50 - Alexander von Humboldt-Stiftung
50 - Alexander von Humboldt-Stiftung
50 - Alexander von Humboldt-Stiftung
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong><br />
<strong>Humboldt</strong><br />
kosmos<br />
>><br />
>><br />
kosmos Nr.86 >> Dezember 2005<br />
Die Macht der Bilder<br />
The Power of Images
Verstärkung für Ihr Forschungsteam<br />
Support for your research team<br />
Sie sind <strong>Humboldt</strong>-Fellow? Dann können Sie jetzt, gefördert<br />
durch das Feodor Lynen-Stipendium, Ihren<br />
Wunsch-Mitarbeiter engagieren. Wir unterstützen<br />
langfristige Forschungsaufenthalte hoch qualifizierter<br />
deutscher Postdocs am Institut eines ehemaligen<br />
<strong>Humboldt</strong>-Stipendiaten oder -Preisträgers im Ausland.<br />
Gefördert werden deutsche Wissenschaftlerinnen und<br />
Wissenschaftler aus allen Fachgebieten, die zum Zeitpunkt<br />
des Stipendiumantritts ihre Promotion abgeschlossen<br />
haben und jünger als 38 Jahre sind.<br />
Die Bewerbung kann jederzeit auf Anregung des wissenschaftlichen<br />
Gastgebers im Ausland oder durch Eigeninitiative<br />
des Bewerbers erfolgen. Mit der Antragstellung<br />
muss ein mit dem Gastgeber abgesprochener Forschungsplan<br />
vorgelegt werden.<br />
Bewerbungsunterlagen und weitere<br />
Informationen finden Sie unter<br />
www.humboldt-foundation.de/lynen<br />
Bewerbungen sind jederzeit möglich.<br />
Are you a <strong>Humboldt</strong> Fellow? If so, you can now take<br />
on a research associate of your choice, with sponsorship<br />
from the Feodor Lynen Research Fellowships. We<br />
support long-term foreign research stays for highlyqualified<br />
German scholars at an institute of a former<br />
<strong>Humboldt</strong> guest researcher abroad.<br />
Research fellowships are available to German<br />
scientists of any discipline who have completed their<br />
doctorate and are younger than 38 at the start of<br />
the fellowship.<br />
Applications may be submitted either on the recommendation<br />
of an academic host abroad or on the<br />
candidate's own initiative. They must include a research<br />
plan, which has to be agreed in advance with<br />
the host organisation.<br />
Application forms and further<br />
information can be found at<br />
www.humboldt-foundation.de/ lynen<br />
Applications can be made at any time.<br />
<strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong><br />
Jean-Paul-Str. 12 · 53173 Bonn<br />
Tel: ++49-2 28-8 33-0<br />
E-Mail: info@humboldt-foundation.de<br />
www.humboldt-foundation.de
1 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
>><br />
Editorial<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
wenn ich als Kind durch die Straßen meiner Heimatstadt<br />
(des bayerischen Augsburg) ging, habe ich mich<br />
an den sprudelnden Brunnen der breiten Straße<br />
gefreut, welche die Stadt <strong>von</strong> Süden nach Norden<br />
durchquert. Lesen konnte ich die Bilder der Architektur<br />
damals nicht. Diese breite Straße, so wurde mir<br />
später bewusst, ist spätantiken Ursprungs, weil die<br />
Gründung der Stadt auf ein Kastell römischer Legionen<br />
zurückgeht. An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert<br />
hat dann die Freie Reichsstadt den alten Prozessionsweg<br />
durch drei in Brunnenform gefasste Denkmäler<br />
geschmückt, durch einen Augustus-, einen Merkur-<br />
und einen Herkulesbrunnen. Wer „lesen“ kann,<br />
wird darin den wohlgeordneten sozialen Raum der<br />
alten Stadt erkennen: Augustus ist Sinnbild des Stadtregiments;<br />
Merkur, der Gott des Handels, ist Allegorie<br />
der patrizischen Kaufmannsgeschlechter; und Herkules<br />
schließlich ist Abbild der Handwerker, die in den<br />
heute noch nach ihnen benannten Gässlein, getrennt<br />
nach Berufen, abseits der breiten Straße zusammenwohnten.<br />
So gibt es in den alten Städten eine Brotund<br />
eine Fleischstraße, ein Färbergässlein, einen<br />
Schmiedberg und viele andere sprechende Straßen.<br />
Gekrönt wurde in Augsburg das Ensemble der Brunnen<br />
durch den Reichsadler auf dem Giebel des städtischen<br />
Siegelhauses. Denn der Kaiser war der eigentliche<br />
Herr der Freien Reichsstadt. Der Heidelberger<br />
Archäologe Tonio Hölscher hat gezeigt, dass solch<br />
sprechende Stadtbilder, in denen sich die Architektur<br />
mit Skulpturen, Mosaiken und Vasenbildern verbindet,<br />
in der griechischen und der römischen Antike wurzeln.<br />
Er hat belegt, dass und wie eine solche Bildsprache<br />
<strong>von</strong> allen Bewohnern der heterogenen Teile der alten<br />
Reiche verstanden wurde.<br />
Bis tief in das 18. Jahrhundert hinein haben alle Dinge<br />
der Natur und der Kultur etwas bedeutet. Die Menschen<br />
konnten mehr Sprachen lesen als nur die der<br />
Wörter, der Texte, der Schriftzeichen. Sie konnten die<br />
Kirchen, die Tempel, die Friedhöfe lesen, sie lebten in<br />
und mit den Ritualen, die dort verrichtet wurden, die<br />
Biblia Pauperum war auf die Innenwände mittelalterli-<br />
Titelthema Coverstory<br />
cher Dome gemalt. Das 18. Jahrhundert, die Zeit der<br />
Aufklärung, hat den Orient vom Okzident getrennt.<br />
Jetzt verloren die „Dinge“, die einst auf das hinter<br />
ihnen liegende „Numinose“ verwiesen, ihre vielschichtige<br />
Aussage. Sie „bedeuteten“ nicht mehr, sie waren<br />
nur noch sie selbst. In dieser Zeit entstand mit der Vorherrschaft<br />
der Wörter und der Texte die moderne, rationale<br />
Wissenschaft, in deren Kern der kreative Zweifel<br />
nistet. Wir, die wir in Zeiten aufgewachsen sind, die<br />
<strong>von</strong> Wörtern und Texten beherrscht werden, sind leicht<br />
zu betrügen <strong>von</strong> unerkannten Ritualen, <strong>von</strong> unbestechlichen<br />
Fotografien, welche scheinbar nur Wirklichkeit<br />
abbilden, aber doch manipulierbar sind.<br />
„Medienkompetenz“ nennen wir den Versuch, über die<br />
Worte und die Texte hinauszudringen, einer flüchtigen<br />
Zeit die Dynamik der Rituale abzuschauen, zu lernen,<br />
welche Sprache die Bilder sprechen, wie zumal die<br />
Fotografie und das bewegte Bild unser Leben dominieren.<br />
Die amerikanische Essayistin Susan Sontag, die<br />
2003 in Frankfurt mit dem Friedenspreis des Deutschen<br />
Buchhandels ausgezeichnet wurde und ihr<br />
Leben darauf gesetzt hat, die tiefe Kluft zwischen dem<br />
„neuen“ Amerika und dem „alten“ Europa zu erklären,<br />
hat uns deutlich gemacht, dass und wie unsere Wirklichkeit<br />
zumal durch die Kriegsfotografie gedeutet und<br />
verfälscht werden kann, welche Macht für die im Bildsehen<br />
ungeübten Menschen selbst <strong>von</strong> einer Fiktion<br />
der Wirklichkeit ausgeht. Die Wirklichkeit, die wir<br />
leben, stellt sich in Bildern und in Sprache her, in Bildern<br />
der Erinnerung ebenso wie in Visionen der<br />
Zukunft. Beide, Vergangenheit und Zukunft, stehen<br />
(nach Maurice Halbwachs) nicht naturwüchsig an. Sie<br />
sind soziale Setzungen, konstruiert aus den jeweiligen<br />
Bedürfnissen der Gegenwart. Von der Macht der Bilder<br />
handelt dieses Heft des <strong>Humboldt</strong>-Kosmos. Wir alle<br />
sind ihr unterworfen und sollten daher versuchen,<br />
„lesen“ zu lernen.<br />
Aus Bonn grüßt herzlich die Mitglieder der weltweiten<br />
<strong>Humboldt</strong>-Familie<br />
Wolfgang Frühwald
Impressum Imprint<br />
<strong>Humboldt</strong> Kosmos<br />
Ausgabe Issue<br />
86<br />
Herausgeber Publisher<br />
<strong>Alexander</strong> <strong>von</strong><br />
<strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong><br />
V.i.S.d.P. Responsible person in<br />
accordance with German press law<br />
Generalsekretär<br />
Secretary General<br />
Dr. Georg Schütte<br />
Redaktion Editorial Staff<br />
Georg Scholl (Leitung) (Head)<br />
Ulla Hecken<br />
Redaktionelle Mitarbeit<br />
Editorial support<br />
Alexandra Dahir<br />
Satz Typesetting<br />
Courir-Druck GmbH, Bonn<br />
Übersetzungen ins Englische<br />
English Translations<br />
Mike Gardner<br />
Wissenschaftlicher Beirat<br />
Academic Advisory Board<br />
Prof. Dr. Roland Fischer<br />
Prof. Dr. Joachim Jens Hesse<br />
Prof. Dr. Wolfgang Peter Schleich<br />
Prof. Dr. Waltraud Wiethölter<br />
Redaktionsbeirat<br />
Editorial Advisory Board<br />
Dr. Ulrike Albrecht<br />
Dr. Sven Baszio<br />
Dr. Johannes Belz<br />
Dr. Gisela Janetzke<br />
Dr. Barbara Sheldon<br />
Redaktionsanschrift Address<br />
Redaktion <strong>Humboldt</strong> Kosmos<br />
Jean-Paul-Straße 12<br />
D-53173 Bonn<br />
presse@avh.de<br />
www.humboldt-foundation.de<br />
Verlag und redaktionelle<br />
Verantwortung für die Rubrik<br />
Nachrichten Publishing House<br />
and editorial responsibility for<br />
the News section<br />
Lemmens Verlags- &<br />
Mediengesellschaft mbH<br />
Matthias-Grünewald-Str. 1-3<br />
D-53175 Bonn<br />
info@lemmens.de<br />
www.lemmens.de<br />
Druck Printer<br />
Druckpartner Moser GmbH,<br />
Rheinbach<br />
Erscheinungsweise 2 x jährlich<br />
Appearing twice a year<br />
Auflage dieser Ausgabe<br />
Circulation of this issue<br />
32.000<br />
>>><br />
2 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
>><br />
Inhalt<br />
Contents<br />
Titelthema Coverstory
Bildnachweis Picture credits<br />
Titel, S. 29, 45: Böll & Fischer GbR,<br />
Unkel<br />
S. 2, 32, 33 oben rechts, 47, 49: picturealliance/ZB-Fotoreport<br />
S. 3: picture-alliance/KPA/HIP/ArtMedia;<br />
picture-alliance/dpa-Report; Paul<br />
Eckenroth/JOKER, picture-alliance/<br />
dpa-Fotoreport<br />
S. 7: picture-alliance/OKAPIA, Manfred<br />
P. Kage<br />
S. 9, 10/11: Autor<br />
S. 13: picture-alliance/KPA/HIP/ArtMedia<br />
S. 14: picture-alliance/akg-images<br />
S. 15: picture-alliance/KPA/HIP/The British<br />
Library<br />
S. 16, 63, 64: picture-alliance/dpa-Fotoreport<br />
S. 19: Autor<br />
S. 20 oben: CDU; unten: SPD<br />
S. 22, 23: Autor<br />
S. 25, 27: picture-alliance/akgimages/Erich<br />
Lessing<br />
S. 26: picture-alliance/akg-images<br />
S. 31 oben, S. 33 oben links: Universität<br />
Magdeburg<br />
S. 31 unten: picture-alliance/OKAPIA KG,<br />
Germany<br />
S. 35: picture-alliance/dpa-Bildarchiv<br />
S. 37: picture-alliance/dpa-Report<br />
S. 39 oben, 43 oben links: picturealliance/dpa-Bildarchiv<br />
S. 39 unten: picture-alliance/dpa<br />
S. 41 oben links: picture-alliance/ZB/<br />
dpa-Report<br />
S. 41 oben rechts: picture-alliance/KPA<br />
Copyright<br />
S. 43 oben rechts: picture-alliance/dpa/<br />
ZB-Special<br />
S. 48: picture-alliance/dpa/dpaweb<br />
S. <strong>50</strong>: Paul Eckenroth/JOKER<br />
S. 51: Auswärtiges Amt<br />
S. 52: Hartwig Lohmeyer/JOKER<br />
S. 53: oben links: Photo Disk, oben<br />
rechts: Deutsches Elektronen-Synchrotron<br />
(DESY)<br />
S. 54: David Ausserhofer/JOKER<br />
S. 55 oben links: Deutscher Bundestag<br />
S. 55 oben rechts: Deutscher Bundestag<br />
S. 56 <strong>von</strong> oben nach unten: picture-alliance/dpa/dpaweb/dpa-Report;picturealliance/dpa/dpaweb/dpa-Bildfunk;picture-alliance/dpa/dpaweb/dpa-Report;<br />
S. 57 oben und unten: picture-alliance/<br />
dpa/dpaweb/dpa-Report<br />
S. 59, 61: <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong><br />
Autorenfotos: privat<br />
Die Beiträge geben die persönliche Sicht<br />
der Autoren und nicht die der <strong>Alexander</strong><br />
<strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong> wieder. Nichtnamentlich<br />
gezeichnete Artikel und Interviews<br />
sind redaktionelle Beiträge.<br />
Contributions reflect the personal views<br />
of the authors and not those of the <strong>Alexander</strong><br />
<strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong> Foundation. Articles<br />
with no reference to an author are editorial<br />
contributions.<br />
ISSN 0344-0354<br />
3 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
13 37 <strong>50</strong> 64<br />
1<br />
Editorial<br />
2<br />
Inhalt<br />
Contents<br />
4<br />
Criticus meint...<br />
6<br />
Titelthema –<br />
Die Macht der Bilder<br />
Cover Story –<br />
The Power of Images<br />
8<br />
Interview<br />
Teruaki Takahashi<br />
Wir denken in Bildern<br />
We think in pictures<br />
12<br />
Interview<br />
Lucy-Anne Hunt<br />
Von den Kreuzfahrern<br />
zu Al Qaida<br />
From the crusaders<br />
to Al Qaida<br />
16<br />
Andrea Gentile<br />
Reiß dich los<br />
<strong>von</strong> deiner Sklavenkette<br />
Break loose from<br />
your ball and chain<br />
18<br />
Belkis Bilgin-Eran<br />
Wenn aus Forschung<br />
Kunst wird<br />
When research<br />
turns into art<br />
20<br />
Sergej Sumlenny<br />
Wer hat hier eigentlich<br />
gewonnen?<br />
Now who’s the winner?<br />
24<br />
Inigo Bocken<br />
Lernen <strong>von</strong> Cusanus<br />
Learning from Cusanus<br />
28<br />
Interview<br />
Hans-Jochen Heinze<br />
Wir schauen dem<br />
Gehirn beim Denken zu<br />
Watching<br />
the brain think<br />
34<br />
Deutschland<br />
im Blick<br />
View onto<br />
Germany<br />
Kenneth Pennington<br />
Meine weiß-blaue<br />
Identität<br />
My white and blue<br />
identity<br />
40<br />
Mark Elliott<br />
Deutsche Rätsel,<br />
schottische Antworten<br />
German puzzles,<br />
Scottish answers<br />
Titelthema Coverstory<br />
44<br />
<strong>Humboldt</strong>ianer<br />
im Profil<br />
<strong>Humboldt</strong>ians<br />
in Profile<br />
Laurence A. Rickels<br />
Rettet die Germanistik<br />
Save German Studies<br />
46<br />
Lorenzo Perilli<br />
Was Forscher<br />
wirklich wollen<br />
What researchers<br />
really want<br />
<strong>50</strong><br />
Nachrichten<br />
News<br />
56<br />
Neues aus<br />
der <strong>Stiftung</strong><br />
News from<br />
the Foundation<br />
62<br />
Wissenschaft<br />
und Kultur<br />
Science<br />
and Culture<br />
Jörn Ahrens<br />
Von der Antike<br />
ins Weltall<br />
From the antique<br />
to outer space
Criticus meint...<br />
dass Deutschland eine Außenwissenschaftspolitik<br />
braucht. Denn Wissenschaft ist im 21. Jahrhundert endgültig<br />
zu einem Feld internationaler Konkurrenz geworden.<br />
Dies jedoch nicht in einem eng wissenschaftsimmanenten<br />
Sinn: Die Suche nach Wahrheit, nach der aktuell<br />
tragfähigsten und weitestreichenden Erklärung fand<br />
schon immer ohne Rücksicht auf die Grenzen <strong>von</strong> Herrschaftsbereichen<br />
und Staaten statt. Neu ist die Bedeutung,<br />
die grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse<br />
und ihre Anwendung in Forschung und Entwicklung für<br />
die Produktivkraft moderner Staaten und Staatenbünde<br />
haben.<br />
Solange die Industrie im 20. Jahrhundert jedoch der<br />
bei weitem stärkste Motor wirtschaftlichen Wachstums<br />
war und solange die deutschen Hochschulen in erster<br />
Linie für den heimischen Markt ausbildeten, standen die<br />
internationalen Entwicklungen der Bildungs-, Hochschulund<br />
Wissenschaftssysteme anderer Länder nicht im Mittelpunkt<br />
des Interesses. Die Teilung der Welt in zwei militärisch-wirtschaftliche<br />
Blöcke trug zudem dazu bei, den<br />
Blickwinkel und die Kooperationschancen einzuengen.<br />
Der Fall des Eisernen Vorhangs und die Globalisierung<br />
der Wirtschafts- und Wissenschaftsbeziehungen katapultierten<br />
jedoch in kürzester Zeit die nationalen akademischen<br />
Systeme in eine neue Phase internationaler Kooperation<br />
– und Konkurrenz: Ein weltweiter Wettlauf ist entbrannt<br />
um begabte Studierende, kreative Doktoranden,<br />
innovative Postdocs und renommierte Wissenschaftlerinnen<br />
und Wissenschaftler.<br />
Die deutsche Außenpolitik muss auf diese Entwicklungen<br />
reagieren. In der alten Zeit industriellen Wachstums<br />
ist die Bundesrepublik Deutschland den internationalen<br />
Herausforderungen für die nationale Wirtschaft<br />
mit einer Außenwirtschaftspolitik begegnet. In der neuen<br />
Zeit globaler Wissensvernetzung und Innovationskonkurrenz<br />
steht die Antwort einer Außenwissenschaftspolitik<br />
noch aus.<br />
Viele Akteure – wenig Koordination?<br />
Auf allen Ebenen der staatlichen Verwaltung gestalten<br />
derzeit in Deutschland unterschiedlichste Akteure die<br />
internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit: Wissenschafts-<br />
und Forschungsministerium, Außen-, Wirtschafts-,<br />
Umwelt-, Verbraucherschutz-, Landwirtschaftsoder<br />
Entwicklungsministerium – in der ein oder anderen<br />
4 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Form organisieren und finanzieren zahlreiche Bundesministerien<br />
Forschungsarbeiten, die international vernetzt<br />
sind. Einzelne Bundesländer finanzieren für die<br />
Studierenden und Lehrenden ihrer Hochschulen internationale<br />
Kooperations- und Austauschprogramme. Selbst<br />
in den Schulen sind Auslandsjahre, die junge Menschen<br />
auf eine internationale Ausbildung und Arbeitswelt vorbereiten<br />
sollen, keine Seltenheit mehr.<br />
Längst hat die deutsche Wissenschaft die Herausforderungen<br />
erkannt: Deutsche Universitäten richten Vertretungen<br />
im Ausland ein, exportieren Studienangebote,<br />
gründen so genannte Satellitencampusse oder kooperieren<br />
beim Aufbau deutscher Universitäten und Fachhochschulen<br />
in anderen Ländern. Seit Jahrzehnten haben die<br />
großen Internationalisierungsagenturen der deutschen<br />
Hochschulen und der deutschen Wissenschaft, die <strong>Alexander</strong><br />
<strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong> und der Deutsche Akademische<br />
Austauschdienst, ein weltweites Vertrauensnetz<br />
<strong>von</strong> erfolgreichen jungen Menschen und anerkannten<br />
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufgebaut.<br />
Inzwischen werben sie jedoch auch weltweit für den Studien-<br />
und Forschungsstandort Deutschland und bemühen<br />
sich um internationale Strukturen an deutschen<br />
Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Die Deutsche<br />
Forschungsgemeinschaft hat ihre Förderprogramme<br />
komplett international geöffnet. Die Institute der<br />
Max-Planck-Gesellschaft, aber auch andere außeruniversitäre<br />
Forschungsstätten und -organisationen rekrutieren<br />
stärker denn je weltweit führende Wissenschaftlerinnen<br />
und Wissenschaftler für ihre Institute. Über eigene Auslandsbüros<br />
sondieren sie Kooperationsmöglichkeiten und<br />
bereiten die Zusammenarbeit mit renommierten und<br />
innovativen Instituten in anderen Ländern vor.<br />
***********************<br />
„In kürzester Zeit wurden die nationalen<br />
akademischen Systeme in eine neue Phase<br />
internationaler Kooperation und Konkurrenz<br />
katapultiert.“<br />
***********************<br />
Ein spezifisch deutsches Prinzip erweist sich in dieser<br />
Phase der rasanten Internationalisierung als förderlich:<br />
Die Selbstverwaltung der Wissenschaft, eine Schutzein-<br />
Criticus
ichtung des Wissenschaftssystems vor Fremdsteuerung<br />
und politischem Missbrauch, hat starke Organisationen<br />
geschaffen, die sich eng an den wissenschaftlichen<br />
und fachlichen Interessen ihrer Mitglieder und<br />
Zielgruppen orientieren. Als staatsferne Akteure oder<br />
in einem erweiterten Sinne auch Nicht-Regierungsorganisationen<br />
