquentem Verhalten


nach Ferrainola mag vielleicht als Garant für eine hohes Maß an<br />

Handlungs- und Haltungssicherheit für die Mitarbeiter dienlich sein,<br />

birgt allerdings nach der Entlassung aus der „Laborsituation“ Glen<br />

Mills erhebliche Risiken des Scheiterns für die Absolventen.<br />

2 Die starke Orientierung an Normen und Regeln, von denen es in Glen Mills<br />

nahezu unendlich viele gibt (z.B. Hemden in der Hose tragen, Kamm in der<br />

Brusttasche, Fahrbahnen dürfen nicht betreten werden, Rangniedere dürfen<br />

Ranghöhere nicht aktiv ansprechen und so weiter, ,und so weiter, und so<br />

weiter), die unter anderem mit „Peer Group Pressure“ durchgesetzt werden<br />

(vgl. DJI, 2002). Diese Normen und Regeln sind jeder Diskussion entzogen<br />

und bedürfen keiner rationellen Erklärung durch das Personal. Im Sinne<br />

eines „Boot-Camps“ werden sie einem Dogma gleich behandelt und<br />

entziehen sich der demokratischen oder menschenrechtlichen Diskussion.<br />

Die Möglichkeit für die Teilnehmer sich gegen Willkür oder Unrecht zu<br />

beschweren, ist nicht vorgesehen.<br />

3 Das System der engen sozialen Kontrolle verpflichtet die Schüler zur<br />

Denunziation. Um einen höheren Status zu bekommen, muss der Schüler<br />

sogar besonders fleißig oder aufmerksam an diesem Punkt sein.<br />

Gleichzeitig herrscht ein Netz aus dermaßen vielen Regeln, dass es nahezu<br />

unmöglich ist, nicht gegen irgendeine zu verstoßen. Sie stecken also in<br />

einem totalitären System. Das DJI schlussfolgert, dass „(…) Fähigkeiten,<br />

die für ein friedliches Miteinander von Menschen unterschiedlicher<br />

kultureller und sozialer Herkunft unverzichtbar sind und entwickelt werden<br />

müssen, wie Perspektivübernahme, Einübung von<br />

Aushandlungsprozessen, Kompromissfähigkeit in Glen Mills nicht gefördert<br />

werden“ (DJI, 2002).<br />

4 Als problematisch wird auch das diffuse Erziehungsziel des „pro-sozialen“<br />

Verhaltens gewertet, wie es von Ferrainola formuliert wird. Operationalisiert<br />

wird dieser Begriff nicht. Es bleibt also weitgehend unklar, was damit<br />

gemeint ist. Es ist allerdings davon auszugehen, dass es sich hierbei nur<br />

um institutionskonformes Verhalten handeln kann. Ein weiteres<br />

Erziehungsziel ist, dass die Teilnehmer zu „guten Amerikanern“ (Ferrainola,<br />

1999) erzogen werden sollen. Was darunter zu verstehen ist, bleibt


ebenfalls unklar und ist wohl dem Verständnis Ferrainolas davon<br />

zuzuordnen. Die diffusen Erziehungsziele in Verbindung mit möglichen<br />

menschenrechtlich, juristisch und pädagogisch grenzwertigen<br />

Interventionen lassen zumindest Fragen offen.<br />

Die Übertragung des Glen Mills Programms nach Deutschland wird in der<br />

Fachöffentlichkeit schon seit einigen Jahren kontrovers diskutiert. Während<br />

die Gegner von einem fehlenden gesellschaftlich verankerten<br />

Normenkonsens für eine auf Drill und äußerlichen Gehorsam abzielenden<br />

pseudo-militärischen Pädagogik, der mangelnden Identifikations- und<br />

Karrieremöglichkeit über das zentrale Moment Sport und der in den USA<br />

praktizierten hohen Selektivität bei der Auswahl der Teilnehmer (vgl. forum<br />

kriminalprävention, 2002) sprechen, halten die Befürworter entgegen, dass<br />

integrierte und modale Programme, die strukturiert sind und<br />

Verhaltenskompetenzen erhöhen sowie auf die Integration in den<br />

Arbeitsmarkt abzielen, ein hohes Maß an Aussicht auf Erfolg haben. Auch<br />

werden von den Befürwortern häufig die vorgestellten Untersuchungen von<br />

Grissom und Dubnov in das Feld geführt, allerdings ohne Berücksichtigung<br />

der Korrekturen (ebd.).<br />

Ein weiterer Kritikpunkt am Modell Glen Mills ist in einem Charakteristikum<br />

der Kollektiverziehung (vgl. Makarenko, 1969) zu finden. Die individuelle<br />

Vorgeschichte des Betroffenen wird nicht in die pädagogische Behandlung<br />

einbezogen. Vielmehr wird ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit<br />

praktiziert. Nach den Experten des Deutschen Jugendinstituts ist damit<br />

jedoch nicht gemeint, dass „(…) die Lebensgeschichte eines Jungen<br />

bedeutungslos sei; sie bleibt als ein wenngleich diffuser<br />

Erfahrungshintergrund präsent, nicht zuletzt, weil sich in diesem Notlage,<br />

Zwang und Unterdrückung aussprechen, gegen den die neue Gesellschaft<br />

im kollektiven Zusammenhang gesetzt wird. Insofern werden Erfahrungen<br />

aufgenommen, aber in ihrer Geltung negiert; sie tragen als Strukturmuster,<br />

um mit neuen Inhalten verbunden zu werden. Glen Mills verfährt nach<br />

diesem Modell, weil es die Gang-Erfahrungen als erfahrenes<br />

Strukturmuster sozialer Konstruktionen aufnimmt, Polsky folgend aber die<br />

einzelnen Positionen in dieser Struktur neu – nämlich verdreht gegenüber


dem berühmten Polsky-Diamanten – besetzt und sie so produktiv für<br />

sozialisatorische Effekte nutzt“ (DJI, 2001).<br />

Um zu verdeutlichen wie das gemeint ist, müssen wir einen Blick auf den<br />

sogenannten „Polsky-Diamanten“ (vgl. Polsky, 1977) werfen. Nach Monika<br />

Jetter-Schröder ist der Polsky-Diamant eine „(…) systematische<br />

mikrosoziologische Analyse der subkulturellen >In-Group


� Die Laufjungen: gelten als kindlich-regressiv und tendieren<br />

zur Überreaktion. Als Gegenleistung für ihre Hilfsdienste wird<br />

ihnen gelegentlich Ruhe gegönnt.<br />

� Der Sündenbock: gilt als das schwächste Glied. Er hat die<br />

Rolle des ewigen Schuldigen zu spielen. Seinen<br />

Persönlichkeitsschwächen begegnet die Gruppe<br />

unnachgiebig mit erniedrigenden Interaktionen.<br />

(vgl. Polsky, 1977)<br />

Dieses Modell zur Rollenverteilung in Gruppen wird wie gesagt in Glen Mills<br />

zugrunde gelegt und es wird versucht die Jugendlichen dahingehend zu<br />

beeinflussen, dass die Rollen mit neuen „positiven“ Inhalten ausgestaltet<br />

werden. Alternative soziale Konstrukte werden den Jugendlichen nicht an die<br />

Hand gegeben. Sie bleiben damit an dieser Stelle im weitesten Sinne also<br />

bestenfalls so etwas wie „nicht-kriminelle“ Gang-Mitglieder.<br />

Eine weitere Schwierigkeit sehe ich in der von Havighurst formulierten<br />

Entwicklungsaufgabe der Bildung einer sexuellen Identität (s. Kapitel 2.2). Das<br />

Thema Sexualität findet in Glen Mills keinerlei Beachtung, dürfte aber durchaus<br />

in Hintergrund interaktionsbeeinflußende Wirkung entfalten.<br />

Resümieren lässt sich dieses Kapitel dahingehend, dass es zur Zeit aus sozio-<br />

kulturellen und pädagogischen Erwägungen wohl eher ausgeschlossen<br />

scheint, das Glen Mills-Programm eins zu eins nach Deutschland zu<br />

importieren. Einige der Kritikpunkte habe ich im Zuge dieses Kapitels versucht<br />

darzustellen.<br />

Zu demselben Ergebnis kommt auch die Expertise des Deutschen<br />

Jugendinstituts, die noch einen weiteren juristischen Punkt anführt. Vor dem<br />

Hintergrund einer deutlich rigideren, punitiveren amerikanischen<br />

Jugendrechtsprechung – Schlagworte wie „three strikes out“ oder „zero<br />

tolerance“ sind hinlänglich bekannt – müsste sich ein Glen Mills Deutschland<br />

darauf einstellen, dass sich die Gruppe der Jugendlichen, die eingewiesen<br />

werden würden, voraussichtlich deutlich „härter“ in Bezug auf Vorstrafen und<br />

Delikte darstellen würde (vgl. DJI, 2001).


Wie aber stellt sich der Stand der Diskussion um eine <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik<br />

in Deutschland dar und welche Methoden haben Einzug gefunden? In den<br />

folgenden Kapiteln werde ich mich diesen Fragen zuwenden.<br />

2. Jugendhilfe und Jugendrechtspflege im Spiegel der<br />

<strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik<br />

2.1 Stand der Diskussion in Deutschland<br />

Nicht zu Unrecht stellt der Nürnberger Erziehungswissenschaftler Wolfgang Tischner<br />

in seinem Beitrag zu einer Veröffentlichung über die <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik die<br />

Frage, ob denn Konfrontation nicht seit jeher integraler Bestandteil jedes<br />

erzieherischen Handelns sei? (vgl. Tischner, 2004) Folgt man dieser Ausführung, so<br />

drängt sich der Gedanke auf beim Begriff der <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik säße man<br />

sozusagen einem „Fake“ auf oder etwas freundlicher formuliert handele es sich<br />

hierbei zumindest um eine Tautologie. In seinen interessanten Gedanken stellt er im<br />

weiteren Verlauf die Frage nach der Notwendigkeit einer solchen besonderen<br />

Pädagogik, da das Feld ja schon ausreichend bestellt sei und sich schon viele<br />

„besondere“ Pädagogiken etabliert hätten. Hier wird von ihm insbesondere die<br />

geisteswissenschaftliche, empirisch-analytische Pädagogik, die emanzipatorische<br />

und systemische Pädagogik, aber auch die interkulturelle und feministische<br />

Pädagogik aufgeführt (vgl. Tischner, 2004). Besonders auf letztere werde ich in<br />

diesem Kapitel in Zusammenhang mit der sogenannten „väterlichen Seite“ der<br />

Pädagogik noch eingehen.<br />

Um eine einigermaßen angemessene Darlegung des Begriffs <strong>Konfrontative</strong><br />

Pädagogik herausarbeiten zu können, bietet sich, neben der Aufzählung<br />

wesentlicher Wesensmerkmale einer solchen, wie vom Hamburger Professor und<br />

deutschem „Guru“ der <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik (KP) Jens Weidner in seiner<br />

Veröffentlichung zur <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik im Vorwort aufgezählten 12


Eckpfeilern, auch die Annäherung über inhaltliche Fragen methodisch an. Ein<br />

Vorschlag wurde vom Dortmunder Diplom-Sozialwissenschaftler Philipp Walkenhorst<br />

in seinen Anmerkungen zu einer <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik meines Erachtens<br />

exemplarisch formuliert:<br />

� Um welche Zielgruppe geht es in einer <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik?<br />

� Worin besteht die Kritik der KP an „herkömmlichen“ Pädagogiken?<br />

� Trifft die Kritik einer „butterweichen“ Jugendhilfe zu?<br />

� Was für eine Substanz hat die KP? Welche Theorien oder<br />

Konzeptionen stehen dahinter? Was für ein Menschenbild und welche<br />

Ethik braucht es für diese Pädagogik?<br />

� Welche speziellen Verfahren und welche spezifischen Wirkungen nutzt<br />

und erreicht eine <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik? Welche Wirkungstheorie<br />

steckt dahinter?<br />

� Welche empirischen Grundlegungen erfährt dieser Ansatz?<br />

� Worin begründen sich die Besonderheiten eines solchen Zuganges und<br />

welche kritischen Momente sind in den Blick zu nehmen?<br />

(vgl. Walkenhorst, 2004)<br />

Im Folgenden werde ich versuchen mich diesen Fragestellungen anzunähern und<br />

somit etwas mehr Klarheit in die Frage nach der Besonderheit einer <strong>Konfrontative</strong>n<br />

Pädagogik zu bringen.<br />

Vorab möchte ich die Aufmerksamkeit zunächst einmal auf die von Weidner<br />

postulierten 12 Eckpfeiler einer <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik richten. Im Vorwort zu<br />

seinem 2004 erschienenen Buch „<strong>Konfrontative</strong> Pädagogik – Konfliktbearbeitung in<br />

Sozialer Arbeit und Erziehung“ beschreibt Weidner ein Motto: „Den Menschen<br />

mögen und verstehen, aber mit seinem (abweichenden bis kriminellen) Handeln


nicht einverstanden sein“ (vgl. Weidner/Kilb, 2004). Für Weidner steht dahinter ein<br />

pädagogisches Professionalitätsverständnis, dass Empathie mit Konfrontation<br />

ergänzt. Er spricht hierbei in Prozentangaben von 80% Empathie und 20%<br />

Konfrontation. Diese Mischung bezeichnet er als „klare Linie mit Herz“ (ebd.). Im<br />

weiteren Verlauf stellt Weidner dann die 12 Eckpfeiler einer konfrontativen<br />

Pädagogik als Leitfaden zum Verständnis für den Leser vor. <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik<br />

gilt für ihn als:<br />

1. Erziehungs-ultima-ratio, als „letztes Mittel“, wenn akzeptierende<br />

Interventionen nicht greifen konnten<br />

2. interventionistisch und um den Probanden werbend und ihn zur<br />

Veränderung motivierend<br />

3. Ansatz für Mehrfachauffällige, die Freundlichkeit als Schwäche<br />

werten<br />

4. direkt, konfrontativ, normativ und Grenzen ziehend<br />

5. delikt- und defizitspezifisch als Basis für eine<br />

Lebensweltorientierung<br />

6. primäre (Eigenmotivation) und sekundäre (äußerer Druck)<br />

Veränderungsmotivationen akzeptierender Ansatz<br />

7. Ansatz mit einem optimistischen Menschenbild<br />

8. polizei- und justizkooperativ<br />

9. gesellschaftskritisch<br />

10.Ansatz, der ohne Interventionserlaubnis des Betroffenen nicht<br />

konfrontativ arbeitet<br />

11.den pädagogischen Bezug und Beziehungsarbeit favorisierend<br />

12.Erziehungszielorientiert: Förderung des pro-sozialen Verhaltens,<br />

des moralischen Bewusstseins und der Handlungskompetenz.<br />

(Weidner/Kilb, 2004)


Auch bei diesen Formulierungen könnte man auf den ersten Blick der Meinung sein,<br />

dass es sich hierbei um eine Aneinanderreihung von Plattitüden handelt, bei näherer<br />

Betrachtung bieten diese „Eckpfeiler“ jedoch ein nicht zu unterschätzendes Potenzial<br />

an betrachtungswürdigen und notwendigen Haltungsveränderungen für die Soziale<br />

Arbeit insgesamt. Beim Gedanken an eine polizei- und justizkooperative Sozialarbeit,<br />

wird einer Mehrzahl der Ausführenden gelinde ausgedrückt ein „kalter Schauer über<br />

den Rücken laufen“. In den Kapiteln 2.3 und 2.4 werde ich die Aufmerksamkeit auf<br />

diese, für die <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik integralen Bestandteile eines zeit- und<br />

anforderungsgemäßen pädagogischen Selbstverständnisses noch näher eingehen.<br />

Doch nun zurück zu der von Walkenhorst formulierten Frage nach der Zielgruppe<br />

einer solchen Pädagogik.<br />

2.2 Die Zielgruppe der <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik<br />

Folgt man der Argumentation Weidners so ist die Definition der Zielgruppe relativ<br />

einfach: „Mehrfachauffällige, die Freundlichkeit als Schwäche werten“ (vgl.<br />

Weidner/Kilb/Kreft, 2004).<br />

Doch wo zieht man die Grenze? Welche Auffälligkeiten sind hier gemeint? Um<br />

diesen Sachverhalt ausreichend beantworten zu können, muss an dieser Stelle auf<br />

verschiedene Methodiken einer <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik eingegangen werden.<br />

Differenziert werden muss meines Erachtens nach zwischen den Zielgruppen für<br />

Anti-Aggressivitätstrainings und den Zielgruppen für Coolness-Trainings oder<br />

<strong>Konfrontative</strong> Schulsozialtrainings. Im weiteren Verlauf der Arbeit werde ich diese<br />

verschiedenen Methoden noch vorstellen.<br />

Für den Bereich der Anti-Aggressivitäts-Trainings rekrutieren sich die Teilnehmer fast<br />

ausnahmslos aus den Bereichen der Jugendgerichtshilfe und/oder Bewährungshilfe.


In der Mehrzahl der Fälle sind diese Teilnehmer im Rahmen einer gerichtlichen<br />

Weisung zur Haftvermeidung verpflichtet worden, an den Maßnahmen teilzunehmen.<br />

In der Fachliteratur ist die Rede von einer „Jugendkriminalitäts-<br />

Elite“(Weidner/Kilb/Jehn, 2003). Im weiteren Verlauf bezeichnen die Verfasser diese<br />

Jugendlichen nicht als „(…) Massenphänomen, aber als diejenigen, die massenhaft<br />

Ärger machen“ (ebd.). 9% dieser delinquenten Jugendlichen seien für rund 50% der<br />

erfassten Straftaten verantwortlich. Hierbei handelt es sich fast immer um männliche<br />

Jugendliche, von denen die meisten aus so genannten „broken homes“ stammten<br />

und bei denen die wiederum besonders gewalttätigen, selber Opfer kontinuierlicher<br />

Erziehungsgewalt gewesen seien (vgl. Weidner/Kilb/Kreft, 2003).<br />

Bruno Steinhauer beschreibt Jugendliche für die <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik sinnhaft<br />

erscheint noch etwas genauer als „(…) junge Menschen, mit dissozialem, offenem<br />

und/oder verdeckten destruktivem Verhalten, das unter Umständen nicht eindeutig<br />

(als gewalttätig) fassbar ist, die Rechte anderer jedoch direkt oder indirekt<br />

beeinträchtigt (z.B. manipulieren, abwerten, stören, ausnutzen der Schwächen und<br />

Unreifen anderer für eigene Zwecke, Zerstören und Beschädigen von<br />

Gegenständen, Abziehen, etc.). Es gehe nicht bzw. nur bedingt um Verhalten, das<br />

eher einmalig im Affekt geschieht, aus einer psychischen Ausnahmesituation<br />

resultiert oder im Zusammenhang mit einer allgemeinen Impulsivitäts- oder<br />

Steuerungsschwäche (z.B. als hyperkinetisches Syndrom) zu sehen ist (Steinhauer,<br />

2001). Hierbei erscheint mir der Hinweis auf ein Ausschlusskriterium im Sinne einer<br />

eher psycho-pathologisch zu verortenden erhöhten Aggressivität wichtig.<br />

Für die Gruppe von Jugendlichen auf die dieses zutrifft, erscheinen dann eher<br />

therapeutische Interventionen in ambulanter oder stationärer Form im Sinne einer<br />

Unterbringung in einer Kinder- und Jugendpsychatrie angezeigt (ebd.).<br />

<strong>Konfrontative</strong> Trainings an Schulen zielen dagegen eher auf „(…) gewaltbereite<br />

Kinder und Jugendliche, insbesondere in ihrer Rolle als Schüler“ (Walkenhorst,<br />

2003). Oder um es mit den Worten einer Schuldirektorin aus der Region Süd-<br />

Oldenburg auszudrücken, Schüler, die wiederholt durch massive Störungen des<br />

Unterrichts oder Verstöße gegen die Schulordnung auffielen und mit den<br />

Möglichkeiten des Disziplinarmaßnahmenkatalogs einer Regelschule nicht mehr<br />

ausreichend erreichbar seien.<br />

Weiterhin kann ein <strong>Konfrontative</strong>s Soziales Kompetenztraining mit Schülern auch bei<br />

Motivationsschwierigkeiten oder als Vorbereitung zum Übergang in das Berufsleben


eingesetzt werden. Die Zielgruppe erweitert sich dann um Kinder und Jugendliche<br />

„(…) mit auffälligem Sozial-, Lern- und Arbeitsverhalten (u.a. Aggression und<br />

Delinquenz, Apathie, Motivationsmangel) (Kilb/Weidner/Gall, 2006). Die Autoren<br />

führen in diesem Kontext dann weiterhin aus, dass „(…) Kinder und Jugendliche mit<br />

normabweichenden Verhalten nicht nur in der Schule versagen (Sitzenbleiben,<br />

Schuldistanz, Verfehlen eines Schulabschlusses, Verweise wegen<br />

Verhaltensauffälligkeiten), sondern auch beim Übergang in Ausbildung und Beruf<br />

(ebd.).<br />

Das interessante Moment im Sinne der Alltagstauglichkeit bei dieser Erweiterung der<br />

potenziellen Zielgruppe um die Bereiche Motivation und Vorbereitung auf das<br />

Berufsleben ist hierbei, dass sich meiner Meinung nach vor dem Hintergrund dieser<br />

konfrontativen Trainingsmethoden eine Perspektive für eine Zukunftsausrichtung<br />

deutlich abzeichnet.<br />

Auch in Zeiten von Lebenswelt- und vor allem Ressourcenorientierung in der<br />

Sozialen Arbeit, bietet sich als weitere Möglichkeit zur Bestimmung einer Klientel der<br />

Blick auf die zu erwartenden Defizite einer solchen an. Hierfür eignen sich meines<br />

Erachtens die Konzepte der Entwicklungsaufgaben der Adoleszens nach Erik H.<br />

Erikson und Robert Havighurst, um eine Prognose für entwicklungspsychologische<br />

Defizite der Klientel wagen zu können. Weiterhin gilt es danach sich der<br />

Moralentwicklung im Sinne Lawrence Kohlberg´s zuzuwenden.<br />

Aufbauend auf das Freud`sche Entwicklungsmodell postulierte Erikson ein Modell mit<br />

acht verschiedenen Entwicklungsstadien während des Lebensverlaufs, die er<br />

allesamt als altersspezifische Konflikte oder auch Krisen definierte. Nach seiner<br />

Auffassung würde ein Misslingen der Bewältigung der stadientypischen<br />

Entwicklungsaufgaben oder Krisen zu bleibenden Persönlichkeitsstörungen führen.<br />

In seinem Modell bedingt sich die Krise der Adoleszens, die als fünfte Phase in<br />

seinem Modell steht, wesentlich durch die Notwendigkeit der Bildung der Identität.<br />

Nach Erikson hat der Jugendliche Facetten eines Selbstkonzepts aufzubauen, und<br />

zwar im Hinblick auf sein Geschlecht, seine Familienherkunft, Religion, moralische<br />

Werte, Bildungs- und Berufsvorstellungen sowie auf eigene Fähigkeiten, politische<br />

Haltungen, usw. Nur wenn diese Facetten dann vom Jugendlichen in ein


konsistentes, also überdauerndes Selbstbild zusammengefügt werden können, wird<br />

sich eine persönliche Identität daraus bilden. Gelingt dieses jedoch nicht, resultiert<br />

das nach Erikson in etwas, das er als „Rollendiffusion“ bezeichnete. Diese<br />

beschriebene Rollendiffusion drückt sich dann in Unverträglichkeiten und<br />

Unausgewogenheiten zwischen Haltungen und Werten, zwischen Wünschen und<br />

Möglichkeiten, durch Instabilität von Zielsetzungen, aber nach seiner Ansicht nicht<br />

selten in einer erhöhten Auftretenswahrscheinlichkeit abweichendem Verhaltens, wie<br />

zum Beispiel Drogenbebrauch oder Delinquenz, aus (vgl. Eriksson , 1968).<br />

Das Stadium der Adoleszens mit seinen Aufgaben, Krisen, sozialen Bedingungen<br />

und möglichen psychosozialen Folgen wird an anderer Stelle in einer Skizze<br />

veranschaulicht, die ich hier auszugsweise einfügen möchte:<br />

Psychosoziale Aufgabe oder Krise soziale Bedingungen psychosoziale Folgen<br />

Phase<br />

Phase 5 Wer bin ich? Was sind Innere Festigkeit und Identität/Rollendiffusion<br />

(12 – 18) meine Überzeugungen, positive Rückmeldungen<br />

Gefühle und Einstellung-<br />

en?<br />

(Skizze 2: vgl. Bourne/Ekstrand, 2001)<br />

Das Konzept der Entwicklungsaufgaben wurde während der späten 40er Jahre des<br />

letzten Jahrhunderts von Robert Havighurst an der <strong>Universität</strong> Chicago entwickelt.<br />

Grundsätzlich vertrat Havighurst die Auffassung, dass jeder menschlichen<br />

Lebensphase gewisse Entwicklungsaufgaben zukommen, die zu bewältigen seien.<br />

Als Entwicklungsaufgaben definierte er :


� eine Aufgabe, die zumindest ungefähr zu einem bestimmten<br />

Lebensabschnitt des Individuums entsteht,<br />

� deren erfolgreiche Bewältigung zu dessen Glück und Erfolg bei der<br />

Lösung nachfolgender Aufgaben beiträgt,<br />

� während ein Misslingen zu Unglücklichsein des Individuums, zu<br />

Missbilligung seitens der Gesellschaft und zu Schwierigkeiten mit<br />

späteren Aufgaben führt.<br />

(vgl. Grob/Jaschinsky, 2003)<br />

Für das Jugendalter formulierte Havighurst seine Entwicklungsaufgaben, die vor dem<br />

Hintergrund der Tatsache betrachtet, dass sie Ende der 40er Jahre des letzten<br />

Jahrhunderts aufgestellt wurden, vielleicht an einigen Stellen etwas antiquiert wirken<br />

mögen, doch bis zum heutigen Tag einen aktuellen Bezug zu derzeitigen<br />

jugendlichen Lebenswelten aufweisen. Im Einzelnen sind dies:<br />

o neue und reifere Beziehungen zu Gleichaltrigen beider<br />

Geschlechter<br />

o Erlangen der Geschlechterrolle<br />

o Akzeptieren des eigenen Körpers und seine effektive<br />

Nutzung<br />

o Emotionale Unabhängigkeit von Eltern und anderen<br />

Erwachsenen<br />

o Zuversicht, dass ökonomische Unabhängigkeit eintreten wird<br />

o Vorbereitung beruflicher Arbeitsfähigkeit<br />

o Vorbereitung auf Heirat und Familiengründung<br />

o Entwicklung intellektueller Fertigkeiten und ziviler Kompetenz<br />

o Wünschen und Erreichen von sozial verantwortlichem<br />

Verhalten


o Erwerb eines Werte- und Ethiksystems als<br />

Verhaltensleitfaden<br />

Für die Primärklientel einer <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik ist von Defiziten in allen von<br />

Havighurst formulierten Entwicklungsaufgaben auszugehen. Die <strong>Konfrontative</strong><br />

Pädagogik mit ihren überwiegend in Form von Trainings umgesetzten Methoden<br />

,kann wohl kaum die Aufarbeitung aller Defizite, die zu erwarten sind, gewährleisten,<br />

nimmt sich aber aller Bereiche im Trainingsverlauf an. Im weiteren Verlauf der Arbeit<br />

werde ich die inhaltlichen Curricula des Anti-Aggressivitäts-Trainings und der<br />

Coolness- oder <strong>Konfrontative</strong>n Schulsozialtrainings vorstellen, die diese Aussage<br />

untermauern.<br />

Ein wesentliches Defizit bei delinquenten Jugendlichen liegt in der Moralentwicklung.<br />

Laut einer Untersuchung von Chandler und Moran haben sie noch keine alters-<br />

adäquate Reifung in diesem Sinne gemacht (vgl. Chandler/Moran, 1990; DJI, 2002).<br />

Um das besser verstehen zu können, möchte ich das Modell der Moralentwicklung<br />

nach Lawrence Kohlberg, das der Untersuchung zu Grunde lag, kurz vorstellen.<br />

Kohlberg ging davon aus, dass sich die Moralität in 6 Stufen entwickelt, wobei jede<br />

Stufe eine reifere Form des moralischen Urteilens darstellt, als die vorherigen.<br />

Kohlbergs Stadien der moralischen Entwicklung:<br />

Ebene Stadium<br />

Ebene Eins prämoralisch<br />

Stufe 1 Orientierung an Bestrafung und Gehorsam. Befolgt Regeln, um<br />

Bestrafungen zu vermeiden.<br />

Stufe 2 Naiver zweckgerichteter Hedonismus. Konform, um belohnt zu<br />

werden. Gefällig, damit man ihm einen Gefallen tut.


Ebene 2 konventionelle Rollenkonformität<br />

Stufe 3 Moralität des „guten Jungen“ und des „guten Mädchens“. Konform,<br />

um Missfallen oder Abneigung anderer zu vermeiden.<br />

Stufe 4 An der Wahrung von Recht und Ordnung orientierte Moralität.<br />

Konform, um nicht von Autoritätspersonen getadelt zu werden.<br />

Ebene 3 selbstakzeptierte moralische Grundsätze<br />

Stufe 5 Moralität orientiert am Prinzip des Gesellschaftsvertrages, an<br />

Persönlichkeitsrechten und demokratisch akzeptierten Gesetzen.<br />

Konform, um das Wohl der Allgemeinheit zu wahren.<br />

Stufe 6 An persönlichen Gewissensgrundsätzen orientierte Moralität.<br />

Konform, um Selbstverurteilung zu entgehen<br />

Skizze3: (vgl. Bourne/Ekstrand, 2001)<br />

Die Untersuchung von Chandler und Moran zur Moralentwicklung delinquenter<br />

Jugendlicher ergab, dass diese „(…) in der Regel die dritte Stufe des moralischen<br />

Urteilsvermögens noch nicht erreicht haben und zwar deswegen, weil es ihnen an<br />

der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme mangelt: Sie erkennen (auf Stufe 2) zwar,<br />

dass andere einen gleichartigen Sachverhalt (z.B. einen Verstoß gegen die<br />

Hausordnung) aus ihrer Perspektive anders beurteilen als sie selbst, aber sie können<br />

diese unterschiedlichen Perspektiven noch nicht aufeinander beziehen und<br />

abwägen. Darum sind sie in ihrem moralischen Urteil relativ starr gebunden,<br />

entweder an die Perspektive des Mächtigen und der Autorität, oder sie konzentrieren<br />

sich ganz auf die eigene Perspektive, ohne sich in den andern und dessen Motivlage<br />

hineinzuversetzen (DJI, 2002).<br />

Um die Erhöhung des moralischen Urteilsvermögens erreichen zu können, ist es<br />

notwendig die Jugendlichen mit den gesellschaftlich akzeptierten und gewünschten<br />

Vorstellungen vertraut zu machen. Dieses wird jedoch für die häufig<br />

institutionserfahrenen Jugendlichen durch eine allgemeine Entwicklung in der<br />

pädagogischen Arbeit in Deutschland erschwert, auf die ich in den nächsten Kapiteln<br />

eingehen werde.


2.3 Die vergessene „väterliche“ Seite der Erziehung<br />

Anhand der Überschrift dieses Kapitels wird deutlich, worin einer der wesentlichen<br />

Kritikpunkte der <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik an anderen Pädagogiken besteht. In<br />

seiner Streitschrift zur <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik aus dem Jahr 2004 stellt Tischner<br />

die These auf, dass die Pädagogik in Deutschland in den letzten 30 Jahren „(…) an<br />

einem zunehmenden Übergewicht der mütterlichen zuungunsten der väterlichen<br />

Seite der Erziehung krankt und die konfrontative Pädagogik dazu das notwendige<br />

Korrektiv darstellen kann“ (Tischner, 2004). Was aber meint Tischner genau, wenn er<br />

von einer Feminisierung der Pädagogik spricht?<br />

Zur Erklärung und Präzisierung verweist Tischner hierbei auf einige Klassiker der<br />

Pädagogik. So greift er zurück auf Herman Nohl`s 1933 erschienenes Buch „Die<br />

pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie“. Hierin beschreibt Nohl<br />

ein mütterliches und väterliches Prinzip der Erziehung. Als väterlich bezeichnet Nohl<br />

ein Erziehungsprinzip, das Disziplin, Pflicht und Leistung favorisiert. Weiterhin hat<br />

laut Nohl der Vater mehr die Gruppe als das Individuum im Sinn (vgl. Nohl, 1933).<br />

Weiter sagt Hermann Nohl über das väterliche Erziehungsprinzip: „Er verteidigt und<br />

führt das Kind, aber fordert auch von ihm und vertritt ihm gegenüber Ordnung und<br />

Gesetz und die Macht der Durchsetzung…. Er führt es an die herandringenden<br />

Anforderungen des öffentlichen Lebens und der objektiven Aufgaben“ (ebd.). Dem<br />

mütterlichen Erziehungsprinzip ordnet Nohl eher Merkmale zu, die die Individualität<br />

des Kindes in den Fokus des erzieherischen Handelns rücken. Nach Nohl ist sie<br />

„(…) wohl geneigt schwach zu sein, den Neigungen des Kindes zu sehr<br />

nachzugeben“ (ebd.). Grundsätzlich spricht sich Nohl weder für das eine, noch das<br />

andere Prinzip einer Erziehung des Kindes aus, sondern resümiert vielmehr von<br />

einer „(…) Grundantinomie der Pädagogik von Sein und Norm, Subjekt und Objekt,<br />

Gegenwart und Zukunft, welche sich der Urzelle der pädagogischen Gemeinschaft<br />

verteilt, auf Vater und Mutter“ (Nohl, 1933). Tendenziell hingegen favorisiert er das<br />

mütterliche Erziehungsprinzip, in dem er zum Abschluss seiner Betrachtung sagt,<br />

das die „(…) mütterliche Haltung die Grundlage aller pädagogischen Arbeit ist“<br />

(ebd.)


Vor dem Hintergrund dieser Aussage Hermann Nohls lassen sich andere Klassiker<br />

der Pädagogik aufführen, die diese prinzipiell nahezu als Antipoden agierenden<br />

Erziehungsstile betrachten. Theodor Litt greift diese Gedanken auf und führt sie<br />

weiter in seinem Buch „Führen oder wachsen lassen“ und benennt diese Diskussion<br />

im Untertitel als das „pädagogische Grundproblem“.<br />

Wie aber ist es um dieses Grundproblem am Anfang des 21. Jahrhunderts bestellt?<br />

Welches Prinzip herrscht heute vor oder haben wir eine dialektische oder integrative<br />

Theorie der Sozialen Arbeit gefunden, die diese Problematik gewissermaßen<br />

neutralisiert? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir unsere<br />

Aufmerksamkeit auf die jüngere Vergangenheit richten und uns wieder dem Stand<br />

der Diskussion heute zuwenden.<br />

In diesem Sinne möchte ich mit der These der Verschiebung der Sozialen Arbeit<br />

zuungunsten der väterlichen Seite der Erziehung von Tischner fortfahren.<br />

Nach dem Trauma des Dritten Reichs auch auf dem Feld der Pädagogik mit einer<br />

Ausrichtung auf ein überzogenes und ausschließliches väterliches Prinzip der<br />

Erziehung nach dem Motto: „Du bist nichts – dein Volk ist alles!“ (vgl. Baumgart,<br />

2001), fand sich im Deutschland der Nachkriegsjahre zunächst kein wirklich neuer<br />

Weg der Pädagogik.<br />

Folgt man den Gedanken Tischners, so bildete sich „(…) erst mit der<br />

Studentenbewegung Ende der 60er Jahre das mütterliche Prinzip der Pädagogik<br />

wieder aus, das bis zum heutigen Tage die sozialpädagogische Theorie und Praxis<br />

vor allem unter dem Etikett der Lebensweltorientierung beherrscht“ (Tischner, 2004).<br />

Hierbei wird der Lebensweltorientierung als konstituierendes Grundprinzip die<br />

Verabschiedung von der traditionellen Unterscheidung zwischen Norm und<br />

Abweichung unterstellt. Diese Auflösung kontextualisiert der Autor mit den damals<br />

vorherrschenden gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen in Deutschland. Das<br />

Infragestellen tradierter gesellschaftlicher Standards und das Aufbegehren dagegen,<br />

verursachten in der Folge in der Sozialen Arbeit , dass sich das doppelte Mandat aus<br />

Hilfe und Kontrolle immer weiter in Richtung Hilfe bewegte und sich somit immer<br />

weiter aus der Kontrolle verabschiedete (vgl. Kleve, 2003).


Sozialpsychologisch wird dieses Phänomen von Alexander Mitscherlich in seinem<br />

Buch „Auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft“ behandelt. Hierin vertritt<br />

Mitscherlich die Meinung, dass „(…)die Hierachie der Vaterrolle zerfällt, die<br />

prägenden Vorbilder verblassen. Die daraus entstehenden Konflikte erzeugen<br />

neuartige neurotische Verhaltensweisen, wie Indifferenz dem Mitmenschen<br />

gegenüber, Aggressivität, Destruktivität und Angst“ (Mitscherlich, 1973). Diesen<br />

Gedanken Mitscherlichs aufnehmend, könnte man also im Sinne Tischners<br />

schlussfolgern, dass sich die sozialpädagogische Praxis in Deutschland seit mehr als<br />

30 Jahren auf dem Weg in die „Vaterlosigkeit“ befindet.<br />

2.4 <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik in der Jugendhilfe und der<br />

Jugendrechtspflege<br />

Walkenhorst formuliert in seiner Frage eine „butterweiche Jugendhilfe“<br />

(Walkenhorst, 2004). Entspricht diese Bezeichnung nun den pädagogischen<br />

Leitlinien oder Prinzipien, trifft sie zu auf die innere Haltung der Sozialpädagogik am<br />

Anfang des 21. Jahrhunderts? Gibt es Ansätze einer <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik in der<br />

Jugendhilfe und wie wird dieses in der Fachöffentlichkeit diskutiert? Im folgenden<br />

Kapitel möchte ich versuchen, diese Fragen etwas zu klären.<br />

Wesentliche Vertreter der Jugendhilfe in der Öffentlichkeit in Deutschland sind die<br />

Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) und der Bundesverband für<br />

Erziehungshilfe (AFET). Es gibt derzeit keine offizielle Stellungnahme oder<br />

Publikation zum Thema <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik aus diesen Fachverbänden.<br />

Allerdings lassen sich aus der zum Teil recht leidenschaftlich geführten Diskussion<br />

um die richtige pädagogische Antwort auf delinquente Kinder und Jugendliche einige


Rückschlüsse auf die zu erwartende Positionierung einer solchen Veröffentlichung<br />

erahnen.<br />

Immer wieder flammt in Deutschland die Diskussion um eine geschlossene<br />

Unterbringung für strafunmündige - weil zu junge - Mehrfach- oder Intensivtäter auf.<br />

Das Für und Wider einer solchen Unterbringung zu diskutieren kann nicht Bestandteil<br />

dieser Arbeit sein, aber ich möchte die Diskussion exemplarisch nutzen, um<br />

pädagogische Grundprinzipien und Haltungen im Sinne der im letzten Kapitel<br />

angesprochenen väterlichen und mütterlichen Seite der Pädagogik zu verdeutlichen.<br />

Die Diskussion um geschlossene Unterbringung außerhalb der Justiz für Kinder und<br />

Jugendliche, die durch die im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) formulierten<br />

Angebote der Jugendhilfe nicht mehr erreichbar erscheinen, ist mindestens so alt,<br />

wie das Kinder- und Jugendhilfegesetz selber (1991). Als Reaktion auf steigende<br />

Zahlen der Kinderkriminalität entwickelte das bayerische Sozialministerium im Jahr<br />

1999 ein Konzept für eine geschlossene Clearingsstelle für „massiv-dissoziale und<br />

auffällige Kinder ab 10 Jahren“ (vgl. Bayerisches Landesjugendamt, 1999). Ziel<br />

dieser Clearingstelle war es die Kinder durch „(…) frühe und konsequente<br />

Intervention mit ihrem schädigenden Verhalten zu konfrontieren und in maximal 3<br />

Monaten gleichzeitig die Hintergründe dieses Verhaltens abzuklären, um auf dieser<br />

Basis eine tragfähige Zukunftsperspektive für das jeweilige Kind zu erarbeiten“<br />

(ebd.). Die Reaktion der IGfH auf dieses Konzept war eine Stellungnahme aus<br />

demselben Jahr in dem die Mitglieder zu einem Boykott dieser Maßnahme<br />

aufgerufen wurden und Schlagworte wie „Machtdemonstration (…) schnelles<br />

Wegsperren strafunmündiger Kinder“ (IGfH,1999) an die Stelle einer kritisch-<br />

dialektischen Auseinandersetzung traten. Es gab keinen Ansatz eines sorgfältigen<br />

Abwägens des Für und Wider eines solchen Konzeptes, sondern eine Form der<br />

Ablehnung, die zwar als fachlich verkauft wurde, aber in ihrer Heftigkeit meines<br />

Erachtens nur ideologisch zu begründen ist. Keine Beachtung in der Kritik dieses für<br />

die deutsche Jugendhilfelandschaft durchaus als repräsentativ zu verstehenden<br />

Dachverbandes, fand ein Argument, dass von Tischner prägnant formuliert wurde:<br />

„Der eminent pädagogische Gesichtspunkt, dass dem Laisser-faire, das die Kinder<br />

als Reaktion auf ihr delinquentes Verhalten in der Regel erfahren und das sie zum<br />

Begehen weiterer Straftaten geradezu ermuntert, durch ihre Aufnahme in der


Clearingstelle frühzeitig Einhalt geboten wird und die Gesellschaft mit einem klaren<br />

und aufrüttelnden Signal reagiert, um eine sich möglicherweise anbahnende<br />

kriminelle Karriere zu stoppen“ (Tischner 2004).<br />

Für die IGfH hingegen lag die Lösung für diese besonderen, in der Definition von<br />

Tillmann als persistent (vgl. Tillmann, 1993) bezeichneten Kinder und Jugendlichen<br />

darin „(…) Hilfen für mehrfachstraffällige Kinder und Jugendliche zu leisten, dass sie<br />

dies entsprechend ihrem gesetzlichen Auftrag jedoch grundsätzlich nur mit<br />

pädagogischen, nicht mit hoheitlich-repressiven Mitteln tun kann“ (IGfH, 1999).<br />

Weiterhin empfiehlt die IGfH allen Einrichtungen und Diensten kritisch zu überprüfen,<br />

„(…) inwieweit sie selbst genügend gegen Ausgrenzungsprozesse in der eigenen<br />

Institution unternehmen“ (ebd.). Dieser wohlgemeinte Ratschlag zur kritischen<br />

Selbstreflexion ist zwar generell nicht als falsch zu bezeichnen, hilft aber bei der<br />

Lösung des beschriebenen Problems nicht wirklich.<br />

Diese bis heute nahezu unverändert gebliebene Haltung gegenüber der bisweilen<br />

notwendigen Verschiebung des Mandats Sozialer Arbeit in Richtung Kontrolle ist<br />

meines Erachtens auch als Indiz dafür zu werten, dass es ein hinterfragenswürdiges<br />

Selbstverständnis in der Jugendhilfe gibt. Ganz besonders betroffen von diesem<br />

Selbstverständnis sind die Bereiche, die sich vielleicht am besten mit dem Wort<br />

„Nahtstelle“ zwischen den verschiedenen offiziellen Organen, die sich mit<br />

Jugendlichen beschäftigen, beschreiben lassen. Soll heißen, dass es immer dann<br />

droht schwierig zu werden, wenn Jugendliche sich im Grenzbereich zwischen<br />

Jugendhilfe und Justiz oder Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />

bewegen.<br />

Im Bereich der Themenstellung dieser Arbeit lohnt es sich, einen genaueren Blick in<br />

die Welt zu wagen, in der sich Kinder oder Jugendliche auf der „Nahtstelle“ zwischen<br />

Jugendhilfe und Justiz bewegen, um neue Handlungsmöglichkeiten im Sinne der<br />

<strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik im gesetzlich fixierten Rahmen des KJHG zu entwickeln.<br />

Hierfür macht es Sinn einen Praktiker zu Worte kommen zu lassen. In seiner<br />

„Streitschrift für ein endliches Umdenken in Jugendhilfe, Jugendstrafvollzug und<br />

Jugendpsychiatrie“(Wolters, 2004) fordert der Sozialpädagoge Jörg-Michael Wolters:<br />

„Gerade in der Arbeit mit dissozialen gewaltorientierten Kindern und<br />

Jugendlichen, also Tätern, sind sozialpädagogische Konzepte (und Pädagogen)


gefragt, die ebenso wohlwollend wie entscheidend und nachhaltig kritisch der<br />

Klientel gegenüber eingestellt sind und (…) diese auch mit ihren Defiziten<br />

konsequent konfrontieren, um die der Pädagogik und den Pädagogen aufgetragen<br />

Verantwortung für die `Zöglinge` wahrzunehmen“ (ebd.).<br />

Wolters führt seine Kritik dann aber auch weiter in den Bereich der deutschen<br />

Jugendrechtspflege. Hier beklagt er die Tendenz „(…) straffällig gewordenen<br />

Jugendlichen eine Auflage, Weisung und Bewährungsstrafe nach der anderen<br />

auszusprechen, wenn am Ende doch durch Akkumulation der schädlichen<br />

Erfahrungen und Folgen sowie dadurch nur bedingte Verfestigung dissozialer<br />

Einstellungen und Verhaltensweisen eine dann hoch aufgeschaukelte lange<br />

Jugendstrafe zu verhängen ist, die viel zu spät kommt und deswegen,<br />

bekanntermaßen, auch zu wenig greift“ (ebd.).<br />

Nicht umsonst nannte Wolters seine Arbeit „Streitschrift“, allerdings deckt er eine<br />

unheilvolle Tendenz auf.<br />

Die Wahrnehmung Wolters deckt sich in vielen Fällen mit der des Verfassers dieser<br />

Arbeit. Aus der mehrjährigen Erfahrung in der Arbeit mit jugendlichen und<br />

heranwachsenden Arrestanten in der Jugendarrestanstalt <strong>Vechta</strong> sind mir viele Fälle<br />

bekannt, in denen Jugendliche aus unterschiedlichen Gründen bis zu 8 (!)<br />

Arreststrafen verhängt bekamen. Solche juristischen und pädagogischen<br />

Fehlleistungen lassen für mich nur den Rückschluss zu, dass Jugendrichter in<br />

Ermangelung echter Alternativen in eine gewisse Hilflosigkeit verfallen und solche<br />

Urteile kaum mehr dem formulierten Anspruch auf Förderung des Jugendstrafrechts<br />

(JStR) oder des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) Bestand halten. Von einer<br />

abschreckenden und somit eventuell sogar kathartischen Wirkung im Sinne des JGG<br />

kann hierbei jedoch wirklich nicht mehr ausgegangen werden. Die betroffenen<br />

Jugendlichen kennen sich dann meistens mit den Regeln und Gepflogenheiten des<br />

Vollzuges nahezu genauso gut aus wie die Mitarbeiter der Häuser und werden<br />

meiner Meinung nach in gewisser Weise für eine folgende Karriere im Knast „prä-<br />

sozialisiert“.<br />

In weiten Bereichen der Jugendhilfe hingegen herrscht der Gedanke vor, dass die<br />

pädagogische Förderung von Jugendlichen nach dem KJHG mehr oder weniger an<br />

den Mauern des Jugendstrafvollzuges oder der Jugendarrestanstalten endet. Zu


diesem Punkt vertritt Tischner die Auffassung, dass „(…) die Versäumnisse schon<br />

viel früher beginnen, nämlich dort, wo die Jugendhilfe auf gehäufte und zum Teil<br />

gravierende Straftaten von Kindern mit einem hilflosen Achselzucken reagiert und<br />

darauf wartet, dass der Minderjährige das Strafmündigkeitsalter erreicht, um die<br />

Zuständigkeit dann an die Justiz abzugeben“ (Tischner, 2004).<br />

Gerade das letzte Wort des Zitats gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass<br />

funktionierende Kooperationen im Sinne einer gelingenden Sozialisation der<br />

betroffenen Jugendlichen zwischen Justiz und Jugendhilfe bis zum heutigen Tag<br />

eher die Ausnahme sind. Aus meiner vieljährigen Praxis in beiden Feldern,<br />

Jugendhilfe und Justiz, ist mir tatsächlich auch kaum ein Fall bekannt, in dem zum<br />

Beispiel Mitarbeiter der stationären Jugendhilfe die Gunst der Stunde genutzt hätten,<br />

um einen von ihnen betreuten Jugendlichen während des Verbüßens einer<br />

Arreststrafe aufzusuchen und vor dem Hintergrund eines eventuell neu entstandenen<br />

Leidensdrucks konsequente Zukunftsplanungen und/oder -verträge zu schließen.<br />

Vielmehr beließen es Mitarbeiter von Jugendhilfeeinrichtungen in fast allen Fällen<br />

dabei „Survival-Pakete“ (Tabak, Klamotten, etc.) im Pfortenbereich abzugeben und<br />

scheuten fast durchgängig sogar das Betreten dieser Einrichtungen. Manche dieser<br />

Mitarbeiter äußerten in Gesprächen dann offen, dass sie im Grunde genommen froh<br />

seien, den jeweiligen Jugendlichen aufgrund der Arreststrafe für ein paar Tage oder<br />

Wochen nicht mehr „am Kopf zu haben“. In einigen Fällen kam es dazu, dass die<br />

Abwesenheitszeit des Jugendlichen sogar von Institutionen genutzt wurde, um<br />

Betreuungsverhältnisse aufzulösen. Die Verzweiflung und Perspektivlosigkeit der<br />

betroffenen Jugendlichen war in diesen – glücklicherweise nicht allzu häufigen –<br />

Fällen immens.<br />

Auch die von Tischner beschriebene Tendenz zum „Wegschauen“ in der Jugendhilfe,<br />

deckt sich zu weiten Teilen mit den Erfahrungen des Verfassers. Natürlich bedarf es<br />

einer sorgsamen Abwägung, ob das Einschalten der Strafverfolgungsbehörden bei<br />

Verstößen von Jugendlichen pädagogisch sinnhaft erscheint. Um es mit anderen<br />

Worten auszudrücken, muss innerhalb pädagogischer Teams diskutiert werden, ob<br />

das Kiffen auf der Wohngruppe angezeigt werden soll oder nicht. Es muss in<br />

Lehrerkollegien diskutiert werden, ob der Zwischenfall in der Pause eine eher<br />

harmlose Rangelei war oder eine tatsächliche Körperverletzung.


Allerdings finden diese Diskussionen meines Erachtens ihre Grenze dort, wo klare<br />

Straftatbestände auftreten. Es kann und darf nicht sein, dass es in der Jugendhilfe –<br />

aus welcher Motivation auch immer heraus - eine Auffassung gibt, selbst bei<br />

schweren Offizialdelikten noch ausschließlich institutionsintern pädagogisch<br />

reagieren zu wollen. Rainer Kilb spricht in diesen Fällen von einer „emotionalen<br />

Komplizenschaft“ (Weidner/Kilb, 2006).<br />

<strong>Konfrontative</strong> Pädagogik versteht sich wie oben erwähnt als normativ. Das heißt,<br />

dass sie die Lebenswelt eines jeden Individuums als „abgesteckt“ betrachtet. Um das<br />

ganze zu verdeutlichen möchte ich hierzu ein Bild benutzen. Die Lebenswelt des<br />

Kindes oder des Jugendlichen gleicht in diesem Bild im Wesentlichen einem<br />

Fußballfeld. Die Außen- und Grundlinien setzen den Rahmen, in dem sich das freie<br />

Spiel entwickeln kann. Bei Verlassen des Feldes wird das Spiel unterbrochen und die<br />

Situation normativ geregelt. Natürlich gibt es auch innerhalb des Feldes gewisse<br />

Regeln, aber die Spielgestaltung liegt im Wesentlichen bei der Kreativität und den<br />

Möglichkeiten des Spielers oder des Teams.<br />

Im Sinne dieser Metapher formuliert Marian Heitger in seinem Aufsatz zum<br />

vermeintlichen Gegensatz von Mitmenschlichkeit und Sachlichkeit: „Sachlichkeit als<br />

pädagogische Aufgabe definiert sich vor allem darin, dass der Mensch lernen soll,<br />

eine Sache unabhängig von sich, seinen subjektiven Neigungen und Vorurteilen,<br />

seinen ökonomischen und politischen Interessen, zu sehen“ (Heitger, 2003). Dies<br />

bedeutet, dass der Subjektivität des Kindes oder Jugendlichen etwas Objektives<br />

entgegengesetzt wird – und zwar die Verbindlichkeit der übertretenen Norm, Grenze<br />

oder Linie, um noch einmal auf das Bild vom Fußballfeld zurück zu kommen. Dies ist<br />

im Sinne einer über-individuellen Ordnung zu verstehen, oder anders formuliert: das<br />

Recht der Sache (vgl. Tischner, 2004).<br />

Mit dem fast gleichen Terminus arbeitet auch Jonas Cohn, wenn er von der<br />

Erziehungsstufe der Autorität der Sache, welche auf jene der Autorität der Person<br />

folge und schließlich von der Stufe der Freiheit abgelöst werde, spricht (vgl. Cohn,<br />

1919).<br />

Um dieses Kapitel abzuschließen sei hier noch angefügt, dass ich der Jugendhilfe<br />

nicht etwa eine omnipräsente Normmißachtung vorwerfen will, sondern vielmehr eine<br />

ambivalente Haltung und fehlende Standards in der Arbeit mit herausfordernden, weil<br />

stark grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen.


1.1 Lebensweltorientierung – ein Dogma mit Eigendynamik<br />

Wie aber kann es zu einer solchen – zum Teil tatsächlich kontraproduktiven –<br />

Haltung kommen. Es ist doch davon auszugehen, dass Pädagogen immer nur das<br />

Beste für ihre Klienten im Sinn haben und alles tun um sozialisatorische oder<br />

entwicklungspsychologische Defizite aufzuarbeiten. Stärken sollen gestärkt werden,<br />

Ressourcen sinnvoll genutzt, Netzwerke repariert oder gar aufgebaut werden. Und<br />

tatsächlich ist auch mir kein Pädagoge bekannt, der nicht das Beste für seine<br />

Klienten wollte. Ich möchte in diesem Kapitel versuchen, einen Zugang zu dieser<br />

unseligen Entwicklung aufzuzeigen.<br />

Erziehungswissenschaftlich historisch könnte man einen Pfad der sozialen Arbeit<br />

aufzeigen, wie es Weidner und Gall tun.<br />

„Basierend auf Nohls >pädagogischem Ethosschützen, pflegen und beraten< , immer auf der Suche nach Thierschs<br />

>gelingerendem Alltag< versuchen die Professionellen der Sozialen Arbeit nicht-<br />

stigmatisierend ihre Jugendlichen ernst zu nehmen, sie auszuhalten, zu teilen, den<br />

Alltag zu strukturieren, aufzuklären und die Lebenswelt zu verbessern“<br />

(Weidner/Kilb/Jehn, 2003, S.23).<br />

Die konfrontative Pädagogik richtet sich genau an die Jugendlichen, die mit dieser<br />

Haltung und den ihr entlehnten Methodiken eben nicht erreichbar erscheinen.<br />

Wie bereits im Kapitel 1.3 dieser Arbeit kurz erwähnt, ist das übergeordnete Leitmotiv<br />

oder Dogma der Jugendhilfe, das der Lebensweltorientierung. Der Begriff der<br />

Lebensweltorientierung wird in einem Atemzug mit dem Namen Hans Thiersch<br />

genannt..<br />

Nach Thiersch verweist das „(…) Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen<br />

Arbeit auf die Notwendigkeit einer konsequenten Orientierung an den


AdressatInnen mit ihren spezifischen Selbstdeutungen und individuellen<br />

Handlungsmustern in gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen. Daraus ergeben<br />

sich sowohl Optionen als auch Schwierigkeiten. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit<br />

nutzt ihre rechtlichen, institutionellen und professionellen Ressourcen dazu,<br />

Menschen in ihrem vergesellschafteten und individualisiertem Alltag zu<br />

Selbstständigkeit, Selbsthilfe und sozialer Gerechtigkeit zu verhelfen“(Thiersch/Otto,<br />

2001).<br />

Aus diesem Auszug einer Abhandlung aus dem Jahre 2001 wird deutlich, dass<br />

Thiersch ein doch sehr konservatives oder zumindest traditionelles Klienten- und<br />

Gesellschaftsverständnis hat. Das mittlerweile gerade in der Jugendhilfe nicht selten<br />

vorzufindende Phänomen, dass die „spezifischen Selbstdeutungen und individuellen<br />

Handlungsmuster“ der Klienten durchaus schon mal reihenweise Opfer „produziert“,<br />

findet selbst 2001 noch keine Aufmerksamkeit. Der Adressat Sozialer Arbeit findet<br />

sich in dieser Interpretation als relativ passives Wesen wieder, dem es zu helfen gilt.<br />

Die <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik sieht im delinquenten Jugendlichen, als eben diesen<br />

Adressaten, eher einen „produktiven Realitätsverarbeiter“ (vgl. Hurrelmann, 1995;<br />

Weidner/Kilb/Jehn, 2003). Das heißt, dass in deutlicher Abgrenzung zur<br />

Lebensweltorientierung nach Thiersch der Klient auch produktiver Akteur ist. Er<br />

bestimmt die Beziehung zum Beispiel auch zu seinen Opfern.<br />

Ein etwas aktiveres Bild des Klienten im Sinne einer lebensweltorientierten<br />

Pädagogik wird von einem ehemaligen Leiter einer großen Jugendhilfeeinrichtung<br />

aus Norddeutschland gezeichnet:<br />

„Lebensweltorientierte Jugendhilfe hat die Sozialräume qualitativ derart<br />

mitzugestalten, dass sie tragfähige und belastbare Orte mit handelnden Subjekten<br />

sind, und in denen in Krisensituationen hilfreiche Ressourcen verfügbar sind (Thuns,<br />

2004).<br />

Auch bei dieser Definition von Lebensweltorientierung lohnt es sich etwas genauer<br />

hinzuschauen. Wie bitte soll Jugendhilfe denn die Sozialräume für die Primärklientel<br />

einer <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik mitgestalten. In der Überzeichnung würde dies<br />

bedeuten, ein sozialräumliches Konstrukt zu erschaffen, dass einen rechtsfreien<br />

Raum bilden müsste. Das jedoch kann weder Absicht, noch wirklich gemeint sein.