(NGOs) genießen sie in der weltweiten<br />
wissenschaftlichen Gemeinschaft Akzeptanz und Vertrauen,<br />
aber nicht nur dort. Der amerikanische Politikwissenschaftler<br />
Joseph Nye hat auf die Bedeutung der<br />
so genannten soft power für die internationale Politik<br />
aufmerksam gemacht: Nicht mehr nur auf den traditionellen<br />
Feldern der Außenpolitik, allen voran dem<br />
Feld der harten Politik und der harten Macht, der<br />
Sicherheitspolitik, werden die internationalen Beziehungen<br />
gestaltet. Zunehmend gewinnen Bereiche der<br />
weichen Politik an Bedeutung. Hierzu gehört traditionell<br />
die auswärtige Kulturpolitik, seit einiger Zeit auch<br />
im umfassenderen Verständnis <strong>von</strong> auswärtiger Kulturund<br />
Bildungspolitik. In Zukunft wird die Außenwissenschaftspolitik<br />
zu einem zentralen Aktionsfeld der<br />
Politik werden.<br />
Was eine Außenwissenschaftspolitik leisten kann<br />
Ziel dieser Außenwissenschaftspolitik sollte es sein, das<br />
vielstimmige Konzert der deutschen Akteure zu harmonisieren.<br />
Anleitung und Reglementierung würde die<br />
Chancen der deutschen Wissenschafts-NGOs behindern<br />
und wissenschaftsimmanentes Vertrauen unterminieren.<br />
Aber eine wechselseitige Information und<br />
Unterstützung bei der Koordination kann die Möglichkeiten<br />
erweitern. Außenwissenschaftspolitik findet an<br />
der Schnittstelle <strong>von</strong> Wirtschafts- und Forschungspolitik<br />
statt. Sie darf sich jedoch nicht in Technologiepolitik<br />
erschöpfen. Vielmehr muss sie die vielfältigen Potenziale,<br />
die in der internationalen Vernetzung sowohl<br />
der Grundlagenforschung als auch der anwendungsorientierten<br />
Forschung und industriellen beziehungsweise<br />
technischen Entwicklung liegen, fördern.<br />
***********************<br />
„Andere Länder sind bereits auf dem Weg,<br />
Wissenschafts-, Wirtschafts- und Außenpolitik<br />
zu verzahnen.“<br />
***********************<br />
5 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Ansätze gibt es seit langem: So entsendet das deutsche<br />
Forschungsministerium wissenschaftliche Referenten<br />
an ausgewählte deutsche Botschaften im Ausland. Diese<br />
Referate an den deutschen Botschaften gilt es zu stärken<br />
und enger mit den Wirtschaftsreferaten auf der<br />
einen und den Kulturreferaten auf der anderen Seite zu<br />
verbinden. Laufbahnen innerhalb der Bundesressorts,<br />
insbesondere im Forschungsministerium und im Auswärtigen<br />
Dienst, aber auch im Bundesministerium für<br />
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung könnten<br />
flexibilisiert werden, um einen stärkeren wechselseitigen<br />
Austausch zwischen den Ressorts zu ermöglichen.<br />
Im Berliner Auswärtigen Amt könnte ein außenwissenschaftspolitischer<br />
Strategiekreis, der mit führenden<br />
Vertretern der deutschen Wissenschafts- und<br />
Austauschorganisationen besetzt ist, den Außenminister<br />
beraten. Ein Unterausschuss für Außenwissenschaftspolitik<br />
könnte als gemeinsames Gremium des<br />
Ausschusses für Wissenschaft, Bildung und Technikfolgenabschätzung<br />
und des Auswärtigen Ausschusses im<br />
Deutschen Bundestag den ressortübergreifenden Blick<br />
öffnen und für eine angemessene Koordination und<br />
Kontrolle sorgen.<br />
Als rohstoffarmes Land ist Deutschland auf eine<br />
zukunftsorientierte, nachhaltige Gestaltung der internationalen<br />
Wissenschaftsbeziehungen angewiesen. Als<br />
Land mit einer besonderen historischen Verantwortung<br />
kann es in der Außenwissenschaftspolitik an eine<br />
Tradition der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik<br />
anknüpfen, die Vertrauen und Kooperation in den Mittelpunkt<br />
der internationalen Politikgestaltung stellt.<br />
Andere Länder sind bereits auf dem Weg, Wissenschafts-,<br />
Wirtschafts- und Außenpolitik zu verzahnen.<br />
Deutschland könnte mit einer dezidierten Entwicklung<br />
und Ausgestaltung der Außenwissenschaftspolitik weltweit<br />
Akzente setzen und Beachtung finden.<br />
Criticus<br />
Criticus
Die Macht der Bilder<br />
The Power of Images<br />
Es ist wie der Traum eines Insektenforschers:<br />
Eine Welt, die <strong>von</strong> den meisten<br />
unbeachtet im Verborgenen existiert,<br />
fasziniert auf einmal ein großes Publikum.<br />
Durch das Rasterelektronenmikroskop<br />
gesehen, werden aus Ameisen<br />
Kunstobjekte. Welche Rolle die Macht<br />
der Bilder für die Wissenschaft spielt,<br />
zeigen dieses und weitere Beispiele in<br />
diesem Heft. In bunten, spektakulären<br />
Bildern können Neurologen dem Gehirn<br />
beim Denken zusehen und neue<br />
Therapien entwickeln. Die Erforschung<br />
<strong>von</strong> Flüssigkristallen führt nicht nur zu<br />
wichtigen Anwendungen in zahlreichen<br />
Geräten, die unseren Alltag leichter<br />
machen, sie sorgt auch für ästhetische<br />
Glücksmomente am Okular und einer<br />
Ahnung <strong>von</strong> schöpferischer Größe im<br />
Kleinsten.<br />
Dem Einfluss der Bilder auf unser<br />
Denken, unsere Sprache und unser<br />
Handeln sind die weiteren Autoren dieser<br />
Ausgabe auf der Spur: Welche Rolle<br />
spielen Bilder in der japanischen Kultur,<br />
und weshalb lesen die Japaner in der U-<br />
Bahn so gerne Comics? Wie entstand<br />
das Kreuzfahrerbild zu Zeiten <strong>von</strong> Richard<br />
Löwenherz, und warum ist es<br />
heute noch so lebendig? Wie schneiden<br />
die Plakate der Parteien zur letzten Bundestagswahl<br />
ab – im deutsch-russischen<br />
Vergleich der Wahlkampfstrategien? Was<br />
ist dran an der klassischen Medienkritik<br />
und dem Vorwurf der grassierenden<br />
Manipulation vor allem durch das Fernsehen?<br />
Und wie könnten moderne Politiker<br />
<strong>von</strong> einem mittelalterlichen Philosophen<br />
den kreativen Gebrauch <strong>von</strong> Bildern<br />
lernen?<br />
It’s like the daydreams of an insectologist:<br />
a world existing hidden from the attention<br />
of the masses suddenly starts to fascinate a<br />
wide audience. Viewed under a grid electron<br />
microscope, ants turn into objects of<br />
art. This is one of a few examples this edition<br />
contains that demonstrate the power<br />
of images in science. Using spectacular<br />
illustrations, neurologists can watch the<br />
brain think and develop new therapies.<br />
Research on liquid crystals not only results<br />
in important applications in a wide range<br />
of apparatus making our everyday lives<br />
easier but also creates aesthetic moments<br />
of pleasure when peering through the lens<br />
as well as giving an inkling of creative<br />
power on a minute scale.<br />
Other authors in this edition look at<br />
how pictures influence how we think,<br />
speak and act. What is the role of pictures<br />
in Japanese culture, and why do the<br />
Japanese love to read comics on the underground?<br />
How did the motif of the crusader<br />
develop in the days of Richard the Lionheart,<br />
and why is it still so virulent nowadays?<br />
How do the posters of the parties<br />
campaigning for the recent Federal Elections<br />
fare in a German-Russian comparison<br />
of election strategies? How justified is<br />
classic criticism of the media and the accusation<br />
of rampant manipulation by television<br />
in particular? And in what way could<br />
modern-day politicians learn from a<br />
medieval philosopher about using pictures<br />
creatively?
8 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
Interview Teruaki Takahashi<br />
Wir denken in Bildern<br />
We think in pictures<br />
Bilder spielen in der japanischen Literatur eine große<br />
Rolle, <strong>von</strong> den klassischen Dichtungen bis zur U-<br />
Bahnlektüre <strong>von</strong> heute. Ein Gespräch mit dem Germanisten<br />
Teruaki Takahashi über japanische Traditionen,<br />
den Einfluss der Europäer und die Liebe der<br />
Japaner zu Comic-Heftchen.<br />
>> Kosmos: Herr Professor Takahashi, japanische<br />
Schriftzeichen sind näher am Bild und der Malerei als<br />
die lateinischen Buchstaben der westlichen Kulturen.<br />
Denken Japaner daher stärker in Bildern?<br />
>> Takahashi: Ich glaube nicht. Wenn man etwas<br />
sprachlich beschreibt, tut man das oft in Bildern. Aus<br />
den Wörtern entstehen Szenen vor unserem inneren<br />
Auge. Wenn Sie oder ich einen Aufsatz schreiben wollen,<br />
dann machen wir zunächst eine Art Skizze, eine Gliederung,<br />
die nicht nur aus Stichworten besteht, sondern die<br />
Zusammenhänge mit Pfeilen, Kästchen oder Unterstreichungen<br />
auch graphisch darstellt. Das ist nichts anderes<br />
als eine sehr reduzierte Form eines Bildes. Das menschliche<br />
Denken ist <strong>von</strong> dem bildlichen Vorstellen gar nicht<br />
zu trennen. Ob Sie nun Japaner sind oder Europäer.<br />
>> Kosmos: Dennoch spielen Bilder in der japanischen<br />
Kultur eine größere Rolle …<br />
>> Takahashi: … und zwar mit einer langen Geschichte.<br />
In traditionellen japanischen Büchern werden<br />
Sie kaum eine Seite ohne Bilder finden. Text und Bild<br />
waren eine Einheit. In der Edo-Zeit, die <strong>von</strong> 1603 bis<br />
1867 dauerte, gab es, besonders seit dem 18. Jahrhundert,<br />
speziell gebildete Schreiber, die Bunjin. Bun bedeutet<br />
Schrift und jin heißt Mensch, also Schriftmensch.<br />
Ein Bunjin musste aber nicht nur gut dichten<br />
können, er musste auch eine Landschaft schlicht und<br />
schön malen können – auch Blumen, Vögel oder Pferde.<br />
Doch diese Tradition wurde unterbrochen.<br />
>> Kosmos: Wodurch?<br />
>> Takahashi: Es lag an dem wachsenden Einfluss der<br />
Europäer, die eine klare Trennlinie zwischen Bild und<br />
Schrift zogen. Für die Japaner war das damals etwas<br />
ganz Neues, und sie importierten diese Denkweise. Die<br />
Bunjin-Tradition wurde als altmodisch abgetan. Das ist<br />
ein Beispiel für den Eurozentrismus, den sich die Japaner<br />
nach Öffnung des Landes in der Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
aneigneten.<br />
>> Kosmos: Kann man eine Linie ziehen <strong>von</strong> der Tradition<br />
der Bunjin zu den heute so enorm populären<br />
In Japanese literature, whether it be classic poetry<br />
or today’s light reading for people on the underground,<br />
pictures play an important role. Kosmos<br />
talked to German language and literature scholar<br />
Teruaki Takahashi about Japanese traditions, European<br />
influence and Japan’s special liking for<br />
comics.<br />
>> Kosmos: Professor Takahashi, Japanese characters are<br />
more like pictures and painting than the Latin letters of<br />
western cultures. So do the Japanese think more in pictures?<br />
>> Takahashi: I don’t believe so. You often use pictures<br />
when you are describing something with words. Your<br />
inner eye sees the scenes that the words evoke. If you or I<br />
wish to write an essay, we will first draw a sort of diagram,<br />
a structure containing arrows, boxes or underlined<br />
items in addition to headwords to give a graphic impression<br />
of the links between the words. What we have here is<br />
a very reduced form of a picture. You can’t separate human<br />
thinking from symbolic imagining, regardless of<br />
whether you happen to be Japanese or European.<br />
>> Kosmos: But pictures are nevertheless still more<br />
important in Japanese culture …<br />
>> Takahashi: … and here we can look back on a long<br />
history. For example, you will find hardly any page without<br />
illustrations in traditional Japanese books. The text<br />
and the pictures formed an entity. In the Edo era, which<br />
lasted from 1603 to 1867 there used to be specially trained<br />
scribes, the Bunjin. Bun means writing, and jin refers to<br />
a human being, or person. So the Bunjin was the writing<br />
person. But he wasn’t only expected to write well. He also<br />
had to be able to paint a simple and nice picture of a landscape,<br />
and also of flowers, birds or horses. However, this<br />
tradition was interrupted.<br />
>> Kosmos: By what?<br />
>> Takahashi: That was due to the growing influence of<br />
the Europeans, who drew a clear line between pictures<br />
and writing. At the time, this was something quite new<br />
for the Japanese, a way of thinking they were keen to<br />
import while dismissing the Bunjin tradition as oldfashioned.<br />
This is an example of the Eurocentrism the<br />
Japanese adopted since they had opened up their country<br />
to the outside world in the middle of the nineteenth century.<br />
>> Kosmos: Is there a link between the Bunjin tradition<br />
and the Japanese comics, the mangas, which are so enor-<br />
*******<br />
Professor Dr. Teruaki<br />
Takahashi lehrt Germanistik<br />
an der Rikkyo<br />
Universität in Tokio. Als<br />
<strong>Humboldt</strong>-Forschungsstipendiat<br />
war er <strong>von</strong><br />
1984-86 und 2004 an den<br />
Universitäten in Bonn<br />
und Köln.<br />
*******<br />
Professor Dr. Teruaki<br />
Takahashi teaches German<br />
language and literature<br />
at Tokyo’s Rikkyo<br />
University. He was at the<br />
Universities of Cologne<br />
and Bonn as a <strong>Humboldt</strong><br />
Research Fellow from<br />
1984-86 and in 2004.<br />
Genji neu: Seite aus Waki<br />
Yamato's Manga-Werk<br />
„Asakiyumemishi“, das die<br />
Geschichte des Prinzen<br />
Genji nacherzählt.<br />
Genji revamped:<br />
A page from Waki Yamato's<br />
Manga “Asakiyumemishi”,<br />
which tells the story<br />
of Prince Genji.
japanischen Comics, den Mangas, die viele erwachsene Japaner heute<br />
in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit lesen?<br />
>> Takahashi: Tatsächlich lebt in der Mangakultur diese Tradition in<br />
gewisser Weise fort – gegen alle Widerstände. Denn Mangas galten<br />
lange als eine verpönte Subkultur. Als ich noch ein Kind war, sagte<br />
meine Mutter mir immer: Leg die Mangas weg – du musst anständige<br />
Bücher lesen. Beim Kino war das auch so. Heute wird Film sehr wohl<br />
als Kunst verehrt, aber als ihr Kind hätten mich meine Eltern nie ins<br />
Kino gelassen. Das war für sie ein Vergnügen der bloßen Unterhaltung.<br />
Ich musste immer heimlich hingehen.<br />
>> Kosmos: Wie erklärt sich die japanische Faszination für Comics?<br />
>> Takahashi: Es ist doch langweilig, wenn man nur das Bild sieht,<br />
und es ist langweilig, wenn man nur die Schrift liest. Beides zusammen<br />
macht eben ein Kunstwerk aus. So war es schon im Altertum. Berühmt<br />
sind die prächtigen Bildrollen aus dem zwölften Jahrhundert, die die<br />
Geschichte des Prinzen Genji in ausgewählten Szenen nacherzählen.<br />
Dabei folgt auf jede in Pinselschrift geschriebene Textpassage ein bunt<br />
gemaltes Bild, Szene für Szene. Andererseits gibt es in Europa auch<br />
eine solche Tradition. Es gibt ja schon seit langem Buchillustrationen.<br />
Auch im Mittelalter gab es Erzählungen, die fast nur aus Bildern<br />
bestanden. Denken Sie etwa an die prächtige Bebilderung der Armenbibel<br />
aus dem 14. Jahrhundert. Die Kombination <strong>von</strong> Schrift und Bild<br />
ist nicht genuin japanisch, sondern auch europäisch. Vielleicht hat<br />
man das nur etwas vergessen. Die gebildeten Europäer waren seit der<br />
Aufklärung, oder schon seit Luthers Schriftprinzip, sehr schriftlich<br />
orientiert. Aber die Tradition der Bilder gibt es trotzdem auch in<br />
Europa.<br />
>> Kosmos: Und es gibt ein Interesse an der Mangakultur. Nicht nur<br />
bei europäischen Lesern, sondern auch bei Wissenschaftlern …<br />
>> Takahashi: Vor allem jüngere Kollegen haben damit angefangen,<br />
10 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
mously popular nowadays and which many adult Japanese read on their<br />
way to work on the underground?<br />
>> Takahashi: In a way, the Bunjin tradition really does continue to<br />
exist in manga culture – despite all opposition. For mangas have long been<br />
frowned upon as a subculture. When I was still a child, my mother would<br />
always tell me to put the mangas away and read decent books. It was the<br />
same with the cinema. Nowadays, films are highly respected as art, but my<br />
parents would never have allowed their child to go to the pictures. For<br />
them cinemas were pure entertainment that I could only enjoy in secret.<br />
>> Kosmos: Why are the Japanese so fascinated by comics?<br />
>> Takahashi: Just looking at a picture is boring, and so is just reading<br />
a text. A real work of art incorporates both elements. This was already the<br />
case in antiquity. The splendid scrolls from the 12 th century about Prince<br />
Genji are well-known. They tell his story in selected scenes. Every brushwritten<br />
text passage is followed by a colourful picture. But such a tradition<br />
also exists in Europe, where illustrations have been used in books for<br />
a long time. In the Middle Ages, some tales would be made up almost<br />
entirely of pictures. Just think of the splendid illustration of the Poor<br />
People's Bible in the 14 th century. Combining written texts and pictures is<br />
not genuinely Japanese but European, as well. Since the Age of Enlightenment,<br />
indeed, since Luther's principle of scripture, educated Europeans<br />
have been geared very much to writing. Nevertheless, the tradition of<br />
pictures does exist in Europe, too.<br />
>> Kosmos: And people do show an interest in manga culture. Not only<br />
European readers, but researchers as well …<br />
>> Takahashi: Younger colleagues in particular have started to examine<br />
mangas. My impression is that this has been the case more in the West<br />
than in Japan itself. From time to time I myself use mangas translated<br />
into German in my lectures on German language and literature. Actual-
Mangas zu erforschen. Im Westen mehr noch als in<br />
Japan selbst, ist mein Eindruck. Ich selber benutze ab<br />
und zu ins Deutsche übersetzte Mangas in meinen Germanistikvorlesungen.<br />
Eigentlich ist es ein Wunder, dass<br />
man sich damit solange nicht wissenschaftlich beschäftigt<br />
hat. Denn schließlich ist dieses Kulturphänomen in<br />
Japan seit Jahrzehnten wichtig. Man könnte Japan besser<br />
verstehen, wenn man auch seine Mangas lesen<br />
würde.<br />
****************<br />
„Als ich noch ein Kind war, sagte meine<br />
Mutter mir immer: Leg die Mangas weg –<br />
du musst anständige Bücher lesen.“<br />
****************<br />
“When I was still a child, my mother would<br />
always tell me to put the mangas away<br />
and read decent books.”<br />
11 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
ly, it is amazing that this issue wasn’t given academic<br />
attention for such a long time. After all, it has been a<br />
major cultural phenomenon in Japan for years. It would<br />
be easier to understand Japan if one read its mangas.<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
Genji alt: Historische Bildrolle zur Geschichte des Prinzen Genji. Ancient Genji: Historic scroll with illustrations of Prince Genji’s tale.
Interview Lucy-Anne Hunt<br />
Von den Kreuzfahrern zu Al Qaida<br />
From the crusaders to Al Qaida<br />
Gegenseitige Feindbilder vergiften nicht erst seit<br />
dem 11. September 2001 die Beziehungen zwischen<br />
westlicher und islamischer Welt. Bei der gegenseitigen<br />
Verunglimpfung setzt man auf Tradition. Ein<br />
Gespräch mit der Kunsthistorikerin Lucy-Anne Hunt<br />
über die Renaissance des Kreuzfahrerbildes und<br />
seine historischen Wurzeln.<br />
>> Kosmos: Frau Professor Hunt, Sie erforschen die<br />
Kunst der Kreuzfahrerzeit. Finden sich in den Gemälden<br />
des 12. Jahrhunderts die Motive für Feindbilder,<br />
die bis heute überlebt haben?<br />
>> Hunt: Zumindest wurzeln sie hier teilweise. Denn<br />
tatsächlich war die Kunst der Kreuzfahrer vor allem in<br />
ihren Anfängen eine Auseinandersetzung mit dem<br />
Fremden und Feindlichen. Als die Kreuzfahrer im 11.<br />
Jahrhundert versuchten, das Gelobte Land zu erobern,<br />
waren sie <strong>von</strong> feindlichen islamischen Staaten umgeben,<br />
die sie in eine dauerhafte Auseinandersetzung verwickelten.<br />
Um diese durchstehen zu können, brauchte man die<br />
Rückendeckung aus der Heimat. Deshalb war eine starke<br />
und dauerhafte Propaganda wichtig. Man schuf also<br />
ein nützliches Image, das die Muslime, die „Sarazenen“,<br />
als Heiden diskreditierte. Als moralisch korrupt, gemein<br />
und verachtenswert gezeichnet, erschienen sie als das personifizierte<br />
Gegenteil der christlichen Werte. Mohammed<br />
selbst wurde als Antichrist verunglimpft.<br />
>> Kosmos: Wie wurde die Entstehung dieses Bildes –<br />
heute würde man in der Sprache der Werbung <strong>von</strong><br />
Branding sprechen – gesteuert?<br />
>> Hunt: Der Vergleich mit dem Branding führt zu<br />
weit. Aber eine Beeinflussung war da. Natürlich beruhte<br />
dieses Bild des Islam nicht auf Fakten. Zu Zeiten des<br />
ersten Kreuzzugs Ende des 11. Jahrhunderts wusste<br />
man im Westen praktisch nichts über die islamische<br />
Welt. Das Bild, das man sich erst allmählich machte,<br />
speiste sich aus den Erzählungen zurückkehrender<br />
Kreuzritter – und ihrer Diener, die oftmals weit hinter<br />
den Schlachtlinien gewesen waren und den Feind nie<br />
zu Gesicht bekommen hatten. Mit Vorurteilen angereichert<br />
und schließlich in Klöstern zusammengetragen<br />
und der christlichen Perspektive angepasst, entstand<br />
ein Zerrbild vom Islam, das man für wahr hielt. Dabei<br />
muss man sagen, dass Kirchenkreise etwa in Frankreich<br />
und Spanien den wirklichen Islam durchaus besser<br />
kannten.<br />
12 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Mutual concepts of the enemy have not only started<br />
to poison the relations between the Western and the<br />
Islamic world since the 11th September 2001. Tit-fortat<br />
disparagement can draw on tradition. Kosmos<br />
talked to art historian Lucy-Anne Hunt about the<br />
renaissance of the crusader image and its historical<br />
roots.<br />
>> Kosmos: Professor Hunt, you are examining art in the<br />
days of the crusaders. Do the paintings of the 12 th century<br />
contain the motifs for concepts of an enemy that have<br />
persisted up to this day?<br />
>> Hunt: They are at least partly rooted in this period.<br />
For above all in its early days, the art of the crusaders was<br />
part of a dispute with otherness and hostile forces. When<br />
the crusaders attempted to take the Holy Land in the 11 th<br />
century, they were surrounded by hostile Islamic states<br />
that engaged them in a continuing conflict. Strong bakking<br />
from the West was needed to survive this situation,<br />
which is why powerful and sustained propaganda became<br />
so important. So a useful image discrediting the Muslims,<br />
the “Saracens”, as pagans was created. Morally corrupt,<br />
vile and despicable, they appeared as the personified<br />
opposite of the virtues of Christians. And Mohammed<br />
himself was reviled as the Anti-Christ.<br />
>> Kosmos: How was the development of this image controlled,<br />
to put it in the branding language of advertising?<br />
>> Hunt: To compare this with branding would be going<br />
a bit too far. But there was influencing. Of course this<br />
image of Islam wasn’t based on facts. At the time of the<br />
first crusade, in the eleventh century, people in the West<br />
knew next to nothing about the world of Islam. The image<br />
that was gradually being generated drew on the tales of<br />
returning crusaders – and their servants, who would<br />
often have been miles behind the line of battle and had<br />
never beheld the enemy. Embroidered with prejudice and<br />
ultimately collected in monasteries and adapted to the<br />
Christian perspective, a distorted image of Islam developed<br />
that was believed to be true. However, it has to be<br />
said that church circles in, say, France and Spain were<br />
clearly more familiar with Islam.<br />
>> Kosmos: The Muslim side also had its fair share of<br />
concepts of the enemy. Were the same mechanisms at<br />
work here?<br />
>> Hunt: A distinction was made between the “Franks”,<br />
the Christians coming from the West as crusaders, and<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
*******<br />
Professor Dr. Lucy-Anne<br />
Hunt lehrt Kunstgeschichte<br />
an der Manchester<br />
Metropolitan University,<br />
England, wo sie die<br />
School of History of Art<br />
and Design leitet. Als<br />
<strong>Humboldt</strong>-Forschungsstipendiatin<br />
war sie 1986<br />
und 1987 an der Freien<br />
Universität Berlin.<br />
*******<br />
Professor Dr. Lucy-Anne<br />
Hunt is Head of the<br />
School of History of Art<br />
and Design at Manchester<br />
Metropolitan University,<br />
UK. She was a <strong>Humboldt</strong><br />
Research Fellow at<br />
the Free University of<br />
Berlin in 1986 and 1987.
Kosmos: Auch die muslimische Seite übte sich im Zeichnen <strong>von</strong><br />
Feindbildern. Wirkten hier dieselben Mechanismen?<br />
>> Hunt: Man wusste zu unterscheiden zwischen den „Franken“, den<br />
als Kreuzfahrer aus dem Westen kommenden Christen, und ihren östlichen<br />
unter islamischer Herrschaft lebenden Glaubensbrüdern. Das<br />
Bild <strong>von</strong> den Franken war ebenfalls eine Karikatur: ein natürlicher<br />
Feind der Muslime, unehrlich, hinterhältig, unzivilisiert und grausam.<br />
Vor allem der Eindruck der Gewalttätigkeit hatte sich seit den Massakern<br />
des ersten Kreuzzugs in die Gedächtnisse eingegraben. Obwohl<br />
andererseits die Tapferkeit und religiöse Standfestigkeit der Franken<br />
sowie die Klugheit eines Anführers wie Richard Löwenherz durchaus<br />
anerkannt wurde. Das negative Bild setzte sich durch und kommt<br />
immer wieder auch in jüngeren Konflikten zutage, etwa in Algerien,<br />
Bosnien, im Irak oder in Palästina.<br />
>> Kosmos: Wie hat sich das westliche Bild <strong>von</strong> den „Sarazenen“ mit<br />
der Zeit entwickelt?<br />
>> Hunt: Zum zweiten Kreuzzug hin begann sich das Bild zu verändern.<br />
Der Kontakt zwischen Orient und Okzident war intensiver<br />
geworden, auch der zwischen Juden und Christen. Man kann diese Veränderungen<br />
sehr genau an den Bildern jener Zeit ablesen: zwischen<br />
dem ersten Kreuzzug über den Verlust Jerusalems im Jahr 1291 bis zum<br />
frühen 14. Jahrhundert. An die Stelle des stereotypen, feindlichen Muslims,<br />
der so ganz anders war als man selbst, trat ein nuanciertes Bild.<br />
>> Kosmos: Das Feindbild hatte ausgedient?<br />
14 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Feindbild schon vor dem<br />
1. Kreuzzug: Karl der Große<br />
kämpfte im 8. Jahrhundert<br />
gegen die als Teufel verkleideten<br />
Araber in Spanien.<br />
Images of the enemy –<br />
even before the first crusade:<br />
Charlemagne battling<br />
Arabs dressed as devils in<br />
Spain in the 8 th century.<br />
their Eastern brothers in faith living under Islamic rule. The image of the<br />
Franks was a caricature, too: a natural enemy of the Muslims, dishonest,<br />
perfidious, uncivilised and cruel. In particular, the impression of violence<br />
had carved itself on the collective memory since the massacres of the first<br />
crusade. While the bravery and religious tenacity of the Franks as well as<br />
the prudence of a leader like Richard the Lionheart were acknowledged,<br />
the negative image persisted and has surfaced again in more recent conflicts<br />
such as those in Algeria, Bosnia, Iraq or Palestine.<br />
>> Kosmos: How did the Western image of the “Saracens” develop in the<br />
course of time?<br />
>> Hunt: The image started to change towards the onset of the second<br />
crusade. Links between the Orient and the Occident had become more<br />
intensive, including those between Jews and Christians. These changes<br />
can be read very clearly from the pictures of that period: from the first<br />
crusade through the loss of Jerusalem in 1291 to the early 14 th century.<br />
The stereotype, hostile Muslim, who was so entirely different from oneself,<br />
was replaced with a nuanced image.<br />
>> Kosmos: So the image of the enemy had had its day?<br />
>> Hunt: Well, it was not as if Muslims were now being presented in a<br />
particularly favourable light. And one would look in vain for altruistic<br />
angles in contemporary accounts. But the notion of the mission in that<br />
period resulted in the artists now presenting Muslims as prospective proselytes,<br />
as people with at least a potential to convert. A dialogic vision<br />
evolved, opening up Christians’ self-perception as well.
****************<br />
„Das Kreuzfahrerbild polarisiert, verteufelt den Gegner<br />
und suggeriert Gottgewolltheit als Rechtfertigung<br />
für aggressives Handeln.“<br />
****************<br />
“The crusader image polarises, demonises the enemy<br />
and suggests that aggressive action is justified since<br />
it is willed by God.”<br />
>> Hunt: Nun, es war nicht so, dass Muslime fortan besonders vorteilhaft<br />
dargestellt wurden. Auch altruistische Sichtweisen sucht man in<br />
zeitgenössischen Darstellungen meist vergebens. Aber der Missionsgedanke<br />
jener Zeit ließ die Künstler Muslime nun als zu Bekehrende und<br />
Bekehrbare darstellen. Es entstand eine dialogische Perspektive, die<br />
den Christen auch den Blick auf sich selbst eröffnete.<br />
>> Kosmos: Vom amerikanischen Präsidenten George W. Bush und<br />
mehr noch <strong>von</strong> den islamischen Terroristen der Al Qaida wurde das<br />
Kreuzfahrerbild auch in unserer Zeit benutzt. Wie kommt es, dass dieses<br />
Motiv, das viele hundert Jahre alt ist, immer noch lebt und Resonanz<br />
in einer breiten Öffentlichkeit auslöst?<br />
>> Hunt: Das Kreuzfahrermotiv ist ein fester Bestandteil im historischen<br />
Gedächtnis. Bei den Muslimen ruft es binnen Sekunden die Erinnerungen<br />
an vergangene Verbrechen des Westens wach. Bei beiden Seiten<br />
wirkt es verlässlich polarisierend und verteufelt den Gegner. Und es<br />
suggeriert Gottgewolltheit als Rechtfertigung für aggressives Handeln.<br />
>> Kosmos: Dabei spielt der Wille Gottes im säkularisierten Westen<br />
immer weniger eine Rolle …<br />
>> Hunt: Präsident Bush hat sich bei seiner Entscheidung für den<br />
jüngsten Krieg im Irak jedenfalls darauf bezogen. Diese Berufung auf<br />
gottgegebene Autorität passt zu der simplen Alternative, die hier formuliert<br />
wird: Wenn ihr nicht mit uns seid, seid ihr gegen uns. Dagegen<br />
haben islamische Terroristen bei ihren Anschlägen auf westliche Ziele<br />
auch muslimische Opfer, die dort lebten, in Kauf genommen, etwa bei<br />
den Londoner Bombenanschlägen im letzten Juli. Dieser Konflikt<br />
zeigt, dass wir unbedingt einen Dialog brauchen, auch wenn er<br />
schmerzlich sein wird und lange dauert. Unser Bild <strong>von</strong>einander spielt<br />
dabei ein wichtige Rolle. Nicht nur für die Verfestigung bereits herrschender<br />
Einstellungen, sondern auch für das Entstehen <strong>von</strong> neuen.<br />
15 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
>> Kosmos: In our modern days, too, the image of the crusader has been<br />
used by American President George W. Bush and, even more, by the Islamic<br />
terrorists of Al Qaida. How come this motif, which is several hundred<br />
years old, still thrives and can trigger a response among a broader public?<br />
>> Hunt: The motif of the crusader is an integral element of the historical<br />
memory. Among the Muslims, it will revoke reminiscences of crimes<br />
committed by the West in the past within seconds. On both sides, it has a<br />
reliably polarising effect and demonises the enemy. And it suggests that<br />
aggressive action is justified since it is willed by God.<br />
>> Kosmos: And yet God’s will is playing an ever diminished role in the<br />
secularised West …<br />
>> Hunt: At any rate, President Bush referred to it when opting for the<br />
recent war in Iraq. This appeal to God-given authority fits in with the<br />
simple choice given here: if you’re not with us, you’re against us. Conversely,<br />
in their attacks on Western targets, extreme Muslim groups have<br />
also accepted casualties among Muslims, as in the London bombings last<br />
July. This polarisation demonstrates that the need for ongoing dialogue<br />
and negotiation, albeit a painstaking and slow process, is ever more crucial.<br />
Mutual visual imagery plays an important part in both the reinforcing<br />
of existing attitudes and the forging of new ones.<br />
Zweikampf zwischen<br />
Richard I. und Saladin<br />
A duel between Richard I<br />
and Saladin
Andrea Gentile<br />
Reiß dich los <strong>von</strong> deiner Sklavenkette<br />
Break loose from your ball and chain<br />
Erziehen die Massenmedien ihr Publikum zu willfährigen<br />
Sklaven? Deutsche und amerikanische Medienkritiker<br />
gehen hart ins Gericht mit Zeitungen und<br />
Fernsehsendern, die bestimmen, worüber ihre Leser<br />
und Zuschauer nachdenken sollen.<br />
Das Fernsehen macht einem die Medienschelte wirklich<br />
leicht. Ob Blut und Horror im Film, menschliche<br />
Tragödien in Talkshows oder Krieg und Katastrophen<br />
in der Tagesschau: je schrecklicher, desto interessanter.<br />
Nur eine schlechte Nachricht ist eine gute Nachricht.<br />
Bilder, die schocken, ziehen unweigerlich die meisten<br />
Zuschauer an. Dies gilt nicht nur für Spielfilme, sondern<br />
in steigendem Maße auch für Nachrichtensendungen.<br />
Bedienen die Sender mit dieser Auswahl der<br />
Schrecklichkeiten nur die anscheinend vor allem <strong>von</strong><br />
niederen Instinkten gesteuerte Nachfrage ihres Publikums?<br />
Oder erziehen sie sich ihr Publikum erst durch<br />
geschickte Manipulation? Das Lager derjenigen, die an<br />
eine vorsätzliche Verführung glauben, ist groß und<br />
prominent besetzt: Hans Georg Gadamer, einer der<br />
renommiertesten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts,<br />
bezeichnete das Fernsehen als „die Sklavenkette,<br />
an der die moderne Menschheit hängt. Die<br />
Schlüssel dazu hat die moderne Informations-Elite,<br />
deren Ziel nur die Versklavung der Menschheit durch<br />
Bilder ist”.<br />
Sein berühmter Kollege Jürgen Habermas sieht die<br />
Massenmedien als <strong>von</strong> politischen und ökonomischen<br />
Kräften kontrolliert, die ein Interesse daran hätten, die<br />
Zuschauer zu manipulieren. Die politische Manipulation<br />
besteht für Habermas in einer Meinungsmache, in<br />
der Debatten nicht nur übertragen, sondern auch<br />
erzeugt und gesteuert werden.<br />
Informationsflut: Wer die Wahl hat, hat die Qual<br />
Eine andere Position vertritt der deutsche Politikwissenschaftler<br />
Peter Klier. Er hält den Vorwurf der Manipulation<br />
für nicht stichhaltig. Jede Darstellung <strong>von</strong> Tatsachen<br />
sei einer wie auch immer gearteten Verzerrung<br />
unterworfen. Angesichts der Flut <strong>von</strong> verfügbaren Informationen<br />
sei die Frage der Selektion das zentrale<br />
Problem. Das Wirklichkeitsbild der Zuschauer werde<br />
umso mehr durch die Medien bestimmt, je weniger<br />
Zugang sie zu primären Informationsquellen hätten.<br />
16 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Do the mass media condition their audience as<br />
compliant slaves? German and American media critics<br />
harshly judge newspapers and television channels<br />
that determine what their readers and viewers<br />
should think about.<br />
Television really makes it easy for the public to slate the<br />
media. Whether it’s gore and horror in a film, human<br />
tragedies in talk-shows or war and disasters in the Tagesschau<br />
news programme, the more terrible, the better.<br />
Only bad news is good news. Shocking images inevitably<br />
attract most viewers. This applies not only to feature films<br />
but, to an increasing degree, to news programmes as well.<br />
Are the channels only meeting a demand among<br />
their viewers that appears to be controlled by base<br />
instincts with this selection of horrors? Or do they first of<br />
all educate their audience with clever manipulation? The<br />
body of opinion suspecting premeditated seduction is big<br />
and can boast formidable members. Hans Georg Gadamer,<br />
one of the most renowned German philosophers<br />
of the 20 th century, called television “the ball and chain<br />
that modern humanity is hanging onto. The keys to it are<br />
held by the modern information elite whose sole objective<br />
is to enslave humanity with pictures”.<br />
His famous colleague Jürgen Habermas regards the<br />
mass media as controlled by political and economic<br />
forces that have an interest in manipulating viewers.<br />
Habermas describes political manipulation as opinionforming<br />
in which debates are not merely broadcast but<br />
also generated and controlled.<br />
The information overkill: spoilt for choice<br />
German political scientist Peter Klier presents a different<br />
view. He does not believe that the accusation of manipulation<br />
can be substantiated. Any representation of facts is<br />
subject to some form of distortion. He argues that, given<br />
the overkill of available information, the issue of selection<br />
is the key problem, and that the viewers’ perception<br />
of reality is determined all the more by the media the less<br />
access they have to primary sources of information.<br />
To put it bluntly, the problem lies with the TV viewers<br />
themselves, who have turned into couch potatoes.<br />
Everything a viewer knows comes from the media, and he<br />
does not know what reality itself is like. In this scenario,<br />
the media aren’t manipulating reality, neither are they<br />
distorting it. They are in fact creating reality! As German<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
*******<br />
Dr. Andrea Gentile lehrt<br />
Philosophie an der Universita<br />
Teologica Seraphicum<br />
in Rom, Italien.<br />
Als <strong>Humboldt</strong>-Forschungsstipendiat<br />
war<br />
er 2001-2002 und 2005 an<br />
der Universität München.<br />
*******<br />
Dr. Andrea Gentile<br />
teaches philosophy at<br />
the Universita Teologica<br />
Seraphicum in Rome,<br />
Italy. He was at the<br />
University of Munich as<br />
a <strong>Humboldt</strong> Research<br />
Fellow from 2001-2002<br />
and in 2005.