Allerdings wird das Dilemma hieran erstmals deutlich. Wo ist die Grenze zu ziehen<br />

zwischen Gewährung eines Freiraumes zur Modifikation einer devianten spezifischen<br />

Selbstdeutung und eines ebensolchen individuellen Handlungsmusters und der<br />

Tatsache des zu gewährleistenden Opferschutzes. Auch vor dem Hintergrund der<br />

Tatsache, dass die Jugendphase wie keine andere Lebensphase nicht zuletzt der<br />

Erprobung und des „Testens von Grenzen“ dient (vgl. Havighurst, 1972/Hurrelmann,<br />

1995), gilt es neben den individuellen Gestaltungsräumen auch die Rechte anderer<br />

zu schützen. Selbst auf die Gefahr der frühen Wiederholung behaupte ich, dass<br />

diese Grenze gar nicht von Pädagogen oder pädagogischen Institutionen zu ziehen<br />

ist, sondern im Bereich der bundesdeutschen Gesetzgebung deutlich zu lesen ist.<br />

Rainer Kilb äußert sich zu diesem Thema folgendermaßen:<br />

„Im Zuge einer Paradigmenverschiebung würde man heute den Täter eher als<br />

handelndes Subjekt definieren, als jemanden, der zwar über seine sozialisatorische<br />

Biographie auch gesellschaftlich geprägt ist, der aber als selbst handelnde<br />

Persönlichkeit über die Tat eine Beziehung zum Opfer hergestellt hat, für deren<br />

Form er selbst mitverantwortlich ist. Einem sozialarbeiterischen Vorgehen wie im<br />

ersten Fall würde man heute vorwerfen müssen, Persönlichkeiten - und das sind<br />

adoleszente Heranwachsende nahezu immer – zu infantilisieren, ihnen die<br />

Verantwortung für ihr Handeln abzusprechen, ja zu entziehen. Man hätte sich aus<br />

fachlicher Sicht gleichermaßen vorzuwerfen, das Partizipationsgebot zu verletzen.<br />

Und dem Gebot einer Verantwortungsübernahme kommt gerade im Fall von<br />

Gewaltdelikten hohe Priorität zu“ (Weidner/Kilb/Kreft, 2005).<br />

Vor dem Primat der Beziehungsgestaltung zwischen Klienten auf der einen Seite und<br />

Professionellem auf der anderen, mit der Beziehungsverantwortung fast<br />

ausschließlich beim Professionellen, im Sinne Hermann Nohls „pädagogischem<br />

Ethos“ (vgl. Nohl) bugsiert sich die Soziale Arbeit in eine gefährliche Sackgasse. Wer<br />

nicht das Risiko eingehen darf, eine Beziehung zu gefährden, wird kaum in der Lage<br />

sein, unschöne Wahrheiten konfrontativ vorzubringen. Wie aber soll die Modifikation<br />

gelingen, wenn Fehler nicht in entsprechender und gebotener Schärfe und<br />

Deutlichkeit angesprochen werden dürfen, sondern viel mehr in diffusen Deutungen


zum Beispiel mit der „Metapher des Hilferufs“ (Walkenhorst, 2004) fehl-interpretiert<br />

werden (müssen).<br />

Eine der grundlegenden Fehlannahmen hierbei ist das Voraussetzen einer meist<br />

nicht gegebenen psychischen Fragilität auf Seiten der Jugendlichen. Es wird eine<br />

beziehungsgefährdende Verletzlichkeit oder Vulnerabilität vorausgesetzt, die so das<br />

sozialpädagogische Handlungsinstrumentarium eminent einschränkt.<br />

Die <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik geht jedoch davon aus, dass „(…) auf der Grundlage<br />

einer vertrauensvollen, von Sympathie und Respekt geprägten Beziehung, die<br />

Folgen eines deviant, delinquenten Handelns beim Täter ins Kreuzfeuer der Kritik<br />

genommen werden kann“ (Weidner, 2001). Am besten belegen lässt sich diese<br />

These mit den Worten eines 17-jährigen Wiederholungstäters: „Wer einen guten<br />

Draht zu mir hat, der kann mir auch hässliche Wahrheiten sagen. Da stell ich die<br />

Ohren nicht auf Durchzug. Vielleicht verändere ich dann sogar zum Besseren.“<br />

Auch hier deckt sich dass Geschriebene mit den Erfahrungen des Verfassers. Sätze<br />

wie: “So hat ja noch nie jemand mit mir geredet“ sind im Rahmen konfrontativ<br />

geführter Sozialer Trainings in der Jugendarrestanstalt <strong>Vechta</strong> beinahe an der<br />

Tagesordnung.<br />

Ein weiteres Beispiel für diese Behauptung stellt Weidner in seinem jüngsten Buch<br />

vor, nachdem ihm ein Mitarbeiter aus der Jugendhilfe vorwarf, dass er wenn er<br />

aggressive Täter mit ihren Straftaten so hart konfrontiere, die Gefahr wecke, dass<br />

diese in ihrer Verzweiflung in die Elbe sprängen. Die betroffenen Jugendlichen<br />

antworteten, nachdem ihnen dieses Statement eröffnet wurde, mit dem Vorschlag<br />

nicht etwa selber in die Elbe zu springen, sondern vielmehr eben diesen Mitarbeiter<br />

in die Elbe zu schmeißen (vgl. Weidner/Kilb, 2006). In der Praxis begegnet man einer<br />

solchen Haltung relativ häufig. Gerade in der Arbeit mit delinquenten Kindern und<br />

Jugendlichen ist bei diesen eine Haltung feststellbar, in der Freundlichkeit und Milde<br />

als Schwäche interpretiert werden (vgl. Weidner/Kilb, 2004).<br />

Methodisch ist dieser Ansatz einer konfrontativen Gesprächsführung geprägt von der<br />

kognitionspsychologisch-orientierten konfrontativen Therapie nach Corsini sowie der<br />

provokativen Therapie nach Farrelly, auf die ich im weiteren Verlauf dieser Arbeit<br />

unter dem Kapitel drei noch näher eingehen werde. Laut Weidner ist diese Methode


esonders geeignet, um zum Beispiel deren „(…) verblüffende, humorvolle, paradox-<br />

interventionistische Alltagsarbeit gerade bei sozialarbeitsgesättigten Probanden auf<br />

Neugier und Interesse stößt, wenn unter anderem Übertreibung, Verzerrung, Spott<br />

oder Ironie zum Vorteil des Betroffenen verwandt werden, um z.B. dessen Gewalt-<br />

Rechtfertigungen in Frage zu stellen“ (Weidner, Kilb, 2004).<br />

Frank Farrely bezieht in seinem Buch „Provokative Therapie“ auch Stellung zur oben<br />

angesprochenen „psychischen Fragilität“ der Klienten, indem er feststellt, dass diese<br />

„(…) weit überschätzt wird. Die meisten Klienten und Therapeuten betrachten den<br />

Klienten als jemanden, der dem >Humpty-Dumpty< ähnelt, jenem unglückseligen Ei,<br />

das von der Mauer herunterfiel und bei der geringsten Erschütterung einen Sprung<br />

bekommen, aufbrechen und auseinander fallen wird. Der provokative Therapeut<br />

konzentriert sich absichtlich übermäßig stark und spaßhaft auf das, was bei dem<br />

Klienten nicht in Ordnung ist, um seine Stärken erneut zu bestätigen und seine<br />

persönlichen Kräfte zu aktivieren“ (Farrelly, 1994).<br />

Als Beispiel für eine solche therapeutische Haltung lässt sich hier das anführen, was<br />

unter Pädagogen als „paradoxe Intervention“ bekannt ist. Pädagogen, die bereit sind<br />

nonkonform zu reagieren, sich nicht in ein „ideologische Korsett“ zwängen lassen,<br />

nicht den moralischen Zeigefinger ermahnend erheben, erzielen häufig mit diesen<br />

paradoxen Interventionen (Begeisterung für delinquentes Verhalten, Gossensprache,<br />

etc.) durchaus Erfolge. Weitere Möglichkeiten der provokativen Reaktion können im<br />

negativen Modellernen liegen oder in der Herstellung einer Absurdität der eigenen<br />

Glaubenssätze durch Humor, Provokation und Sarkasmus oder Überzeichnung (vgl.<br />

Reisner, 2005). Aus dem Bereich der Jugendsubkulturen ist uns genau dieses<br />

Phänomen aus der Rapperszene bekannt. Das sogenannte „Dizzen“ bedeutet einen<br />

vermeintlichen Gegner verbal mit Rap-Reimen bloßzustellen, zu blamieren oder auch<br />

zu „besiegen“. Eine Verlagerung körperlich ausgeübter Gewalt in Richtung<br />

rhetorischer Wehrhaftigkeit ist dann auch folgerichtig einer der Inhalte eines<br />

<strong>Konfrontative</strong>n Trainings.<br />

Wieder einmal lässt sich zur Bestätigung dieser Aussage ein betroffener<br />

Jugendlicher mit den Worten zitieren: „Hier lernen wir andere Leute nicht mehr tot zu<br />

schlagen, sondern tot zu labern.“


Das Selbstverständnis einer <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik ist das eines<br />

Erweiterungsmoments des Haltungs- und Handlungsspektrums der Professionellen<br />

der Sozialen Arbeit vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklungen in dieser,<br />

insbesondere der der Lebensweltorientierung. Nicht das Entweder/Oder ist also<br />

gefragt, sondern das Sowohl als Auch. Allerdings bedarf es dazu liebgewonnene<br />

Traditionen kritisch hinterfragen zu lassen und sich im Sinne der demokratischen<br />

Verantwortung und Zivilcourage auch für – anscheinend – peripher Beteiligte, wie<br />

zum Beispiel Opfer von Straftaten, einzusetzen.<br />

3. Das Anti-Aggressivitäts-Training (AAT)<br />

3..1. Geschichte des Anti-Aggressivitäts-Trainings in Deutschland<br />

Das Anti-Aggressivitäts-Training wurde in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts<br />

in der Jugendvollzugsanstalt des Landes Niedersachsen von dem Psychologen<br />

Michael Heilemann und dem Sozialpädagogen Jens Weidner entwickelt. Entstanden<br />

ist es aus der therapeutischen Gruppenarbeit mit Sexualstraftätern in der<br />

Jugendvollzugsanstalt Hameln. Im Rahmen der dort erfolgreich durchgeführten<br />

„Vergewaltigertherapie“ wurde mit einem Geschlechtsrollenseminar gearbeitet.<br />

Hierbei verstanden sich die Therapeuten als orientiert an der „Arbeit mit dem Täter,<br />

aber immer im Auftrag des Opfers“ (Heilemann/Fischwasser von Proeck, 2003).<br />

Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollten zunächst probeweise in der Arbeit mit<br />

besonders gewalttätigen inhaftieren Jugendlichen und Heranwachsenden<br />

ausprobiert werden.<br />

„So wie Vergewaltiger durch die Interaktion mit rollenbewußten Frauen ihre<br />

Frauenfeindlichkeit und ihr eigenes männliches Rollenkonzept relativieren konnten,<br />

soll es den Schlägern erlaubt sein, zusammen mit friedfertigen Menschen aus ihrer<br />

Gemeinde, den Trainern, ihre Stärkenorm, ihre Männlichkeitsklischees, zu<br />

überprüfen und friedensfähig zu werden“ (ebd.).


Also entwickelten die beiden mit der Durchführung einer solchen Maßnahme<br />

betrauten Mitarbeiter 1986 das Ur-konzept für ein Anti-Aggressivitäts-Training in<br />

Deutschland. Besonderer Schwerpunkt der Maßnahme sollte auf der gründlichen<br />

Aufarbeitung des Ausgangsdelikts unter Einbeziehung der aktuellen<br />

Verhaltensdaten des Teilnehmers mit einer konfrontativen Methodik liegen. Zum<br />

Erlernen einer konfrontativen Methodik wurden die beiden Durchführenden für ein<br />

halbes Jahr zu Sam Ferrainola in die Glen Mills Schools in die USA geschickt. Hier<br />

sei erwähnt, dass, „(…) die Glen Mills Schools keine Anti-Aggressivitäts-Trainings<br />

durchführt, nicht deliktspezifisch arbeitet und auch keinen „Heißen Stuhl“ praktiziert,<br />

sondern täglich mit dem sozialen Gruppentraining der >Guided Group Interaction><br />

in dem Alltagskonflikte der Jugendlichen verbal, statt mit Aggressivität, bearbeitet<br />

werden. Der engagierte, leidenschaftliche und konfrontative Erziehungsstil der Glen<br />

Mills Schools sollte allerdings prägend für die Arbeit im Anti-Aggressivitäts-Training<br />

sein“ (Weidner/Kilb, 2005)<br />

In diesem Geiste fand ab 1987 die erste Trainingsmaßnahme in Hameln statt.<br />

Dieses erste Anti-Aggressivitäts-Training in Hameln erstreckte sich hier über einen<br />

Zeitraum von 8 Monaten und die Sitzungen wurden einmal wöchentlich an einem<br />

festgelegten Tag mit bis zu 4 Stunden Dauer abgehalten. Die Teilnehmer rekrutierten<br />

sich aus den ca. 100 wegen Gewaltdelikten inhaftierten Jugendlichen und<br />

Heranwachsenden. Die Teilnehmer mussten sich um einen Platz im Training<br />

bewerben, also eigenmotiviert sein. Insgesamt bewarben sich 50 potenzielle<br />

Kandidaten für das Training, von denen 8 ausgewählt wurden.<br />

Bei dieser Auswahl wurde neben den formalen Voraussetzungen, wie einer<br />

verbleibenden Reststrafe von 8 Monaten und ausreichenden Deutschkenntnissen auf<br />

fünf weitere Merkmale wert gelegt:<br />

� das Vorliegen einer eindeutigen Gewaltkarriere (keine Einmaltäter<br />

– es musste eine eindeutige Deliktdichte erkennbar sein,<br />

� ein hohes Maß an Experimentierfähigkeit,


� Aufgeschlossenheit für unkonventionelle, knastuntypische<br />

Trainingsinhalte (z.B. Anti-Blamierspiele Entspannungsübungen,<br />

etc.),<br />

� eine statushohe Position innerhalb der gesamten Insassenschaft,<br />

um für die Ausweitung des >Friedensgedankens< unter den<br />

Häftlingen als Multiplikator zu dienen,<br />

� ein relativ hoher Intelligenzquotient, weil es sich um eine<br />

intellektuell anspruchsvolle Maßnahme handelt.<br />

(vgl. Heilemann/Fischwasser von Proeck, 2003)<br />

Das Training sollte sich konsequent täterorientiert ausrichten. Im Fokus der<br />

Aufmerksamkeit sollten nach dem Willen des damaligen Anstaltsleiters die delikt-<br />

und defizitspezifischen Handlungsmaßnahmen stehen. Hiermit sollte versucht<br />

werden eine „(…)Friedenserziehung durch Veränderung der zentralen,<br />

identitätsstützenden Persönlichkeitsannahmen des Täters“ (Heilemann/Fischwasser<br />

von Proeck, 2003) zu erreichen..<br />

Nach einem durchaus erfolgreichen Abschluss dieser ersten Maßnahmen wurde das<br />

Programm in einem ersten Modifikationsschritt dann bis zum Jahr 1995 zentral um<br />

einen sport-therapeutischen Ansatz aufgebaut (vgl. Wolters/Heilemann/Fischwasser<br />

von Proeck, 2001).<br />

Dieser Ansatz wiederum wurde 1995 von einem aufeinander aufbauenden<br />

mehrphasigem Training abgelöst, dass in seinen Grundzügen bis heute die<br />

strukturellen Maßgaben für Anti-Aggressivitäts-Trainings darstellt. Inhaltlich werden<br />

die vier Trainingsphasen durch ein Curriculum zur Aggressivität ausgefüllt, das im<br />

Folgenden differenziert dargestellt wird:<br />

Faktoren<br />

Aggressivitätsauslöser<br />

Lerninhalte<br />

Was sind provozierende<br />

Situationen?<br />

Lernziele<br />

Das Infragestellen<br />

zwingender


(Bandura 1979) Wann ist für den<br />

Selbstbild zwischen Ideal-<br />

und Realselbst<br />

(Joffe/Sandler 1997)<br />

Neutralisierungstechniken<br />

(Sykes/Matza 1979)<br />

Opferkommunikation<br />

(Rössner 1986)<br />

Aggressivität als Vorteil<br />

(Bandura 1979)<br />

Provokationstests unter<br />

aktuellem Bezug<br />

(Farrelly/Matthews 1983)<br />

Subkultur<br />

(Polsky 1977)<br />

Teilnehmer Gewalt<br />

zwingend notwendig?<br />

Das Ideal des<br />

Teilnehmers ist hart,<br />

unbeugsam, „cool“ und<br />

gnadenlos. Das reale<br />

Selbst dagegen leicht<br />

kränkbar und als Versager<br />

abgestempelt.<br />

Die Auseinandersetzung<br />

mit der real begangenen<br />

Tat. Die Analyse<br />

vorgeschobener<br />

Rechtfertigungen von<br />

Gewalt.<br />

Die Ängste,<br />

Behinderungen,<br />

Schmerzen, Trauer von<br />

Gewaltopfern<br />

Das Opfer als „Tankstelle“<br />

des Selbstbewusstseins.<br />

Anerkennung und<br />

Respekt durch<br />

(eingeschüchterte)<br />

Freunde<br />

Das Aufstellen einer<br />

Provokationshierarchie.<br />

Welche Rolle wird<br />

verlangt?<br />

Infragestellung der<br />

Notwendigkeit.<br />

Widerlegung der<br />

Hypothese der<br />

Teilnehmer: Härte macht<br />

unangreifbar (Kelly 1995).<br />

Dissonanzausgleich durch<br />

veränderte<br />

Rollenerwartung.<br />

Das Wecken von Schul-<br />

und Schamgefühl,<br />

Übernahme der<br />

Verantwortung für die<br />

Taten, die Veränderung<br />

des Selbstbildes.<br />

Opferempathie,<br />

Mitgefühl statt<br />

Verharmlosung.<br />

Kosten-Nutzen-Analyse:<br />

Jede weitere<br />

Körperverletzung führt zu<br />

einer erneuten<br />

Verurteilung.<br />

Trotz Provokation<br />

gelassen bleiben.<br />

Analyse von<br />

Gruppenstrukturen.<br />

Steigerung der


Normen und Werte der<br />

Peers.<br />

Skizze 4: (Weidner/Kilb/Kreft, 2003)<br />

Antizipationsfähigkeit bei<br />

Gruppenzwängen<br />

Erreicht werden sollen diese Arbeitsinhalte durch Einzelinterviews, Analyse der<br />

Aggressivitätsauslöser und Gewaltrechtfertigungen, Tatkonfrontationen und<br />

Provokationstests unter anderem auf dem „Heißen Stuhl“, Opferbriefe, Filme und<br />

Aufsätze zur „Einmassierung“ (vgl. Redl, 1987) des Opferleids, Distanzierungsbrief<br />

an die gewaltverherrlichende Clique, etc. (vgl. Kilb/Weidner/Gall, 2006)<br />

3.2. Das mehrphasige Anti-Aggressivitäts-Training<br />

Seit 1995 wird in der Jugendanstalt Hameln ein vier-phasiges Anti-Aggressivitäts-<br />

Training betrieben, das zwar immer wieder modifiziert und verändert wurde, aber den<br />

Rahmen für ähnliche Maßnahmen auch im Bereich der sekundär-präventiven Arbeit<br />

bietet. Hierbei ist absolut zu beachten, dass jede Phase in der vorgeschriebenen<br />

Reihenfolge vom Teilnehmer durchlaufen werden muss, um erfolgreich abschließen<br />

zu können.


Im Einzelnen sind diese Phasen:<br />

� die biographische Analyse oder Deskriptionsphase<br />

� Die Konfrontationsphase (Heißer Stuhl)<br />

� Attraktivitätstraining oder soziale Kompetenzphase<br />

� Realisationsphase<br />

Im Folgenden möchte ich diese Phasen etwas genauer vorstellen und die Inhalte der<br />

jeweiligen Phasen verdeutlichen.<br />

3.2.1<br />

Die biographische Analyse oder Diskreptionsphase<br />

In der ersten Phase gilt es zunächst eine Beziehung zu den Teilnehmern<br />

aufzubauen, die zwar von Respekt geprägt sein soll, aber auch deutlich machen<br />

muss, dass die Teilnehmer mit ihren bisherigen Strategien zur Lebensbewältigung<br />

nicht erfolgreich sein werden. Ziel dieses von den Trainern anders definierten<br />

Beziehungsaufbaus, ist es vor dem Hintergrund einer vertrauensgeprägten, neuen<br />

und authentischen Beziehung vom Teilnehmer eine Interventionserlaubnis auch<br />

und gerade für die zu bestehenden Konfrontationen zu erhalten. Hierfür ist es<br />

unbedingt notwendig sich nicht davon beeindrucken zu lassen, dass die Teilnehmer<br />

im Allgemeinen zwar „(…) körpersprachlich imposant bis einschüchternd auftreten,<br />

aber außer einem fulminanten Beleidigungsrepertoire wenig<br />

Konfliktbewältigungsstrategien zu bieten haben. Es ist offensichtlich, dass dieses<br />

unterleibsorientierte Trash-Niveau nicht ausreicht, den Erfordernissen einer<br />

Kommunikations- und Dienstleistungsgesellschaft gerecht zu werden“<br />

(Weidner/Kilb/Jehn, 2003).


Gerade in den Anfangssitzungen ist es von eminenter Wichtigkeit den Teilnehmern<br />

unter Einsatz von provokativ-rethorischen, aber auch körpersprachlichen Elementen<br />

zu verdeutlichen, dass ihre individuellen Verhaltensmuster durchschaut und<br />

keinesfalls akzeptiert werden und der Trainerstab sich darin sozusagen auskennt.<br />

Gerade in dieser ersten Trainingsphase ist der Einsatz von Tutoren, also zum<br />

Beispiel Ex-Gewalttätern, von Bedeutung, unter anderem auch um eine quantitative<br />

Trainer-Teilnehmer-Parität herzustellen.<br />

Ist dieser erste Arbeitsschritt erreicht, geht es an die biographische Analyse. Mit<br />

Methoden, wie dem „Life-Space-Interview“ (vgl. Redl, 1987), der chinesischen<br />

Wandzeitung oder der Lebenslinie aus der Gestalttherapie (vgl, Perls 1969/<br />

Hellinger, 1993), sollen wesentliche biographische Ereignisse visualisiert und<br />

individuelle Einstiege in eine Gewaltkarriere nachvollziehbar werden.<br />

Hierbei geht es darum „(…) eine biographisch, deliktbezogene Anamnese jedes<br />

einzelnen Teilnehmers zu erstellen (Heilemann/Fischwasser von Proeck, 2003).<br />

Jeder Teilnehmer wird in einer bis zu vierstündigen Sitzung zu seinem Leben<br />

interviewt und die Ergebnisse werden, nachdem sie mit der vorhandenen Aktenlage<br />

abgeglichen werden, in Form einer Wandzeitung oder eben einer Lebenslinie<br />

visualisiert. Ein Ausweichen oder Neutralisieren der eigenen Taten wird nicht<br />

zugelassen. In ihrem Buch „Gewalt wandeln“ schreiben Heilemann und Fischwasser<br />

von Proeck dazu:<br />

„Die gesamte Gruppe, also die zehn bis zwölf TrainerInnen, die Tutoren und die<br />

übrigen sieben Täter, befragen die Hauptperson zu ihrem bisherigen Leben –<br />

Grenzen und Tabus gibt es dabei nicht. Die Antworten und die Beschreibungen<br />

werden auf der chinesischen Wandzeitung – für alle sichtbar – niedergeschrieben.<br />

Bei der Anamnese geht es in erster Linie um die Beschreibung der früher erlebten<br />

Kränkungen, Demütigungen und Verletzungen. Es geht um die Fragestellung,<br />

„wann hat die Gewalt dich geheiratet und wann hast du die Gewalt geheiratet?“. Ein<br />

weiterer Schwerpunkt ist die Fokussierung der Vater-Sohn-Beziehung. Die<br />

Bezugspersonen und damit die Zentralpersonen seines bisherigen Lebens werden<br />

damit für alle sinnlich nachvollziehbar und teilweise in Rollenspielen spürbar<br />

dargestellt. Auf die Frage nach dem „schlimmsten Opfer, das ich hinterlassen habe“,<br />

muss geantwortet werden. In dieser Phase soll erreicht werden, dass der Täter sein


isheriges Leben gläsern und nachvollziehbar für alle, insbesondere aber für sich<br />

selber darstellt. Er soll für sein eigenes Schicksal sensibilisiert werden. Durch<br />

Kränkungen und Demütigungen entstandene emotionale Sperren sollen erkannt und<br />

nach Möglichkeit aufgelöst werden. Seine Bedürfnisartikulation hinsichtlich sozialer<br />

Ansprüche soll verbessert werden. Die erstellte Wandzeitung begleitet den<br />

Teilnehmer bis zum Ende des Trainings – bei Bedarf kann sie wieder aufgehängt<br />

werden. Sie ist gleichzeitig eine Art Lastenbuch, das in den nächsten sechs<br />

Monaten abgearbeitet werden muss.“<br />

(Heilemann/Fischwasser von Proeck, 2003)<br />

Das Maß an Emotionalisierung, das bereits zu diesem Recht frühen Zeitpunkt einer<br />

Trainingsmaßnahme auftritt, ist durchaus beeindruckend. Vor dem Hintergrund der<br />

individuellen Leidenserfahrungen der Teilnehmer, verdichtet sich während dieser<br />

biographischen Sitzungen die Atmosphäre in den Gruppen spürbar und<br />

„Gänsehautmomente“ sind garantiert. Hier möchte ich ein Beispiel aus der Praxis<br />

einfügen, dass aus einem AAT in Ulm stammt und in dem das Vorstellen der<br />

Lebenslinie eine solche Intensität an Gefühlsnähe auslöste, dass der Jugendliche<br />

von seinen Emotionen überwältigt wurde und in Tränen ausbrach.<br />

„Ich habe nur eine einzige Erinnerung. Ich saß irgendwie vor dem Fernseher mit<br />

meinem Vater und meinen Geschwistern. Da haben wir Bud Spencer und Terence<br />

Hill angeschaut. Und ich habe so einen kleinen Hamster gehabt und den habe ich<br />

rumkrabbeln lassen und der ist in meine Hose und hat ein Loch rein gefressen. Und<br />

das hat mein Vater gesehen und hat den Hamster genommen und gegen die Wand<br />

geworfen und mich hat er in das Zimmer reingeschickt. Ich weiß noch, dass ich halt<br />

volle Kanne geflennt hab. Dann ist irgendwie meine große Schwester gekommen,<br />

hat mich gepackt und dann bin ich wieder rüber und dann haben wir halt weiter<br />

geguckt.“. An dieser Stelle wird Tobias von den Tränen überwältigt und kann nicht<br />

mehr weiter sprechen. Schmerzhafte Erinnerungen an seine Kindheit kommen<br />

hoch. Später erzählt er uns noch, dass das geliebte Haustier den ganzen Abend am<br />

Boden liegen bleiben musste, bevor es der Vater in den Müll warf.“<br />

(Morath/Rau/Reck, 2004)


Solche und auch noch deutlich “härtere” biographische Opfererfahrungen dienen<br />

neben der Sensibilisierung für das eigene Schicksal, dem Aufzeigen individueller,<br />

intra-personeller Gewaltkarriereneinstiege, nicht zuletzt auch der Relativierung<br />

eigener Demütigungen, Kränkungen und Opfererfahrungen im Vergleich zu den<br />

Erfahrungen andere Teilnehmer. Beispiele wie das von Tobias lösen bei allen<br />

Teilnehmern zumeist große Betroffenheit aus. Gleichzeitig wirken sie auf die<br />

Kohärenz der Gruppe. Gemeinsamkeiten werden entdeckt und biographisch<br />

prägende Ereignisse werden verglichen. Im Allgemeinen sind diese Sitzungen von<br />

konstituierender Bedeutung für ein Wir-Gefühl in der Gruppe.<br />

Ab diesem Zeitpunkt verliert das Moment der „Sekundär-Motivation“ (vgl. Weidner,<br />

Kilb/Kreft, 2005) in Trainingsmaßnahmen außerhalb des Strafvollzuges - zum<br />

Beispiel zur Haftvermeidung durch Urteile, Weisungen oder Bewährungsauflagen -<br />

deutlich an Gewicht. Die Teilnehmer beginnen erfahrungsgemäß spätestens ab jetzt<br />

ein großes Maß an Eigenmotivation zu entwickeln. Oder um es mit den Worten<br />

eines Teilnehmers des ersten Anti-Aggressivitäts-Trainings in <strong>Vechta</strong> auszudrücken:<br />

„Das ist ja ernst hier!“<br />

Neben der beschriebenen „chinesischen Wandzeitung“ bietet sich die Methode der<br />

„Lebenslinie“ zur Visualisierung individuell-biographischer Daten, Darstellungen,<br />

Deutungen und Bewertungen an. Hierbei handelt es sich um ein semi-projektives<br />

Verfahren zur Visualisierung aus dem Bereich der Gestalttherapie nach Perls (vgl.<br />

Perls, 1969). Im therapeutischen Moment der praktischen Ausführung orientiert sich<br />

diese Methode an der der Familienaufstellung nach Bert Hellinger (vgl.<br />

Hellinger,1993) sowie Anteilen aus dem Psychodrama von Jakob Moreno (vgl.<br />

Moreno, 1946).<br />

Zunächst füllen die Teilnehmer für sich allein ein Formblatt aus, das in seiner<br />

Schlichtheit keine hohen intellektuellen Anforderungen stellt und so für jeden<br />

Teilnehmer zu bewältigen ist. Auf diesem Formblatt werden in ein als „Lebenslinie“<br />

bezeichnetes Koordinatensystem die Ereignisse, die vom Probanden subjektiv als<br />

wichtig eingestuft werden, mit einer Wertung von +3 bis -3 eingetragen. Die Trainer<br />

achten darauf, dass auch individuelle Gewalterfahrungen als Opfer und Täter hierbei<br />

einfließen. Erreicht werden soll hiermit, dass die Teilnehmer „(…) eine Wertung des


jeweiligen Ereignisses aus der Rückschau vornehmen und diese Ereignisse<br />

gedanklich ordnen sollen “ (Morath,/Rau/Reck, 2004).<br />

Hierbei werden positive Ereignisse mit Plus bewertet und entsprechend Negativ-<br />

Erlebnisse mit Minus. Diese Bewertungen erlauben den begleitenden Trainern auch<br />

erste Erkenntnisse auf die Selbstwahrnehmung der Jugendlichen, ihre moralischen<br />

Kategorien und ihre Tatneutralisationen (ebd). Diese Erkenntnisse sind für die<br />

weitere Arbeit von erheblicher Wichtigkeit. Zur Verdeutlichung der Schlichtheit<br />

dieses Dokumentes, die in krassem Gegensatz zu seiner Bedeutung zur<br />

Emotionalisierung, Sensibilisierung und Gruppenkohärenz steht, ist dieses Formblatt<br />

hier als Skizze beigefügt:<br />

Lebenslinie von : _____________________


Skizze 5: Formblatt „Lebenslinie“ (Vgl. Morath, Reck, Rau, 2004)<br />

Auf der X-Achse finden sich hier die Bewertungen von +3 bis -3; auf der Y-Achse<br />

findet sich das Lebensalter, dass nach hinten offen gelassen wird, um somit einen<br />

Ausblick in die Zukunft zulassen zu können.<br />

Nachdem die Teilnehmer dieses Formblatt ausgefüllt haben, geht es im zweiten<br />

Arbeitschritt dazu, die dokumentierten Ereignisse darzustellen. Ein Trainer moderiert<br />

diesen Teil der Sitzung, alle anderen Anwesenden (Trainer, Tutoren und<br />

Teilnehmer) stellen sich zur Verfügung, Personen darzustellen, die in<br />

Zusammenhang mit den Ereignissen stehen, wie Eltern, Geschwister, Freunde,<br />

Mittäter oder auch Opfer. Die Teilnehmer werden nun dazu aufgefordert, den zu den<br />

Ereignissen zugeordneten Personen eine Geste und eine kurze Aussage<br />

zuzuordnen und sie entsprechend der Zeitleiste auf der Lebenslinie entlang einer<br />

gekennzeichneten Linie im Trainingsraum aufzustellen. Im letzten Schritt<br />

durchschreitet der Teilnehmer, dessen Lebenslinie aufgestellt wurde, die Aufstellung<br />

und wird von den Darstellern mit den Aussagen und Gesten konfrontiert. Dieses<br />

Durchschreiten wirkt noch einmal sensibilisierend und emotionalisierend auf die<br />

Teilnehmer. In Anlehnung an Moreno`s Psychodrama wird durch die Trainer immer<br />

wieder das Wechseln der Rollen (Teilnehmer tauscht den Platz mit der von ihm


aufgestellten Person) initiiert, um dadurch Rollenwechsel zu trainieren und die<br />

Rollenambiguität (vgl. Goffman, 1972) zu erhöhen.<br />

3.2.3 Die Konfrontationsphase (Heißer Stuhl)<br />

Im Duden wird das Wort „Konfrontation“ als „Gegenüberstellung von einander<br />

widersprechenden Meinungen, Sachverhalten oder Personengruppen“ (Duden,<br />

1997) dargestellt. Weiter wird dort ausgeführt, Konfrontation sei „(…) jemanden<br />

jemandem anderen gegenüberstellen, besonders um etwas aufzuklären …<br />

jemanden in eine Situation bringen, die ihn zur Auseinandersetzung mit etwas<br />

Unangenehmen zwingt“ (ebd.). Psychologisch betrachtet bedeutet Konfrontation<br />

„(…) Gegenüberstellung, bzw. Auseinandersetzungsverhalten, die bzw. das sich<br />

Widerspruch, in Frage stellen oder ähnliches vollzieht und im Patienten eine Affekt-<br />

und Denkdynamik anregt, die es ermöglicht einstellungsartig fixierte<br />

Fehlüberzeugungen gegen den Widerstand zu korrigieren und neue Einsichten zu<br />

entwickeln“ (Clauss, 1981).<br />

Im Mittelpunkt jeden öffentlichen Interesses am Anti-Aggressivitäts-Training steht die<br />

Konfrontationsphase mit ihrem berühmt-berüchtigten „Heißen Stuhl“. Der „Heiße<br />

Stuhl“ im Anti-Aggressivitäts-Training orientiert sich an Fritz Perls „Hot Seat“(vgl.<br />

Perls, 1969) sowie an Jakob Morenos „leerem Stuhl“ und seiner „Behind the Back-<br />

Technik“ (vgl. Moreno, 1946), auf die ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch<br />

näher eingehen werde. Beim „Heißen Stuhl“ (Perls) findet ein verbaler<br />

Schlagabtausch mit klar ausgehandelten Grenzen im Sinne der Konfrontation<br />

(Corsini) und Provokation (Farrelly) statt. Erzielt werden soll mit dieser unfairen und<br />

harten Provokation und Konfrontation ein „schlagartiger, radikaler, schneller<br />

Erkenntnisgewinn“(Walkenhorst, 2005) auf dem „Heißen Stuhl“.<br />

Schon Moreno sprach 1946 vom Begriff des „leeren Stuhls“ mit dessen Hilfe der<br />

Klient einen Konflikt im Rollenspiel darstellt. Der imaginäre Widersacher sitzt dabei<br />

auf dem „leeren Stuhl“.


In der Gestalttherapie von Fritz Perls sollte auf dem dann so bezeichneten „Heißen<br />

Stuhl“ die Person Platz nehmen, die an ihrer Psyche arbeiten will (vgl. Perls, 1969).<br />

Weidner reicherte diese Technik dann um das Moment der Provokation und<br />

Konfrontation im Rahmen eines „komprimierten Verhaltenstrainings“ (Walkenhorst,<br />

2005) an.<br />

„Die Wirkungen dieser Provokationen werden insofern als erwünscht paradox<br />

beschrieben, als sich die Patienten durch diese Form des Umgangs auf die Dauer<br />

mehr akzeptiert fühlen, als durch eine stets rücksichtvoll-sensible<br />

Behandlungsweise“ (Farrelly,1994).<br />

In der <strong>Konfrontative</strong>n Therapie kommt es zur „Konfrontation zwischen den<br />

Vorstellungen der Person und der Wirklichkeit“ (Walkenhorst, 2005). Grundsätzlich<br />

wird hierbei davon ausgegangen, dass „(…) die dadurch erzeugte kognitive<br />

Dissonanz das eingeschliffene Denkmuster erschüttert mit der Folge einer<br />

Umstrukturierung des Denkens sowie einer Änderung des Verhaltens“ (Festinger,<br />

1978). Ziel des „Heißen Stuhls“ in diesem Sinne ist es hier nicht mehr eine sachliche<br />

und ruhige Rückmeldung zu geben, sondern vielmehr den Probanden zu attackieren<br />

und ihn somit zum Nachdenken zu zwingen.<br />

Eine weitere Methode des „Heißen Stuhls“ ist die oben erwähnte „Behind the Back“<br />

oder Hinter dem Rücken-Technik nach Moreno. Hierbei schildert der Täter seine Tat<br />

und seine Tatrechtfertigungen zunächst der Gruppe. Danach verlässt er symbolisch<br />

den Raum, dass heißt in der Realität, dass er sich in einer Ecke des Raums mit dem<br />

Rücken zur Gruppe aufstellt. Die Gruppenmitglieder diskutieren nun „hinter seinem<br />

Rücken“ das Gehörte. Der zu Konfrontierende darf nicht aktiv in diese Diskussion<br />

eingreifen. Er muss also die bisweilen gewünscht „harten“ Statements der übrigen<br />

Gruppenmitglieder über sein Verhalten passiv ertragen. Im Anschluss wird das<br />

Gesagte mit dem Teilnehmer reflektiert.<br />

Reiner Kilb bezeichnet das Einverständnis des zu Konfrontierenden im Falle der<br />

Konfrontation als curricularem Modul eines Trainings als dringend erforderlich. Für<br />

die Notwendigkeit eines solchen Einverständnisses sprechen für Kilb folgende<br />

Aspekte:


� Die nachhaltige Wirkung einer inszenieren Konfrontation – z.B. in der<br />

tribunalartigen Form eines Heißen Stuhls – ist nur dann zu erzielen,<br />

wenn die Teilnehmer vor Maßnahmenbeginn von dieser überzeugt<br />

werden konnten.<br />

� Da die konfrontative Phase eines Trainings in der Regel von einem<br />

Mitarbeiterteam (das sich häufig auch aus ehemaligen Gewalttätern<br />

und anderen externen Personen zusammensetzt) gestaltet wird, geht<br />

es auch darum, Datenschutzbedingungen einzuhalten. Es kann dabei<br />

auch um persönliche, manchmal sogar auch um strafrechtrelevante<br />

Informationen gehen, die im Rahmen des pädagogischen Settings<br />

bleiben, bzw. dort geregelt werden müssen. Insofern gilt es, darüber<br />

formale Vereinbarungen zwischen allen Mitwirkenden im Interesse des<br />

zu konfrontierenden Akteurs zu treffen (Vertrag).<br />

� Im Konfrontationsprozess selbst kommt es zwischen den Beteiligten<br />

gegebenenfalls zu grenzgängigen Kommunikations- und<br />

Aktionsformen, die zwar in einem adäquaten Verhältnis zur vom<br />

Konfrontierten begangenen Tat oder der Regelverletzung stehen<br />

müssen, die aber zunächst institutionskulturell nicht unbedingt üblich<br />

sind.<br />

� Bei einer Konfrontation innerhalb einer Jugendhilfemaßnahme oder<br />

eines Jugendhilfeangebotes sind natürlich die gesetzlichen<br />

Regelungen selbst einzuhalten. Zunächst liegt das Erziehungsrecht bei<br />

den Eltern/Sorgeberechtigten und somit haben auch von der<br />

Jugendhilfe übernommene erzieherische Tätigkeiten in Abstimmung<br />

mit ihnen und den Jugendlichen zu erfolgen. Ein Beteiligungsrecht in<br />

der Mitgestaltung pädagogischer Leistungen der Jugendhilfe ist dabei<br />

für die Kinder und Jugendlichen in §8 SGB VIII verbindlich<br />

festgeschrieben.<br />

(Kilb/Weidner, 2006)<br />

Der Notwendigkeit zur vertraglichen Absicherung einer konfrontativen<br />

Trainingsmaßnahme mit dem besonderen Fokus auf die von Kilb angesprochenen<br />

Punkte ist unbedingt zuzustimmen.


Widersprechen muss ich als Verfasser dieser Arbeit zum Thema allerdings an dem<br />

Punkt, an dem sich Kilb zu strafrechtsrelevanten Informationen äußert. Diese dürfen<br />

meines Erachtens im Sinne einer klaren und geraden Grenzziehung auf normativer<br />

Basis (und das sind Paradigmen einer konfrontativen Pädagogik) eben nicht im<br />

Rahmen des pädagogischen Settings bleiben. In diesem Fall würde sich auch ein<br />

konfrontativ arbeitendes Team in den Bereich der „emotionalen Komplizenschaft“<br />

(Gall, 2006) begeben.<br />

Angebrachter - weil vom Stil her sauberer - erscheint mir bei dieser Problemlage mit<br />

einer durchaus realistischen Auftretenswahrscheinlichkeit, die Regelung,die im<br />

Bereich der Sozialen Trainings für den Niedersächsischen Strafvollzug für die Trainer<br />

verbindlich festgeschrieben wurde (vgl. Otto, 1974). Die Verschwiegenheitspflicht<br />

(und damit auch die Verpflichtung zum Datenschutz) der Trainer endet dort, wo<br />

Informationen über geplante oder noch nicht juristisch aufgearbeitete Straftaten<br />

auftreten.<br />

Im Sinne einer authentischen Beziehungsgestaltung zu den Klienten sind diese über<br />

diese Datenschutz- und Verschwiegenheitsgrenze im Vorfeld einer solchen<br />

Maßnahme unbedingt zu informieren. Besser noch fließt diese Information in den<br />

Trainingsvertrag mit ein. Als Beispiel für eine solchen Handhabung füge ich an<br />

dieser Stelle einen Trainingsvertrag ein, der die Grundlage für das 2005 in <strong>Vechta</strong><br />

erfolgreich durchgeführte Anti-Aggressivitäts-Training bildete.<br />

Schulverbund Freistatt Anti-Aggressivitäts-Training® Formblatt 1<br />

Trainingsvertrag zur Teilnahme am<br />

Anti-Aggressivitäts-Training (AAT)®<br />

Teilnehmer (Name, Vorname):_________________________________________<br />

Anschrift:________________________________________________________<br />

Geburtsdatum:__________________ Telefon:___________________________<br />

Name des Bewährungshelfers / Jugendgerichtshelfers:______________________


1.Hiermit verpflichte ich mich, zu allen Terminen (Formblatt 2) des AAT pünktlich zu<br />

erscheinen. Wenn ich nicht an allen Terminen teilnehme, gilt das Training als nicht bestanden.<br />

Ein ärztliches Attest wird als Entschuldigung akzeptiert.<br />

2.Mir ist klar, dass der „Heiße Stuhl“ fester Bestandteil des AAT ist. Ich bin damit<br />

einverstanden, dass ich auf dem „heißen Stuhl“ sehr hart, unfair und unfreundlich behandelt<br />

werde. Ziel dieser harten Konfrontation ist, dass ich in Zukunft keine Gewalttaten mehr<br />

begehe.<br />

3.Ich bin damit einverstanden, dass die Trainer alle Urteile, Vernehmungsprotokolle und<br />

Unterlagen einsehen, die im Zusammenhang mit meinen Gewalttaten stehen.<br />

4.Ich bin damit einverstanden, dass die Trainer Kontakt mit meinen Bezugspersonen (Eltern,<br />

Lehrer, Freundin, Opfer, etc) aufnehmen. Diese Informationen werden nur für das AAT<br />

verwendet.<br />

5.Die Teilnahmebestätigung oder die Mitteilung über das Ausscheiden aus dem Training<br />

werden dem Gericht / der Jugendgerichtshilfe mitgeteilt.<br />

6.Alles was im AAT besprochen wird, wird vertraulich behandelt. Dies gilt für<br />

Teilnehmer und Trainer gleichermaßen. Sprechen über sich ist erlaubt und erwünscht –<br />

Sprechen über andere ist verboten.<br />

7.Ich akzeptiere alle Regeln (Formblatt 3). Ein Verstoß gegen diese Regeln kann zum<br />

Ausschluss vom Training und damit zu einem Bewährungswiderruf führen.<br />

8.Die Verschwiegenheitspflicht der Trainer endet dort, wo Informationen über geplante<br />

oder noch nicht juristisch aufgearbeitete Straftaten bekannt werden. (StGB, §138)<br />

Datum, Unterschrift Jugendlicher:_______________________________<br />

�--------------------------------------------------------------------------------------------<br />

Bestätigung der Erziehungsberechtigten<br />

Ich bin damit einverstanden, dass mein Sohn ________________________________________ am<br />

AAT teilnimmt. Auch ich akzeptiere die vertraglichen Vereinbarungen sowie die Regeln des Trainings.<br />

Ich werde dafür sorgen, dass mein Sohn regelmäßig und pünktlich am Training teilnimmt.<br />

Datum, Unterschrift:________________________________________________<br />

Skizze 6: (Trainingsvertrag, AAT <strong>Vechta</strong>, Schumacher/Hoenig, 2005)<br />

Da für dieses „Highlight“ einer Trainingsmaßnahme die Freiwilligkeit des zu<br />

Konfrontierenden unabdingbar erforderlich ist, gibt es für ihn die Möglichkeit, den<br />

„Heißen Stuhl“ zu jedem Zeitpunkt abbrechen zu können. Das erfolgreiche Bestehen<br />

dieser Sitzung ist zwar integraler Bestandteil des erfolgreichen Bestehens eines Anti-<br />

Aggressivitäts-Trainings, jedoch soll dadurch gewährleistet werden, dass bei aller


Grenzwertigkeit der Kommunikation und personellen Interaktion mit der<br />

entsprechenden Dynamik in diesen Sitzungen, es nicht darum geht den Probanden<br />

„fertig zu machen“. Die Sitzungen auf dem „Heißen Stuhl“ sind von großer zeitlicher<br />

Flexibilität gekennzeichnet. In der Regel dauern sie jedoch mehrere Stunden. Ziel<br />

dieser für alle Beteiligten sowohl psychisch als auch physisch sehr fordernden<br />

Sitzungen ist neben den oben bereits genannten Zielen auch die Emotionalisierung<br />

des Täters für die Opfer.<br />

Der Ablauf des „Heißen Stuhls“ folgt rein formal folgendem Schema:<br />

1. Einführendes Interview<br />

2. Vorbereitung der Gruppe<br />

3. Labilisierungsphase<br />

4. Tataufarbeitung, Rechtfertigung und Opfersicht<br />

5. Beendigung , Lob, Rückmeldung, Bewertung, Statement des Konfrontierten<br />

Um den Ablauf zu verdeutlichen werde ich im Folgenden auf diese einzelnen Schritte<br />

eingehen. Dabei werde ich mich an der Vorstellung eines solchen Ablaufs von<br />

Morath, Rau und Reck orientieren.<br />

Das einführende Interview wird im Sinne der „Behind the Back-Technik“ mit dem<br />

Rücken zur Gruppe von einem der Trainer mit dem zu konfrontierendem Teilnehmer<br />

geführt. Es knüpft in einigen Punkten an die Erstgespräche und die Erkenntnisse aus<br />

der Biografiearbeit an. Der Teilnehmer wird zu seinen Stärken und Schwächen<br />

befragt und soll sein „miese Tat“ (vgl. Weidner, 1993) schildern. Die Haltung des<br />

Interviewers ist zu diesem Zeitpunkt noch relativ empathisch, es werden aber schon<br />

in diesem Interview erste konfrontative Spitzen durch gezieltes, hartnäckiges<br />

Nachfragen oder ironische Anmerkungen gesetzt. Sollte es sinnhaft erscheinen<br />

,dringt der Interviewer auch schon während des Interviews in die körperliche<br />

Intimzone des Interviewten ein, um ihn dadurch unter Stress zu setzen. Ziel dieses<br />

provokativen Interviews ist es, dass sich der Teilnehmer in Widersprüche zu früheren


Aussagen verstrickt, die in späteren Phasen der Sitzung gegen ihn verwandt werden<br />

können. Weiterhin soll durch diese Form der Gesprächsführung eine Verunsicherung<br />

initiiert werden, die in der Labilisierungsphase noch verstärkt wird. Der Kandidat wird<br />

dann zum Abschluss des Interviews aus dem Raum geschickt, nicht ohne ihn durch<br />

eine letzte Frage noch weiter zu verunsichern, die sehr subtil und diffus formuliert<br />

wird, etwa im Sinne von: „Na, dann überleg Dir mal schön, wann Du uns eben hier<br />

belogen hast?“<br />

Nachdem der Teilnehmer den Raum verlassen hat, beginnt die Vorbereitung der<br />

Gruppe. Wesentlich hierbei ist es den anderen Teilnehmern klar zu machen, dass<br />

die Chance zur Veränderung für ihren Mitteilnehmer nur darin besteht, ihn extrem<br />

hart zu konfrontieren. Falsche Rücksichtnahme oder gar Bestätigung<br />

neutralisierender Tatrechtfertigungen werden kategorisch untersagt.<br />

Fehlverhaltensweisen in der Gruppe, Widersprüche des zu Konfrontierenden,<br />

tatsächliche Tatabläufe aus den Urteilen werden den Gruppenmitgliedern durch den<br />

Trainerstab eröffnet. Die Stimmung wird in gewisser Weise gegen den sich<br />

außerhalb des Raumes befindlichen Teilnehmer aufgeheizt. Im weiteren Verlauf<br />

werden Sitzordnung und bestimmte Rollen verteilt. In der Regel wird in der Mitte des<br />

Raumes ein leerer Stuhl aufgestellt, der dem Hauptakteur vorbehalten bleibt. Dieser<br />

freie Platz wird von den anderen Teilnehmern (Trainer, Tutoren, Teilnehmer) eng mit<br />

ihren Stühlen eingekreist. Für den zu Konfrontierenden wird auf diese Art und Weise<br />

eine hochwirksame, weil unangenehme, räumliche Enge hergestellt. Er kann durch<br />

diese Aufstellung während der Konfrontation aus allen Richtungen angesprochen<br />

oder aber auch berührt werden. (Aktuell ist durch das Institut für <strong>Konfrontative</strong><br />

Pädagogik, Hamburg, eine Non-Touch-Directive vor dem Hintergrund einer<br />

Tätlichkeit während eines Heißen-Stuhls, herausgegeben worden. Allerdings ist<br />

diese Angelegenheit weitestgehend bereinigt, sodass auch niedrigschwellige,<br />

körperliche Interventionen wieder in das Repertoire aufgenommen werden können)<br />

Es wird dann festgelegt, wer wo sitzt und wer welche Rolle übernimmt. Aufgaben<br />

werden verteilt, wie zum Beispiel: Kontrolle und Ansprache körperlicher Reaktionen<br />

wie Erröten, Schweißausbrüchen, nervösen Handlungen etc. Ein weiterer Teilnehmer<br />

wird aufgefordert, permanent auf die Sitzhaltung des Konfrontierten zu achten und<br />

„pingelig“ zu korrigieren. Einem dritten Teilnehmer kann aufgetragen werden, darauf<br />

zu achten, dass der Konfrontierte die vorab geklärten rhetorischen Spielregeln


(respektvolles Antworten, keine Gegenfragen, keine Erhöhung der Lautstärke etc.)<br />

einhält und bei Abweichungen sofort regulierend einzugreifen. Ein weiterer<br />

Teilnehmer kann den Konfrontierten durch die oben angesprochenen<br />

niedrigschwelligen, körperlichen Berührungen, wie zum Beispiel dem Fahren mit der<br />

Hand durch die – falls vorhandene – Frisur zu verunsichern. Im letzten Schritt<br />

werden inhaltliche Teams gebildet, die sich Fragen zu den vermuteten Ursachen der<br />

individuellen Gewaltaffinität und den Rechtfertigungsstrategien (Familie, Alkohol,<br />

Peers, etc.) überlegen. Als letzter Schritt der Vorbereitung wird die Eröffnung<br />

festgelegt. Wer beginnt mit den Fragen oder wird der Teilnehmer einfach nur<br />

schweigend empfangen.<br />

(vgl. Morath/Rau/Reck, 2004)<br />

Der Teilnehmer wird nach dieser Vorbereitung aufgefordert herein zu kommen und<br />

sich zu setzen. Damit beginnt die Labilisierungsphase. Während dieser Phase gilt<br />

es das „(…) falsche Lebenskonzept des Jugendlichen zu erschüttern, Positionen<br />

aufzuweichen und Zweifel an der eigene Weltsicht zu wecken“ (Morath, Rau,Reck,<br />

2004). Für die Trainer gilt es in dieser hochdynamischen Sequenz des Trainings die<br />

„opferproduzierenden Fähigkeiten der Teilnehmer mit positivem Ziel“(ebd.)<br />

einzusetzen und zu steuern. Hierbei ist die Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass<br />

die Aktionen der Jugendlichen und der Tutoren im Rahmen des Erträglichen bleiben.<br />

Eckart Osborg spricht in seinem Aufsatz zur konfrontativen Arbeit mit<br />

rechtsradikalen Jugendlichen von einer „subversiven Verunsicherungspädagogik“<br />

(Osborg, 2005). Um die Jugendlichen in ihrem Weltbild zu verunsichern – und darum<br />

geht es hier – empfiehlt Osborg während einer Konfrontation auf dem „Heißen Stuhl“:<br />

� Permanenten Ebenenwechsel praktizieren: Von der Sachebene zur<br />

Beziehungsebene springen und umgekehrt.<br />

� Je nach Situation eventuell auch mit Ironisierung arbeiten, um mit<br />

beiden Ebenen in der Diskussion zu spielen, ob nämlich gemeint ist,<br />

was gesagt wurde, oder ob gemeint wurde, wie es gesagt wurde. Die


Jugendlichen sollen in diesen Augenblicken nicht wissen, woran sie<br />

sind.<br />

� Paradoxe Interventionen verwenden, keine erwarteten Antworten<br />

geben.<br />

� Argumentative Schlagfertigkeit durch genaue Kenntnisse auf der<br />

Sachebene erwerben oder ausbilden.<br />

� Sich von einem moralischen Tabubruch (z.B.: „Es ist doch richtig, dass<br />

die Juden umgebracht wurden.“) nicht schocken lassen oder sich<br />

empört abwenden, sondern nüchtern darauf hinweisen, dass in keinem<br />

zivilisierten Land Mord erlaubt ist.<br />

� Die von den Jugendlichen vorgebrachten Argumente in allen<br />

Konsequenzen ausmalen.<br />

(Osborg, 2005)<br />

In diesem Sinne wird der Teilnehmer zur Eröffnung mit einer Frage konfrontiert, die<br />

eine hohe Wahrscheinlichkeit in sich birgt, dass er sich in Widersprüche verwickelt.<br />

Diese Frage ergibt sich aus der Recherche der biografischen Erkenntnisse in<br />

Abgleich mit der Aktenlage und den Erkenntnissen aus dem Interview. Der<br />

Teilnehmer soll unter Stress gesetzt werden und weich und empfänglich für das<br />

eigentliche Ziel des „Heißen Stuhls“ werden. Dieses Öffnen des Kandidaten für den<br />

nächsten Schritt gelingt umso schneller, umso aktiver sich die anderen<br />

Trainingsteilnehmer und die Tutoren einbringen.<br />

Im weiteren Verlauf der Sitzung werden die Punkte Tataufarbeitung, Tateinsicht<br />

und Rechtfertigungen aufgearbeitet. Morath, Reck und Rau führen an, dass es<br />

hilfreich sei „(…) die Täter ihre Schläge und Tritte vorführen zu lassen, um erlebbar<br />

zu machen, mit welcher Gewalt sie vorgegangen sind und was wohl an Emotionen<br />

hinter diesen Schlägen gesteckt haben muss. Sie erfahren dann auch das ehrliche<br />

Entsetzen der Erwachsenen im Kreis, wenn die Dimension der Gewalt und die


Gefühlskälte deutlich erkennbar werden, die die Tat begleitet hat. Unverständnis bis<br />

Betroffenheit sind die Reaktionen der Täter auf die so erfahrene Distanzierung“<br />

(Morath/Rau/Reck, 2004, S.172).<br />

Der Kölner Journalist Peter Schran hat im Jahr 2005 in seinem Film „Das<br />

Mörderprojekt“ eine solche Tataufarbeitung bei einem zu lebenslanger Haft<br />

verurteilten Totschläger in exemplarischer Form dargestellt. Die Sensibilisierung und<br />

Emotionalisierung des Täters für die Tat, das beginnende Verständnis für die<br />

tatbejahenden, individuellen-intrapsychischen, kognitiven und emotionalen Muster<br />

wird in dieser Sequenz geradezu greifbar. Diese Momente sind in der Regel von<br />

höchster Emotionalität – bis hin zum Zusammenbruch – geprägt.<br />

Aus den eigenen Erfahrungen des Verfassers lässt sich noch ein weiteres Beispiel<br />

anfügen, dass dies verdeutlicht. Ein Jugendlicher der mit seiner Tat konfrontiert<br />

wurde – er hatte seinem Opfer von hinten mit Anlauf ein 0,5L Bierglas über den Kopf<br />

geschlagen und das Opfer dabei schwerst verletzt – war in der Tataufarbeitung nicht<br />

in der Lage, diesen Schlag noch einmal gegen eine Wassermelone durchzuführen.<br />

An diesem Punkt der Sitzung angekommen, wird es Zeit die Aufmerksamkeit den<br />