****************<br />
„Alles, was der Zuschauer über die Weltereignisse<br />
weiß, stammt aus dem Fernsehen, die Wirklichkeit<br />
selber kennt er nicht.“<br />
****************<br />
“Everything a viewer knows comes from the media,<br />
and he does not know what reality itself is like.”<br />
Zugespitzt formuliert liegt das Problem beim Zuschauer selbst,<br />
der sich nicht mehr aus seinem Fernsehsessel aufraffen kann: Alles,<br />
was er über die Weltereignisse weiß, stammt aus den Medien, die<br />
Wirklichkeit selber kennt er nicht. In diesem Fall manipulieren die<br />
Medien die Realität nicht, sie verzerren sie auch nicht – sie erzeugen<br />
sie! Sie sind, wie der deutsche Soziologe Niklas Luhmann beschreibt,<br />
ein selbst-referentielles System, das nahezu autonom existiert.<br />
Ob manipulierend, lediglich selektierend oder letztlich <strong>von</strong> der<br />
Realität abgekoppelt: Ein Effekt der Medien ist in jedem Fall das so<br />
genannte Agenda-Setting nach der berühmten These des amerikanischen<br />
Politologen Bernard Cohen: Die Presse kann vielleicht nicht den<br />
Menschen vorschreiben, was sie denken sollen. Aber sie ist überaus<br />
erfolgreich darin, ihren Lesern zu sagen, woran sie denken sollen und<br />
welche Themen sie für wichtig halten.<br />
Experimentelle Studien widerlegen allerdings diese Annahme. Der<br />
erste Schritt bei jeder Datenaufnahme ist die Selektion. Menschen entscheiden<br />
selbstständig, welche Zeitungen sie lesen oder welche Programme<br />
sie sich ansehen. Die Artikel, die sie dann lesen, beziehungsweise<br />
die Filme, die sie sich ansehen, durchlaufen im Zuge ihrer Verarbeitung<br />
im Gehirn einen Prozess: Der Leser oder Zuschauer nimmt<br />
die Informationen über kognitive Schemata auf, die er im Laufe seines<br />
Lebens gebildet hat. Die neuen Daten fügen sich hier ein und verbinden<br />
sich mit bereits vorhandenen Kenntnissen. Alles, was zu bekannten<br />
und für glaubwürdig befundenen Inhalten in Widerspruch steht,<br />
wird automatisch zurückgewiesen. Anderes wird entsprechend angepasst<br />
oder interpretiert. Gebildete Leute zeichnen sich durch ein breites<br />
Spektrum an kognitiven Schemata aus. Als nächster Schritt der<br />
Informationsverarbeitung wird das Gelesene oder Gesehene in einen<br />
übergeordneten Sinnzusammenhang eingeordnet und ein Bezug zwischen<br />
den aktuell aufgenommenen Daten und einem größeren Kontext<br />
hergestellt.<br />
Welcher Medientheorie man auch immer den Vorzug gibt – um<br />
dem Einfluss <strong>von</strong> Fernsehen, Presse und Internet auf unsere Wahrnehmung<br />
und unser Denken etwas entgegenzusetzen und uns in unserer<br />
Individualität zu behaupten, sollten wir vielleicht den Blick mehr nach<br />
innen richten. An die Stelle der äußeren Reizüberflutung tritt die Konzentration<br />
auf eigene Gefühle und Gedanken. Ein solches Gewahrsein<br />
des eigenen Erlebens fördert unsere Unabhängigkeit bei der Formulierung<br />
eigener Standpunkte und befähigt uns dazu, im Kontakt mit<br />
anderen authentisch zu sein.<br />
17 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
sociologist Niklas Luhmann describes, they are a self-referential system<br />
that exists virtually autonomously.<br />
Whether in a manipulating or merely selecting manner or ultimately<br />
completely detached from reality, one of the effects of the media, at any<br />
rate, is what is called agenda-setting in the famous proposition made by<br />
American political scientist Bernard Cohen, according to which the press<br />
may not be able to prescribe what people think but is extremely successful<br />
in telling its readers what to think about and what topics they should<br />
deem important.<br />
However, experimental surveys refute this assumption. In every intake<br />
of data, the first step is selection. People decide autonomously which<br />
newspapers they read or which programme they watch. The articles they<br />
then read or the films they then watch undergo processing in the brain in<br />
the course of which the reader or viewer takes up information via cognitive<br />
schemata that he has formed during his life. The new data are fitted<br />
into these schemata and associated with already existing insights. Everything<br />
contradicting known contents perceived as credible is automatically<br />
rejected. Other contents are accordingly adapted or interpreted. Educated<br />
people are distinguished by a broad spectrum of cognitive schemata.<br />
In a next step of information processing, what has been read or seen<br />
is integrated into a super-ordinate context of meaning. A relation is<br />
established between the newly registered data and a larger context.<br />
Regardless of which media theory one will give preference to, we<br />
should perhaps look more into ourselves in order to get something to<br />
counter the influence of television, the press and the Internet on our perception<br />
and assert our individuality. External overstimulation is<br />
replaced with concentrating on one’s own feelings and thoughts. Such<br />
awareness of our own experiencing supports our independence in formulating<br />
our own viewpoints and enables us to be authentic in our contacts<br />
with others.
Belkis Bilgin-Eran<br />
Wenn aus Forschung Kunst wird<br />
When research turns into art<br />
Flüssigkristalle beobachtet man unter einem Polarisationsmikroskop<br />
im Labor. Doch eigentlich gehören<br />
sie in Kunstgalerien.<br />
Vor rund 120 Jahren machte der österreichische Botaniker<br />
F. Reinitzer eine ganz und gar ungewöhnliche Entdeckung:<br />
Er fand „lebendige“ Kristalle, die sonst starren<br />
Strukturen bewegten sich! Sein Fund und die polarisationsmikroskopischen<br />
Untersuchungen des deutschen<br />
Physikers Otto Lehmann bildeten die Grundlage für die<br />
Flüssigkristallforschung, ohne die es heute keine LCD-<br />
Anzeigen gäbe, wie sie uns in Mobiltelefonen, Notebooks<br />
oder Flachbildschirmen beispielsweise <strong>von</strong> Navigationssystemen<br />
unentbehrlich geworden sind. Viele organische<br />
Substanzen zeigen das flüssigkristalline Phänomen: Sie<br />
gehen beim Schmelzen nicht unmittelbar vom festen in<br />
den flüssigen Zustand über, sondern bilden Phasen, in<br />
denen sich die geordnete kristalline Phase mit der mobilen,<br />
flüssigen Phase verbindet. Daher können die Flüssigkristalle<br />
zwar wie eine übliche Flüssigkeit gegossen werden,<br />
aber sie können auch einheitlich ausgerichtet werden<br />
und haben dann Eigenschaften wie ein fester Körper.<br />
Ohne Flüssigkristalle kein modernes Leben<br />
Flüssigkristalle sind in vielen Bereichen allgegenwärtig,<br />
ohne die unser modernes Leben starken Einschränkungen<br />
unterliegen würde, nicht nur in der Kommunikations-<br />
oder Unterhaltungselektronik. Neben der Optoelektronik<br />
finden Flüssigkristalle vor allem in der Thermographie,<br />
etwa in der Medizin und der Materialprüfung,<br />
sowie in der Herstellung hochfester Materialien<br />
praktische Anwendung. Auch für Biologen, Biochemiker<br />
und Physiker sind Flüssigkristalle ein wichtiges Element<br />
der Strukturbildung und Funktionsweise <strong>von</strong><br />
Bausteinen des Lebens.<br />
Seit der Entdeckung flüssigkristalliner Verbindungen<br />
wurde ihre Architektur ständig verändert. Heute<br />
reicht das Spektrum <strong>von</strong> einfachen Stäbchen bis zu komplizierten<br />
Ringsystemen. Zur Beobachtung und Identifizierung<br />
solcher Veränderungen muss der Forscher ein<br />
gutes Auge haben. Er muss das Bild der Flüssigkristalle,<br />
ihre Textur, „lesen“ und interpretieren. Die Texturbilder<br />
genannten mikroskopischen Aufnahmen sind für die<br />
Charakterisierung der Flüssigkristalle sehr wichtig. Ein<br />
erfahrener Flüssigkristallforscher gewinnt aus ihnen<br />
zahlreiche Ergebnisse. Er zieht zur Unterstützung noch<br />
18 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Liquid crystals are observed under a polarisation<br />
microscope in the laboratory. But they really belong<br />
in art galleries.<br />
About 120 years ago, the Austrian botanist F. Reinitzer<br />
made a very unusual discovery. He found “living” crystals.<br />
What normally were rigid structures were now moving!<br />
His discovery and the polarisation microscopy<br />
examinations carried out by German physicist Otto<br />
Lehmann formed the foundations of liquid crystal research,<br />
without which there would nowadays be no LCD<br />
displays like the ones that have become indispensable to<br />
us in mobile telephones, notebooks or flatscreens of navigation<br />
systems, for example. This liquid crystal phenomenon<br />
occurs in many organic substances. They do not<br />
immediately convert from a solid to a liquid state but<br />
form phases in which the orderly crystalline phase links<br />
up with the mobile, liquid phase. This is why the liquid<br />
crystals can be poured like a common liquid but can also<br />
be oriented in a uniform direction and then bear the<br />
properties of a solid body.<br />
Without liquid crystals no modern life<br />
Liquid crystals are omnipresent in many areas without<br />
which our modern life would be subject to considerable<br />
restrictions, not only in communications and consumer<br />
electronics. In addition to optoelectronics, liquid crystals<br />
are above all used in fields such as thermography, for<br />
instance in medicine and materials testing, and in the<br />
manufacture of highly solid materials. But liquid crystals<br />
are also an important element of the formation of structures<br />
and modes of functioning of the components that<br />
make up life.<br />
Since the discovery of liquid-crystalline compounds,<br />
their architecture has constantly been modified. Today,<br />
structures range from simple rods to complicated ring<br />
systems. Researchers need a very good eye for the observation<br />
and identification of such changes. They have to<br />
“read” and interpret the image and texture of the liquid<br />
crystals. The microscopic photos, known as texture pictures,<br />
are very important in characterising the liquid<br />
crystals. An experienced liquid crystal researcher will<br />
obtain a multitude of results from them. Although he<br />
applies other methods as an aid, many a discovery is<br />
made solely by interpreting the pictures.<br />
A researcher who has developed a substance with<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
*******<br />
Professor Dr. Belkis Bilgin-Eran<br />
lehrt Chemie an<br />
der Yildiz Technical University<br />
in Istanbul. Als<br />
<strong>Humboldt</strong>-Forschungsstipendiatin<br />
war sie <strong>von</strong><br />
2001-2002 und 2005 an der<br />
Martin-Luther-Universität<br />
Halle-Wittenberg.<br />
*******<br />
Professor Dr. Belkis Bilgin-Eran<br />
teaches chemistry<br />
at Yildiz University<br />
in Istanbul. She was at<br />
Martin Luther University<br />
Halle-Wittenberg as a<br />
<strong>Humboldt</strong> Research<br />
Fellow from 2001-2002<br />
and in 2005.
19 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Flüssigkristalle unter dem<br />
Polarisationsmikroskop<br />
Liquid crystals seen through<br />
a polarisation microscope<br />
andere Verfahren heran, doch manche Erkenntnis entsteht allein durch<br />
die Interpretation der Bilder.<br />
Der glücklichste Moment für einen Forscher, der ein Material mit<br />
neuen flüssigkristallinen Eigenschaften entwickelt hat, ist gekommen,<br />
wenn er nach monatelangen Laborforschungen seine Probe zwischen<br />
zwei Glasplättchen legt und unter dem Polarisationsmikroskop bei<br />
verschiedenen Temperaturen untersucht: Der Anblick der wie lebendig<br />
wirkenden beweglichen Moleküle ist phantastisch. Legt man die<br />
bei unterschiedlichen Temperaturen und Aggregatzuständen erzeugten<br />
Bilder nebeneinander, kommt man sich beinahe vor wie in einer<br />
Kunstgalerie. Die eindrucksvollen Motive und Farben, die durch die<br />
Umorganisation der beweglichen Moleküle entstehen, zeigen uns<br />
nicht nur, wie lebendig die Wissenschaft sein kann. Sie sind Teil einer<br />
Entwicklung, in der technische und naturwissenschaftliche Bilder mit<br />
den wachsenden technischen Möglichkeiten immer öfter gleichrangig<br />
neben künstlerische Bilder treten. Man denke neben den Flüssigkristallen<br />
etwa an die bizarren Rasterelektronenmikroskopaufnahmen<br />
<strong>von</strong> Insekten, die es auf die Titelseiten <strong>von</strong> Zeitungen bringen oder<br />
ganze Bildstrecken in populärwissenschaftlichen Magazinen füllen.<br />
Oder an Kernspinaufnahmen oder Wärmebilder des menschlichen<br />
Körpers, die es nicht nur in die Medien schaffen, sondern auch die<br />
Kunst und Popkultur inspirieren. Alle diese wissenschaftlichen Bilder<br />
sind längst nicht mehr nur Mittel und Objekt der Forschung, sie bereichern<br />
den ästhetischen Bildfundus der Menschheit und zeigen, dass<br />
die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Kunst fließend ist.<br />
new crystalline properties experiences his happiest moment when, after<br />
months of laboratory examinations, he puts his sample onto a slide and<br />
then examines it under the polarisation microscope at different temperatures.<br />
The prospect of the molecules appearing like living creatures is<br />
fantastic. Putting the pictures generated at different temperatures and in<br />
different aggregate states next to one another will almost give the<br />
impression of an art gallery. Not only do the impressive motives and<br />
colours that result from the reorganisation of the mobile molecules show<br />
us how lively science can be. They are part of a development in which,<br />
more and more frequently, technical and scientific pictures are appearing<br />
on a par with artistic pictures. Alongside the liquid crystals, just<br />
think of the bizarre grid electron microscope photos of insects that sometimes<br />
feature on the front pages of magazines or fill entire series of illustrations<br />
in popular science journals. Or of magnetic resonance imaging<br />
or thermal images of the human body which have not only made it into<br />
the media but also inspire art and pop culture. All these scientific<br />
pictures have long ceased to be mere means and objects of research. They<br />
enrich the aesthetic picture fund of humankind and show that the<br />
boundaries between science and art are liquid.<br />
**********************<br />
„Der Anblick der wie lebendig wirkenden<br />
beweglichen Moleküle ist phantastisch.“<br />
**********************<br />
“The prospect of the molecules appearing<br />
like living creatures is fantastic.”
Sergej Sumlenny<br />
Wer hat hier eigentlich gewonnen?<br />
Now who’s the winner?<br />
Mit ausgeklügelten Werbekampagnen versuchten<br />
die deutschen Parteien bei der Bundestagswahl auch<br />
noch das letzte Prozent an Wählerstimmen herauszukitzeln<br />
– und landeten in einer Pattsituation. Kein<br />
Wunder, meinen russische Beobachter. Ein deutschrussischer<br />
Wahlkampfvergleich.<br />
Die deutschen Bundestagswahlen im September 2005<br />
waren für die Demoskopen eine deftige Überraschung. Ein<br />
Wimpernschlagfinale zwischen Bundeskanzler Schröder<br />
und seiner Herausforderin Merkel hatte niemand vorhergesehen.<br />
Aus der Sicht vieler russischer Kommentatoren,<br />
beispielsweise der größten politisch-wirtschaftlichen Zeitschrift<br />
„Expert“ oder der beiden führenden Zeitungen<br />
„Kommersant“ und „Iswestija“, war die Überraschung<br />
weniger groß. Die beinahe Pattsituation zwischen Sozialdemokraten<br />
und Christdemokraten und dass die Wahlen<br />
schon zum zweiten Mal <strong>von</strong> nur wenigen tausend Wahlstimmen<br />
entschieden wurde, nahmen sie als Beleg dafür,<br />
dass der Wahlkampf nach westlicher Art in eine Sackgasse<br />
führt. Die Ursache liegt nach einer in Russland weit verbreiteten<br />
Theorie in einem Gleichgewicht der Kräfte:<br />
Wenn beide Seiten ähnliche Slogans benutzen, wenn die<br />
Wahlplakate und Fernsehreden beider großen Parteien<br />
nach allen Regeln der Werbekunst inszenierte Aufführungen<br />
sind und wenn die beiden Seiten versuchen, alle sozialen<br />
Schichten gleichermaßen zu erreichen, sollte es am<br />
Ende keinen überraschen, dass der Wähler sich nicht entscheiden<br />
kann. Die Folge sind Wahlabende, an denen man<br />
ziemlich lange und sehr genau Stimmen auszählen muss,<br />
um herauszufinden, wer eigentlich gewonnen hat. So war<br />
es zuletzt zweimal in Amerika, zweimal in Deutschland<br />
und bei den letzten Wahlen in der Ukraine.<br />
Natürlich ist dies eine etwas einseitige Erklärung für<br />
eine komplexe politische Situation. Auch spricht aus dieser<br />
Theorie eine gewisse Skepsis gegenüber der Demokratie.<br />
Dennoch ist sie äußerst aufschlussreich. Und zwar<br />
mit Blick auf Russland und den dort verbreiteten Glauben<br />
an die Allmacht der so genannten „politischen Technologien“,<br />
der politischen Werbung, und eine Geringschätzung<br />
der politischen Diskussion. Deutlich wird<br />
dies, wenn man den Wahlkampf und den Einsatz <strong>von</strong><br />
Bildern in Russland und in Deutschland vergleicht.<br />
Die Darstellung und Selbstdarstellung <strong>von</strong> Politikern<br />
sind im russischen und deutschen Wahlkampf<br />
grundverschieden. Das Auffälligste am russischen Wahl-<br />
20 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
In Germany’s Federal Parliament elections, parties<br />
scrambled for the final percentage points with<br />
sophisticated election campaigns - only to end up<br />
with a stalemate. Small wonder, say Russian<br />
observers. Reason enough to compare German and<br />
Russian election campaigns.<br />
The German Federal Parliament Elections in September<br />
2005 turned out to be a hefty surprise for the opinion<br />
pollsters. Nobody had anticipated a neck and neck final<br />
between Federal Chancellor Schröder and his challenger<br />
Merkel. From the angle of many Russian commentators,<br />
such as those writing for the country’s biggest political<br />
and economic journal, “Expert”, or the two leading newspapers<br />
“Kommersant” and “Izvestiya”, the results were<br />
not that astonishing. What was almost a stalemate<br />
between Social Democrats and the Christian Democrats<br />
and that this was already the second time an election<br />
outcome was decided by just a few thousand votes was<br />
regarded by them as proof of western style election campaigns<br />
merely ending in a cul-de-sac. A theory that is<br />
widespread in Russia puts this down to a balance of powers.<br />
If both sides use similar slogans, if the election posters<br />
and television broadcasts of both major parties are presentations<br />
that have been stage-managed with all the<br />
tricks of the trade, and if both sides strive to address all<br />
strata of society with the same impact, it should ultimately<br />
come as no surprise if the voter is unable to decide<br />
what he wants. The result is election evenings in which<br />
the count of votes takes rather a long time and has to be<br />
very accurate to determine who has really won. This is<br />
what the latest elections were like twice in America and<br />
Germany, and the same thing happened in Ukraine’s<br />
recent polls.<br />
Of course this is a somewhat one-sided explanation<br />
of a complex political situation. Also, this theory reflects<br />
a certain degree of scepticism towards democracy. Nevertheless,<br />
it is highly instructive regarding Russia and the<br />
widespread belief there of an omnipotence of so-called<br />
“political technologies”, political advertising and disdain<br />
of political debate. This becomes apparent when comparing<br />
the election campaigns and use of images in Russia<br />
and Germany.<br />
There are fundamental differences between Russian<br />
and German election campaigns in terms of how politicians<br />
are presented and present themselves. What strikes<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
*******<br />
Sergej Sumlenny ist<br />
Medienwissenschaftler.<br />
Er arbeitete für das<br />
Studio der ARD in Moskau<br />
und als Chefredakteur<br />
der Nachrichtensendung<br />
„World Business“<br />
des unabhängigen<br />
Satellitenfernsehsenders<br />
„RBC-TV“. Zurzeit ist<br />
er als Bundeskanzlerstipendiat<br />
bei der Frankfurter<br />
Allgemeinen Zeitung<br />
und untersucht<br />
die Rolle der deutschen<br />
Medien in der politischen<br />
Kommunikation.<br />
*******<br />
Sergey Sumlenny is a<br />
media scientist and<br />
works as a journalist<br />
for the Moscow studio of<br />
the German TV channel<br />
ARD. He is also Editorin-Chief<br />
of the news<br />
programme “World Business”<br />
broadcast by the<br />
independent satellite TV<br />
channel “RBC-TV”.<br />
Currently, he is with the<br />
Frankfurter Allgemeine<br />
Zeitung as a Federal<br />
Chancellor Scholar and<br />
is examining the role<br />
played by the German<br />
media in political communication.