Tatrechtfertigungen und Neutralisationen zuzuwenden. Spätestens zu diesem<br />

Zeitpunkt ist die Stunde der Tutoren gekommen. Wir erinnern uns, dass als Tutoren<br />

bevorzugt Ex-Gewalttäter und ehemalige Trainingsteilnehmer einbezogen werden,<br />

die nach weislich den „Pfad der Gewalt verlassen und sich für den Weg der<br />

Friedfertigkeit“ (vgl. Weidner, 2005) entschieden haben. Zum Teil sind diese Tutoren<br />

dann selber im Rahmen ihrer eigenen Bewährungsauflagen verpflichtet, im Zuge<br />

solcher Maßnahmen tätig zu werden. Nebenbei sei hier angefügt, dass dies<br />

bedeutet, dass sich das Kontrollmandat der Trainer dann auch auf diese Tutoren<br />

erweitert und diese sich, im Sinne eines „life-span-development“, immer wieder mit<br />

ihrer eigenen Gewaltkarriere auseinandersetzen müssen. Zum Zwecke der<br />

Aufdeckung von Rechtfertigungs- und Neutralisationsstrategien der Jugendlichen<br />

leisten die Tutoren wertvolle Hilfe.<br />

„Diese haben in ihrer aktiven Zeit als Schläger meist genau dieselben Ausreden<br />

gebraucht, um ihre Gewalttätigkeit zu rechtfertigen. Sie erkennen so


Rechtfertigungen sofort, lassen sie nicht gelten und bringen den Jugendlichen rasch<br />

dazu, davon abzulassen (…) Tutoren werden von den Jugendlichen als Spezialisten<br />

für Gewalt, aber auch als Fachmänner für den Weg aus der Gewalt hin zur<br />

Friedfertigkeit anerkannt. Sie sprechen die Sprache der Gewalttäter und kennen<br />

deren Strategien und Rechtfertigungen. Bereits während der Tataufarbeitung<br />

zerlegen sie Beschönigungen, widersprechen den Ausreden – Entschuldigungen<br />

haben bei ihnen keine Chance. Augenmaß für die notwendige Härte sind ihnen<br />

eigen, mit der in der jeweiligen Situation mit dem Kandidaten umgegangen werden<br />

kann und muss. Sie sind maßgeblich am Prozess der Verhaltensänderung beteiligt<br />

und in ihrer Wirksamkeit als Entlastung für die Trainer nicht zu unterschätzen“<br />

(Morath/Rau/Reck, 2004).<br />

Hat der Jugendliche auch diese Sequenz des „Heißen Stuhls“ erfolgreich bestanden,<br />

ist es an der Zeit an seiner Opferemphatie zu arbeiten.<br />

Laut Weidner sind jugendliche Gewalttäter „Weltmeister im Neutralisieren und<br />

Relativieren ihre Straftaten“ (vgl. Weidner, 2001). Dazu ist es notwendig, dass die<br />

Täter es um jeden Preis vermeiden, sich mit den Opfern und den Folgen ihrer Taten<br />

für die Opfer auseinanderzusetzen. Eine der dazu anwendbaren Techniken ist zum<br />

Beispiel, das schon angesprochen „Life-Space-Interview“ nach Fritz Redl. Der<br />

Jugendliche wird erneut dazu aufgefordert, seine Tat nachzustellen. Er spielt zunächst<br />

sich selber und sucht sich aus dem Teilnehmerkreis weitere Personen aus, die andere<br />

Tatbeteiligte (Mittäter, Opfer, Zeugen, etc.) darstellen. Das Rollenspiel wird bis zum<br />

entscheidenden Moment – nämlich dem körperlichen Angriff – in diesen Rollen<br />

weitergespielt. Dann jedoch weist einer der Trainer den Jugendlichen an, die Rolle<br />

des Opfers zu spielen. Der Jugendliche soll damit so weitgehend wie möglich in die<br />

Opferperspektive gebracht werden.<br />

Ein weiteres äußerst wirksames Instrument zur Realisierung einer Opferperspektive<br />

ist es, das Opfer selber zu Wort kommen zu lassen. Natürlich ist es im Sinne des<br />

Opferschutzes und zur Vermeidung unkontrollierbar dynamischer Situationen nicht<br />

möglich, das Gewaltopfer selber zum „Heißen Stuhl“ einzuladen. Jedoch ist<br />

erfahrungsgemäß die „virtuelle Anwesenheit“ des Opfers ausreichend, um den Zweck<br />

zu erreichen. Über das Einspielen eines Opferinterviews ist dessen Perspektive


ausreichend realistisch darstellbar. Neben rein audiophilen Abspielgeräten bieten sich<br />

für dieses Interview bei entsprechender Anonymisierung Camcorder an.<br />

Unter der absoluten Voraussetzung der freiwilligen Mitarbeit des Opfers – auch im<br />

Sinne der Vermeidung einer Re-Traumatisierung – wird dieses Interview von einem<br />

der Trainer vor der Konfrontation mit dem Opfer geführt. Der Interviewstil ist hierbei,<br />

im Gegensatz zum Täterinterview, aus Gründen der Authentizität weitestgehend<br />

narrativ zu gestalten. Das Opfer soll die Tat möglichst detailgetreu mit eigenen Worten<br />

beschreiben. Im weiteren Verlauf soll das Opfer die physischen, psychischen und<br />

sozialen Folgen der Tat schildern. Die Konfrontation des Täters mit einem solchen<br />

Interview im Verlauf eines „Heißen Stuhls“ bleibt auf keinen Fall ohne Wirkung.<br />

Zu beachten ist die Tatsache, dass die Jugendlichen, wenn sie an diesem Punkt<br />

angekommen sind, schon erhebliche Belastungen hinter sich haben und ausreichend<br />

sensibilisiert und labilisiert sind, um sich auch für diese im Alltag um jeden Preis<br />

vermiedene Perspektive zu öffnen.<br />

„Häufig treten bei Jugendlichen, die zugleich Täter und Opfer waren, bipolare<br />

Sichtweisen auf. Sie müssen die besondere Leistung erbringen, gleichsam für sich<br />

und ihr Opfer Empfindungen nachzuspüren. Die erlebten Verletzungen gilt es<br />

auszuhalten, analog dazu das Erleben von Emotionen, welche eine Gewalttat in der<br />

Rolle als Täter begleiten, zu beachten. Entlastung bietet die Identifikation mit dem<br />

Opfer, eine Abkehr von Gewalt als Folge einer Auseinandersetzung und induzierter<br />

Empathiefähigkeit folgt. Diese Differenzierung braucht Zeit und benötigt zumeist die<br />

Nacharbeit auf einem zweiten >Heißen Stuhl


dieser hochintensiven Behandlung, eine Pause, die zu diesem Zeitpunkt auch<br />

gewährt werden kann. Diese Pause verbringt der konfrontierte Jugendliche mit einem<br />

Trainer noch abseits der anderen Teilnehmer, um die Reflexion und das Feedback in<br />

einem gleichermaßen ritualisierten und durchstrukturierten Setting zu erhalten und<br />

nicht informell. Während dieser Pause wird im Trainingsraum die ursprüngliche<br />

Sitzverteilung in Form eines Stuhlkreises wieder hergestellt, um dadurch auch formal<br />

den Jugendlichen wieder in die Gruppe zu integrieren, und der Raum wird – meistens<br />

notwendigerweise – gelüftet.<br />

Die folgende Abschlusssequenz dient dann dazu, das Erlebte gemeinsam zu<br />

reflektieren, Rückmeldungen zu geben und sich einen ersten Eindruck von der<br />

Wirksamkeit des „Heißen Stuhls“ zu verschaffen. Der Abschluss ist, wie die ganze<br />

Sitzung davor, in seinem Ablauf festgelegt. Vor dem Teilnehmer, nunmehr wieder in<br />

den Kreis der Gruppe integriert, wird ein leerer Stuhl aufgestellt. Jeder andere, der<br />

ihm eine wie auch immer geartete Rückmeldung auf das Durchstandene geben will,<br />

setzt sich vor ihn und tut dies. In Anlehnung an Moreno`s „Behind the Back“, könnte<br />

man diese Form der Rückmeldung als „in the face“ bezeichnen. Der Konfrontierte<br />

darf diese Rückmeldungen nicht unmittelbar kommentieren, sondern hat sie- zur<br />

Passivität verurteilt - einfach nur hinzunehmen. Es gibt keinen Zwang zum<br />

Feedback, es erfolgt auf absolut freiwilliger Basis. Die Qualität dieser Feedbacks<br />

durch die Teilnehmer ist jedoch erfahrungsgemäß für Unausgebildete erstaunlich<br />

hoch und decken sich häufig mit der Wahrnehmung der Trainer.<br />

In einem weiteren Schritt reflektiert nun der Konfrontierte das Geschehene und gibt<br />

seinerseits eine Rückmeldung, sowohl zur gesamten Sitzung als auch zu einzelnen<br />

Momenten und Inhalten, die ihn besonders berührt haben oder eben auch nicht<br />

sowie zu den einzelnen Personen. Aus dem Gesamtkatalog dieser Feedbacks, die<br />

grob dokumentiert werden, lassen sich Rückschlüsse auf die Wirksamkeit des<br />

„Heißen Stuhls“ ziehen, sie liefern aber auch Erkenntnisse über die anderen<br />

beteiligten Jugendlichen.<br />

Zum Schluss wird die Sitzung mit einem Applaus für den konfrontierten Teilnehmer<br />

beendet.


3.2.4 Die Attraktivitäts- oder Soziale Kompetenzphase<br />

Mit dem zunächst etwas abwegig erscheinenden Begriff der Attraktivität weisen<br />

Heilemann und Fischwasser von Proeck in ihrem Hamelner Konzept auf die bereits<br />

erwähnte Diskrepanz zwischen Ideal-Ich und Real-Ich bei Gewalttätern hin. Der<br />

Täter soll in dieser Phase lernen sich „(…) wirklich attraktiv, wirklich überlegen zu<br />

erleben, er soll auf die sich entwickelnden Begabungsreserven stolz sein können, er<br />

soll die Möglichkeit haben, Fremdlob von seiner sozialen Umwelt durch nochmalige<br />

Verstärkung der auf die eigene Person gerichteten Anstrengungsbereitschaft<br />

(Willenskraft) abrufen zu können, er soll in der Lage sein, sich selbst zu loben und<br />

realistische Rückmeldungen über Kompetenzfortschritte abzurufen“.<br />

(Heilemann/Fischwasser von Proeck, 2003)<br />

Zum besseren Verständnis ist hier ebenfalls zu betrachten, wie die <strong>Konfrontative</strong><br />

Pädagogik den Begriff der „Sozialen Kompetenz“ definiert. Wie schon in Kapitel 1.5<br />

dieser Arbeit beschrieben, begreift die <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik den Täter im Sinne<br />

Hurrelmann´s als „produktiven Realitätsverarbeiter, der Sozialisationsprozessen<br />

unterliegt“. Weiter führt Hurrelmann hier aus: „Sozialisation bezeichnet den Prozess<br />

der Entstehung und Entwicklung von Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit<br />

von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und dinglich materiellen Umwelt“<br />

(Hurrelmann,1995)). Im Weiteren führt der Autor aus, dass es das Ziel eines jeden<br />

Sozialisationsprozesses sei, das ein handlungsfähiges Subjekt durch den Aufbau<br />

eines reflektierten Selbstbildes entstehe. Hierzu sei es notwendig dass, „(…) die<br />

Kompetenz zum Handeln und insbesondere auch zum interaktiven und<br />

kommunikativen Handeln Voraussetzung dafür ist, dass sich ein Mensch mit den<br />

Erfordernissen und Anforderungen der Umwelt arrangiert und dabei die eigenen<br />

Motive, Bedürfnisse und Interessen berücksichtigen und einbringen kann“<br />

(Hurrelmann,1995).<br />

Genau hier liegen bei den beschriebenen Jugendlichen erhebliche Defizite. Gerade<br />

im kommunikativen und interaktiven Handeln haben sie ein spürbar eingeschränktes


Repertoire zur Verfügung, dass durch körperliche und verbale „Drohkulissen“<br />

kompensiert und überspielt wird. Gepaart wir dieses durch eine in nachgewiesener<br />

Weise signifikant vom Mittelwert abweichende (feindliche) Wahrnehmung der<br />

Umwelt, der aggressive Absichten unterstellt werden, wie die Studie zu den „Stufen<br />

des alltäglichen Handlungsablaufs“(vgl. Crick/Dodge, 1994) bei delinquenten<br />

Jugendlichen im Jahr 2006 ergab. Aus dieser psycho-sozial defizitären<br />

Gemengelage ergibt sich dann nach Erachten des Verfassers dieser Arbeit<br />

geradezu zwangsläufig eine erhöhte Gewaltaffinität.<br />

Doch zunächst einmal zurück zum Thema der Handlungskompetenz.<br />

Nach Habermas sind die zentralen Kategorien dieser<br />

Handlungskompetenz Empathie, Frustrationstoleranz, Ambiguitäts-<br />

/Ambivalenztoleranz und Rollendistanz (vgl. Habermas 1973). Laut<br />

Weidner ergibt sich „(…) bezogen auf Mehrfachtäter hier ein<br />

ernüchterndes Bild: Empathie in Bezug auf die Folgen von Delinquenz<br />

für die Opfer (…) ist nur marginal ausgeprägt. Die Frustrationstoleranz<br />

scheint bei Mehrfachtätern, die biografisch-analytisch meist auch<br />

mehrfach frustriert wurden, nahezu aufgebraucht. Der<br />

Ambivalenztheorie und ihren mehrdeutigen Rollenerwartungen werden<br />

Mehrfachauffällige kaum gerecht. (…) Auch die Rollendistanz, also die<br />

Fähigkeit auf Abstand zur eigenen Rolle zu gehen ist bei<br />

Mehrfachauffälligen förderungswürdig. Goffmans humorvolle<br />

Erkenntnis zu den zum Beispiel martialisch-aggressiven<br />

Selbstdarstellungen des Alltags wird von den Betroffenen nicht geteilt,<br />

die mit großem Ernst in ihrer, auch delinquenten Rolle, verhaftet sind.<br />

Die >positionsbejahende< Rollendistanz scheint mangelhaft<br />

ausgeprägt“ (Weidner/Kilb/Jehn, 2001)<br />

Erreicht werden soll die Förderung dieser Handlungskompetenzen in der<br />

Attraktivitätsphase nach dem Hamelner Modell des Anti-Aggressivitäts-Training von<br />

Heilemann und Fischwasser von Proeck durch insgesamt sechs bis acht<br />

Trainingseinheiten.


„Jede Trainingseinheit ist eine in sich geschlossene Maßnahme, die einmalig ist und<br />

auch nicht wieder aufgegriffen wird. Da zu den einzelnen Trainingssitzungen jeweils<br />

ExpertInnen aus der Gemeinde eingeladen sind, kann der Täter aus<br />

mittelschichtsorientierten Maßnahmen lernen und hat danach für sich die<br />

Möglichkeit zu entscheiden, ob er bestimmte Angebote vertiefen möchte oder nicht.<br />

Er lernt Inhalte kennen, mit denen er sich noch nie beschäftigt hat, und macht so die<br />

Erfahrung, dass er durch Training, durch den eigenen Schweiß, durch Anstrengung<br />

und Willenskraft neue Bereiche kennen lernen und trainieren kann. Er lernt, stolz auf<br />

sich zu sein, indem er völlig neue Dinge erlernt“.<br />

(Heilemann/Fischwasser von Proeck, 2003)<br />

Erreicht werden soll dieses mit verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten der<br />

Sitzungen. Anfangs wird an den kommunikativen Kompetenzen im Sinne eines<br />

Rhetoriktrainings gearbeitet. Die Teilnehmer werden verpflichtet, eine Rede zu<br />

einem vorher ausgehandelten Thema zu halten, deren Struktur festgelegt ist und<br />

sich wie folgt zu gliedern hat:<br />

- Begrüßung des Publikums<br />

- Titel der Rede<br />

- Behauptung (Ich behaupte, dass…)<br />

- Ein Gegenargument<br />

- Grund eins (für meine Behauptung)<br />

- Grund zwei (für meine Behauptung)<br />

- Grund drei (für meine Behauptung)<br />

- Schlussfolgerung<br />

- Verabschiedung<br />

Bei Bedarf – und dieser ist fast durchgängig gegeben – werden die Teilnehmer bei<br />

der Vorbereitung unterstützt. Die Rede soll ca. 5 – 10 Minuten dauern und möglichst<br />

frei gehalten werden. Diese Herausforderung stellt die Teilnehmer nach den<br />

Erfahrungen des Verfassers vor große Probleme. Die dazu notwendigen<br />

rhetorischen und intellektuellen Fähigkeiten sind zumeist unzureichend ausgebildet


und den Teilnehmern ist die Nervosität und Anspannung in der Regel deutlich<br />

anzusehen. Zur Steigerung dieser Anspannung wird der Teilnehmer während der<br />

Rede gefilmt und im Anschluss an die Rede wird sie analysiert. Hierbei wird neben<br />

der inhaltlichen Geschlossenheit, der Einhaltung der vorgegebenen Struktur und der<br />

rhetorischen Qualität, vor allem auch die Körpersprache des Redners Gegenstand<br />

der Analyse.<br />

Heilemann und Fischwasser von Proeck vertreten die Auffassung, dass die<br />

Teilnehmer mit der Rede „(…) den Welt der >sprachlos-hilflosen Stolperei< verlässt<br />

und lernt, dass es außer Schubsen, Schlagen, Rumbrüllen, und Flüchten auch<br />

erklärende und aufdeckende Verhaltensmöglichkeiten gibt, die sich letztlich<br />

auszahlen. Mit seinem neuen Kommunikationsverhalten erreicht er einen<br />

Bewegungsspielraum, der dem eines mittelschichtsorientierten und –sozialisierten<br />

Menschen schon sehr ähnlich ist. Und ihm wird vermittelt, dass er nur durch<br />

lebenslanges Üben diese neu gewonnenen Funktionen aufrechterhalten und<br />

erweitern kann“ (Heilemann/Fischwasser von Proeck, 2003).<br />

Diese Aussage erscheint tendenziell zu optimistisch, da vor allem die<br />

Maßnahmeteilnehmer mit Migrationshintergrund aus der ehemaligen UDSSR häufig<br />

über äußerst eingeschränkte rhetorische Fähigkeiten und ein unzureichendes<br />

Vokabular verfügen (vgl. de Vries, 2006). Allerdings liegt in der Vorbereitung und<br />

Ausführung der Rede tatsächlich großes Potenzial, um bei ihnen ein<br />

Problembewusstsein genau dafür zu entwickeln.<br />

Interessanterweise ist das nach den Erfahrungen des Verfassers mit deutlichem<br />

Abstand favorisierte Thema der Teilnehmer das Anti-Aggressivitäts-Training selber.<br />

Dies lässt m. E. einen Rückschluss auf die hohe Intensität der Maßnahme und die<br />

Aufmerksamkeit der Teilnehmer zu diesem Zeitpunkt des Trainings zu<br />

Als weiteres Element des Rhetoriktrainings werden die Teilnehmer aufgefordert<br />

einen sprachlich schwierig gestalteten Text unter erschwerten Bedingungen<br />

vorzulesen. Als Beispiel sei hier ein geeigneter Text aufgeführt:


Liebesseufzer eines Walfischfräuleins<br />

Oh du Wal meiner Wahl!<br />

Wie ihn gibt´s keinen im Meer mehr!<br />

Wer, der wie er, zwölfeinhalb Tonnen schwer wär?<br />

Wenn ich nur wüsste,<br />

ob er so fühlt wie ich, als ich ihn unweit der Küste küsste…<br />

Hoffentlich!<br />

Ich hoff endlich,<br />

dass er um meine Flosse anhält<br />

und sich nicht immer so schüchtern stellt.<br />

Denn ich möchte, statt immer allein sein, sein sein.<br />

(Quelle: Sprachbastelbuch, Scheiber, 1996)<br />

Die erschwerten Bedingungen beim Vortragen dieser Gedichte oder Limericks, die<br />

den Teilnehmern natürlich unbedingt unbekannt sein sollten, liegen darin, dass sie<br />

das Gedicht frontal vor der Gruppe vorzutragen haben und diese wiederum jeden<br />

auch noch so kleinen Fehler, jedes Stocken oder Zögern, ja jede falsche Betonung<br />

sofort nutzt, um den Teilnehmer durch einen „Stop-Zuruf“ dazu zu zwingen,<br />

kommentarlos von vorne beginnen zu müssen. Neben den erheblichen<br />

Schwierigkeiten, die die Teilnehmer mit den ausgewählten Texten haben, wird auch<br />

ihre Frustrationstoleranz durch die äußerst „pingelige“ Bewertung von Fehlern durch<br />

die anderen Teilnehmer und die entsprechend häufig auftretenden<br />

Unterbrechungen, auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Trotzdem wird in diesen<br />

Sequenzen häufig herzlich gelacht.<br />

Weiterhin wird mit Wortassoziationsspielen in verschiedenen Versionen, wie sie zum<br />

Beispiel von Klaus W. Vopel in seinem Buch „Interaktionsspiele für Kinder und<br />

Jugendliche“ (Vopel, 2001) in unterschiedlichster Form vorstellt, am Thema<br />

gearbeitet. Neben dem oben beschriebenem Ziel den Teilnehmern zu verhelfen die<br />

Welt ihrer „sprachlos, hilflosen Stolperei“ (vgl. Heilemann/Fischwasser von Proeck)<br />

zu verlassen dient dieser Teil des Trainings auch dazu, die Teilnehmer auf die


nächste große Herausforderung, die anstehenden Provokationstests und das<br />

Deeskalationstraining vorzubereiten.<br />

Im weiteren Verlauf der Sitzungen werden verschiedene Inhalte wie Logiktrainings,<br />

Ausdauer- und Fitnesstrainings, Flirttrainings, Tanztechniken und ähnliches<br />

angeboten, auf die ich im Rahmen dieser Arbeit nicht explizit eingehen werde. Das<br />

Interesse wendet sich im Sinne der angesprochenen Rollenambiguität und –distanz<br />

einem weiteren Trainingsinhalt zu, der zunächst hier nicht zu vermuten wäre. In<br />

einem gesonderten Schauspieltraining. Hierzu schreiben Heilemann und<br />

Fischwasser von Proeck:<br />

„Das Schauspieltraining dient der Erweiterung der Spontaneität, der Flexibilität, der<br />

Kreativität und Angstabbaus vor der Blamage. Die Teilnehmer sollen lernen, sich<br />

möglichst umgehend in völlig fremde, neue Rollen einzuleben, diese aber auch<br />

schnell wieder zu verlassen, um dann wiederum eine völlig andere Rolle zu spielen<br />

(rein in die Rolle, raus aus der Rolle). Der Schauspieltrainer, ein geladener Experte,<br />

beginnt mit der gesamten Gruppe zunächst sehr vorsichtig damit, einen<br />

Gegenstand, zum Beispiel einen Ball, mit ständig neuen Eigenschaften zu<br />

versehen – er ist weich, er stinkt, er ist eine Blume usw.. Der Eigenschaft<br />

entsprechend müssen die Teilnehmer den Ball mimisch und gestisch unterstützend<br />

weitergeben. Diese Aufwärmrunde soll die Teilnehmer dazu bewegen, offener,<br />

beweglicher und kreativer zu denken und zu handeln, um eine flexiblere<br />

Ausgangsposition für die dann folgenden Rollenspiele zu erhalten, für Rollen wie<br />

Pastor, Prostituierte, der Pate u. Ä. vergeben werden. Eine Talkshow zu einem<br />

meist aktuellen Thema mit entsprechenden Rollenbesetzungen ist der >krönende<<br />

Abschluss dieser Trainingseinheit.<br />

(Heilemann/Fischwasser von Proeck, 2003)<br />

Das Schauspieltraining lässt sich zurückführen auf die theaterpädagogische<br />

Arbeit, die sich „grundsätzlich als Vermittlungstätigkeit versteht.<br />

TheaterpädagogInnen vermitteln – sei es in Form von Grundlagenarbeit, sei es<br />

in Form konkreter Projekte, bei denen am Ende eine Ausführung vor Publikum<br />

steht – Kenntnisse über das Theaterspielen oder bestimmte Bereiche davon


oder die Institution Theater an Menschen, die in der Regel nicht hauptberuflich<br />

damit beschäftigt sind. Das können zum Beispiel Kinder und Jugendliche sein,<br />

Erwachsene aus den verschiedensten Schichten oder Berufen, spezielle<br />

Gruppen oder Segmente der Bevölkerung wie Senioren, Behinderte,<br />

ehemalige Drogenabhängige, aber auch Lehrer oder Führungskräfte aus der<br />

Wirtschaft“ (www.butinfo.de/berufsbild).<br />

Einer der führenden Theaterpädagogen Deutschlands und Regisseur am<br />

Theater in Baden-Baden, Mario Portmann, definierte Theaterpädagogik<br />

folgendermaßen:<br />

“Theaterpädagogik erzieht nicht mittels Theater, sondern will von den Zwängen<br />

und Hemmnissen befreien, die sich zwischen uns und unsere Empfindungen,<br />

unsere Kreativität stellen.“ In diesem Sinne verstanden eignet sich der Einsatz<br />

theaterpädagogischer Elemente in der Kompetenztrainingsphase eines Anti-<br />

Aggressivitäts-Training hervorragend, um den Jugendlichen zu helfen, einen<br />

besseren Zugang zu ihren Emotionen zu bekommen oder auch um „starre“<br />

Kognitionen aufzulösen.<br />

Wie bereits angesprochen dienen diese Elemente neben der Erweiterung<br />

individueller Kompetenzen auch der Vorbereitung zur Durchführung des letzten<br />

Trainingsschrittes innerhalb der Maßnahme, der noch einmal ein „Highlight“<br />

darstellt.<br />

Das Deeskalationstraining soll dazu dienen, „in einer Konfliktsituation den Angreifer<br />

abzuwehren, das heißt, de-eskalierend aus der Situation herauszugehen und seinen<br />

>Ein-Meter-Abstand


Laut einer Studie von Julia Babcock (Babcock, 2005) sind Mehrfachgewalttäter<br />

bei der Tatausführung nicht sonderlich erregt, sondern eher „cool“. Vor dem<br />

Hintergrund dieser Tatsache wird die Einflussnahme auf der kognitiven Ebene<br />

immens wichtig. Das Denken während der Eskalation ist somit das wesentliche<br />

Steuerungsmittel, dass den Kandidaten zur Verfügung steht, um de-<br />

eskalierend im Sinne einer Selbst-Instruktion (vgl. Meichenbaum/Goodman,<br />

1971) oder der „Internal Communication (Rogers, 1994) handeln zu können.<br />

Die Autoren arbeiten hier auf insgesamt 5 Ebenen mit den Jugendlichen. Im<br />

Einzelnen sind dies die (1) die Ausgangssituation, (2) das Zielverhalten, (3) die<br />

Denkinhalte, (4) die Artikulationsebene, sowie (5) die Ausweichtechniken (vgl.<br />

ebd.).<br />

1. In der Ausgangssituation geht es nach dieser Methode für den<br />

Jugendlichen darum, die Absicht des Gegenübers zu erkennen und<br />

aufgrund dieser Analyse die eigenen Gedanken zu kontrollieren und<br />

zu steuern. Dies ist im Sinne einer „Problemverlagerung“ zu<br />

verstehen. Der Jugendliche soll erkennen, dass das Gegenüber das<br />

Problem hat. „Es geht ihm schlecht, er ist frustriert, Er fühlt sich nicht<br />

wohl in seiner Haut, Er will an meiner >Adrenalin-Schraube drehen,<br />

indem er mich beleidigen, demütigen, kränken, abwerten und<br />

wütend machen will.“ (ebd.). Um in einer Extrem-Situation so<br />

reagieren zu können, muss die Fähigkeit zur Rollenambiguität vorher<br />

gut trainiert worden sein.<br />

2. Nunmehr gilt es für den Jugendlichen, sich auf sich zu<br />

konzentrieren, um über eigene Verhaltensalternativen<br />

nachzudenken. Sein eigenes Zielverhalten muss stark genug sein,<br />

um situationsdominant den vermeintlichen Gegner „in´s Leere laufen<br />

zu lassen“. Erreicht werden soll dies nach den Autoren mit Sätzen<br />

wie:<br />

-Ich bin defensiv, weiche aus, weiche zurück, wende mich ab.<br />

-Ich will mich auf keinen Fall gezwungen sehen, mich körperlich<br />

zu wehren.<br />

-Ich wehre mich nicht, er hat keine Macht über mich.


3. Um die eigenen Zielvorstellungen durchsetzen zu können, gilt es die<br />

Denkinhalte genau zu definieren und zu trainieren. Im Einzelnen sind<br />

dies Sätze wie:<br />

-Du kannst mich nicht erreichen<br />

-Du willst doch nur deine Probleme auf mich verschieben.<br />

-Du fühlst dich nicht wohl und möchtest dein Scheißgefühl an<br />

mir auslassen.<br />

-Ich wäre sauschwach, wenn du mein Verhalten kontrollieren<br />

könntest.<br />

-Ich bin ich. Ich habe es nicht nötig mich vor Dir zu rechtfertigen.<br />

-Ich habe es nicht nötig, mich vor Dir zu beweisen.<br />

-Ich kann mich in dieser Situation unterordnen, ohne mein<br />

Gesicht zu verlieren.<br />

-Du bist nicht mein Bewertungsmaßstab.<br />

-Ich bleibe ruhig, weil ich es auch meinem Opfer schuldig bin.<br />

-Ich bleibe ruhig, weil ich es den Trainern schuldig bin.<br />

-Ich Bleibe ruhig, weil ich ein echter A-Typ bin.<br />

-Wenn der Angreifer folgt, weiche ich zurück.<br />

-Wenn der Angreifer aufgibt, folge ich.<br />

-Ich bin der König, weil ich die Situation kontrolliere<br />

-Du bist der Knecht, weil Du versuchst deine schlechte Laune<br />

anderen Menschen aufzudrücken.<br />

Aus den Erfahrungen des Verfassers mit solchen Trainings lässt sich hier<br />

anmerken, dass die Teilnehmer diese Sätze tatsächlich auswendig lernen<br />

müssen. Oder um es mit den Worten eines Trainers auszudrücken: „Wenn<br />

ich dich nachts um vier wecke, musst Du sofort anfangen, diese Sätze<br />

runter zu beten.“<br />

4. Nachdem der Jugendliche diese Phasen der „internal<br />

communication“ durchlaufen hat, gilt es sich auf der<br />

Artikulationsebene mit dem aggressiven Gegenüber<br />

auseinanderzusetzen. Auch hier machen Heilemann und


Fischwasser von Proeck genaue Vorgaben, wie diese<br />

Kommunikation zu gestalten ist:<br />

-Entschuldige, dass ich dich gestört, verletzt oder beleidigt<br />

habe.<br />

-Natürlich werde ich mich nach deinen Vorgaben verhalten.<br />

-Natürlich darfst du mir deine Verhaltensrichtlinien vorgeben.<br />

-Ich möchte jetzt gerne gehen, vielen Dank.<br />

-Okay, Okay: Ich habe mich geirrt und du hast 100% recht.<br />

-Wie kann ich den Schaden wieder gut machen.<br />

-Gibt es eine Möglichkeit, mich bei Dir zu entschuldigen.<br />

-Ich denke, ich habe mich da völlig falsch verhalten.<br />

-Ich würde dir gerne bei einem anderen Anlass zeigen, dass ich<br />

nichts gegen dich habe.<br />

-Ich bin ein bisschen feige und habe ein bisschen Angst.<br />

-Ich werde jetzt doch lieber gehen.<br />

-Ich habe doch gar keine Chance gegen Dich.<br />

-Du bist mir weit überlegen.<br />

-Mir ist es sehr wichtig, dass du merkst, dass ich nichts von dir<br />

will.<br />

-Ich möchte, dass es Dir gut geht.<br />

-Ich habe ein angenehmes Gefühl dir gegenüber, ich möchte<br />

niemals dein Feind sein.<br />

-Gib mir eine Chance, alles wieder gut zu machen.<br />

-Ich laufe jetzt mal ganz schnell weg und komme gleich wieder.<br />

-Ich habe einen Notfall – ich bin gleich wieder da.<br />

-Ich muss schnell zur Polizei – es gibt da ein Riesenproblem für<br />

mich.<br />

Erfahrungsgemäß fällt es den Jugendlichen extrem schwer, diese<br />

Sätze auch nur zum Training auszusprechen, weil die nahezu devote<br />

Grundtendenz für sie diametral zu ihrem bisherigen Rollenverhalten<br />

als „harter Kerl“ und „cooler Macker“ steht und nicht mit ihren -


isweilen bis an die Grenze der Absurdität - überzeichneten<br />

Männlichkeitsklischees korrespondiert. Für die Trainer gilt es als<br />

Reaktion darauf in Form der konfrontativen Gesprächsführung noch<br />

einmal ein paar Schritte im Training zurück zu gehen, um die<br />

„Einmassierung des Realitätsprinzips“ (vgl. Redl) im Sinne der<br />

Annäherung zwischen Real- und Ideal-Ich zu wiederholen und zu<br />

verstärken.<br />

5. Als letzten Schritt im Sinne einer gelingenden De-Eskalation gilt es<br />

nun für den Jugendlichen, die Realsituation zu seinen Gunsten<br />

aufzulösen. Hierbei sprechen die Autoren von den so genannten<br />

Ausweichtechniken. Darunter fallen für sie mehrere Strategien, um<br />

sich aus der bedrohlichen Situation zu entkommen.<br />

-Die Kritik scheinbar falsch verstehen, als Lob auffassen und<br />

sich herzlich bedanken. (vgl. paradoxe Intervention)<br />

-Sagen: „Wenn du darunter verstehst, dass …, dann hast du<br />

recht. (Ich nehme die Kritik wahr und begrenze sie auf einen<br />

kleinen Bereich, lobe mich und gebe ihm dann Recht.)<br />

-Themenwechsel und Ablenkung („Ich muss ganz schnell mal<br />

Zigaretten holen; ich muss meine Oma in das Krankenhaus<br />

bringen; ich bin hier heute mit meinem Bewährungshelfer<br />

unterwegs und habe schon genug Probleme; etc.“)<br />

-Flucht (ganz schnell in eine anderen Kontext flüchten, in dem<br />

es der Täter schwer hat, seine Provokationen weiter zu<br />

betreiben)<br />

-Aufbau eines „Nebenkriegsschauplatzes“ (Sonderaktion mit viel<br />

Aufmerksamkeit und/oder Zerstörung. Zum Beispiel: Umreißen<br />

einer Ladenauslage, Auslösen eines Autoalarms, etc.)<br />

Für die Autoren gilt hier als Grundregel, dass fast alles erlaubt ist,<br />

was verhindert, dass der Jugendliche geschlagen wird oder selber<br />

zuschlägt. Sie warnen hierbei dringend vor vermeintlich falschem<br />

Verhalten, wie: sich zu rechtfertigen; auf das Thema des


Provokateurs einzugehen; ihm zu widersprechen oder nicht zu tun,<br />

was er will. Die Autoren wollen die Jugendlichen somit dazu bringen,<br />

scheinbar alles zu tun, was der Provokateur will, in der Realität aber<br />

Abstand von seinen Beleidigungen und Abstand von seinen<br />

Möglichkeiten körperlich anzugreifen herzustellen.<br />

Die Dramaturgie des Kompetenztrainings zielt eindeutig auch in Richtung der<br />

Erprobung des Erlernten im Rahmen der Provokationstests. Diese Tests bilden<br />

den Abschluss der Attraktivitäts- oder Kompetenzphase des Anti-Aggressivitäts-<br />

Trainings.<br />

„In der Abschlusssitzung (…) werden Provokateure aus der Gemeinde, zum Beispiel<br />

Ex-Schläger, Security-Leute, schwarze Sheriffs und ähnliches eingeladen, die den<br />

Auftrag erhalten, die zu therapierenden Teilnehmer im Rahmen von Rollenspielen<br />

bis auf das Äußerste zu provozieren. Die Täter haben die Aufgabe, sich aus dieser<br />

Provokationssituation (unter Zuhilfenahme des Erlernten) deeskalativ<br />

>herauszuarbeiten< und sich dabei nicht als Verlierer sondern gut zu fühlen. Der<br />

Provokateur soll von ihnen als >Patient< entlarvt werden“ (Heilemann/Fischwasser<br />

von Proeck, 2003).<br />

Um die Wichtigkeit dieser Sitzung zu verdeutlichen, greife ich als Verfasser noch<br />

einmal auf die Erfahrungen aus dem Anti-Aggressivitäts-Trainings in <strong>Vechta</strong> im Jahr<br />

2005 zurück. Wenn Heilemann und Fischwasser von Proeck von Provokationen bis<br />

auf das Äußerste sprechen, ist diesem zuzustimmen. Allerdings gilt es im Auge zu<br />

behalten, dass nicht das „Ausflippen“ des Teilnehmers, sondern eben vielmehr das<br />

„Nicht-Ausflippen“ im Vordergrund der Bemühungen zu stellen ist. Dieses jedoch mit<br />

nicht ausgebildeten Tutoren, wie den beschriebenen Türstehern und ähnlichem,<br />

durchzuführen, birgt nach Auffassung des Verfassers erhebliche Risiken, da nur<br />

schwer einzuschätzen ist, wie es um die Gewaltbereitschaft eben dieser<br />

Provokateure bestellt ist.<br />

Im Anti-Aggressivitäts-Training in <strong>Vechta</strong> wird aus diesem Grund ausschließlich mit<br />

„Profis“ zusammengearbeitet.


Als Kooperationspartner der Deutschen Instituts für <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik an der<br />

Hochschule für angewandte Wissenschaften (vgl. www.ikd.de) in Hamburg ist die<br />

Kampfsportorganisation F.I.S.T. (Free Individuell Self-Defense Training) aufgeführt.<br />

Bei dieser in Bad Zwischenahn beheimateten Organisation, die von dem<br />

Sozialpädagogen, Kampfsportler und derzeitigem Sicherheitsdienstleiter der JVA<br />

Oldenburg, Jörg Knust gegründet wurde und geführt wird, handelt es sich um<br />

durchweg sehr erfahrene Kampfsportler, die speziell für solche Trainings, aber auch<br />

zur Ausbildung von Sonder-Einsatz-Kommandos der Polizei geschult wurden und<br />

unter anderem auch mit den curricularen Vorgaben des Anti-Aggressivitäts-<br />

Trainings vertraut sind. Diese Männer sind für die Teilnehmer unter keinen<br />

Umständen mit Mitteln der Gewalt zu überwinden. Genau dieser Effekt ist<br />

gewünscht. Die ausschließliche Möglichkeit zur Lösung der individuell,<br />

deliktbezogen arrangierten Rollenspiele, die in der Intensität der Provokation und<br />

der Dynamik der Situation, die durch die Provokateure ausgelöst wird, für die<br />

Teilnehmer nicht mehr grenzgenau von der Realität zu trennen sind, liegt durch<br />

dieses Arrangement im Gelernten - und nur darin.<br />

Sollte es noch Teilnehmer geben, die versuchen, sich quasi durch die Maßnahme<br />

„durchzumogeln“, werden diese spätestens dort entlarvt und erleben dadurch eine<br />

heftige Niederlage. Ein Bestehen des Anti-Aggressivitäts-Trainings ohne die<br />

Teilnahme an den Provokationstests durch F.I.S.T. ist hier nicht vorgesehen. Neben<br />

dem „Heißen Stuhl“ sind die Provokationstests das zweite „Nadelöhr“, durch das die<br />

Teilnehmer gehen müssen.<br />

Im AAT <strong>Vechta</strong> wird im Rahmen der Deeskalationsphase des Trainings<br />

ausschließlich mit diesen beschriebenen „Profis“ zusammengearbeitet.<br />

3.2.5 Die Realisationsphase<br />

Im Vier-Phasen Modell des Anti-Aggressivitäts-Trainings nach dem Hamelner<br />

Modell wird in der letzten Phase von den Teilnehmern verlangt, „(…) die neue<br />

friedliche, wohlwollende und unterstützende Identität nach außen darzustellen“<br />

(Heilemann/Fischwasser von Proeck, 2003). Die Autoren verstehen unter dieser<br />

Außendarstellung, dass sich die Teilnehmer nach ihrer Entlassung als so genannte<br />

„Guardian Bodies“ (ebd.) verhalten. Die Autoren wollen also die ehemaligen


Teilnehmer als Multiplikatoren für Gewaltfreiheit in Projekten regionaler<br />

Präventionsorganisation ehrenamtlich anbinden. Zu diesem Zweck schlagen die<br />

Autoren hier vor einen „Verein Guardian Bodies e.V“ zu gründen, unter dessen<br />

Schirmherrschaft dann die Koordination des Einsatzes der ehemaligen Probanden<br />

des Anti-Aggressivitätstrainings anzusiedeln sei. Trotz intensiver Recherche ist es<br />

mit nicht gelungen einen solchen Verein in Deutschland aufzuspüren. Da die<br />

Veröffentlichung des Konzepts im Jahr 2001 stattfand, ist nach nunmehr fünf Jahren<br />

wohl davon auszugehen, dass dieser Ansatz sich nicht in der Praxis durchgesetzt<br />

hat. Ein durchaus erwähnenswertes Argument liefern die Autoren ihrer relativ<br />

kurzen Einlassung zur Realisationsphase dann mit der Feststellung, dass es einen<br />

Wechsel der Haltung der Strafvollzugsbeamten der Jugendanstalt Hameln<br />

dahingehend gegeben habe, dass diese nunmehr die Häftlinge nicht mehr mit dem<br />

Wunsch entließen, sie mögen nichts mehr tun, sondern vielmehr damit, dass sie<br />

etwas tun mögen, im Sinne etwas Gutem für die Opfer, den Frieden und gegen die<br />

Gewalt (vgl. ebd.). Zum Abschluss zitieren die Autoren einen anonymen Teilnehmer<br />

des AAT mit den Worten:<br />

„Beim Training geht es nach dem >Heißen Stuhl< immer um Wiedergutmachung:<br />

Entweder machst du was für das Opfer direkt oder du machst etwas für die<br />

Allgemeinheit. Bei mir war das so ein Mittelding. Ich sollte das Grab eines<br />

Menschen pflegen, den ich nicht kannte und dessen Grab verwildert war, der keine<br />

Menschenseele hatte, die an ihn dachte. Ich sollte nun diese Aufgabe übernehmen<br />

und an ihn, aber vor allem auch an mein totes Opfer denken. Das Grab sollte auf<br />

keinen Fall auf dem Friedhof liegen, wo mein Opfer lag. Ich hab dann im Hafturlaub<br />

begonnen, mir mit dem Friedhofsgärtner und dem Pastor ein Grab auszusuchen,<br />

habe es gepflegt und bepflanzt. Später habe ich dann gehört, dass einige Leute aus<br />

dieser Kirchengemeinde ausgetreten sind, weil sie dachten, dass ein Mörder als<br />

Friedhofsgärtner eingestellt worden ist, und von ihrer Kirchenkollekte bezahlt wurde.<br />

Sie konnten nicht glauben, dass das jemand umsonst macht. Wie auch – sie haben<br />

ja noch keinen ermordet.“ (Heilemann/Fischwasser von Proeck, 2003).<br />

Die Autoren sehen in dieser Realisationsphase eine gute Möglichkeit zur<br />

Zusatzimplementierung des im Training gelernten. Die Teilnehmer sollen über die<br />

handlungsorientiert weiterführende Auseinandersetzung mit den erlernten Inhalten


des Trainings und die kontinuierliche Konfrontation mit den potenziellen Folgen von<br />

Gewalt „am Thema bleiben“. (vgl. Weidner/Kilb/Jehn, 2001).<br />

Exemplarisch für den kompletten Ablauf einer Trainingsmaßnahme möchte ich an<br />

dieser Stelle den Verlaufsplan einer Trainingsmaßnahme einfügen, die im Jahr 2005<br />

in <strong>Vechta</strong> durchgeführt wurde.<br />

Sitzung Termin Zeit Inhalt (grobe Angaben)<br />

1 Do, 21.04. 17-21 Uhr Regelwerk, Vertrauen, Visualisierungen, Zieldefinition,<br />

Kohäsion, Soziometrie Aggressivitätsauslöser,<br />

2 Fr. 22.04. 16-20 Uhr Biografie, Lebenslinie, soziales Atom, Patenschaften, Kosten-<br />

Nutzen-Analyse<br />

3 Sa. 23.04. 10–18 Uhr Biografie, Lebenslinie, Interviews, Opferbrief I, Notarzt,<br />

Stolzhitliste, Aggressionshierarchie, Polkys Diamant,<br />

Selbsteinschätzung<br />

4 Do, 28.04. 17-21 Uhr Biografie Konfrontation 1<br />

5 Fr. 29.04. 16-20 Uhr Konfrontation 2<br />

6 Sa. 30.04. 10–18 Uhr Konfrontation 3-5<br />

7 Do, 12.05. 17-21 Uhr Konfrontation 6<br />

8 Do, 19.05. 17-21 Uhr Konfrontation 7<br />

9 Do, 02.06. 17-21 Uhr Konfrontation 8<br />

Opferbrief II, Körpersprache, Nähe und Distanz<br />

10 Fr. 03.06. 16–20 Uhr Konfrontation 9, Kommunikation<br />

11 Sa. 04.06. 10–18 Uhr Konfrontation 8-10, Körpersprache<br />

12 Do, 16.06. 17-21 Uhr Opferbrief II deeskalierende Körpersprache<br />

13 Do, 23.06. 17-21 Uhr Rhetorik & Kommunikation<br />

14 Do, 30.06. 17-21 Uhr Leichte Provokationstests<br />

15 Do, 07.07. 17-21 Uhr Vertiefung I,<br />

16 Fr. 08.07. 16-20 Uhr 5 Säulen der Identität<br />

17 Sa. 09.07. 10-18 Uhr Provokation durch FIST & Deeskalation, Hausaufgaben für<br />

Ferien<br />

Sommerferien<br />

18 Do, 25.08. “Hausaufgabenkontrolle”, Vertiefung II, Provokation<br />

19 Do, 01.09. Vertiefung II, Selbsteinschätzung II, Provokation


20 Do, 08.09. Vertiefung II, Selbsteinschätzung II, Provokation<br />

21 Do, 15.09. Abschluss, Zertifikate,<br />

Skizze 8: (Ablaufplan-AAT)<br />

3.3 Nicht besser – aber auch nicht schlechter ?!<br />

Wirksamkeitsforschung zum Anti-Agressivitäts-Training<br />

Die bislang umfangreichste Evaluation zum Anti-Aggressivitäts-Training in<br />

Deutschland wurde von Ohlemacher und anderen im Auftrag des<br />

Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) unter Leitung des<br />

ehemaligen niedersächsischen Justizminister Christian Pfeiffer durchgeführt<br />

und ihre Ergebnisse im Jahr 2001 veröffentlicht. Analog zur Studie von Grissom<br />

und Dubnov zur Wirksamkeit des Glen Mills-Programms, wurde die<br />

Legalbewährung auch hier als Maßstab für die Wirksamkeit der Maßnahmen<br />

ausgewählt. Evaluiert wurden hier auf vier Achsen:<br />

1.die Rückfallraten<br />

2.die Rückfallhäufigkeit<br />

3.die Rückfallgeschwindigkeit<br />

4.die Rückfallintensität<br />

Im Gegensatz zu Grissom/Dubnov standen Ohlemacher und seinen<br />

Mitarbeitern hierbei die Einträge aus dem Bundeszentralregister (BZR) zur<br />

Verfügung, aus dem die Informationen für diese Untersuchung gezogen<br />

wurden. Als validitäsbedrohend bei dieser Vorgehensweise wurde von den<br />

Autoren angemerkt: „Bekanntermaßen besteht die besondere Problematik von<br />

BZR- und Erziehungsregister-Auskünften darin, dass sie selbstverständlich nur


die Legalbewährung im Hellfeld erfassen können. Alle nicht den<br />

Strafverfolgungsinstanzen bekannt gewordenen Straftaten können auf diese<br />

Weise nicht berücksichtigt werden. Des Weiteren sehen die gesetzlichen<br />

Regelungen zum Bundeszentralregister eine komplette Tilgung von Strafen<br />

vor, wenn ein nach Jugendstrafrecht Verurteilter über einen bestimmten<br />

Zeitraum straffrei geblieben ist (in der Mehrzahl der Fälle nach fünf bzw. zehn<br />

Jahren, in Ausnahmefällen erst nach zwanzig Jahren (Ohlemacher, 2001 vgl.<br />

§§ 45ff Bundeszentralregister-Auszug). Problematisch erwies sich dieser<br />

Faktor, da 64,4 % der untersuchten Personen bereits seit mehr als fünf Jahren<br />

aus der AAT-relevanten Haft entlassen worden waren.<br />

Im Rahmen dieser Untersuchung wurden insgesamt 73 Teilnehmer des Anti-<br />

Aggressivitäts-Trainings in der Jugendanstalt Hameln befragt, die zwischen<br />

den Jahren 1987 und 1999 teilgenommen hatten. Als Kontrollgruppe wurden<br />

ebenfalls 73 Jugendliche ausgewählt, die wegen Gewaltdelikten inhaftiert<br />

waren, jedoch ohne Training blieben.<br />

Auf eine hohe Kongruenz bezüglich der Delikte, die zur Inhaftierung in Hameln<br />

geführt hatten, legten Ohlemacher und Kollegen hohen Wert. Die<br />

Kontrollgruppe wurde in diesem Sinne in hohem Maße mit der<br />

Untersuchungsgruppe synchronisiert. Zur Verdeutlichung möchte ich in<br />

Anlehnung an die Studie eine Tabelle einfügen.<br />

Delikt<br />

Gruppe Mord Totschlag Körperverletzung Raub<br />

Trainierte 4,1<br />

Untrainiert 4,1<br />

11<br />

9,6<br />

Skizze 8: (Vgl. Ohlemacher, 2001) Angaben in %<br />

42,5 38,4<br />

46,6 39,8


Auch in deliktunspezifischen Merkmalen wurde sorgfältig Versuchs- und<br />

Kontrollgruppe synchronisiert. Deutlich wird das anhand der nächsten Tabelle:<br />

AAT-Trainierte AAT-Untrainierte<br />

N 73 73<br />

Ausländeranteil (%) 19,2 15,1<br />

Alter/Erstdelikt 15,2 15,4<br />

Zahl der Vorstrafen 5,2 4,6<br />

Vorstrafen mit<br />

Bewährung in %<br />

Vorstrafen ohne<br />

38,4 24,7<br />

17,8 34,3<br />

Bewährung in %<br />

Einweisungsalter 19,8 19,7<br />

Strafdauer-Mittelwert<br />

3,2 3,2<br />

in Jahren<br />

Effektive Haftdauer<br />

in Jahren<br />

Skizze9: (Vgl. Ohlemacher, 2001) Angaben in %<br />

2,5 2,1<br />

Doch nun wollen wir die Aufmerksamkeit den Ergebnissen der Evaluation<br />

zuwenden. Nach Greve und Hosser ist die allgemeine Rückfallquote nach einer<br />

Jugendstrafe sehr hoch, die Autoren sprechen hier von über 70% (vgl.<br />

Greve/Hosser, 1998). Diese Tendenz bestätigte sich auch bei den<br />

Untersuchten.<br />

Als generelle Rückfallrate wurde bei insgesamt 63% der Untersuchten ein<br />

strafrechtlich relevanter und gerichtlich belangter allgemeiner - also nicht<br />

gewaltdeliktspezifischer - Rückfall festgestellt.<br />

Im Bereich der Rückfallhäufigkeit ermittelten die Untersuchenden folgende<br />

Zahlen: „16,4% hatten nach ihrer Haftzeit in Hameln einen Eintrag, bei 26,1%<br />

fanden sich zwischen zwei und vier Einträgen, fünf und mehr Einträge hatten<br />

20,5%, mehr als zehn Einträge fanden sich für 5,5%. Einen Gewaltrückfall (als<br />

Teilmenge der allgemeinen Rückfälle) konnten wir bei 37% der untersuchten


Personen feststellen. 19,2% hatten einen weiteren Eintrag wegen eines<br />

Gewaltdeliktes, für 16,4% fanden sich zwischen zwei und vier Einträge, fünf<br />

und mehr Einträge hatten 1,4% (Ohlemacher, 2001).<br />

Anzahl<br />

Eintragungen Eins Zwei Drei Vier<br />

Rückfall<br />

Allgemein<br />

Gewaltrückfal<br />

l<br />

Skizze 10: (vgl. Ohlemacher, 2001)<br />

Fünf<br />

und<br />

mehr<br />

16,4 9,6 5,5 11 20,5<br />

19,2 11 2,7 2,7 1,4<br />

Zum Zeitpunkt des ersten dokumentierten Rückfalls, also der<br />

Rückfallgeschwindigkeit, äußern sich Ohlemacher und Kollegen<br />

dahingehend, „(…) dass sich über die Hälfte der Gewaltrückfälle im ersten Jahr<br />

nach der Haftentlassung ereignen (55,6%). Rückfälle unabhängig vom Delikt<br />

ereignen sich sogar noch häufiger im ersten Jahr: Hier liegt der Anteil bei 63%.<br />

Die Anteile der übrigen Jahre an den Rückfällen sind in etwa identisch, sie<br />

schwanken um die 10% - oder bleiben deutlich darunter (ebd.).<br />

Zur Rückfallintensität ermittelten die Autoren eine „mehrheitliche<br />

Abschwächung. 55,6% verüben schwächere Gewaltdelikte, 14,8 bleiben ohne<br />

Deliktveränderung: jedoch 29,6% verüben härtere Gewaltdelikte (ebd.).


Erst durch den Vergleich mit der Kontrollgruppe erhalten die ermittelten Daten<br />

ihre Aussagekraft im Sinne der von den praktizierenden Trainern des Anti-<br />

Aggressivitäts-Trainings erwünschten erhöhten Legalbewährung. Unter diesem<br />

Aspekt betrachtet, resümieren Ohlemacher und Kollegen ernüchternd:<br />

„Die Rückfallrate ist in den beiden Gruppen fast identisch: Wir konnten bei<br />

34,2% der untrainierten Personen mindestens einen Gewaltrückfall feststellen.<br />

Die analoge Rückfallrate bei den Trainierten (37%) weist hierzu keinen<br />

signifikanten Unterschied auf. Auch die Rückfallhäufigkeit ist ähnlich hoch wie<br />

bei den Trainierten: 15,1% hatten einen Eintrag, 17,8% wiesen zwischen zwei<br />

und vier Einträgen auf, fünf und mehr Einträge hatten 1,4%. Auch bei der<br />

Anzahl der Rückfälle ist also eine weitgehende Parallelität vorzufinden(…) Die<br />

Rückfallgeschwindigkeit ist ebenfalls fast identisch. Der Gesamtrückfall (alle<br />

Delikte, die zu einem Eintrag im Bundeszentralregister führten) ist für AAT-<br />

Trainierte und AAT-Untrainierte fast deckungsgleich.(…) Lediglich mit Blick auf<br />

die Rückfallintensität (Gewaltdelikte) erweist sich die Gruppe der AAT-<br />

Untrainierten als ungünstiger: 56% der Gewaltrückfälligen weisen ein stärkeres<br />

Rückfalldelikt auf, 32% ein schwächeres, bei 12% ist die Gewaltintensität ohne<br />

Veränderung. Bei den Trainierten zeigt sich hier ein günstigeres Bild: 55,6%<br />

wiesen schwächere Delikte auf, 14,8 waren unverändert in ihrer Deliktschwere,<br />

nur 29,6% wiesen bei den Trainierten einen schwereren Rückfall auf<br />

(Ohlemacher, 2001).<br />

Die Autoren geben in ihrer Studie keinen Hinweis darauf, nach welchen<br />

Merkmalen sie die Rückfallintensität ermittelten. Es erscheint allerdings<br />

wahrscheinlich, dass sie sich an den strafrechtlichten Differenzierungen wie<br />

Körperverletzung und schwere Körperverletzung oder gefährliche<br />

Körperverletzung (§§223ff, StGB), Totschlag (§ 212, StGB) oder Mord (§211,<br />

StGB) orientierten.<br />

Im Vergleich der jeweiligen Raten, Häufigkeiten und Geschwindigkeiten der<br />

Rückfälle lässt sich also keine statistisch signifikante Differenz zwischen<br />

Versuchs- und Kontrollgruppe feststellen. Das einzige Merkmal, dass in diesem<br />

Sinne für ein Training spräche, wäre also das der verminderten<br />

Rückfallintensität, die sich allerdings laut Ohlemacher ebenfalls unterhalb der<br />

Grenze zur statistischen Signifikanz befindet (vgl. Ohlemacher, 2001).


Vor dem Hintergrund der meist erheblichen bio-psycho-sozialen Folgen von<br />

Gewaltstraftaten für die Opfer kann allerdings auch ein nicht-signifikanter<br />

Unterschied unter Umständen im Einzelfall entscheidenden Einfluss auf den<br />

weiteren Lebensverlauf haben.<br />

Weitere „interne“ Evaluationen „on the job“, die der Messung der Verhaltens-<br />

und Einstellungsänderung bei den Teilnehmern dienen, kommen zu ähnlichen<br />

Ergebnissen. Die hierfür am häufigsten genutzten Evaluationsinstrumente sind<br />

persönlichkeits-psychologische Testverfahren, wie das Freiburger<br />

Persönlichkeitsinventar (FPI) oder der Fragebogen zur Erfassung von<br />

Aggressivitätsfaktoren (FAF). Beide Testverfahren weisen jedoch einige<br />

Merkmale auf, die in Hinsicht auf die Reliabilität erhebliche Zweifel aufkommen<br />

lassen. Nach Ohlemacher soll beim Freiburger Persönlichkeitsinventar die<br />

„Persönlichkeit“ des Getesteten durch „(…) situationsunabhängige bzw. –<br />

übergreifende Dispositionen (sog. latente Konstrukte) erfasst werden(ebd.).<br />

Diese latenten Konstrukte gelten als relativ invariant, was für die Messung<br />

bedeuten würde, dass Messunterschiede – zumal in einer relativ kurzen<br />

Zeitspanne von einigen Monaten ermittelt – als Messfehler und eben nicht als<br />

Veränderung der Disposition der betroffenen Person zu betrachten seien (vgl.<br />

Ohlemacher 2001). Für beide Messinstrumente gilt ein weiterer Kritikpunkt, der<br />

darauf abzielt, dass „(…) beide Skalen als Selbstauskunftsmaße faktisch nur<br />

die Veränderung des Selbstkonzepts im Sinne der Wahrnehmung der eigenen<br />

Aggressivität erfassen können. Der Nachweis, dass das Anti-Aggressivitäts-<br />

Training gegebenenfalls diese Selbstwahrnehmung verändert, ist jedoch als<br />

Evaluationskriterium nachrangig. Entscheidend ist, ob sich das tatsächliche<br />

Verhalten substantiell ändert. Beiden Skalen fehlt es somit an ausreichender<br />

Validität auf das eigentliche Evaluationskriterium einer Verhaltensänderung<br />

(ebd.). Obwohl von den Protagonisten des AAT in Deutschland eben unter<br />

Zuhilfenahme dieser Instrumente evaluiert (übrigens mit ähnlichen<br />

Ergebnissen) und argumentiert wird (s. Schanzenbächer/2001; Weidner/2003),<br />

werde ich aus den von Ohlemacher formulierten Kritikpunkten auf eine weitere<br />

Vertiefung an dieser Stelle verzichten.