kampf ist, dass die Opposition in der öffentlichen Auseinandersetzung<br />
ganz unter sich bleibt. Die Regierung weicht dem direkten Schlagabtausch<br />
aus und konzentriert sich auf Fernsehwerbung und Plakate.<br />
Fernsehabstinenz als Erfolgsrezept<br />
Bundeskanzler Schröder gelang es, beim gleichzeitig <strong>von</strong> vier Sendern<br />
übertragenen Fernsehduell mit Kanzlerkandidatin Merkel vor 21 Millionen<br />
Zuschauern zu punkten und seine Partei in der Wählergunst<br />
hochzureißen. Bei den russischen Parlamentswahlen im Jahr 2003 und<br />
den Präsidentenwahlen <strong>von</strong> 2004 war es genau umgekehrt. Die heute<br />
regierende Partei „Jedinaja Rossija“ (Einiges Russland) nahm an keiner<br />
einzigen Fernsehdebatte teil. Ihre Begründung: man müsse arbeiten<br />
und habe keine Zeit, sinnlose Diskussionen mit politischen Zwergen<br />
zu führen. Das gleiche konnte man bei den Präsidentenwahlen<br />
beobachten, als der amtierende Präsident Putin einen großen Bogen<br />
um die direkte Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner vor<br />
laufenden Kameras machte. TV-Debatten hatte er auch nicht nötig.<br />
Seine Wahlkampagne fand erfolgreich in den Nachrichtensendungen<br />
des staatlichen Fernsehens statt, das auch den Mitgliedern der Partei<br />
„Jedinaja Rossija“ gebührend Sendezeit einräumte.<br />
Der freiwillige Rückzug aus den Fernsehdebatten und die Allianz<br />
mit dem Präsidenten sicherten „Jedinaja Rossija“ den Wahlerfolg. Ihr<br />
Slogan war denn auch ganz konsequent: Nicht etwa „Für die Armen“,<br />
wie der der Liberaldemokratischen Partei Russlands (LDPR), auch<br />
nicht „Wir bringen Gerechtigkeit nach Russland“, wie der der marginalen<br />
rechtsradikalen Partei „Rus“ (Altrussland), sondern „Gemeinsam<br />
mit dem Präsidenten“ und „Partei des Präsidenten“.<br />
War es Bundeskanzler Schröder gelungen, mit seinen bei über <strong>50</strong><br />
Prozent liegenden persönlichen Popularitätswerten die eigene Partei<br />
wenigstens auf das Niveau <strong>von</strong> 33 Prozent hochzuziehen, schaffte es<br />
der parteilose Präsident Putin mit seinem Zustimmungswert <strong>von</strong> rund<br />
70 Prozent, der Partei „Jedinaja Rossija“ 67 Prozent der Plätze im Parlament<br />
zu sichern.<br />
Auch bei den russischen Gouverneurswahlen im Jahr 2003 war<br />
Präsident Putin wahlentscheidend. In den Nachrichten des russischen<br />
Staatsfernsehsenders „Rossija“ gab er eine Wahlempfehlung für die<br />
kremltreue Kandidatin Walentina Matwijenko ab, die er gerne als<br />
Gouverneurin <strong>von</strong> Sankt Petersburg gesehen hätte. Die Oppositionsparteien<br />
klagten vor Gericht und forderten, Matwijenko <strong>von</strong> der<br />
Wahlliste zu streichen. Nach russischem Recht dürfen der Präsident,<br />
der Ministerpräsident und die Bundesminister sich nicht in Wahlen<br />
einmischen, bei denen sie nicht selber kandidieren. Die Klage war<br />
erfolglos, Matwijenko wurde gewählt.<br />
Das erste, was ein russischer Beobachter in Deutschland bemerkt,<br />
ist die große Ähnlichkeit der Wahlplakate der unterschiedlichen Parteien.<br />
Eigentlich gibt es nur zwei Hauptvarianten: ein Plakat mit dem<br />
22 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Links: Anti-Putinkampagne<br />
während der letzten Präsidentschaftswahl<br />
Left: Anti-Putin campaign<br />
during the latest presidential<br />
elections<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
Rechts: Wir für die Armen,<br />
wir für die Russen. Wladimir<br />
Schirinowski als Kandidat<br />
der Liberaldemokratischen<br />
Partei Russlands (LDPR).<br />
Right: We’re for the poor,<br />
we’re for the Russians.<br />
Vladimir Shirinovski as<br />
candidate for the Liberal<br />
Democratic Party of Russia<br />
(LDPR).<br />
the eye in a Russian election campaign is that the opposition completely<br />
keeps to itself in public debate. The government avoids disputes with<br />
opponents, preferring to concentrate on television ads and posters.<br />
Keeping out of the limelight as a recipe for success<br />
Federal Chancellor Schröder succeeded in scoring points in a TV duel with<br />
his contender Angela Merkel that was broadcast simultaneously by four<br />
channels to 21 million viewers and managed to boost his party’s favour<br />
among voters. Things had been exactly the other way round in the Russian<br />
Parliament elections of 2003 and the Presidential elections of 2004.<br />
Today’s governing party, “Yedinaya Rossiya” (Unified Russia) didn’t take<br />
part in a single TV debate, claiming that there was work to be done and<br />
there was no time for pointless discussions with political dwarves. The<br />
same state of affairs could be observed during the Presidential elections,<br />
when President-in-office Putin kept well clear of any political debate with<br />
his political opponent that would have been filmed. Neither did he need<br />
any TV debates. His election campaign was run successfully in the news<br />
broadcasts of the state-owned TV channel, which also gave the members of<br />
the “Yedinaya Rossiya” party due time on the air.<br />
A voluntary withdrawal from TV debates and an alliance with the<br />
President secured “Yedinaya Rossiya” its electoral success. And its slogan<br />
was perfectly straightforward: neither “For the poor”, as the Liberal<br />
Democrat Party of Russia (LDPR) proclaimed, nor “We will bring justice<br />
to Russia”, as promised by the fringe radical right-wing party “Rus”<br />
(Old Russia), but “Together with the President” and “The President’s<br />
Party”.<br />
While Federal Chancellor Schröder had at least managed to raise his<br />
own party to the level of 33 percent with his personal popularity ratings<br />
of over <strong>50</strong> percent, non-party President Putin, with his approval rating<br />
of around 70 percent, succeeded in securing 67 percent of the seats in<br />
Parliament for the “Yedinaya Rossiya” Party.<br />
President Putin also played a crucial role in the outcome of the Russian<br />
Governors’ elections held in 2003. In the news programmes of the<br />
Russian State TV channel “Rossiya”, he recommended the election of a<br />
candidate loyal to the Kremlin, Valentina Matviyenko, whom he wished<br />
to see become Governor of Saint Petersburg. The opposition parties<br />
brought the issue to court, demanding that Matviyenko be struck from<br />
the ballot list. Russian law prohibits the President, the Prime Minister<br />
and the Federal Ministers from interfering with elections they are not<br />
running for office in. The complaint was unsuccessful, and Matviyenko<br />
was elected.<br />
The first thing a Russian observer in Germany notices is the great<br />
similarities the election posters of the different parties bear. Really, there<br />
are only two main varieties: a poster with the picture of a candidate for<br />
a constituency or one presenting the top candidate or the party chairman.<br />
Also, with handful of exceptions, there are hardly any differences
Bild eines Wahlkreiskandidaten oder eines mit dem Konterfei des Spitzenkandidaten<br />
beziehungsweise Parteichefs. Auch gibt es bei den etablierten<br />
Parteien mit wenigen Ausnahmen kaum Unterschiede zwischen<br />
den Plakaten der Direktkandidaten in den einzelnen Wahlkreisen.<br />
Wenn diese Plakate schwarz-weiß wären und kein Parteikürzel<br />
trügen, könnte man kaum unterscheiden, zu welcher Partei der Kandidat<br />
gehört. So eine Nivellierung der Plakate ist für die russischen<br />
Wahlkampagnen, bei denen jede Partei versucht, ihr eigenes Profil<br />
auch optisch herauszuarbeiten, absolut untypisch.<br />
Trotz langfristig sinkender Wahlbeteiligung gibt es in Deutschland<br />
keine Wahlplakate mit Appellen, an die Wahlurnen zu kommen. Im<br />
Gegensatz zu Russland, wo die Zentralwahlkommission sehr aktiv ist:<br />
Ihre Plakate erklären den Wählern, wann die Wahlen stattfinden, <strong>von</strong><br />
wann bis wann die Wahllokale geöffnet sind und wo man seine Stimme<br />
abgeben kann.<br />
Genauso interessant ist für einen russischen Beobachter, dass im<br />
Laufe der Wahlkampagne in Deutschland die Parteien Fernsehwerbung<br />
und Plakate produzieren, die nur der Kritik ihrer Gegner gewidmet<br />
sind. Nach russischer Gesetzgebung wäre diese Werbung gesetzwidrig:<br />
Solche Plakate erscheinen zwar in Russland, aber sie gehören<br />
zur „Schattenzone“ der Wahlkampagnen. Zusammen mit den vielen<br />
satirischen Beiträgen im Fernsehen und Radio machte die kritische<br />
Ausleuchtung der Politiker die Wahlkampagne in Deutschland scharf<br />
und lebendig. Der Hauptunterschied zwischen Deutschland und<br />
Russland ist aber die Ratlosigkeit des deutschen Wählers, der sich<br />
noch Tage, nachdem er seine Stimme längst abgegeben hatte, fragen<br />
musste: „Wer hat denn nun eigentlich gewonnen?“<br />
23 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
among the established parties between the posters of the direct candidates<br />
in the individual constituencies. If these posters were in black and<br />
white and weren’t displaying the abbreviation of the respective party,<br />
one would hardly be able to determine which party a candidate belongs<br />
to. Levelling posters in such a way would be absolutely untypical of the<br />
Russian election campaigns, in which each party also attempts to give a<br />
visual presentation of its profile.<br />
In spite of a gradual decline in turnout, there are no election posters<br />
in Germany calling on citizens to go to the polls. This contrasts considerably<br />
with Russia, where the Central Election Commission is very active.<br />
Its posters explain to the voters when the elections take place, from when<br />
to when the polling stations are open and where one can vote.<br />
What is equally interesting for a Russian observer is that in the<br />
course of the election campaign in Germany, the parties produce television<br />
ads and posters devoted solely to criticising their opponents. Russian<br />
legislation would forbid such advertising. Posters of this kind do turn up<br />
in Russia, but they are regarded as dirty campaigning. Together with the<br />
numerous satirical programmes on TV and the radio, the critical limelight<br />
cast on the politicians in Germany gave the election campaign an<br />
edge and livened it up. Nevertheless, the main difference between Germany<br />
and Russia is that the German voter is at a loss. Days after having<br />
cast his vote, he still had to ask himself: “Now who really won the elections?”
Inigo Bocken<br />
Lernen <strong>von</strong> Cusanus<br />
Learning from Cusanus<br />
Sie sind versessen auf Sendezeiten und kritisieren<br />
doch die Bilderflut der Mediendemokratie: Moderne<br />
Politiker sitzen anno 2005 in der Bilderfalle. Die Ideen<br />
eines Philosophen aus dem 15. Jahrhundert könnten<br />
ihnen helfen.<br />
Bilder regieren unsere Welt. Politiker, Künstler und<br />
sogar Wissenschaftler, die nicht im Fernsehen erscheinen,<br />
existieren eigentlich nicht. Wenn sie es denn auf<br />
unseren Bildschirm schaffen, sollten sie einen äußerst<br />
komplizierten Sachverhalt in 30 Sekunden schildern<br />
können. Sonst versinken sie rasch wieder in der Anonymität.<br />
Was nicht als Bild erscheint, hat kulturell und<br />
gesellschaftlich kaum Gewicht.<br />
Werbeagenturen wissen schon lange um die Kraft<br />
des Visuellen. Anstelle altehrwürdiger und wohlbegründeter<br />
Theorien über ein gutes und gelungenes Leben,<br />
bestimmen heutzutage Bilder zunehmend unsere wichtigsten<br />
Lebensentscheidungen. Dabei geht es schon<br />
längst nicht mehr um einen oberflächlichen Hedonismus,<br />
um ein strahlendes Aussehen oder eine gut entwickelte<br />
Muskulatur. Immer mehr spielt die Werbung mit<br />
doppelten Bedeutungsebenen und setzt auf die reflexive<br />
Kraft <strong>von</strong> Bildern, die nicht einfach plakativ sind, sondern<br />
ihre Wirkung im Kopf des Betrachters entfalten.<br />
Viele Politikwissenschaftler und Philosophen misstrauen<br />
dagegen immer noch den Bildern. Die Präzision<br />
und Tiefe der Sprache könnten Bilder nicht ersetzen, so<br />
der über die Aufklärung bis zu Platon zurückreichende<br />
traditionelle Vorwurf. Dabei wird vergessen, dass auch<br />
Sprache mit Bildern arbeitet und diese oftmals die Höhepunkte<br />
sprachlicher Kreativität markieren – ob in der<br />
Kunst oder vor allem in der Politik. Im Fernsehen gut auszusehen,<br />
heißt für einen Politiker viel mehr, als dass sein<br />
Schlips ordentlich gebunden ist. Er muss das unübersichtliche<br />
Chaos der Wirklichkeit in einem sprachlichen<br />
Bild zusammenfassen. Das gilt auch für komplizierte wissenschaftliche<br />
Einsichten. Die Einsteinsche Sentenz, der<br />
zufolge der liebe Gott nicht würfelt, ist ein Beispiel unter<br />
vielen. Starke Bilder haben politische Macht. Die Begeisterung<br />
für die deutsche Einheit hätte nicht die gleiche<br />
Wirkung gehabt, wenn nicht das Bild der „blühenden<br />
Landschaften“ in dem Köpfen der Leute gewesen wäre.<br />
Ebenso wäre die spätere Enttäuschung über die ausbleibenden<br />
ökonomischen Früchte der Einheit ohne dieses<br />
Bild und seine Verheißung nicht so groß gewesen.<br />
24 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
They are bent on broadcasting time but still criticise<br />
the flood of images that media democracy produces.<br />
In the year 2005, modern politicians are sitting in<br />
the image trap. The ideas of a fifteenth-century<br />
philosopher could help them out.<br />
Pictures rule our world. Politicians, artists and even scientists<br />
who do not appear on TV don’t really exist. If they<br />
really do make it onto the screen, they ought to be able to<br />
give a thirty-second account of a very complicated state<br />
of affairs. Otherwise they will quickly fade into<br />
anonymity again. Anything that doesn’t appear as an<br />
image has hardly any clout in culture and society.<br />
Advertising agencies have long been aware of the<br />
power of pictures. Nowadays, instead of venerable and<br />
well-founded theories on a good and fulfilling life,<br />
images increasingly determine our most important decisions<br />
about our lives. Superficial hedonism, radiant looks<br />
or well-developed muscles have long ceased to count.<br />
Advertising is playing around more and more with double<br />
levels of meaning, setting its sights on the reflexive<br />
power of pictures that are not merely striking but develop<br />
their true impact in the brain of the beholder.<br />
Nevertheless, many political scholars and philosophers<br />
remain suspicious of pictures. Ever since the days of<br />
Plato, it has traditionally been claimed that images cannot<br />
be a substitute for the precision and depth of language.<br />
Here, one tends to forget that language also uses<br />
pictures and that the latter often mark the climax of language<br />
creativity – whether it be in art or, above all, in<br />
politics. To a politician, looking good in a TV broadcast<br />
means more than having one’s tie knotted properly. He<br />
has to sum up the unfathomable chaos of reality in a language<br />
picture. The same applies to complicated scientific<br />
insights. Einstein’s famous remark that God doesn’t play<br />
dice is only one of several examples. Strong images bear<br />
political power. Enthusiasm about German unity would<br />
not have had the same impact had it not been for the<br />
“blossoming landscapes” people pictured in their brains.<br />
By the same token, disappointment later on about the<br />
economic fruits of unity failing to materialise would<br />
hardly have been so great without this image and the<br />
promises it offered.<br />
Instead of the usual criticism of images and their<br />
ostensible superficiality and lack of precision, methods<br />
are required to handle pictures more effectively, to<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
*******<br />
Dr. Inigo Bocken lehrt<br />
Philosophie an der<br />
Universität Nijmegen.<br />
Zurzeit ist er als <strong>Humboldt</strong>-Forschungsstipendiat<br />
an der Universität<br />
Hildesheim.<br />
*******<br />
Dr. Inigo Bocken teaches<br />
philosophy at the University<br />
of Nijmegen.<br />
Currently, he is a <strong>Humboldt</strong><br />
Research Fellow<br />
at the University of<br />
Hildesheim.
Statt der gängigen Kritik an den Bildern, ihrer vermeintlichen<br />
Flachheit und mangelnden Präzision, werden<br />
Methoden gebraucht, um mit Bildern besser umzugehen,<br />
sie zu analysieren, zu kritisieren und zu verfeinern.<br />
Die Politik muss sich fragen, ob Bilder nicht über eine<br />
eigene „Vernünftigkeit“ verfügen und ob die Kritik an den<br />
Bildern nicht das menschliche Denken einengt. Ohne Bilder<br />
und Visionen schrumpfen die Möglichkeiten einer<br />
konstruktiven Kritik der politischen Verhältnisse.<br />
Inspirierendes Mittelalter<br />
Inspirieren lassen könnten sich die Politiker des Zeitalters<br />
der elektronischen Medien ausgerechnet <strong>von</strong> einem<br />
Mann des späten Mittelalters: Nicolaus Cusanus. Als<br />
einer der führenden Politiker des 15. Jahrhunderts hatte<br />
der deutsche Philosoph, der <strong>von</strong> 1401 – 1464 lebte, die<br />
Bedeutung der Bilder für die menschliche Realität<br />
25 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
analyse, criticise and refine them. Politics has to ask itself<br />
whether pictures do not bear “reason” of their own and<br />
whether criticism of pictures does not restrict human<br />
thought. Without pictures and images, the opportunities<br />
for a constructive critique of political conditions are<br />
reduced.<br />
The middle ages as an inspiration<br />
Politicians in the age of electronic media could try to<br />
become inspired by, of all people, a man of the late middle<br />
ages: Nicolaus Cusanus. As one of the 15 th century’s<br />
leading politicians, this German philosopher, who lived<br />
from 1401 – 1464, had recognised the importance of pictures<br />
in human reality. While medieval society displayed<br />
sensitivity towards pictorial symbols, pictures were<br />
always regarded as a second-class aid for the uneducated.<br />
The true contents of religious and social truths were<br />
Jan van Eyck: Goldschmied<br />
Jan de Leeuw (1436)<br />
Jan van Eyck: Jan de Leeuw,<br />
the goldsmith (1436)
erkannt. Die mittelalterliche Gesellschaft war zwar sehr sensibel für<br />
bildhafte Symbole, doch wurden Bilder immer als zweitrangiges Hilfsmittel<br />
für Menschen ohne Bildung betrachtet. Der eigentliche Inhalt<br />
religiöser und gesellschaftlicher Wahrheiten war hoch gebildeten, lateinisch<br />
sprechenden Theoretikern vorbehalten. Für Cusanus jedoch<br />
waren Bilder keine bloße Verfallsform rationalen Denkens oder ein reines<br />
Abschreckungsinstrument, das die einfachen Leute vor fatalen Irrtümern<br />
und dem daraus folgenden Sturz in die Hölle schützen sollte.<br />
Im Gegensatz zu seinen antiken und mittelalterlichen Vorgängern<br />
nahm er keine Entlarvung des Bildes zugunsten einer begrifflichen oder<br />
theoretischen Wahrheit vor. Die in seiner Zeit neuesten Entwicklungen<br />
der flämischen Malerei waren der Schlüssel für ein neues Verständnis der<br />
persönlichen Perspektive. Den Mönchen eines Tegernseer Klosters, die<br />
ihn um eine verständliche Auslegung seines Denkens gebeten hatten,<br />
schickte Cusanus so die Kopie eines Selbstporträts des großen Malers<br />
Rogier van der Weyden zusammen mit der Aufforderung, das Gemälde<br />
aufzuhängen und davor in einem Halbkreis auf und ab zu gehen.<br />
Es gehörte zu den Neuigkeiten der flämischen Malerei, Menschen so<br />
abzubilden, dass sie den Betrachter wirklich anblickten und so den Eindruck<br />
erweckten, ihn mit in ihre Welt aufzunehmen. In der Kunstgeschichte<br />
wurde Malern wie Jan van Eyck, Rogier van der Weyden oder<br />
Hugo van der Goes oft vorgeworfen, dass sie nicht über das Können verfügten,<br />
die Perspektive so perfekt darzustellen, wie es die Maler der italienischen<br />
Renaissance taten. Die Vielzahl der Perspektiven war jedoch keineswegs<br />
Ausdruck mangelnden technischen Könnens, sondern eine Technik,<br />
den Betrachter einzubeziehen. Cusanus hatte dies erkannt und versucht,<br />
diese künstlerische Innovation auf die gesellschaftliche und politische<br />
Lage zu übertragen. Denn auch die späte mittelalterliche Gesellschaft<br />
wurde immer mehr <strong>von</strong> einer Pluralität der Sichtweisen geprägt, die theoretisch<br />
nicht mehr miteinander versöhnt werden konnten.<br />
Wer das Porträt Rogiers sieht, glaubt, dass dessen Blick nur ihn<br />
anschaut. Je mehr er versucht, diesen Eindruck auf die Probe zu stellen,<br />
desto mehr ist er <strong>von</strong> diesem Eindruck überzeugt. Wenn er jedoch einem<br />
anderen Betrachter auf dem Bogen um das Porträt herum begegnet, der<br />
ihm <strong>von</strong> einer ähnlichen Erfahrung berichtet, versteht er, dass er das<br />
Geschehen auf dem Bild nur aus seiner eigenen Perspektive heraus<br />
betrachten kann.<br />
26 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Nicolaus Cusanus,<br />
Ausschnitt aus einem<br />
Stifterbild (um 1470)<br />
Nicolaus Cusanus, excerpt<br />
from a founder picture<br />
(around 1470)<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
reserved for highly educated theorists speaking Latin. But to Cusanus,<br />
pictures did not represent a mere form of decay of rational thought or a<br />
pure deterrent conceived to protect simple people from making fatal mistakes<br />
and tumbling into hell as a result.<br />
Unlike his antique and medieval predecessors, he did not seek to<br />
expose the picture in favour of a conceptual or theoretical truth. The latest<br />
developments in Flemish painting in his age were the key to a new<br />