Abschließen lässt sich dieses Kapitel im Sinne der Überschrift dieses<br />

Abschnitts. Gegenwärtig lässt sich auf der Basis der bisher einzigen<br />

Untersuchung, die den Standards von Forschungsmethoden in der<br />

Erziehungswissenschaft (vgl. Friebertshäuser, 1997) standhalten kann, etwas<br />

ernüchternd festhalten: „Nicht besser – aber auch nicht schlechter!“<br />

Angesichts des erheblichen medialen „Hypes“, der um diese Trainingsform<br />

und insbesondere um den „Heißen Stuhl“ betrieben wird, erscheint das umso<br />

erstaunlicher, als dass das „Outcome“ im Sinne einer Verhaltensänderung<br />

entgegen der weit verbreiteten Meinung eben nicht so erfolgreich ist. Vielmehr<br />

scheint die Inszenierung außerordentlich mediengeeignet zu sein. Ich werde<br />

auf diesen und andere Kritikpunkte im Sinne der „Alltagstauglichkeit“ dieser<br />

besonderen Methode der <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik in der Zusammenfassung<br />

noch einmal eingehen.<br />

4. <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik an der Schule<br />

Coolness- und konfrontative Schulsozialtrainings<br />

4.1 Die Schulsozialarbeit in Zeiten der Veränderung<br />

Wir verlassen nunmehr den Bereich der Trainingsmaßnahmen im Rahmen der<br />

Tertiärprävention der Jugendrechtspflege und Jugendhilfe und wenden uns<br />

dem Bereich der konfrontativen Pädagogik zu, der niedrigschwelliger angesetzt<br />

im Bereich z.B von Angeboten an offenen Ganztagsschulen zunehmend<br />

Anwendung findet. Die sich in Richtung Nachmittagsbetreuung verändernde<br />

Schullandschaft wird in ihrer Funktion als Sozialisationsinstanz für Jugendliche


vor neue Herausforderungen gestellt, denen es mit adäquaten Angeboten zu<br />

begegnen gilt. Im 12. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung wird als<br />

Lösungsmöglichkeit zur Schaffung dieser Angebote die qualitativ und<br />

quantitativ stärkere Ausgestaltung der schulbezogenen Jugendsozialarbeit<br />

favorisiert. (vgl. Kinder- und Jugendbericht, 2005). Diese soll sich „ offensiv und<br />

lebensweltorientiert (ebd.) darstellen und mit „(…) einzelfall und<br />

gruppenorientierten Probleminterventionen mit offenen, präventiv<br />

ausgerichteten Freizeit-, Betreuungs- und Beratungsangeboten (ebd.)<br />

systematisch verknüpfen. Im weiteren Verlauf des Berichts weist die<br />

Bundesregierung auf ein Spannungsfeld hin, dass bisher nur unzureichend<br />

aufgelöst werden konnte. Die zentrale Frage hierbei lautet: „Wo hat sich diese<br />

schulbezogene Jugendsozialarbeit zu verorten?“ Wird sie in einem integrativen<br />

Modell organisatorisch Teil des Schulsystems sein, so untersteht sie auch<br />

disziplinar der Dienst- und Fachaufsicht der Schulleitung. Nach Ansicht der<br />

Bundesregierung könnte das zur Folge haben, dass es „(…)zu einer starken<br />

Vereinnahmung durch die Schule und in der Folge zu einer einseitigen<br />

Unterordnung unter die Interessen und Versorgungsbedarfe der Schule“ (ebd.)<br />

kommen könnte. Hierbei wird der „Verlust sozialpädagogischer Freiheitsgrade<br />

und Handlungsräume“ (ebd.) befürchtet. Als sinnvoller wird ein additives Modell<br />

erkannt, das die Dienst- und Fachaufsicht der Mitarbeiter einer solchen<br />

Schulsozialarbeit bei den Trägern der Jugendhilfe belässt. In diesem Sinne<br />

argumentiert auch Kilb, wenn er in seinem Aufsatz „Sozialpädagogisches<br />

Wissen und Kompetenz für eine sich verändernde (Ganztags-) Schule“ zu einer<br />

konfrontativen Pädagogik argumentiert:<br />

„Die Angebote und Ressourcen der Kinder- und Jugendförderung und auch der<br />

erzieherischen Hilfen wäre komplett in den pädagogischen Schulalltag zu<br />

integrieren und könnten in diversen Sonderaufgaben liegen, etwa in<br />

>Doppelbesetzungen< der Klassenleitungen, als Projektanbieter, in neu zu<br />

konzipierenden Formen Sozialer Arbeit an und nach der Schule. Unter dem<br />

Begriff >Soziales Training/Soziale Kompetenz< ließe sich sowohl eine<br />

besondere Förderung im Talentbereich, wie auch im Defizitärbereich oder auch<br />

als Vermittlung einer Schlüsselfertigkeit subsumieren (Kilb/Weidner/Gall, 2006).<br />

Der Punkt der Doppelbesetzung , wie von den Autoren hier vorgeschlagen,<br />

birgt allerdings die Gefahr der De-Professionalisierung Sozialer Arbeit an der


Schule, weil eine Positionierung des ausführenden Pädagogen hier eher die<br />

eines Hilfslehrers mit dem besonderen Schwerpunkt „Disziplinierung im<br />

Unterricht“ darstellen würde. Das wiederum wirft die Frage auf, wer in einer<br />

solchen Konstellation eigentlich der Klient wäre? Die Schulklasse oder nicht<br />

etwa vielmehr der Lehrer?<br />

Für eine <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik in der Schule wäre hierbei primär die<br />

Defizitärorientierung handlungs- oder interventionsleitendes Moment. Ganz<br />

besonders dem Thema der Gewalt an Schulen könnte mit diesem Ansatz im<br />

Sinne von Coolness- oder Schulsozialtrainings begegnet werden.<br />

4.2 Gewalt an der Schule<br />

Das Thema Gewalt an Schulen hat ja gerade im Jahr 2006 unter anderem<br />

durch die Vorgänge an der Berliner Rütli-Schule erhebliches öffentliches<br />

Interesse gefunden. Trotz einer zugegebenermaßen inszeniert wirkenden<br />

medialen Aufregung löste die „pädagogische Bankrotterklärung“ des Berliner<br />

Kollegiums eine dynamische Debatte um die Zustände vor allem an<br />

Hauptschulen in Deutschland aus. In der sozialwissenschaftlichen Forschung<br />

findet dieses Thema jedoch schon länger Beachtung, wie Studien zur Gewalt<br />

an Schulen verdeutlichen. Eine dieser Studien, auf die ich im weiteren Verlauf<br />

dieses Kapitels noch detaillierter eingehen werde, sei hier schon einmal<br />

vorgestellt. An der <strong>Universität</strong> Bielefeld fand im Jahr 1995 unter Leitung von<br />

Tillmann und Holtappels eine Untersuchung an 24 ausgesuchten hessischen<br />

Schulen zum Thema Ausmaß und Formen von Gewalt im schulischen und<br />

außerschulischen Umfeld sowie den sozialen Bedingungsfaktoren statt.<br />

Insgesamt wurden hierbei 3.540 Schüler im Alter von 11 – 17 Jahren sowie 448<br />

Lehrkräfte per Fragebogen befragt (vgl.www.uni-bielefeld.de). Einige der<br />

zentralen Ergebnisse dieser Studie, die sich als repräsentativ begreift, seien<br />

hier jetzt vorgestellt.<br />

„Obwohl die von Schülern und Lehrern wahrgenommenen Gewalthäufigkeiten<br />

vom Umfang her keinerlei Dramatisierung zulassen, zeigen sich für einzelne


Gewaltformen dennoch beträchtlichen Quoten. Die Täter und Opferangaben<br />

verdeutlichen, dass Gewalthandlungen nur von einem zahlenmäßig kleinen<br />

Anteil der Schülerschaft häufiger begangen werden, gelegentlich<br />

vorkommende Gewalthandlungen jedoch von einer deutlich größeren<br />

Schülergruppe. Nach weitgehend übereinstimmender Wahrnehmung von<br />

Schülern und Lehrern stehen an der Spitze der beobachteten<br />

Gewalthandlungen nicht spektakuläre Schlägereien, sondern psychische<br />

Angriffe, besonders verbale Aggressionen. Diese Häufigkeitsgewichte<br />

bestätigen auch die Täter- und Opferangaben.<br />

Fast durchgängig haben Jungen bei Tätern wie Opfern ein spürbares<br />

Übergewicht in den Gewalthäufigkeiten. Aufgrund ihrer häufigeren Verwicklung<br />

in gewaltförmige Konfliktsituationen werden von den Jungen<br />

Gewalthandlungen in ihrer Schule durchgängig stärker wahrgenommen als von<br />

Mädchen. Die höchsten Quoten über fast alle Gewaltformen sind durchgängig<br />

in Schulen für Lernhilfen (Sonderschulen) festzustellen, während sich in<br />

Gymnasien fast durchgängig die geringste Belastung durch Schülergewalt<br />

zeigt; Schüler aus Gesamtschulen, Haupt- und Realschulen liegen im mittleren<br />

Bereich. Die höchsten Gewaltquoten zeigen sich im 8. und 9. Jahrgang.<br />

Hinsichtlich Vandalismus, verbaler und non-verbaler Angriffe auf Mitschüler<br />

und Lehrer steigt mit zunehmendem Alter (von Klasse 6 bis Klasse 10)<br />

offenbar die Sensibilität für Gewaltwahrnehmungen, während zugleich die<br />

Billigung von Gewalt abnimmt. Der Anteil der Lehrkräfte, die gewaltförmige<br />

Handlungsweisen registrieren, liegt zwar durchgängig höher als der Anteil der<br />

Schüler, doch scheinen Lehrer die Häufigkeit der Vorkommnisse zu<br />

unterschätzen.<br />

Angaben zur Wahrnehmung von Schülergewalt erlauben zunächst nur globale<br />

Einschätzungen zum Gewaltvorkommen in der Schule: Fast täglich registrieren<br />

38% der Schüler Beschimpfungen und gemeine Ausdrücke, 33% gemeine<br />

Gesten und 28% das Verspotten von Mitschülern; über einen größeren<br />

Zeitraum (mindestens mehrmals monatlich) sind es gar drei Viertel bis zwei<br />

Drittel, die solche Verhaltensweisen miterleben. 9% hören fast täglich<br />

ausländerfeindliche Sprüche; 28% mindestens mehrmals pro Monat.<br />

>Mobbing


Was physische Gewalthandlungen anbetrifft, so berichten rund 28% der<br />

Schüler, dass mehrmals monatlich eine ernsthafte Prügelei zwischen zwei<br />

Jungen stattfindet, viermal so häufig wie zwischen Mädchen, dreimal so häufig<br />

wie zwischen Mädchen und Jungen. 7% haben Gruppenschlägereien gesehen,<br />

nur 4% aller Schüler beobachteten Angriffe mit einer Waffe. Ohnehin hat nicht<br />

jede Rauferei einen ernsthaften Hintergrund mit Verletzungsabsicht, denn die<br />

weitaus meisten Raufereien sind Spaßkämpfe und Kräftemessen.(…)<br />

Genauere Aufschlüsse über Gewalthäufigkeiten erhalten wir aus den Angaben<br />

der Schüler über Art und Häufigkeit selbst ausgeübter Handlungen als Täter.<br />

Danach haben sich 31% innerhalb eines Jahres gelegentlich mit anderen<br />

geprügelt, davon 11% mehrmals monatlich. 14% verprügelten mit anderen<br />

zusammen einen Mitschüler, davon 6% mehrmals im Monat. 11% haben<br />

gezielt Mitschüler auf dem Schulweg belästigt, bedroht oder verprügelt; 5%<br />

betrieben dies mehrfach im Monat. Rund ein Fünftel war innerhalb eines<br />

Jahres (davon 6-8% mehrmals monatlich) an Erpressungen von Mitschülern<br />

beteiligt. 11% haben schon einmal Waffen (Reizgas, Messer, etc.) mit in die<br />

Schule gebracht. (Holtappels/Tillmann, 1997)<br />

Auch wenn sich die Studie von Tillmann und Holtappels als repräsentativ<br />

versteht, ist hier von einem erheblichen Dunkelfeld auszugehen. Nach den<br />

Erfahrungen des Verfassers dieser Arbeit an verschiedenen Haupt-, Sonder-<br />

und Gesamtschulen ist vor allem der Bereich der räuberischen Erpressung, im<br />

Jargon der Jugendlichen „Abziehen“ genannt, an den Schulen weiter verbreitet,<br />

als die Studie ausweist. Vor dem Hintergrund der erheblichen Bedrohungs- und<br />

Einschüchterungspotenziale der „Abzieher“, werden viele der Opfer auch in<br />

einer anonymisierten Befragung wohl eher schweigen. Doch wiederholt sich in<br />

dieser Erhebung ein Phänomen, das schon Eingangs der Arbeit im Bereich der<br />

Klientel für Anti-Aggressivitäts-Trainings einmal erwähnt wurde. Es ist nicht die<br />

Mehrzahl der Schüler, die gewaltaffines Verhalten aufweisen. Allerdings ist die<br />

Minderheit der Täter auch an Schulen für eine hohe Dichte an wie auch immer<br />

gearteten Gewalttaten verantwortlich. Zur Bearbeitung dieser Problemlage<br />

wäre ein <strong>Konfrontative</strong>s Schulsozialtraining geeignet, wie ich es im nächsten<br />

Abschnitt vorstellen möchte.


Botho Priebe äußert sich zu diesem Thema in der Zeitschrift „Lernende Schule“<br />

wie folgt: „Entgegen dem in den Medien vermittelten Eindruck von horrenden<br />

Steigerungen schulischer Gewalt, gibt es in den Schulen des Landes keine<br />

wissenschaftlich belegbare größere Zunahme von Gewaltvorkommnissen.<br />

Dieser quantitative Befund gibt jedoch keinen Anlass zur Entspannung, denn in<br />

qualitativer Hinsicht ist eine deutliche Ausweitung verbaler und körperlicher<br />

Gewalt zu erkennen. Vor allem bei letzterer kommt es häufig zu brutalen<br />

Aggressionen und Verletzungen, die in dieser Häufung und Erscheinungsform<br />

in früheren Zeiträumen nicht festgestellt worden sind. Die Hemmschwelle für<br />

gewaltsames Verhalten ist offenbar gesunken, die Brutalitätsschwelle ist<br />

gestiegen (Priebe, 2006).<br />

Auch Weidner und Kilb evaluieren in Zusammenarbeit mit dem lizensierten<br />

Ausbildungsträger zur Qualifikation von Trainern, dem Frankfurter Institut für<br />

Sozialpädagogik und Sozialarbeit (ISS), solche Maßnahmen (vgl.<br />

Weidner/Kilb/Jehn, 2003). Im Fokus ihrer Aufmerksamkeit stehen jedoch keine<br />

Wirksamkeitsquoten, wie zum Beispiel beim Kriminologischen<br />

Forschungsinstitut Niedersachsen, sondern vielmehr quantitative Daten. So<br />

evaluierten Weidner und Kilb für den Bereich der konfrontativen<br />

Schulsozialtrainings 2001 32 Trainingsmaßnahmen mit insgesamt 577<br />

Teilnehmern. Hierbei handelte es sich fast ausschließlich um Jungen, von<br />

denen 39% Jugendliche mit Migrationshintergrund waren. 77% der Teilnehmer<br />

nahmen aus „institutionsbezogenen Auffälligkeiten“ an der Maßnahme teil (vgl<br />

Kilb/Weidner, 2003).<br />

Die „institutionsbezogenen Auffälligkeiten“ von denen Weidner und Kilb<br />

sprechen, werden nicht detaillierter erläutert, lassen sich aber anhand der<br />

Studie von Tillmann/Holtappels erahnen.<br />

Betrachtet man also die prozentuale Verteilung von gewalttätigem Verhalten<br />

innerhalb einer Schulklasse, stellt man fest, dass auch unter Berücksichtigung<br />

der Unterschiede, die unter anderem durch Schultyp und regionalem Standort,<br />

bedingt sind, aktives Gewaltverhalten bei einem relativ geringen Prozentsatz<br />

der Schüler auftritt. Allerdings haben diese wenigen Schüler erheblichen<br />

Einfluss auf das allgemeine Klima und besonders das Lernklima der Klassen.


Sie zu ignorieren würde bedeuten, indirekt ihr System zu stützen und die<br />

anderen Schüler dadurch „im Stich zu lassen“. Laut Rainer Gall stehen die<br />

Lehrer „(…) vor dem Dilemma durch fest strukturierte Lehrpläne und<br />

Zeitmangel an die Grenze ihrer Belastbarkeit zu stoßen, wenn erhöhte<br />

Gewaltbereitschaft in ihren Klassen auftritt. Maßnahmenkataloge und<br />

Schulordnungen greifen nur mäßig und können zuweilen scheinbar nur durch<br />

Schulausschlüsse Ruhe in die angeheizte Situation bringen (Kilb/Weidner/Gall,<br />

2006). In diesem Sinne ist ein defizitär-orientiertes <strong>Konfrontative</strong>s<br />

Schulsozialtraining als Ultima-Ratio zu verstehen, bevor es zu befristeten oder<br />

unbefristeten Ausschlüssen oder Selektion und Schulwechsel kommt.<br />

4.3 Die Methodik der konfrontativen Schulsozialtrainings<br />

Laut Gall ist das Schulsozial- oder Coolness-Training nicht deliktspezifisch wie<br />

das Anti-Aggressivitäts-Training ausgerichtet, sondern vielmehr „konfrontativ-<br />

prophylaktisch“ (Kilb/Weidner/Gall, 2006). Trainiert werden sollen im Verlauf<br />

einer solchen Maßnahme:<br />

- Wahrnehmung eigener Täter/Opferdispositionen<br />

- Grenzsetzung<br />

- Kooperation und Teamfähigkeit der Lerngemeinschaft<br />

- Wahrnehmung und Kommunikation<br />

- Peer-Group-Education<br />

- Vertrauen und Offenheit<br />

- Konfliktlösung<br />

- Verhalten in Bedrohungssituationen<br />

- Körpersprache und Deeskalation<br />

- Akzeptanz eigener Stärken und Schwächen<br />

- Umgang mit fremden Rollen, Normen und Werten.<br />

(vgl. Gall, 2006)


Weiter führt der Autor hier an, dass „(…) bei der Durchführung eines Coolness-<br />

Trainings folgender Leitsatz oberste Priorität hat: Niemand hat das Recht, den<br />

anderen zu beleidigen, zu verletzen oder auszugrenzen. Geschieht dies<br />

dennoch, erfolgt Konfrontation“ (ebd.). Die Konfrontation im Coolnesstraining<br />

ist allerdings nicht zu verwechseln mit derselben im Anti-Aggressivitäts-<br />

Training. Sie hat vielmehr stets wohlwollend zu erfolgen.<br />

Methodisch sollen die erwünschten Lernziele erreicht werden durch:<br />

Körperbetonte Spiele: Die Teilnehmer sollen hierbei lernen, aggressive<br />

Anteile und körperliche Reaktionen bewusst wahrzunehmen. Gewalt fasziniert,<br />

sie muss allerdings durch Regeln kultiviert werden.<br />

Rollenspiele: Sie sollen der Erkennung eigener Befindlichkeiten in<br />

Konfliktsituationen, sowie der Schärfung der Wahrnehmung der eigenen Täter-/<br />

Opferdispositionen dienen, gleichzeitig soll mit ihnen das Handlungsspektrum<br />

der Schüler in Konfliktsituationen erweitert werden.<br />

Interaktionspädagogische Übungen: Sie sollen der Förderung der Eigen-<br />

und Fremdwahrnehmung dienen. Nonverbale und verbale<br />

Kommunikationsmuster sollen dadurch überprüft werden und subjektive<br />

Wahrheiten als Auslöser für Gewalt sollen erkennbar gemacht werden.<br />

Visualisierungstechniken: Sichtbarmachung von Erfahrungen, Meinungen<br />

und Einstellungen und Verhaltensmustern. Für Jugendliche hoch geeignet, um<br />

das Thema Gewalt anzugehen.<br />

Deeskalation – sinnvolles Verhalten in schwierigen Situationen: Effizientes<br />

und sinnvolles Verhalten soll erprobt und eingeübt werden. Aktive<br />

Kommunikation zum Wechsel aus der Opferrolle soll geübt werden.<br />

Entwicklung: von Opferperspektiven: Die „Täter“ sollen lernen, sich mit den<br />

Gefühlen der „Opfer“ auseinanderzusetzen. Dies kann durch Rollentausch,<br />

aber auch durch den Einsatz von Medien (geeignete Filme: z.B „Killer-Boots“),<br />

aber auch durch den Einsatz von Tutoren erreicht werden.<br />

Entspannungs- und Vertrauensübungen: Sie sollen der Verbesserung der<br />

eigenen Körperwahrnehmung, aber auch der besseren Teamfähigkeit dienen.<br />

Erlebnispädagogik: Soll den Teamgeist stärken, aber auch eigene Grenzen<br />

erkennbar machen (z.B. Hochseilgärten).


(vgl. Kilb/Weidner/Gall, 2006)<br />

Als grundsätzliche Voraussetzungen für ein solches Training nennt der Autor:<br />

- die Bereitschaft des Kollegiums sich dauerhaft auf die Begleitung<br />

dieser neuen Prozesse einzulassen.<br />

- ein relativ belastbares Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern,<br />

das von gegenseitigem Wohlwollen geprägt sein sollte.<br />

- ein ausreichendes Mindestmaß an Motivation für die Maßnahme<br />

auf Seiten der Schüler.<br />

- Transparenz der Maßnahme für alle Beteiligten.<br />

(vgl. Gall, 2006)<br />

Es soll sich an gewaltbereite Kinder und Jugendliche, deren potenzielle und<br />

tatsächliche Opfer sowie an die scheinbar unbeteiligten Zuschauer wenden.<br />

„Im Handlungsviereck von Täter, Opfer, Gruppe und Schule, die alle auf ihre<br />

spezifische Weise und in vernetzter Form für die Bedingungen der<br />

Gewaltereignisse verantwortlich sind, werden im Training<br />

Verhaltensalternativen erarbeitet“ (Kilb/Weidner, Gall, 2006).<br />

Das Handlungsviereck<br />

Täter Opfer<br />

Zuschauer Schule<br />

(Gruppe) (Institution)<br />

Skizze 11: (Kilb/Weidner/Kreft, 2003)


In diesem Handlungsviereck sollen Gewaltursachen, Auslöser und Gelegenheiten,<br />

aber auch Kontextbedingungen und gewaltfördernde Systeme analysiert werden.<br />

Primär geht es dabei um die Reduzierung von Abwehr und Feindseligkeit. Es wird<br />

davon ausgegangen, dass „(…) Rituale und Strukturen von Begegnungen im<br />

öffentlichen Raum eine bedeutsame Rolle spielen“(ebd.). Der öffentliche Raum<br />

Schule mit seinen institutionell festgeschriebenen Rahmenbedingungen wird also bei<br />

dieser Trainingsform bewusst integriert und ebenfalls Gegenstand der Analyse. Dies<br />

setzt die Bereitschaft sowohl der Schulleitung, als auch im Besonderen der<br />

betroffenen Lehrer zur aktiven und offenen Mitarbeit voraus. Die<br />

Grundvoraussetzung einer Interventionserlaubnis für die Trainer durch die Schüler<br />

erweitert sich hier auch auf die Lehrer. Auch für Schulsozialtrainings ist, analog zum<br />

Anti-Aggressivitätstraining, ein inhaltliches Curriculum festgeschrieben. Aus den<br />

differierenden Inhalten wird auch eine Abgrenzung zum AAT möglich.<br />

Lernziele Lerninhalte Methoden/Medien<br />

1. Wahrnehmung<br />

aggressiver Gefühle, mit<br />

körperlichen<br />

Empfindungen<br />

(Herzklopfen, gerötete<br />

Haut, Anschwellung von<br />

Adern), Wahrnehmung<br />

von Nähe mit allen<br />

Sinnen<br />

2. Erkennen der eigenen<br />

Befindlichkeit in<br />

Konflikten, Wahrnehmung<br />

eigener Täter-<br />

/Opferdispositionen<br />

3. Erkennen der eigenen<br />

persönlichen<br />

Gewalt fasziniert, verschafft<br />

rauschartige Zustände, Gewalt<br />

ist „geil“. Kennen lernen der<br />

Existenz von Aggressionen als<br />

natürlichen<br />

Persönlichkeitsanteil<br />

Selbstexploration als Täter<br />

und Opfer. Das Mittel: die<br />

Visualisierung von<br />

Erfahrungen und<br />

Befindlichkeiten<br />

Auseinandersetzung mit<br />

Positiven und negativen<br />

Körperbetonte,<br />

sportliche Spiele.<br />

Kämpfen als<br />

pädagogische Disziplin<br />

(Müller 1994) Kämpfen<br />

nach Regeln, Stunts,<br />

erlebnispädagogische<br />

Projekte<br />

Fragebogen,<br />

Rollenspiele,<br />

Interaktionspädagogisch<br />

e Übungen,<br />

Partnerinterviews,<br />

Statuen-Theater, Stunts<br />

Partnerinterviews,<br />

Rollenspiel.