understanding of the personal perspective. Thus Cusanus sent the monks<br />
of a Lake Tegern monastery who had asked him for a comprehensible<br />
interpretation of his thoughts the copy of a self-portrait by the great<br />
painter Rogier van der Weyden together with a request that they hang<br />
the picture up and walk to and fro in a semicircle in front of it.<br />
One of the novelties of Flemish painting was to depict people in a<br />
manner suggesting that they were really looking at the beholder and thus<br />
creating the impression that they were taking him into their world. In art<br />
history, painters such as Jan van Eyck, Rogier van der Weyden or Hugo<br />
van der Goes were often accused of not having the skills to represent perspectives<br />
as perfectly as the painters of the Italian renaissance had. However,<br />
the use of several perspectives was by no means an expression of a<br />
lack of technical skills but a method to integrate the beholder. Cusanus<br />
recognised this and attempted to transfer this artistic innovation to the<br />
social and political situation. For late medieval society was also increasingly<br />
being shaped by a plurality of views that could no longer be reconciled<br />
theoretically.<br />
Anyone looking at Rogier’s portrait will believe that Rogier is looking<br />
at him alone. The more he attempts to test this impression, the more he<br />
will be convinced by its impact. However, when he meets another<br />
beholder on the way around the semicircle in front of the picture reporting<br />
a similar experience to him, he will understand that he can only<br />
observe what is happening in the picture from his own perspective.<br />
All perspectives are true<br />
Such an account ought to plunge the beholder into deep despair. For<br />
he has discovered that his belief is merely one of an endless number of<br />
views and that he is not in the midst of events but rather on the edge of<br />
an infinite number of perspectives. Nevertheless, this is not the conclusion<br />
Cusanus arrives at. Rather, he reasons that both perspectives are<br />
true. What the beholder sees is really only his own perspective, and yet it<br />
is his sole possible access route. The observer knows that he would only be<br />
able to understand the painting if he were to get to know all possible perspectives,<br />
and he simultaneously grasps that this is impossible. Thus he<br />
can handle other perspectives without rejecting them as untrue.<br />
In a paper of the same year 1453, “On the Peace of Faith”, Cusanus<br />
applies this dynamic of perspectives to the political and religious situation<br />
of his times. This paper was prompted by the bloody strife between<br />
Moslems and Christians in Constantinople. It refers to a fictitious peace
****************<br />
„Bilder waren ein reines Abschreckungsinstrument,<br />
das die einfachen Leute vor fatalen Irrtümern<br />
und dem Sturz in die Hölle schützen sollte.“<br />
****************<br />
“Pictures represented a pure deterrent conceived<br />
to protect simple people from making fatal mistakes<br />
and tumbling into hell as a result.”<br />
Alle Perspektiven sind wahr<br />
Ein solcher Bericht musste den Betrachter in tiefe Verzweiflung versetzen.<br />
Denn er entdeckt, dass sein Glaube nur eine der endlos vielen Perspektiven<br />
darstellt und er sich nicht im Zentrum des Geschehens, sondern<br />
eher am Rande unendlich vieler möglichen Sichtweisen befindet.<br />
Doch dies ist nicht die Schlussfolgerung, die Cusanus zieht. Er schließt<br />
vielmehr, dass beide Perspektiven wahr sind. Was der Betrachter sieht,<br />
ist tatsächlich nur seine eigene Perspektive, doch ist sie der für ihn einzig<br />
mögliche Zugangsweg. Der Zuschauer weiß, dass er das Gemälde<br />
nur verstehen kann, wenn er alle möglichen Sichtweisen kennen lernen<br />
würde und zugleich versteht er, dass dies unmöglich ist. So kann er mit<br />
anderen Perspektiven umgehen, ohne sie als unwahr zu verwerfen.<br />
In einer Schrift aus dem gleichen Jahr 1453, „Der Frieden des Glaubens“,<br />
wendet Cusanus diese Dynamik der Perspektiven auf die politische<br />
und religiöse Lage seiner Zeit an. Der Anlass ist der blutige Konflikt<br />
zwischen Muslimen und Christen in Konstantinopel. Von einer fiktiven<br />
Friedenskonferenz ist in der Schrift die Rede, an der Vertreter aller damalig<br />
bekannten Völker und Religionen teilnehmen. Sie versuchen, die<br />
„eine Religion in der Verschiedenheit der Bräuche und Riten“ zu finden.<br />
Dies jedoch, ohne dass eine der Religionen das eigene Bild der Wahrheit<br />
aufgeben muss. Mit einer für seine Zeit erstaunlichen Toleranz skizziert<br />
Cusanus, wie die verschiedenen Auffassungen Perspektiven der Wahrheit<br />
sind, die in einem dynamischen Prozess miteinander ins Gespräch treten<br />
können. Anders als nach ihm die Aufklärer verlangt Cusanus <strong>von</strong> den<br />
Völkern nicht, ihre bildlichen Auffassungen zugunsten einer abstrakten<br />
Wahrheit der Vernunft aufzugeben. Doch obwohl er da<strong>von</strong> ausging, dass<br />
niemand in der Lage wäre, eine Position außerhalb der Perspektiven einzunehmen,<br />
hielt er es für eine gefährliche Illusion, so zu tun, als ob der<br />
Mensch je ohne diesen absoluten Anspruch auf Wahrheit leben könnte.<br />
Es sei notwendig, diesen Anspruch ernst zu nehmen und anzuerkennen,<br />
und nicht als fundamentalistisch abzutun. Weil sie die Vielheit der absoluten<br />
Ansprüche einsehen, müssen die Vertreter der verschiedenen Völker<br />
und Kulturen ihre Identität nicht aufgeben.<br />
Die Cusanussche Interpretation des Bildes ist der Schlüssel für den<br />
Umgang mit politischen Bildern – auch heute noch: Politische Konflikte<br />
werden nicht <strong>von</strong> rein theoretischen oder rationalen Argumenten<br />
bestimmt, sondern <strong>von</strong> unterschiedlichen Visionen und Perspektiven.<br />
Diese Einsicht taugt als Regel Nummer eins für den Bilderstreit der Politik<br />
auch bald 600 Jahre nach Cusanus. Die zweite Einsicht: Bilder können<br />
die Politik inspirieren und Ideen vermitteln, auf die, wer nur mit<br />
Worten und Parteiprogrammen ringt, vielleicht nie kommen würde.<br />
Vielleicht wird der Besuch <strong>von</strong> Gemäldegalerien statt <strong>von</strong> Fernsehstudios<br />
der nächste große Trend unter den Medienprofis der Politik.<br />
27 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Rogier van der Weyden: „Christus als Weltenrichter und der Erzengel Michael<br />
als Seelenwäger“ (1446-52)<br />
Rogier van der Weyden: “Christ passing judgement on the world and Archangel<br />
Michael weighing souls” (1446-52)<br />
conference attended by the representatives of all peoples and religions<br />
known at the time. They attempt to discover “the one religion in the<br />
diversity of customs and rites”, without any one of these religions having<br />
to forfeit its own notion of truth. With a degree of tolerance that is<br />
remarkable for his days, Cusanus outlines how the different notions are<br />
perspectives of the truth that can engage in debate in a dynamic process.<br />
Unlike the enlighteners after him, Cusanus does not demand peoples to<br />
give up their pictorial notions in favour of an abstract truth of reason.<br />
But although he set out from the assumption that nobody would be able<br />
to assume a position outside the perspectives, he regarded doing as if people<br />
could ever live without this absolute claim to truth as a dangerous<br />
illusion. It was essential to take this claim seriously and recognise it<br />
rather than dismissing it as fundamentalist. Because they accept the<br />
diversity of absolute claims, the representatives of the different peoples<br />
and cultures do not have to forfeit their identity.<br />
Cusanus’ interpretation of the picture is the key to handling political<br />
images – even today. Political conflicts are not determined by theoretical<br />
or rational arguments but by different visions and perspectives. This<br />
insight is still valid as Rule Number One regarding the debate about<br />
images in politics nearly 600 years after Cusanus. The second insight is<br />
that pictures can inspire politics and impart ideas that those merely<br />
campaigning with words and party manifestos might never get. Perhaps<br />
visits to art galleries instead of TV studios are going to be the next major<br />
trend among the media pros in politics.
Interview Hans-Jochen Heinze<br />
Wir schauen dem Gehirn beim Denken zu<br />
Watching the brain think<br />
Bildgebende Verfahren haben die Hirnforschung revolutioniert<br />
und in die öffentliche Diskussion gebracht.<br />
Ein Gespräch mit dem Neurologen Hans-Jochen<br />
Heinze darüber, weshalb die bunten Bilder vom<br />
Hirn so suggestiv sind, zu welchen neuen Therapien<br />
sie führen und wie die Hirnforschung in Zukunft<br />
auch Gesunden helfen könnte.<br />
>> Kosmos: Herr Professor Heinze, bis vor etwa zwanzig<br />
Jahren mussten sich Hirnforscher mit Präparaten,<br />
Hirnstrommessungen und Röntgenaufnahmen begnügen.<br />
Heute sehen Sie bunte dreidimensionale Bilder vom<br />
Ort des Geschehens. Erinnern Sie sich noch an Ihr „erstes<br />
Mal“, bei dem Sie die neuen Möglichkeiten erlebten?<br />
>>Heinze: Das war in den 80er Jahren, ich war Postdoc<br />
in den USA. Bis dahin hatte sich die Forschung fast ausschließlich<br />
auf das EEG, also die Aufzeichnung der<br />
elektrischen Hirnaktivität, konzentriert. Als wir dann<br />
zum erstenmal PET-Bilder des aktiven Gehirns sahen,<br />
dachten wir, dass wir unsere bisherigen Ergebnisse und<br />
Verfahren vergessen könnten: Die Bilder zeigten ein<br />
Netzwerk aktiver Hirnstrukturen, die wir zuvor nur<br />
indirekt <strong>von</strong> der Hirnoberfläche aus hatten vermuten<br />
können. Für uns alle war klar, dass dieser Ansatz eine<br />
Revolution in der Hirnforschung bedeutet.<br />
>> Kosmos: Sie konnten jetzt dem Gehirn praktisch<br />
beim Denken zusehen …<br />
>>Heinze: Dem Gehirn beim Denken zusehen konnten<br />
wir in bestimmten Grenzen schon vorher. Unsere<br />
anfängliche Vermutung, dass die funktionelle Bildgebung<br />
die Elektrophysiologie obsolet machen könne,<br />
war unbegründet: Es ist vielmehr erst die Kombination<br />
beider Verfahren, die uns in die Lage versetzt, die räumlich-zeitliche<br />
Architektur höherer Hirnfunktionen zu<br />
verstehen (siehe Kasten S. 30).<br />
>> Kosmos: Verdanken Sie es auch diesen bunten und<br />
eindrucksvollen Bildern, dass die Hirnforschung so viel<br />
Aufmerksamkeit erregt?<br />
>>Heinze: Sicherlich sind diese Bilder suggestiv. So<br />
wird hohe Aktivität rot dargestellt, geringe Aktivität<br />
blau. Man nutzt dabei aus, dass unser Gehirn auf Kontraste<br />
und auffällige Farbreize besonders gut reagiert.<br />
Wenn Sie statt der Farbe Zahlen an der betreffenden<br />
Stelle im Gehirn eintragen, die den Grad der Aktivität<br />
anzeigen, wäre das wissenschaftlich die gleiche Aussage.<br />
Aber sie wäre nicht anschaulich und für ein rasches<br />
28 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Imaging methods have revolutionised brain research<br />
and turned it into a topic of public debate.<br />
Kosmos talked to neurologist Hans-Jochen Heinze<br />
about why the colourful pictures of the brain are so<br />
suggestive, what new therapies they can pave the<br />
way to and how brain research could also help the<br />
healthy in future.<br />
>> Kosmos: Professor Heinze, up to about twenty years<br />
ago, brain researchers had to make do with preparations,<br />
measurements of brain currents and X-ray photos. Today,<br />
it is possible to look at colourful, three-dimensional pictures<br />
of the scene of the action. Can you still remember your<br />
“first time” you experienced the new options?<br />
>>Heinze: That was in the 80s, when I was a post-doc in<br />
the USA. Up to then, brain research had concentrated<br />
almost exclusively on the EEG, on recording electric brain<br />
activity. When we then saw PET images of the brain in<br />
action, we thought we could now forget about our previous<br />
results and methods. The pictures showed a network of<br />
active brain structures that we would so far have only<br />
been able to anticipate indirectly, from the brain surface.<br />
To us all, it was obvious that this approach amounted to a<br />
revolution in brain research.<br />
>> Kosmos: So now you could virtually watch the brain<br />
think …<br />
>>Heinze: Within certain restraints, we had already<br />
been able to watch the brain think with our old technology.<br />
Our initial suspicion that functional imaging could<br />
render electrophysiology obsolete proved unfounded. Rather,<br />
it is only the combination of both methods that enables<br />
us to understand the spatio-temporal architecture of<br />
advanced brain functions (see box page 30).<br />
>> Kosmos: Is it also thanks to these colourful and<br />
impressive images that brain research has attracted so<br />
much attention?<br />
>>Heinze: Of course these images are suggestive. For<br />
instance, a high level of activity is represented in deep red,<br />
while low activity is in blue. Here, the fact that our brain<br />
responds especially well to contrasts and conspicuous<br />
colour stimuli is taken advantage of. If you were to merely<br />
write numbers into the image instead of colours, the<br />
statements would be exactly the same from a scientific<br />
angle. But that would not be particularly illustrative and<br />
would be of little help in quickly gaining an understanding<br />
of the results.<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
*******<br />
Professor Dr. Hans-<br />
Jochen Heinze ist Direktor<br />
der Klinik für Neurologie<br />
II an der Universität<br />
Magdeburg sowie Direktor<br />
der Abteilung für Verhaltensneurologie<br />
am<br />
dortigen Leibniz-Institut<br />
für Neurobiologie. Er ist<br />
Fachvertreter im Auswahlausschuss<br />
für Forschungsstipendien<br />
der<br />
<strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong>.<br />
*******<br />
Professor Dr. Hans-<br />
Jochen Heinze is Director<br />
of the Neurological<br />
Clinic II at Magdeburg<br />
University and Director<br />
of the Department of<br />
Behavioural Neurology<br />
at the Leibniz Institute<br />
for Neurobiology, also<br />
located there. He is a<br />
specialist representative<br />
in the Selection Committee<br />
for Research Fellowships<br />
of the <strong>Humboldt</strong><br />
Foundation.
Verständnis der Ergebnisse wenig hilfreich.<br />
>> Kosmos: Sie können beobachten, wie das menschliche<br />
Hirn auf bestimmte Reize reagiert, beispielsweise,<br />
welche Bilder Emotionen auslösen. Das wäre als Anwendung<br />
für die Werbeindustrie interessant …<br />
>>Heinze: … und wird <strong>von</strong> manchen Firmen bereits<br />
eingesetzt. Wenn man Werbung anschaut, gibt es viele<br />
Verarbeitungsstufen im Gehirn, die nur zu einem ganz<br />
geringen Teil bewusst werden und über die man mit<br />
klassischen Methoden der Marktforschung, wie Testvorführungen<br />
und Befragungen, nichts erfährt. Mit<br />
29 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
>> Kosmos: You can watch how the human brain<br />
responds to certain stimuli, for instance which images<br />
trigger certain emotions. That would be an interesting<br />
application in advertising …<br />
>>Heinze: … and is already being used by some firms. If<br />
you look at advertising, there are several levels of processing<br />
in the brain only a very small share of which people<br />
are aware of and of which nothing is learnt via classic<br />
methods of market research such as test demonstrations<br />
and interviews. In contrast, imaging could help visualise<br />
some of these processes.
****************<br />
„Ein nach materiellen Prioritäten optimiertes<br />
‚Designergehirn‘ wäre zweifellos eine höchst<br />
verwerfliche Entwicklung.“<br />
****************<br />
“A ‘designer brain’ optimised to meet material<br />
priorities would without doubt be a highly reprehensible<br />
development.”<br />
Hilfe der Bildgebung dagegen können einige dieser Prozesse sichtbar<br />
gemacht werden.<br />
>> Kosmos: Die Werbeleute kämen dem gläsernen Kunden damit ein<br />
ganzes Stück näher. Was bringt die Technik für Ärzte und ihre Patienten?<br />
>>Heinze: Sie helfen uns, die Ursachen für bestimmte Erkrankungen<br />
zu erkennen. Beispielsweise können wir entdecken, in welchen Bereichen<br />
des Gehirns und auf welcher Ebene der Informationsverarbeitung<br />
fehlerhafte Wahrnehmungen, Defizite oder Halluzinationen<br />
erzeugt werden. Verhaltensstörungen und pathologische Prozesse bestimmter<br />
Nervenzellpopulationen können auf diese Weise einander<br />
zugeordnet werden.<br />
>> Kosmos: Entstehen hieraus auch neue Therapien?<br />
>>Heinze: Es gibt zahlreiche Anwendungen in der Kognitiven Neurologie<br />
und Psychiatrie. Beispielsweise die Behandlung bestimmter neuropsychiatrischer<br />
Erkrankungen, etwa <strong>von</strong> Menschen mit einer<br />
Zwangserkrankung. Einige dieser Patienten können den Zwang, sich<br />
selber schwere Verletzungen zuzufügen, nicht unterdrücken, und sind<br />
durch konservative Verfahren nicht zu therapieren. Man nimmt an,<br />
dass eine veränderte Aktivität in bestimmten Hirnarealen wie dem<br />
Nucleus Accumbens bei dieser Erkrankung eine wichtige Rolle spielt.<br />
Hier setzt eine neue, invasive Therapie an: Nachdem man mit bildgebenden<br />
Verfahren die genaue Position dieses Areals ermittelt und seine<br />
Interaktionen mit anderen Hirnstrukturen identifiziert hat, reguliert<br />
man mittels elektrischer Stimulation über eine stereotaktisch eingeführte<br />
Elektrode die Aktivität in einem Teilbereich des Nucleus Ac-<br />
Wie entstehen die Bilder vom Gehirn?<br />
Man unterscheidet die elektrophysiologischen Methoden wie das<br />
klassische EEG (Elektroenzephalogramm) und das MEG (Magnetenzephalogramm)<br />
<strong>von</strong> den so genannten Bildgebungsverfahren:<br />
die Kernspintomographie, die funktionelle Kernspintomographie,<br />
die Spektroskopie und die Positronen-Emissions-Tomographie<br />
(PET). Mit dem EEG und MEG kann man zeitlich genau bestimmte<br />
zentralnervöse Prozesse verfolgen; die räumliche Auflösung ist<br />
allerdings begrenzt. Die Stärke der funktionellen Bildgebungsverfahren<br />
ist dagegen die räumliche Darstellung <strong>von</strong> Aktivierungen,<br />
insbesondere auch in tiefer gelegenen Hirnstrukturen. Diese Verfahren<br />
beruhen darauf, dass sie Blutflussänderungen messen, die wiederum<br />
relativ langsam ablaufen und daher den Zeitverlauf der<br />
neuralen Informationsverarbeitung häufig nicht abbilden. Man<br />
kombiniert deshalb Bildgebung und Elektrophysiologie und erhält<br />
so eine funktionelle Raum-Zeit-Architektur.<br />
30 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
>> Kosmos: This would get the advertising people a lot closer to the<br />
“glass consumer”. But in what way can doctors and patients benefit from<br />
the new technology?<br />
>>Heinze: It helps us detect the causes of certain diseases. For instance,<br />
we can discover in which areas of the brain and at which level of information<br />
processing faulty perceptions, deficits or hallucinations are generated.<br />
Behavioural disorders and pathological processes in certain nerve cell<br />
populations can thus be assigned to each other.<br />
>> Kosmos: Does this also lead to new therapies?<br />
>>Heinze: There are several applications in cognitive neurology and<br />
psychiatry, such as the treatment of certain neuro-psychiatric diseases like<br />
those of people with an obsessive disorder. Some of these people are unable<br />
to suppress the compulsion to inflict severe injuries upon themselves and<br />
cannot be treated with conservative methods. Here, it is assumed that<br />
changes in activity in certain brain areas such as the Nucleus Accumbens<br />
play an important role in this disease. This is where a new, invasive therapy<br />
comes in. Having established the exact position of this area with imaging<br />
methods, one then regulates activity in a sub-area of the Nucleus<br />
Accumbens using electric stimulation via a stereo-tactically inserted electrode.<br />
Sometimes, the results are dramatic. The compulsion will ebb, and<br />
some of the patients are once again able to pursue their professions.<br />
>> Kosmos: All this raises the question whether we have a free will. Are<br />
we ultimately merely slaves of neuronal thunderstorms in our heads?<br />
Compulsive acts would only be one extreme example …<br />
>>Heinze: Yes, this is a frequently discussed question nowadays, although<br />
of course, it is by no means new. Is our thinking and acting the result of<br />
How are the images of the brain created?<br />
One distinguishes between electro-physiological methods such as the<br />
classic EEG (electro-encephalogram) and the MEG (magneto-encephalogram)<br />
and, on the other side, the imaging methods: magnetic<br />
resonance imaging, functional magnetic resonance imaging, spectroscopy<br />
and positron emission tomography (PET).<br />
While the EEG and the MEG can be used to track decision-making<br />
processes in the brain with temporal accuracy and with virtually no<br />
limitations, spatial resolution is limited. In contrast, the strength of<br />
the imaging methods is that they offer spatial representations of<br />
activities, especially those in the deeper structures of the brain. These<br />
methods are based on measurements of changes in blood flow, which,<br />
however, progress relatively slowly and therefore frequently fail to<br />
illustrate the temporal progression of neural information processing.<br />
This is why imaging and electrophysiology are combined, resulting in<br />
a space-time architecture of more sophisticated brain functions.
31 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
Oben: farblich markierte<br />
Aktivierungsmuster in einer<br />
Kernspin-Aufnahme des<br />
menschlichen Gehirns.<br />
Top: Activating patterns in a<br />
magnetic resonance image<br />
of the human brain marked<br />
in different colours.<br />
Unten: Magnetresonanz-<br />
Tomographie vom Gehirn<br />
einer Creutzfeld-Jakob-<br />
Patientin.<br />
Bottom: Magnetic resonance<br />
tomography of a<br />
Creutzfeldt-Jakob patient’s<br />
brain.<br />
*****<br />
„Wir dachten, jetzt<br />
können wir unsere<br />
bisherigen Verfahren<br />
vergessen. Für<br />
uns alle war klar,<br />
dass die neuen Bilder<br />
eine Revolution<br />
in der Hirnforschung<br />
bedeuten.“<br />
*****<br />
“We thought we<br />
could now forget<br />
about our previous<br />
methods. To us all,<br />
it was obvious that<br />
the new images<br />
amounted to a<br />
revolution in brain<br />
research.”
cumbens. Die Ergebnisse sind teilweise dramatisch.<br />
Der Zwang lässt nach. Einige der Patienten können<br />
wieder ihrem Beruf nachgehen.<br />
>> Kosmos: Das wirft die Frage nach dem freien Willen<br />
auf. Sind wir letztlich nur Sklaven neuronaler<br />
Gewitter in unserem Kopf? Zwangshandlungen wären<br />
hierfür nur ein extremes Beispiel …<br />
>>Heinze: Ja, das ist eine derzeit oft diskutierte, aber<br />
natürlich keineswegs neue Frage: Ist unser Denken und<br />
Handeln das Ergebnis kausaler neuraler Aktivität, und<br />
müssen wir daher nicht konsequenterweise den<br />
Schuldbegriff abschaffen und das Kapitel der Moral<br />
neu schreiben? Ich glaube, eine solche Schlussfolgerung<br />
ist nicht gerechtfertigt. Ich bezweifle überhaupt nicht,<br />
dass Denken, Entscheiden und Handeln mit neuraler<br />
Aktivität, also physikalischen Gesetzen, zusammenhängen.<br />
Aber ich halte diese Zusammenhänge für viel<br />
komplizierter, als dass wir sie mit unserem gegenwärtigen<br />
Wissen, vielleicht auch mit unserem Erkenntnisvermögen<br />
überhaupt, verstehen können. Nach dem<br />
gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ist es nicht angemessen,<br />
unser persönliches Empfinden <strong>von</strong> Verantwortung<br />
und Freiheit, also die Grundlage unserer Moral,<br />
als neurale „Täuschung“ zu erklären.<br />
>> Kosmos: Im deutschen Feuilleton wurden diese<br />
Fragen dennoch ausführlich diskutiert. Wird die<br />
Bedeutung Ihres Fachs für philosophische Grundsatzfragen<br />
überschätzt?<br />
>>Heinze: Vielleicht manchmal. Ich bewerte die Rolle<br />
der kognitiven Neurowissenschaft jedenfalls eher unter<br />
pragmatischen Gesichtspunkten: Sie soll dazu beitragen,<br />
Störungen neuraler Prozesse zu diagnostizieren<br />
und zu therapieren, so dass der Mensch in die Lage versetzt<br />
wird, innerhalb seiner Möglichkeiten die Welt<br />
32 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
causal neural activity, and don’t we therefore have to forget<br />
the issue of guilt and rewrite the chapter on morals? I<br />
believe that such a conclusion isn’t justified. Not that I<br />
have any doubts that thinking, deciding and acting is linked<br />
to neural activity and therefore physical laws. But I<br />
believe that these contexts are far too complicated for us to<br />
be able to comprehend them with our present level of<br />
knowledge if not with our cognitive capacity in general.<br />
With state-of-the-art science, it wouldn’t be appropriate to<br />
describe our personal perception of responsibility and freedom,<br />
the basis of our morals, as a neural “deception”.<br />
>> Kosmos: Nevertheless, these issues have been elaborately<br />
discussed in the German feature pages. Is the<br />
importance of your subject regarding philosophical principles<br />
being overestimated?<br />
>>Heinze: Sometimes, perhaps. At any rate, I would<br />
assess the role of cognitive neuro-science more from a<br />
pragmatic angle. It is supposed to contribute to diagnosing<br />
and treating disorders in neural processes so that<br />
the human being is enabled to objectively understand and<br />
value the world within his abilities and plan and implement<br />
alternative concepts of life.<br />
>> Kosmos: Do the alternative concepts of life include<br />
treating the brains of the healthy as well sooner or later?<br />
The recently discovered agent to enhance the memory<br />
could be an initial step in this direction …<br />
>>Heinze: Scientists really are already working on this.<br />
Some of these approaches, such as enhancing certain types<br />
of memory performance, are not unrealistic. Older people<br />
in particular could benefit from this, for we know that<br />
from the age of 60 years on, changes in the storage and<br />
retrieval of information frequently occur among healthy<br />
people as well. The Old and the New is experienced differently<br />
from in youth.<br />
Vorbereitung eines Patienten<br />
zur Hirnuntersuchung<br />
im PET-Zentrum in Rossendorf<br />
bei Dresden<br />
A patient being prepared for<br />
a brain examination at the<br />
PET centre in Rossendorf<br />
near Dresden
objektiv zu verstehen und zu bewerten, alternative Lebensentwürfe zu<br />
planen und umzusetzen.<br />
>> Kosmos: Gehört zu den alternativen Lebensentwürfen, dass man<br />
über kurz oder lang auch die Gehirne der Gesunden behandelt? Der<br />
jüngst entdeckte Wirkstoff zur Steigerung der Merkfähigkeit könnte<br />
einen ersten Schritt markieren …<br />
>>Heinze: Es wird gegenwärtig tatsächlich daran gearbeitet. Einige<br />
dieser Ansätze, wie die Steigerung bestimmter Gedächtnisleistungen,<br />
sind nicht unrealistisch. Vor allem ältere Menschen könnten da<strong>von</strong><br />
profitieren, denn wir wissen, dass ab dem 60. Lebensjahr auch bei<br />
gesunden Menschen häufig Veränderungen der Speicherung und des<br />
Abrufs <strong>von</strong> Informationen eintreten: Alt und Neu wird anders erlebt<br />
als in der Jugend.<br />
>> Kosmos: Die Optimierung des menschlichen Gehirns würde<br />
große ethische Fragen aufwerfen und wohl mindestens wie die Gentechnik<br />
entschiedene Gegner auf den Plan rufen …<br />
>>Heinze: Natürlich muss man sorgfältig abwägen. Ein nach materiellen<br />
Prioritäten optimiertes „Designergehirn“ wäre zweifellos eine<br />
höchst verwerfliche Entwicklung. Aber ich glaube, dass solche Szenarien<br />
wenig realistisch sind. Hinter Intelligenz, Kreativität, Mitleid und<br />
Moral stehen extrem komplexe Prozesse. Wir sind zwar in der Lage,<br />
einzelne Faktoren zu identifizieren, die im Falle einer Dysfunktion zu<br />
gravierenden Störungen führen. Aber das heißt keineswegs im<br />
Umkehrschluss, dass die Veränderung einzelner Faktoren etwa durch<br />
Medikamente die kognitive Leistungsfähigkeit und die Persönlichkeit<br />
insgesamt verbessern und bereichern würde. Für die „Optimierung<br />
des menschlichen Gehirns“ gelten vielmehr Bedingungen, die auch<br />
ohne Neurowissenschaften evident sind: Eine gute allgemeine Erziehung,<br />
eine intakte Familie und eine optimistische, soziale Gesellschaft.<br />
33 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Titelthema – Die Macht der Bilder Coverstory – The Power of Images<br />
Links: Kernspinresonanz-Aufnahme eines gesunden menschlichen Gehirns,<br />
männlich, ca. 40 Jahre<br />
Left: Core magnetic resonance image of a healthy human brain, male, approx.<br />
40 years<br />
Rechts: In charakteristischen Kurven werden Hirnströme eines Patienten in<br />
einem EEG aufgezeichnet.<br />
Right: A patient’s brain currents are recorded in characteristic graphs in an<br />
EEG.<br />
>> Kosmos: Optimising the human brain would raise grave ethical issues<br />
and probably bring determined opponents into the arena, at least as<br />
much as genetic engineering …<br />
>>Heinze: Of course this has to be considered very carefully. A “designer<br />
brain” optimised to meet material priorities would without doubt be a<br />
highly reprehensible development. But I believe that such scenarios are<br />
hardly realistic. Intelligence, creativity, compassion and morals are based<br />
on extremely complex processes. We may be able to identify individual factors<br />
that lead to grave disorders if a dysfunction occurs. But this would by<br />
no means justify turning the argument on its head and claiming that<br />
modifications of individual factors, for instance through drugs, would<br />
improve and enrich cognitive performance and the personality as a whole.<br />
Rather, “optimising the human brain” is conditional on factors that would<br />
still be evident even without neuro-science: good general education and<br />
upbringing, an intact family and an optimistic, caring society.
Bayern sind die Amerikaner unter den Deutschen.<br />
Eine Liebeserklärung an die Münchener Lebensart.<br />
Als ich 1969 ein Stipendium der <strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong><br />
erhielt, war ich 27 Jahre alt. Die Entscheidung,<br />
nach München zu gehen, fiel mir nicht<br />
schwer, hatte doch die Bayerische Staatsbibliothek mit<br />
ihren damals fast 30.000 mittelalterlichen Handschriften<br />
und Frühdrucken alles, was ich für meine Forschungsarbeit<br />
über mittelalterliche Rechtsgeschichte<br />
brauchte.<br />
Die Bayern waren mir allerdings ein wenig suspekt.<br />
Aufgewachsen im Mittleren Westen der USA, in Milwaukee,<br />
Wisconsin, hatte ich die üblichen Vorurteile<br />
über den Freistaat im Süden Deutschlands und seine<br />
Einwohner. Ich war da<strong>von</strong> überzeugt, dass alle Bayern<br />
Lederhosen tragen und bei Sonnenaufgang zu jodeln<br />
beginnen, ebenso wie ich mir sicher war, dass das Oktoberfest<br />
im Oktober stattfindet.<br />
Meine Nachbarn, die Beckenbauers<br />
Als ich im September 1969 in München ankam, mietete<br />
ich ein kleines Haus in der südöstlichsten Ecke <strong>von</strong><br />
München, dem Stadtteil Waldperlach. Das Haus hätte<br />
die perfekte Kulisse für „Goldköpfchen und die drei<br />
Bären“ abgegeben. Es gab weder Zentralheizung noch<br />
warmes Wasser. Dies war – wie ich erfuhr – für<br />
Deutschland Ende der 60er Jahre durchaus nicht unüblich.<br />
Ich fand heraus, dass ich mir Kästen mit Bier aus<br />
Andechs und Weihenstephan ins Haus liefern lassen<br />
konnte – mein Bierlieferant trug übrigens immer Lederhosen,<br />
auch im Winter. Meine unmittelbaren Nachbarn<br />
waren die Beckenbauers, nicht der Kaiser persönlich,<br />
aber sein Cousin. Sie waren echte Bayern. Sie<br />
konnten zwar Hochdeutsch sprechen, führten mich<br />
aber ins Bayerische ein. Ihnen hatte ich zu verdanken,<br />
dass mein sozialer Terminkalender im ersten Jahr gut<br />
gefüllt war. Im September ging ich mit ihnen zu meinem<br />
ersten Oktoberfest „auf d’Wiesn“. Später im<br />
Herbst trauerte ich mit ihnen, als sie mir <strong>von</strong> ihrer Einladung<br />
zu der „gemischten Hochzeit” einer nahen Verwandten<br />
berichteten.„Ein Protestant?“ fragte ich. „Na, a<br />
Preiß'n", antworteten sie. Im Frühjahr nahmen sie<br />
mich mit zu meiner ersten Faschingsparty, auf der ich<br />
die Bekanntschaft mit Doppelkorn machte, einem klaren<br />
Schnaps, der heute in bayerischen Gaststätten nicht<br />
34 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Deutschland im Blick View onto Germany<br />
Kenneth Pennington<br />
Meine weiß-blaue Identität<br />
My white and blue identity<br />
The Bavarians are Germany’s Americans. A declaration<br />
of love to the Munich way of life.<br />
When I received an <strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong> Fellowship<br />
in 1969, I was 27 years old. Opting for Munich seemed to<br />
suggest itself, given that the Bavarian State Library, with<br />
its almost 30,000 medieval manuscripts and incunabula,<br />
had everything I needed for my research on medieval<br />
legal history.<br />
However, the Bavarians were a little suspicious to me.<br />
Having grown up in America’s Midwest, Milwaukee, Wisconsin,<br />
I had the usual misconceptions about this Free<br />
State in the south of Germany and its inhabitants. I was<br />
sure that all Bavarians wore Lederhosen and yodelled at<br />
the crack of dawn, and I believed that the Oktoberfest<br />
actually took place in October.<br />
My neighbours, the Beckenbauers<br />
When I first arrived in Munich in September of 1969, I<br />
rented a small cottage in the farthest southeastern part of<br />
Munich called Waldperlach. The house could have been<br />
the perfect setting for “Goldielocks and the Three Bears”.<br />
It did not have central heating or hot water. That, I<br />
learned, was not unusual for Germany at the end of the<br />
60s. I discovered that I could have crates of Andechs and<br />
Weihenstephan beer delivered to my door by my beer<br />
man – who always wore Lederhosen even in the winter.<br />
My next-door neighbours turned out to be the Beckenbauers,<br />
not the Kaiser himself but his first cousin. They<br />
were real Bavarians to the core. They could speak<br />
Hochdeutsch but introduced me to Bayerisch. They<br />
provided me with a rich social calendar for the first year.<br />
In September I went with them to my first Oktoberfest<br />
“auf d´Wiesn.” Later in the fall I grieved with them when<br />
they told me that they were attending a “mixed marriage”<br />
of a close relative. “A Protestant?” I inquired. “Na,<br />
a Preiß’n,” they answered. In spring they took me to my<br />
first Fasching party and introduced me to Doppelkorn,<br />
a clear Schnaps that no longer is being served in bayerische<br />
Gaststätten, if my research during this summer<br />
has been properly conducted. Finally, during sunny June<br />
weeks of 1970 I watched the German national soccer<br />
team with them as it took on Morocco, Bulgaria, Peru,<br />
and England until they finally lost to Italy in the “Match<br />
of the Century” in the World Championships. The<br />
Kaiser, Franz Beckenbauer, was elegant, creative, and<br />
*******<br />
Professor Dr. Kenneth<br />
Pennington lehrt die<br />
Geschichte des Mittelalters<br />
an der Catholic University<br />
of America,<br />
Washington, D.C. USA.<br />
1969 wurde ihm ein <strong>Humboldt</strong>-Forschungsstipendium<br />
verliehen, das ihn<br />
im selben Jahr erstmals<br />
an die Universität München<br />
führte, wo er zuletzt<br />
im Sommer 2005 im Rahmen<br />
einer Wiederaufnahme<br />
tätig war.<br />
*******<br />
Professor Dr. Kenneth<br />
Pennington teaches<br />
Medieval History at the<br />
Catholic University of<br />
America, Washington,<br />
D.C. USA. In 1969, he was<br />
awarded a <strong>Humboldt</strong><br />
Research Fellowship<br />
which brought him to<br />
the University of Munich<br />
in that same year, where,<br />
in the context of a<br />
resumption of the<br />
research fellowship, he<br />
last worked in the summer<br />
of 2005.