Möglichkeiten, Erkennen<br />

der eigenen Stärken und<br />

Schwächen, sich selbst<br />

akzeptieren<br />

4. Akzeptanz eigener<br />

begrenzter<br />

Kommunikation,<br />

individuelle<br />

Voraussetzungen für<br />

Kommunikation.<br />

Erkennen vieler<br />

subjektiver Wahrheiten<br />

5. Interesse an<br />

gemeinsamen Zielen,<br />

Wecken von<br />

gegenseitigem Interesse<br />

und Akzeptanz<br />

6. Aushalten erster<br />

leichter Konfrontationen,<br />

zum Problem bekennen,<br />

Erkenntnisgewinn damit<br />

nicht allein zu sein<br />

7. Erkennen von<br />

Rollenverhalten,<br />

Rollenzuweisungen und<br />

Rollenerwartungen<br />

8. Aushalten von<br />

Provokationen, Erhöhung<br />

der Frustrationstoleranz,<br />

kreative lockere Reaktion<br />

auf „Anmache“<br />

9. Reduzierung der<br />

Feindlichkeitswahrnehmu<br />

ng<br />

Persönlichkeitsanteilen Konfrontation<br />

Ich-Botschaften, Du-<br />

Botschaften, Beziehungs-,<br />

Inhalts- und Gefühlsaspekt<br />

erkennen.<br />

Wahrnehmungseinschränkung<br />

en durch Launen,<br />

Projektionen, Kommunikation<br />

in Stress-Situationen<br />

Modelle von Kooperationen in<br />

Schullassen und Gruppen,<br />

Beispiele zur Stärkung der<br />

Gruppenkohäsion, peer-groupeducation<br />

Visualisierung von<br />

Befindlichkeiten in Gruppen<br />

(Themen: Sexismus,<br />

Rassismus, Macht und<br />

Ohnmacht, Gewalt und<br />

Adultismus)<br />

Visualisierung von männlichen<br />

und weiblichen Rollenbildern,<br />

die Rolle als Kind,<br />

Jugendlicher, Erwachsener,<br />

Funktionsträger<br />

Hierarchisierung von<br />

Empfindlichkeiten<br />

(Beleidigungen, Schimpfworte,<br />

Rempeleien, Provokationen)<br />

Was bringt dich auf die<br />

Palme?<br />

Strukturen menschlicher<br />

Begegnung kennen lernen<br />

(Rituale, Territorien, Nähe und<br />

Distanz)<br />

Interaktionspädagogisch<br />

e Übungen, nonverbale<br />

Kommunikation, das<br />

Eisberg-Modell<br />

(Hagedorn 1994;<br />

Besemer 1993),<br />

Rollenspiele<br />

Arbeit in Kleingruppen,<br />

Kooperationsspiele,<br />

Vertrauensübungen,<br />

gemeinsame Aufgaben<br />

Rollenspiel,<br />

Interaktionspädagogisch<br />

e Übungen, Methoden<br />

der Visualisierung<br />

(Creighton/Kivel 1993)<br />

Analyse der<br />

Verhaltensweisen durch<br />

Rollentausch,<br />

Rollenspiel, Texte,<br />

Befragungen, Rollen im<br />

Hoch- und Tiefstatus<br />

(Johnston, 1993, 1996)<br />

Übungen gegen<br />

„Anmache“, Gruppen-<br />

und Klassengespräche,<br />

Rollenspiele,<br />

Konfrontationsübungen,<br />

belastende Situationen<br />

werden möglichst<br />

realistisch gestellt.<br />

Boalsches Theater<br />

(Boal 1989)<br />

Interaktionsspiele,<br />

Rollenspiele, Stunts<br />

Körpersprache,<br />

Konfrontationsübungen


10. Sinnvolles Verhalten<br />

in Bedrohungssituationen<br />

11. Verbesserung der<br />

Körperwahrnehmung<br />

(physiologische und<br />

psychologische<br />

Hintergründe)<br />

12. Erkennen<br />

widersprüchlicher Signale<br />

und Anforderungen der<br />

Erwachsenen, Akzeptanz<br />

der eigenen<br />

Verantwortung, Erkennen<br />

der eigenen<br />

Möglichkeiten<br />

(Kilb/Weidner/Gall, 2006)<br />

Gewaltvermeidung durch<br />

aktive Kommunikation, aus der<br />

Rolle des Opfers ausbrechen<br />

Entspannungsverfahren,<br />

Ruhe- und Stilleerfahrung<br />

Informationen über die<br />

Bedingungen des<br />

Aufwachsens in unserer<br />

Gesellschaft (Veränderung der<br />

Jugendphase,<br />

Individualisierung,<br />

Pluralisierung)<br />

Rollenspiele und<br />

szenische Darstellung<br />

belastender und<br />

bedrohlicher<br />

Situationen, Stunts,<br />

Deeskalationsstrategien<br />

, „eigenes Drehbuch“<br />

Atemübungen, Traum-<br />

und Phantasiereisen,<br />

Mediationsübungen,<br />

Entspannung nach<br />

Jacobsen (1990)<br />

Befragung,<br />

Karrikaturen, Comics,<br />

Referat<br />

Vermittelt werden sollen diese Erkenntnisse durch Trainingsmaßnahmen in<br />

wöchentlichen Sitzungen, die jeweils 2-3 (Schul-) Stunden andauern. Insgesamt<br />

laufen diese Maßnahmen bedarfsorientiert zwischen 3 und 5 Monaten.<br />

Die Teams setzen sich in der Regel aus einem ausgebildeten und lizensierten<br />

Trainer, einem Co-Trainer sowie einer offenen Anzahl geeigneter Tutoren<br />

zusammen. Für die Rolle des Co-Trainers bieten sich Schulsozialpädagogen,<br />

Klassenlehrer oder auch Schulpsychologen an. Wichtig ist für die Schüler, einen<br />

Ansprechpartner im Schulalltag zu haben, mit dem sie gegebenenfalls das<br />

Geschehene reflektieren können und der ihnen in der Realsituation Unterricht helfen<br />

kann, das Erlernte sofort in die Tat umzusetzen. Gleichzeitig ist es die Aufgabe der<br />

schulinternen Co-Trainer, trainingsrelevante Informationen einzuholen, aber auch<br />

weiterzuleiten. Sie dienen sozusagen als Katalysator für alle aktiv oder passiv<br />

Trainingsbetroffenen. Der Trainer selber macht die inhaltliche Arbeit vor, während<br />

und nach den Trainingseinheiten.


Vor Beginn der Maßnahme findet ein „intensiver Informations- und Klärungsprozess“<br />

(Kilb/Weidner/Kreft, 2006) statt, in dem das Verhältnis der betroffenen Lehrer zu<br />

ihren Klassen thematisiert und der genaue Trainingsauftrag definiert wird. Als<br />

nächstes gilt es, das Einverständnis der betroffenen Schüler einzuholen. Im<br />

Gegensatz zum Anti-Aggressivitäts-Training findet die Teilnahme am Coolness-<br />

Training auf weitestgehend freiwilliger Basis statt. Den Schülern ist laut Gall in dieser<br />

Phase unbedingt zu vermitteln, dass es im Verlauf des Trainings zu Situationen<br />

kommen kann, die individuell als grenzwertig erlebt werden (vgl. Gall, 2006). Den<br />

Schülern soll möglichst klar sein, worauf sie sich einlassen und sie sollen sich<br />

bewusst für das Training entscheiden.<br />

Im nächsten Schritt werden die Eltern/Erziehungsberechtigten der betroffenen<br />

Schüler von den Trainern über die Maßnahme in Kenntnis gesetzt und auch ihr<br />

Einverständnis wird eingeholt. Ist dies geschehen, kann die Maßnahme nach dem<br />

beschriebenen Muster anlaufen. Zur Verdeutlichung der zeitlichen und inhaltlichen<br />

Struktur einer solchen Maßnahme, füge ich an dieser Stelle einen gedachten<br />

Trainingsverlauf bei.<br />

Rahmenplan einer Trainingsmaßnahme: Stegemannschule Lohne<br />

Zeitraum: Februar 2006 – Juli 2006<br />

Mittwochs: 13.15 – 15.45<br />

Teilnehmer: bis zu 10 Schüler, die durch Störungen des Unterrichts aufgefallen sind<br />

Sekundärmotivation durch schuldisziplinare Würdigung bei unent-<br />

schuldigtem Fehlen oder Abbruch, bzw. Ausschluß von der Maßnahme<br />

Trainer: Andreas Hoenig Sozialtherapeut, Sozialtrainer (Diakonie<br />

Freistatt, JVA <strong>Vechta</strong>)


Co-Trainer: Christoph Barklage_Hilgefort; Sozialtrainer<br />

Tutoren: bedarfsorientiert (Ex-Teilnehmer AAT-<strong>Vechta</strong>)<br />

Sitzung Termin Inhalt (grobe Angaben)<br />

1 08.02.2006 Regelwerk, Vertrauen, Visualisierungen, Zieldefinition,<br />

Kohäsion (Spiele, Action)<br />

2 14.02.2006 Blitzlicht, Vertiefung Vertrauen & Kohäsion, Stolzhitlisten,<br />

Gruppenhitliste, Yohari-Fenster(Pre-Test),<br />

Selbstbewertungsfragebögen<br />

3 22.02.2006 Blitzlicht, Brainstorming, Biografiearbeit, Einstieg<br />

Aggression (Aggressionsauslöser und –hierachie, Kosten-<br />

Nutzen-Analyse) Feedback, 1. Hausaufgabe<br />

4 01.03.2006 Blitzlicht, Interview („schlechte Tat“), Lebenslinie: Schule &<br />

Privat, Fragebogen (schlechte Tat“),<br />

5 08.03.2006 Kontrolle Hausaufgabe, Einstieg Körpersprache<br />

(Blickkontakt, Hoch- und Tiefstatus etc.) Action&Fun<br />

6 15.03.2006 Blitzlicht,Vertiefung Körpersprache (Gasse Level 1+2,<br />

Raumdurchquerung Level 1+2), Analyse & Feedback<br />

7 22.03.2006 Blitzlicht,Einstieg Rhetorik (Walfisch, Ich kann…, etc.),<br />

freie Rede<br />

„Wir bauen eine Burg“ (Fun & Action) 2.Hausaufgabe<br />

8 29.03.2006 Blitzlicht, Kontrolle 2. Hausaufgabe, Vorbereitung „Life-<br />

Act-Rollenspiel“, erste Rollenspiele, Analyse & Feedback<br />

(Co-Trainer-Einsatz)<br />

9 05.04.2006 Blitzlicht, Life-Act-Rollenspiele, Auswertung und Analyse,<br />

(Co-Trainer-Einsatz)<br />

10 12.04.2006 Blitzlicht, Aufarbeitung „Life-Act-Rollenspiele“,<br />

Entspannungsübungen (Tempel der 1000 Spiegel etc.)<br />

Progressive Muskelentspannung,<br />

11 19.04.2006 Vorbereitung Abschlussprüfung: Vertiefung Körpersprache<br />

& Rhetorik,<br />

12 26.04.2006 Abschlussprüfung: Provokationstests,<br />

Raumdurchquerung: Level 3, Gasse Level 3, etc.


Einsatz Co-Trainer<br />

Skizze 12: (Ablaufplan <strong>Konfrontative</strong>s Schulsozialtraining)<br />

<strong>Konfrontative</strong> Schulsozialtrainings und Coolnesstrainings werden zwar weit verbreitet<br />

angeboten und es macht den Eindruck, dass der Bedarf vor dem Hintergrund der<br />

sich verändernden Schullandschaft noch steigen wird, trotzdem sind diese<br />

Maßnahmen in Bezug auf ihre Wirksamkeit noch nicht nach den Standards der<br />

erziehungswissenschaftlichen Forschung evaluiert worden. Trotz intensiver<br />

Recherche konnte ich keine validen Erhebungen zum Gegenstandsfeld finden. Es ist<br />

allerdings meines Erachtens davon auszugehen, dass solche Erhebungen in<br />

unmittelbarer Zukunft durchgeführt werden. Auf die Ergebnisse einer solchen Studie<br />

hätte ich zum Abschluss dieses Kapitels gerne zurückgegriffen.<br />

5. Zusammenfassung und Abschluss<br />

5.1 Zusammenfassung<br />

Das erste Kapitel dieser Diplomarbeit setzt sich mit der Philosophie und Wirksamkeit<br />

der Glen Mills Schools sowie der Übertragbarkeit dieser „Philosophie“ in die<br />

Bundesrepublik Deutschland auseinander. Anhand der jährlich erhobenen Daten zur<br />

Jugendkriminalität durch die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes wird deutlich,<br />

dass die Jugendkriminalität im Ganzen zwar quantitativ nicht statistisch signifikant<br />

steigt, die Gewaltkriminalität jedoch sowohl quantitativ als auch qualitativ hier eine<br />

Ausnahme bildet (vgl. BKA, Kriminalstatistik). In diesem besonderen Bereich ist eine<br />

stetige Zunahme über die Jahre verzeichnet und auch die Deliktschwere nimmt zu.<br />

„Die Hemmschwelle für gewaltsames Verhalten ist offenbar gesunken, die<br />

Brutalitätsschwelle ist gestiegen“ (Priebe, 2006). Diese Aussage von Botho Priebe<br />

lässt sich auf alle Gesellschaftsbereiche generalisieren.


Skizze 13: (vgl. DJI, 2002)<br />

Vor dem Hintergrund dieser statistisch bewiesenen Tatsache, beauftragte die<br />

Bundesregierung eine Expertenkommission unter Führung des Deutschen<br />

Jugendinstituts, eine Expertise über die Glen Mills Schools in den USA zu erstellen.<br />

Untersuchungsgegenstand sollte hierbei die Überprüfung der Möglichkeit eines<br />

Transfers des Glen Mills-Programms auf bundesdeutsche Verhältnisse sein. Das<br />

Ergebnis dieser Kommission wurde in Kapitel 1 dieser Arbeit dargestellt und stellte<br />

unmissverständlich fest, dass es nicht möglich sei, das Glen Mills-Konzept nach<br />

Deutschland zu übertragen. Allenfalls könnten einzelne Module des Glen Mills-<br />

Programms wie das Moment der Kollektiverziehung (positive peer culture, Peer<br />

group pressure etc.) Bestandteil der gegenwärtigen bundesdeutschen Diskussion<br />

um die Arbeit mit einer schwer delinquenten jugendlichen Klientel sein (vgl. DJI,<br />

2002). Eine der juristischen Schwierigkeiten sahen die Experten in der Problematik,<br />

in Deutschland eine de facto freiheitsentziehende Maßnahme als Schule zu<br />

deklarieren oder umgekehrt. Trotz erheblicher rechtlicher und pädagogischer<br />

Bedenken gibt es jedoch einige Initiativen in Deutschland, die sich zum Ziel gesetzt<br />

zu haben, das Glen Millls-Programm in Deutschland zu etablieren. Zuerst sei hier<br />

der Verein „Glen Mills Germany“ genannt. Interessanterweise gibt es jedoch auch


eine in der Expertise leider nicht näher benannte „private Investorengemeinschaft“,<br />

die einen ausgedienten Flugplatz in Thüringen erworben hat und beim zuständigen<br />

Landesjugendamt eine Zulassung für ein Glen Mills-Projekt beantragt hat (vgl. ebd.).<br />

Angesichts des derzeitigen Standes der Diskussion meines Erachtens ein ziemlich<br />

waghalsiges Unternehmen.<br />

Im Sinne der Beantwortung der zentralen Frage dieser Diplomarbeit nach der<br />

Alltagstauglichkeit dieser speziellen Form einer <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik, muss<br />

diese den Glen Mills Schools abgesprochen werden. Gegenwärtig ist dieses Konzept<br />

nicht für den bundesdeutschen, „pädagogischen Alltag“ kompatibel - auch nicht für<br />

die „schwersten“ Fälle. Es wird allerdings zu beobachten bleiben, wie die<br />

Gesetzgebungsorgane und die Justiz auf die vom Bundesverfassungsgericht für<br />

2006 angeordnete Ausdifferenzierung und Reform des Jugendstrafvollzuges sich<br />

desThemas annimmt.<br />

Die Diskussion um die <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik in Deutschland wird leidenschaftlich<br />

geführt. Während die eine Seite mit „Arbeit mit den Tätern, im Auftrag der Opfer“ (vgl.<br />

Weidner, Heilemann) argumentiert, besteht die andere Seite auf dem „Postulat der<br />

unantastbaren Menschenwürde“ (vgl. Scherr, 2002). Meines Erachtens haben beide<br />

Positionen ihre Daseinsberechtigung. Und gerade was die Kritik Scherrs angeht, so<br />

kann man ohne Zweifel davon ausgehen, dass das pädagogische(?) Konzept der<br />

„totalen Institution“ Glen Mills durchaus darauf ausgelegt zu sein scheint,<br />

menschenrechtlich grenzwertige Intervention als adäquates Alltagsmittel zur<br />

Verhaltensänderung für die besondere Klientel zu verstehen. Doch ein<br />

pädagogisches Selbstverständnis, das auch nur in den ernsthaften Verdacht gerät<br />

nach dem Motto zu verfahren, dass der Zweck die Mittel heilige, gehört mit großer<br />

Vorsicht betrachtet. Wenn man dazuzählt, dass diese – zwar nicht offizielle –<br />

Annahme handlungsleitend für Glen Mills-Mitarbeiter zu sein scheint, wird das vor<br />

dem Hintergrund einer wissenschaftlich nachgewiesenen, nicht vorhandenen<br />

Effizienz im Sinne der Legalbewährung, in sich geradezu paradox und nur noch<br />

fragwürdiger. Ein weiterer Kritikpunkt ist der, dass die mangelnde Transparenz der<br />

Maßnahme in krassem Gegensatz zur medialen Selbstinszenierung steht. Die<br />

Kritikfähigkeit, Offenheit und Bereitschaft zum wissenschaftlichen Dialog scheint vor<br />

allem bei der alles beherrschenden Person Ferrainola nur rudimentär ausgeprägt zu<br />

sein. Wie sonst erklärt sich die Tatsache, dass die Mitglieder des Deutschen


Jugendinstituts nach ihrer Einladung zum Ortstermin im Rahmen der<br />

Expertisenerstellung kurz vor der Reise kommentarlos wieder ausgeladen wurden.<br />

Es drängt sich der Verdacht auf, dass das zu erwartende Ergebnis den Machern von<br />

Glen Mills nicht behagte.<br />

Doch lassen wir für den weiteren Verlauf dieses Resumees Glen Mills einmal außen<br />

vor und wenden die Aufmerksamkeit den Methoden einer <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik<br />

zu, die in abgewandelter Form bereits in Deutschland praktiziert werden.<br />

Hier geht der Blick zunächst zum Anti-Aggressivitäts-Training (AAT), dessen<br />

Darstellung vor dem Hintergrund des hohen Konfliktpotenzials in der<br />

Fachöffentlichkeit, eine breiten Raum in dieser Arbeit einnimmt. Diese im weitesten<br />

Sinne nach dem Prinzip der „Peer-Group-Education (vgl. Makarenko, Ferrainola)<br />

funktionierende Trainingsmaßnahme für jugendliche und heranwachsende<br />

Mehrfachgewalttäter verortet sich im Rahmen der Tertiär-Prävention als Angebot auf<br />

der Schnittstelle zwischen Justiz und Jugendhilfe. Hierbei handelt es sich um eine<br />

deliktspezifische Behandlungsmaßnahme mit dem Ziel der Verhaltens- und<br />

Einstellungsänderung. Praktiziert werden diese besonderen Trainings in Deutschland<br />

seit nunmehr fast 20 Jahren. Über den Stand der Wirksamkeitsforschung habe ich im<br />

Abschnitt 3.3 bereits Auskunft gegeben. Im Sinne der Alltagstauglichkeit gilt es<br />

nunmehr einen Blick auf quantitative Daten zum AAT zu werfen. Evaluiert werden<br />

diese Daten vom Träger der lizensierten und als Warenzeichen eingetragenen<br />

Trainer –Ausbildung vom Institut für Sozialpädagogik und Sozialarbeit (ISS) in<br />

Frankfurt/Main, in Kooperation mit dem Institut für <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik unter<br />

Leitung eines der Protagonisten dieser Maßnahmen, Professor Jens Weidner, an der<br />

Hamburger <strong>Universität</strong> für angewandte Wissenschaften (HAW). Laut dem ISS/<br />

Frankfurt läuft gegenwärtig der 24. Ausbildungsgang zum Anti-Aggressivitäts-Trainer,<br />

so dass Weidner zurecht von einer Anzahl von mehr als 200 ausgebildeten und<br />

lizensierten Trainern spricht (vgl Weidner/Kilb/Jehn, 2003). Demnach wurden im<br />

Jahr 2001 in Deutschland insgesamt 88 Projekte mit insgesamt 952 Teilnehmern<br />

durchgeführt. Nach der Meinung der Verfasser lässt sich aus dieser Anzahl von<br />

Maßnahmen ableiten, dass sich das Anti-Aggressivitäts-Training in Deutschland<br />

nach einer Einführungsphase seither in einer Konstitutionsphase befindet (ebd.).


Belegen sollen dies die Zahlen der durchgeführten Anti-Aggressivitäts-Trainings<br />

nach Auskunft des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik.<br />

Jahr 2000 2001 2002 2003<br />

Trainingsmaßnahmen<br />

(vgl.www.iss.ffm.de)<br />

Trotz dieser kontinuierlich steigenden Zahl an Trainingsmaßnahmen im<br />

Bundesgebiet erscheint derzeit kein nennenswertes Expansionspotenzial für diese<br />

Maßnahmen vorhanden zu sein. Vor dem Hintergrund der Kostenintensität und den<br />

schwierigen Haushaltslagen in allen öffentlichen Kassen erscheint es hoch<br />

wahrscheinlich, dass sich Anti-Aggressivitäts-Trainings quantitativ auf dem Niveau<br />

einpendeln werden, wie es vom ISS für 2001 evaluiert wurde. Auf diesem Niveau<br />

kann von einer bestehenden Alltagstauglichkeit des Anti-Aggressivitäts-Trainings<br />

gesprochen werden. Im Sinne der qualitativen Entwicklung ist es sinnvoll ein<br />

größeres Augenmerk auf die Nachbetreuung der Teilnehmer zu legen.<br />

Weiterhin wäre wünschenswert, dass die Protagonisten der „Szene“ sich in Zukunft<br />

auf eine ernsthafter geführte erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit<br />

ihren Kritikern einlassen würden. Die durchaus angebrachten Kritiken, zum Beispiel<br />

von Scherr/Simon, werden meines Erachtens nach zu polemisch gekontert.<br />

Ausdrücklich ausschließen vom Vorwurf der Polemik möchte ich auf Seiten der<br />

Vertreter der <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik Wolfgang Tischner, der mit seinen Gedanken<br />

zur „vergessenen väterlichen Seite der Erziehung“ einen deutlichen Hinweis auf eine<br />

vorhandene Schwachstelle im Haltungs- und Handlungsrepertoire der gegenwärtigen<br />

bundesdeutschen, sozialpädagogischen Landschaft liefert. Das noch nicht<br />

ausreichend erziehungswissenschaftlich-theoretisch abgesicherte Selbstverständnis<br />

dieser relativ neuen pädagogischen Methodik, könnte sich durch eine ernsthaftere<br />

Auseinandersetzung mit ihren Kritikern nur verfestigen.<br />

In Abgrenzung zu Glen Mills zeigen die Vertreter dieser Pädagogik in Deutschland<br />

jedoch deutlich mehr Bereitschaft zur Transparenz.


Besondere Aufmerksamkeit im Sinne der Beantwortung der zentralen Fragen dieser<br />

Arbeit verdienen die <strong>Konfrontative</strong>n Schulsozial- und Coolnesstrainings. Vor dem<br />

Hintergrund der sich verändernden Schullandschaft werden diese Maßnahmen nach<br />

den Erfahrungen des Verfassers dieser Arbeit zunehmend abgefragt. Das Kapitel<br />

vier setzt sich damit auseinander. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegt noch keine<br />

qualitative oder quantitative Studie zu diesen Trainings vor, die<br />

erziehungswissenschaftlichen Standards standhalten könnte. Allerdings bemüht sich<br />

die HAW Hamburg derzeit um Forschungsgelder für eine solche Untersuchung.<br />

Die von der Bundesregierung gewünschte intensivierte Kooperation zwischen<br />

Jugendhilfe und Schule (vgl. 12. Jugendbericht) im Sinne der Neugestaltung des<br />

Lern- und Lebensortes Schule mit seinen - auch sozialisatorischen – Aufgaben und<br />

Herausforderungen scheint hoch geeignet zur Implementierung <strong>Konfrontative</strong>r<br />

Trainings. Diese müssen nicht ausschließlich defizitorientiert sein, sondern können in<br />

der Tradition sozialer Trainings mit dem Schwerpunkt der Kompetenzförderung mit<br />

spezifischen Gruppen von Schülern, Schulklassen oder Jahrgangskohorten<br />

durchgeführt werden. Im Sinne der Alltagstauglichkeit sehe ich auf diesem Markt die<br />

größten Entwicklungsmöglichkeiten einer <strong>Konfrontative</strong>n Methodik in der Sozialen<br />

Arbeit.<br />

Auch für diese Trainingsform wurden vom ISS/Frankfurt Zahlen ermittelt, die ich in<br />

der nachfolgenden Grafik darstellen möchte.<br />

Jahr<br />

Trainingsmaßnahmen<br />

(vgl. iss.ffm.de)<br />

Generell lässt sich zusammenfassen, dass die <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik mit ihren<br />

praktizierten Methoden, die in dieser Arbeit hinreichend beschrieben wurden, eine<br />

zunehmende Alltagstagstauglichkeit entwickeln. Eine Gefährdung besteht in der<br />

Situationsdynamik, der sich professionalisierenden Bewegung der Vertreter der<br />

<strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik. Auf dem Wege von einer „Peer-Group-Organisation“ - die


wesentlichen Vertreter dieser Schule stammen aus den ersten beiden<br />

Ausbildungsgängen am ISS/Frankfurt - zu einer Institution in der Sozialen Arbeit.<br />

Exemplarisch dafür stehen die öffentlich ausgeführten Kompetenzdebatten bei der<br />

Gründung des „Instituts für <strong>Konfrontative</strong> Pädagogik“ in Hamburg im Jahr 2004 oder<br />

die Gründung mehrerer konkurrierender Dachverbände.<br />

Ein weiteres Moment der <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik, das ich für erwähnenswert - weil<br />

potenziell haltungsgenerierend - erachte, formuliert Wolters mit seiner „Streitschrift<br />

für ein endliches Umdenken in Jugendhilfe, Jugendrechtspflege und Kinder- und<br />

Jugendpsychatrie“. Das sicherlich für den Rahmen etwas zu emotional und moralisch<br />

geratene Kapitel drei dieser Arbeit verdeutlicht, was damit gemeint sein soll.<br />

Besonders die Jugendhilfe verliert meines Erachtens zunehmend an Kontur im<br />

Dilemma des doppelten Mandats. An dieser Stelle wünschte ich den Schaffenden<br />

mehr Mut im Sinne des griechischen „Paidos-again“ (den Jüngling führen). Als<br />

Beispiel hierfür möchte ich auf eine Arbeitshilfe des Landschaftsverbandes Westfalen<br />

Lippe (LWL) mit dem Titel „Rechte Minderjähriger in Einrichtungen der<br />

Erziehungshilfe“ aus dem Jahr 2006 verweisen, in der auf mehr als 40 Seiten die<br />

Rechte der Jugendlichen dargelegt werden, zu den Pflichten jedoch nur kurz<br />

Auskunft gegeben wird.<br />

„Dabei geht es für die in der Erziehungshilfe betroffenen Kinder und Jugendliche<br />

neben eigenen Rechten auch um Pflichten. Wenn in den folgenden Arbeitshilfen<br />

dieser Ansatz nachrangig erscheint, so liegt dies in der Tatsache begründet, dass mit<br />

dem Beschreiben der Inhalte eines Rechts auch dessen Grenzen festgelegt sind.<br />

Gerade dort beginnen aber die Pflichten Minderjähriger gegenüber anderen“ (LWL,<br />

2006).<br />

Diese lapidare Aussage erfordert allerdings ein Höchstmaß an kognitiver und<br />

moralischer Reife und Entwicklung, welches von den Autoren nahezu<br />

selbstverständlich vorausgesetzt wird, in der Realität jedoch weder von<br />

entsprechenden Studien belegt, noch von Praktikern nachvollzogen werden kann.<br />

Ein weiterer zukunftsfähiger Aspekt der <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik liegt schließlich im<br />

Marketing-Verhalten. Pädagogische oder therapeutische Anwendungen als<br />

geschützte Markenzeichen in das Handelsregister eintragen zu lassen, ist für den<br />

Bereich der Jugendhilfe meines Wissens nach bisher in Deutschland einmalig. Das<br />

Selbstverständnis das hinter dieser bewussten Handlung steht, könnte für andere


Bereiche als Vorbild dienen. Im Rahmen dieser Arbeit in die Debatte um die<br />

„Ökonomisierung“ in der Sozialen Arbeit einzusteigen, war jedoch nicht möglich.<br />

Bleibt noch die im Titel gestellte Frage zu beantworten, ob denn die <strong>Konfrontative</strong><br />

Pädagogik nun die „Zauberformel“ zur Arbeit mit aggressiver Klientel sei. Die Antwort<br />

darauf muss „Nein“ lauten. Der Stand der gegenwärtigen Aggressionsforschung, auf<br />

den ich im Rahmen der Arbeit - zugunsten eines Überblicks über die Methoden der<br />

<strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik – nicht explizit eingegangen bin, macht deutlich, dass die<br />

Ursachen für aggressives Verhalten zu komplex sind, als dass diesem Phänomen<br />

mittels einer Haltung oder Methode „beizukommen“ wäre. Vielmehr muss sich eine<br />

<strong>Konfrontative</strong> Pädagogik als Ergänzung „herkömmlicher“ Methoden und Haltungen<br />

der Sozialen Arbeit, im Sinne einer Ausdifferenzierung und Spezialisierung für eine<br />

besondere Klientel begreifen.<br />

5.2 Persönliches Schlusswort<br />

Die Erstellung dieser Diplomarbeit stellte auch vor dem Hintergrund erheblicher<br />

Vorerfahrungen in den Bereichen Jugendhilfe und Justiz eine Herausforderung dar.<br />

Nach Durchführung und Leitung von insgesamt fast 1000 Stunden konfrontativer<br />

Trainings in der Jugendarrestanstalt <strong>Vechta</strong>, nahezu 300 Stunden Re-<br />

Sozialisierungstrainings in der JVA <strong>Vechta</strong>, mehreren <strong>Konfrontative</strong>n<br />

Schulsozialtrainings im beschriebenen Sinne, sowie 240 Stunden Anti-<br />

Aggressivitäts-Training hatte sich vieles zur Selbstverständlichkeit entwickelt und die<br />

kritische Selbstreflexion deutlich nachgelassen. Genau an dieser Stelle hat mir das<br />

Erstellen dieser Arbeit geholfen, eigene Positionen neu zu überdenken und als<br />

Praktizierender einer <strong>Konfrontative</strong>n Pädagogik die Kritiken besser zu verstehen und<br />

in ein positives Selbst- und Methodenkonzept integrieren zu können.<br />

Ich fühle mich durch das Erstellen dieser Arbeit sicherer positioniert, habe ethische<br />

und moralische Grenzen erneut ausloten können und bin gut vorbereitet für das


nächste Anti-Aggressivitäts-Training, das ich zusammen mit einigen Kollegen in<br />

veranwortlicher Position ab September diesen Jahres durchführen werde.<br />

Ich bitte an dieser Stelle um Verständnis für den eher emotionalen und moralischen<br />

Stil in Kapitel drei. Doch in diesem speziellen Kapitel ließen sich beruflich-<br />

biographische Erfahrungen aus nunmehr 15 Jahren Jugendhilfe nicht ausblenden.<br />

Peter Sloterdijk sagte einmal: „Zyniker sind gescheiterte Idealisten.“ Zu einem<br />

solchen möchte ich (noch) nicht werden. Also missbrauchte ich diese Arbeit an der<br />

beschriebenen Stelle ein wenig zur Psychohygiene.

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