********************<br />
„ Außerhalb Bayerns brauche ich immer eine Weile, bis ich verstehe,<br />
dass die Deutschen, die mich auf der Straße nicht grüßen, nicht<br />
unfreundlich sind, es sind nur keine Bayern.“<br />
********************<br />
“When I am outside of Bavaria it always takes a while for me<br />
to understand that the Germans who do not recognise me on the<br />
street are not unfriendly, they are just not Bavarians.”<br />
mehr zu kriegen ist – vorausgesetzt ich habe meine Recherchen in diesem<br />
Sommer sorgfältig genug durchgeführt. Schließlich, in den sonnigen<br />
Juniwochen des Jahres 1970, erlebten wir gemeinsam, wie die<br />
deutsche Nationalmannschaft in der Fußballweltmeisterschaft nacheinander<br />
Marokko, Bulgarien, Peru und England besiegte, bis sie<br />
schließlich im „Spiel des Jahrhunderts“ gegen Italien verlor. Der Kaiser,<br />
Franz Beckenbauer, war elegant, kreativ und machte selbst bei der<br />
Niederlage eine gute Figur. Auch wenn ich ihn nie persönlich kennen<br />
gelernt habe, so fühlte ich mich durch die Beckenbauers <strong>von</strong> nebenan<br />
doch immer sehr mit ihm verbunden.<br />
Auch die Oper wurde ein Teil meines Lebens in jenem Jahr. Ich<br />
hatte noch nie in einer Stadt gelebt, in der es eine Oper gab, und war<br />
sehr gespannt darauf. Ich fand heraus, dass es im oberen Bereich des<br />
Zuschauerraums der Bayerischen Staatsoper billige Stehplätze gab.<br />
Für einen Hinterwäldler („Bauerntölpel“ trifft es nicht wirklich) aus<br />
dem amerikanischen Mittleren Westen war ein Besuch der Staatsoper<br />
ein echtes Erlebnis. Er begann immer mit einem Cognac in der<br />
Opernbar, gefolgt <strong>von</strong> dem langen Aufstieg zu meinem Stehplatz im<br />
Dachgeschoss des Theaters, um dann bei der Vorführung <strong>von</strong> Musik,<br />
Gesang und Tanz zu kulminieren. Eine Aufführung ist mir nachhaltig<br />
im Gedächtnis geblieben, „Tristan und Isolde“ <strong>von</strong> Richard Wagner.<br />
Ich weiß nicht mehr, wer die Sänger waren oder wer dirigiert hat, aber<br />
an eines erinnere ich mich genau: Die Vorführung begann um 18.00<br />
Uhr und endete um 23.30 Uhr. Eine lange Zeit zum Stehen.<br />
Das akademische Jahr 1969/70 war ein wunderbares Jahr. Bayern<br />
wurde ein Teil meines Lebens. Ich lernte Deutsch und fand heraus, was<br />
es bedeutet, ein Bayer zu sein im Unterschied zu einem Preußen oder<br />
einem Schwaben. Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich auch in<br />
meiner wissenschaftlichen Arbeit Fortschritte machte?<br />
Bayerische Anziehungskraft<br />
Man weiß im Leben nie, ob eine zufällige Begegnung, Erfahrung oder<br />
ein Erlebnis sich als Beginn einer langen Beziehung oder als Sackgasse<br />
herausstellt. In meinem Fall hat mich die <strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong>-<br />
<strong>Stiftung</strong> auf einen Weg gebracht, der bis heute noch nicht zu Ende ist.<br />
In den 70er Jahren kam ich immer wieder für kurze Besuche zurück<br />
nach München und jedes Mal staunte ich über die Veränderungen.<br />
Manches empfand ich zunächst als Nachteil. So waren gegen Ende der<br />
70er Jahre alle meine bayerischen Lieblingsrestaurants verschwunden.<br />
An ihre Stelle waren italienische und jugoslawische Gaststätten getreten.<br />
Allerdings begriff ich schnell, dass die ethnische Vielfalt München<br />
nur noch interessanter machte.<br />
Den Sommer 1983 verbrachte ich wieder in Bayern, dann die Jahre<br />
<strong>von</strong> 1985 bis 1987 und die Sommer der Jahre 1989, 1992 und 2005 mit<br />
vielen Kurzbesuchen zwischendurch. Je öfter ich zurückkehrte, desto<br />
mehr wurde mir bewusst, wie heimisch ich mich in diesem Land fühl-<br />
36 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Deutschland im Blick View onto Germany<br />
beautiful to watch even in defeat. Somehow, although I have never met<br />
him, I have always felt that I had a connection to him through my neighbours,<br />
the Beckenbauers.<br />
The opera also became a part of my life that year. I had never lived<br />
in a city with an opera, and I thought that opera might be interesting. I<br />
learned that the Bavarian State Opera had cheap tickets for standing<br />
room in the upper reaches of the theatre. For an American Midwestern<br />
hayseed (not quite a Bauerntölpel), going to the Staatsoper was an<br />
experience. It would begin with a cognac in the opera café, continue with<br />
the long climb to my post in the attic of the theatre, and culminate with<br />
the music, singing, and dance. I remember one performance in particular,<br />
Wagner’s “Tristan and Isolde”. I do not remember the singers or conductor,<br />
but I do remember that it started at 6 p.m. and ended at 11:30<br />
p.m. It was a long time to stand.<br />
The academic year of 1969-1970 was a glorious year. Bavaria became<br />
a part of my life. I learned to speak German and discovered something<br />
of what it meant to be a Bavarian rather than a Prussian or a<br />
Swabian. Did I mention that I got some research done?<br />
The lure of Bavaria<br />
You never know whether a chance meeting, experience or an event in<br />
your life is the beginning of a long relationship or a dead end. In my case,<br />
the <strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong> Foundation put me on a road that has not<br />
yet had an end. I came back to Munich during the 1970s for many short<br />
visits and marvelled at the changes, some of which seemed at first to be<br />
downsides. By the last years of the 70s all my favourite Bavarian restaurants<br />
were gone. In their place were Italian and Yugoslavian eateries.<br />
What I quickly discovered was that ethnic diversity made Munich a<br />
much more interesting place.<br />
I came back to Bavaria for a summer in 1983, for two years from<br />
1985 to 1987, and again for the summers of 1989, 1992, and 2005, with<br />
many short visits in between. As I returned, I became more and more<br />
aware how comfortable I was in this land. It is not because it is the most<br />
exciting place in Germany. During our long stay in 1985-1987, I took my<br />
twelve-year-old daughter Alison, who is, I am delighted to write, a<br />
<strong>Humboldt</strong> Fellow too, to Berlin for a visit. In those last years of a divided<br />
Berlin the city had a pulse that was similar to the beat of New York City.<br />
One evening we were walking down the Kurfürstendamm, or the Ku’damm<br />
as Alison quickly learnt to call it, after a day spent touring East<br />
Berlin and then going through the Pergamon Museum. The Ku’damm<br />
was ablaze with lights and filled with people. “Weißt du was, Vati,” she<br />
said, “Im Vergleich zu Berlin ist München ein Kuhdorf.” Alison was<br />
right (at least in part). Munich is gemütlich. It seduces you with its<br />
charm and character, not with its brashness.<br />
But the key question is: why does Bavaria and Munich exercise such<br />
a strong pull on my imagination? I have visited almost every corner of
te. Es lag nicht daran, dass es etwa die aufregendste<br />
Gegend in Deutschland wäre. Während unseres langen<br />
Aufenthaltes 1985 bis 1987 nahm ich meine 12-jährige<br />
Tochter Alison (die, wie ich mit Stolz berichten kann,<br />
ebenfalls <strong>Humboldt</strong>-Stipendiatin ist) mit auf eine Reise<br />
nach Berlin. In jenen letzten Jahren als geteilte Stadt<br />
hatte Berlin einen Lebensrhythmus, der dem New<br />
Yorks vergleichbar war. Eines Abends gingen wir den<br />
Kurfürstendamm – oder Ku’damm, wie Alison ihn<br />
schnell zu bezeichnen lernte – entlang nach einem Tag,<br />
den wir erst mit einer Tour durch Ost-Berlin und dann<br />
im Pergamon-Museum verbracht hatten. Der Ku’damm<br />
war hell erleuchtet und voller Menschen.„Weißt<br />
Du was, Vati“, sagte sie, „im Vergleich zu Berlin ist<br />
München ein Kuhdorf.“ Alison hatte recht, zumindest<br />
teilweise. München ist eine gemütliche Stadt. Es be-<br />
37 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Germany. No other part of the country has captivated me<br />
as Bavaria. There are obvious reasons. The Bavarian<br />
countryside is spectacularly green, lush, and beautiful<br />
with a carpet that stretches to its southern mountainous<br />
walls. As I sit in my study in Washington, D.C. writing<br />
this essay, I remember the trips that we took this summer<br />
to Bad Tölz, Garmisch, Tegernsee, Kloster Ettal, Murnau,<br />
Walchensee and beyond. I see a narrow winding road<br />
snaking through rolling green meadows with the mountains<br />
framing the background (I must confess that there<br />
was a little bit of rain this summer). The institute that I<br />
worked in during this stay also reminded me how Bavarians<br />
connect with their land. The Monumenta Germaniae<br />
Historica (German Institute for Medieval Research)<br />
takes a day each year to make an Ausflug (there is no<br />
English word or phrase that captures the rich meaning of<br />
Der Kaiser: durch die Beckenbauers<br />
<strong>von</strong> nebenan<br />
immer mit ihm verbunden<br />
The Kaiser. Always connected<br />
to him through his nextdoor<br />
neighbours
********************<br />
„Amerikanern fällt es schwer, ein ernstes<br />
Gesicht zu bewahren, wenn sie jemandem begegnen.<br />
Die Bayern haben ebenfalls ein Problem mit offensiver<br />
Freundlichkeit.“<br />
********************<br />
“Americans have a hard time keeping a straight<br />
face when they meet someone. Bavarians have<br />
the same problem of aggressive friendliness.”<br />
sticht durch Charme und Charakter, aber nicht durch<br />
wildes Großstadtleben.<br />
Die Schlüsselfrage ist jedoch: Warum üben Bayern<br />
und München eine so starke Anziehungskraft auf mich<br />
aus? Ich habe fast jede Gegend in Deutschland besucht.<br />
Kein anderer Teil dieses Landes hat mich so gefesselt<br />
wie Bayern. Einige Gründe liegen auf der Hand. Die<br />
bayerische Landschaft ist wunderbar grün, reich und<br />
schön bis an die Gebirgskette ganz im Süden. Während<br />
ich hier in meinem Büro in Washington, D.C. sitze und<br />
diesen Artikel schreibe, schwelge ich in Erinnerungen<br />
an die Ausflüge, die wir in diesem Sommer unternommen<br />
haben: nach Bad Tölz, Garmisch, an den Tegernsee,<br />
zum Kloster Ettal, Murnau, Walchensee und so<br />
weiter. Ich sehe eine schmale, sich windende Straße, die<br />
sich durch Hügel mit grünen Weiden schlängelt und im<br />
Hintergrund die Berge (allerdings muss ich zugeben,<br />
dass es in diesem Sommer etwas regnerisch war). Das<br />
Institut, für das ich während meines Aufenthaltes gearbeitet<br />
habe, erinnerte mich ebenfalls daran, wie sehr<br />
die Bayern mit ihrem Land verbunden sind. Die Monumenta<br />
Germaniae Historica, das Deutsche Institut<br />
zur Erforschung des Mittelalters, macht jedes Jahr einen<br />
Ausflug. Dieses Jahr fuhren wir mit 40 Leuten mit der<br />
S-Bahn bis zur Endhaltestelle in Herrsching, erklommen<br />
den heiligen Berg bis zum Kloster Andechs, tranken<br />
eine Maß (manche <strong>von</strong> uns auch mehr als eine),<br />
aßen im Biergarten zu Mittag und kehrten auf einem<br />
anderen Weg nach Herrsching zurück, wo wir den Tag<br />
in einem Café am Ammersee ausklingen ließen. Das ist<br />
akademisches Leben auf bayerische Art. Habe ich schon<br />
erwähnt, dass ich diesen Sommer auch ein Buch zu<br />
Ende geschrieben habe?<br />
„Grüß Gott“<br />
Bayern spricht einen Teil meiner amerikanischen Identität<br />
besonders stark an. Deutsche haben mir oft erzählt,<br />
dass ihnen, wenn sie Amerikaner treffen, das<br />
amerikanische Lächeln auffällt: freundlich, offen, aber<br />
nicht ehrlich gemeint. Ich erinnere mich häufig an<br />
diese Bemerkung, wenn ich ein unwillkürliches Lächeln<br />
auf meinem Gesicht spüre. Amerikanern fällt es<br />
schwer, ein ernstes Gesicht zu bewahren, wenn sie<br />
jemandem begegnen. Die Bayern jedoch haben ebenfalls<br />
ein Problem mit offensiver Freundlichkeit, nur<br />
38 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Ausflug). This year about 40 of us went on the S-Bahn<br />
train to the end of the line in Herrsching, hiked up the<br />
holy mountain to Kloster Andechs, drank a Maß (some of<br />
us had more than one), had lunch in the beer garden and<br />
took another route back to Herrsching where we finished<br />
the day in a café next to the Ammersee. That is academic<br />
living Bavarian style. Did I mention that I finished a<br />
book project this summer?<br />
“Grüß Gott”<br />
Bavaria connects particularly well with parts of my<br />
American identity. Germans have often told me that<br />
when they meet Americans, they encounter the American<br />
smile: friendly, open, but insincere. I often remember<br />
that observation when an involuntary smile flits over my<br />
face. Americans have a hard time keeping a straight face<br />
when they meet someone. Bavarians, however, have the<br />
same problem of aggressive friendliness, but instead of<br />
the smile it is the greeting. “Grias di” in Bavarian or<br />
“Grüß Gott” in Hochdeutsch could be the motto for<br />
Bavaria. This summer I was particularly conscious of<br />
how Bavarians constantly greet you.<br />
In the corridors, elevators, sidewalks, stores, kiosks,<br />
Bavarians recognise you, your being, and your importance<br />
with “Grüß Gott”. In the rest of Germany you may<br />
get the bland “Guten Tag” when you enter a store but not<br />
on the street. When I am outside of Bavaria it always<br />
takes a while for my white and blue identity to understand<br />
that these Germans who do not recognise me on the<br />
street are not unfriendly, they are just not Bavarians.<br />
I do not remember exactly when my identity became<br />
white and blue. Perhaps all Germans have a little Bavarian<br />
in them, even the Preißn. On the same trip to Berlin<br />
with Alison we toured East Berlin with an East German<br />
tour guide who showed us East Berlin and extolled the<br />
virtues of the DDR. Later Alison and I were walking<br />
through the Pergamon, and I suddenly came face to face<br />
with our tour guide again. She was leading another<br />
group through the museum. Without thinking I said<br />
“Grüß Gott” to her. “Grüß Gott!” she answered. She reddened,<br />
realised her blunder, and looked around quickly<br />
to see who might have heard her. I bet that today she lives<br />
in Bavaria.<br />
I was not surprised to learn that a large number of<br />
research fellows choose to live in or around Munich dur-<br />
Deutschland im Blick View onto Germany
dass es bei ihnen nicht das Lächeln, sondern der Gruß<br />
ist.„Grias di“ auf Bayerisch oder „Grüß Gott“ auf Hochdeutsch<br />
könnte Bayerns Motto sein. Diesen Sommer<br />
fiel es mir besonders auf, dass die Bayern einen permanent<br />
grüßen.<br />
Auf Fluren, in Fahrstühlen, auf Bürgersteigen, in<br />
Geschäften oder Kiosken würdigen die Bayern jeden<br />
Fremden, seine Anwesenheit und seine Bedeutung mit<br />
einem „Grüß Gott“. Im übrigen Deutschland hört man<br />
allenfalls ein gleichgültiges „Guten Tag“, wenn man<br />
einen Laden betritt, aber nicht auf der Straße. Außerhalb<br />
Bayerns brauche ich immer eine Weile, bis meine<br />
weiß-blaue Identität sich umgestellt und verstanden<br />
hat, dass die Deutschen, die mich auf der Straße nicht<br />
grüßen, nicht unfreundlich sind, es sind nur keine Bayern.<br />
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann<br />
meine Identität die Farben weiß-blau angenommen<br />
hat. Vielleicht tragen alle Deutschen ein Stück Bayern<br />
in sich, sogar die „Preißn“. Als ich zusammen mit meiner<br />
Tochter Alison in Berlin war, besichtigten wir auch<br />
Ost-Berlin mit einer ostdeutschen Fremdenführerin,<br />
die uns die Stadt zeigte und uns die Vorzüge der DDR<br />
anpries. Später waren wir im Pergamon-Museum und<br />
standen plötzlich wieder unserer Fremdenführerin gegenüber.<br />
Sie führte eine andere Gruppe durch das<br />
Museum. Ohne nachzudenken, sagte ich „Grüß Gott“<br />
zu ihr. „Grüß Gott!“ antwortete sie, realisierte ihren<br />
Fauxpas, errötete und sah sich schnell um, ob sie jemand<br />
gehört haben konnte. Ich wette, sie lebt heute in<br />
Bayern.<br />
Dass sich eine große Anzahl <strong>von</strong> Stipendiaten<br />
München und Umgebung für ihren Forschungsaufenthalt<br />
in Deutschland aussuchen, überrascht mich nicht.<br />
Ich habe den Verdacht, dass viele <strong>von</strong> ihnen dieselben<br />
Farben angenommen haben wie ich. In diesem Sinne<br />
möchte ich alle „<strong>Humboldt</strong>-Bayern“ <strong>von</strong> Moskau über<br />
Peking bis Washington, D.C. auffordern, sich mir anzuschließen<br />
und einen Toast auszubringen auf die bayerische<br />
Gemütlichkeit und Staatsangehörigkeit (ehrenhalber)<br />
– Oans, zwoa, g’suffa!<br />
39 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Krachlederne, großes Bier<br />
Bayern, wie es keiner kennt<br />
Rustic leather shorts and a couple<br />
of tankards. A completely different<br />
impression of Bavaria<br />
ing their research stays in Germany. I suspect that many<br />
of them have adopted the same flag as I. So I propose that<br />
all the "<strong>Humboldt</strong> Bavarians" from Moscow and Beijing<br />
to Washington, D.C. join me in a toast. Let us raise our<br />
glasses together to Bayerische Gemütlichkeit and citizenship<br />
(honorary) – Oans, zwoa, g’suffa!
Mark Elliott<br />
Deutsche Rätsel, schottische Antworten<br />
German puzzles, Scottish answers<br />
Können Deutsche ohne Depeche Mode-Parties überleben?<br />
Sind germanische Wissenschaftler menschliche<br />
Wesen? Und wie verhilft das deutsche Wetter mühelos<br />
über alle Sprachbarrieren? Ein deutsch-schottischer<br />
Vergleich.<br />
Deutschland im Sommer 2005<br />
Die Schlagzeilen: der Tod <strong>von</strong> Schauspielern, <strong>von</strong><br />
denen ich nie gehört habe. Bilder des neuen deutschen<br />
Papstes unmittelbar neben Fotos der nackten Brüste<br />
junger Frauen. Frust über das Wetter und, sobald das<br />
Wetter besser wird, Probleme wegen Trinkens in der<br />
Öffentlichkeit, Nacktheit, Lärm … 40-jährige ehemalige<br />
Fußballstars, ihre Ehefrauen und deren Liebhaber …<br />
wirkt unmittelbar einschläfernd. Bestechung und Korruption,<br />
Skandale in der Automobilindustrie, kein<br />
Geld, im Stich gelassene Arbeiter.<br />
Was aus all diesem wirklich hervorsticht: Deutschland<br />
versteht es, zu sündigen. Frei nach Luther: Sündige<br />
tapfer (aber ebenso tapfer empfange Vergebung!) In<br />
England wird alles unter den Teppich gekehrt, hier werden<br />
Untersuchungen eingeleitet, anstatt dass einfach<br />
mal jemand die Wahrheit sagt; Spin ist in. Und schlechtes<br />
Benehmen infolge Betrinkens wird noch lange nicht<br />
in jedem Fall verurteilt. Deutschland jedoch erwartet<br />
Besseres und ist vielleicht auch ehrlicher als Großbritannien.<br />
Der erste Kontakt<br />
Als ich im Jahr 2002 das erste Mal nach Deutschland<br />
ins schöne Heidelberg kam, brachte ich ein Gefühl mit,<br />
das sich vielleicht als „Ehrfurcht“ bezeichnen lässt.<br />
Nein, nennen wir es „Angst“, damit bleiben wir ehrlich,<br />
ganz nach deutscher Gepflogenheit. Angst vor den großen<br />
Professoren, vor der mit den Geistern der Vergangenheit<br />
geschwängerten Atmosphäre, vor der gegenwärtigen<br />
Kompetenz, vor den eindrucksvollen Gebäuden.<br />
Ich fühlte mich in diesem Stamm wie ein Außenseiter<br />
zu biblischen Zeiten und konnte nur hoffen, dass<br />
ich in den Augen meiner Oberen Gnade finden würde.<br />
Ich schätzte ihre Geduld angesichts meiner sprachlichen<br />
Inkompetenz, und zu jenem Zeitpunkt war ich<br />
noch bereit einzuräumen, dass all unser schottisches<br />
kulturelles und wissenschaftliches Erbe lediglich ein<br />
schlechter Witz sei, unser Bemühen um Exzellenz nicht<br />
mehr als eine Fußnote zu den wissenschaftlichen<br />
40 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Can Germans survive without Depeche Mode parties?<br />
Are Teutonic scholars human beings? And how<br />
does the German weather help overcome language<br />
barriers effortlessly? A German-Scottish comparison.<br />
Germany in the summer of 2005<br />
Headlines: Announcements of the death of actors I had<br />
never heard of. Pictures of the new German Pope next to<br />
pictures of young women’s bosoms. Weather-frustration<br />
and when the weather improved problems about openair<br />
drinking-nakedness-noise. Forty year-old erstwhile<br />
footballers, their wives and their boyfriends … immediately<br />
putting one to sleep. Bribery and corruption, automobile<br />
industry scandals, no money, workers left in the<br />
lurch.<br />
What really stands out from this: Germany knows<br />
how one ought to sin. With Luther – sin with boldness<br />
(but also receive forgiveness with boldness!). In the UK<br />
all gets hushed up, there are enquiries instead of truthtelling,<br />
spin is “in”. And bad behaviour caused by alcohol<br />
is in no way always to be condemned. Germany however<br />
expects better and is also perhaps more honest than<br />
Britain.<br />
First contact<br />
When I first came to Germany, to beautiful Heidelberg, in<br />
2002, I brought with me a feeling that one more accurately<br />
ought to call “awe”. No, let’s call it “fear”, if we are going<br />
to be honest in true German style. Fear of the great Professors,<br />
of the atmosphere which was thick with the considerable<br />
ghosts of the year before yesteryear, of the presentday<br />
competence, of the impressive buildings. I felt like an<br />
outsider of biblical times in this tribe in which I could only<br />
hope that I had found favour in the eyes of my Lords. I<br />
treasured their patience with my linguistic incompetence<br />
and I admitted at that time that all our Scottish cultural<br />
or scholarly heritage was only a bad joke, our striving<br />
after excellence not much more than footnotes to the<br />
scholarly main body of text from Central Europe. Karl<br />
Jaspers? An important thinker most of all for theologians.<br />
Hans-Georg Gadamer? The same, even if we needed a<br />
hermeneutical interpreter to understand him. In any case<br />
we knew that we had to go to the German sources! Without<br />
Wittgenstein, Brunner, Heidegger and Bultmann,<br />
etc., there would be no theology in English. No question. I<br />
hardly knew how to answer these arguments.<br />
Deutschland im Blick View onto Germany<br />
*******<br />
Dr. Mark Elliott lehrt<br />
Theologie an der University<br />
of St. Andrews,<br />
Schottland, Großbritannien.<br />
Als <strong>Humboldt</strong>-Forschungsstipendiat<br />
war<br />
er 2002 an der Universität<br />
Heidelberg und 2005 an<br />
der Universität München.<br />
*******<br />
Dr. Mark Elliott teaches<br />
Theology at the University<br />
of St. Andrews, Scotland,<br />
Great Britain.<br />
He was at the University<br />
of Heidelberg in 2002 and<br />
at the University of<br />
Munich in 2005 as a<br />
<strong>Humboldt</strong> Research<br />
Fellow.
Hauptwerken aus Zentraleuropa. Karl Jaspers? Ein<br />
bedeutender Denker vor allem für Theologen. Hans-<br />
Georg Gadamer? Ebenso, auch wenn man hermeneutische<br />
Interpreten braucht, um ihn zu verstehen. In<br />
jedem Fall wussten wir, dass wir zu den deutschen<br />
Quellen gehen mussten! Ohne Wittgenstein, Brunner,<br />
Heidegger und Bultmann und viele weitere würde es<br />
eine englische Theologie gar nicht geben. Keine Frage.<br />
Ich wusste kaum, was ich diesen Argumenten entgegnen<br />
sollte.<br />
Die Rückkehr<br />
Dieses Mal, im schon erwähnten Regensommer 2005,<br />
den ich in München verbrachte, suchte ich mir meine<br />
sozialen Kontakte teilweise unter den anderen Exilanten<br />
englisch-amerikanischer Abstammung. Diese Leute<br />
beeindruckten mich, trotz anfänglicher Vorurteile, mit<br />
ihrer Entschlossenheit, alles zu honorieren, was am<br />
Leben in München gut war (nicht zuletzt der Wein und<br />
das Essen!) und mit ihrer Überzeugung, dass sie sich<br />
glücklich schätzen konnten, in so einer tollen Stadt zu<br />
leben.<br />
Dieses Mal erschienen mir die Professoren nicht so<br />
distanziert, sondern eher zugänglich und ansprechbar. Es<br />
lohnt sich immer, sich mit der akademischen Arbeit eines<br />
Wissenschaftlers vertraut zu machen, um einen Eindruck<br />
<strong>von</strong> ihm oder ihr zu gewinnen. Ich lernte, deutsche Wissenschaftler<br />
als menschliche Wesen zu sehen.<br />
Kurz und gut: Glücklich der Brite, der drei Monate<br />
in München verbringen darf – in einer Gegend, die fast<br />
schon zu viel an Kultur bietet, in der der Unterschied<br />
zwischen Arbeit und Freizeit noch bekannt ist (oh, die<br />
herrlichen, tatsächlichen Wochenenden!), ebenso wie<br />
der zwischen wirklichem Essen und Junk Food (Obstund<br />
Gemüsestände an jeder Ecke!) sowie der zwischen<br />
41 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
The return<br />
This time, in that rainy summer of 2005 I already mentioned<br />
above that I spent in Munich, I sought out a social<br />
life partly in the form of the expatriates of English-American<br />
origin. These people, despite my first prejudices,<br />
impressed me due to their determination to appreciate<br />
all that was good about life in Munich (not least wining<br />
and dining!) and their awareness that they were pretty<br />
lucky to be living in such a fine city.<br />
This time the Professors did not seem so distant but<br />
rather accessible and approachable. It is always worth<br />
familiarising oneself with the written work of an academic<br />
in order to get a fuller account of who he or she is.<br />
I learned to see German academics as human beings.<br />
In a nutshell: happy is the Brit who gets to spend<br />
three months in Munich, in a region which is almost too<br />
rich in culture, which knows the difference between work<br />
and leisure (oh, the glorious real weekend!) as well as<br />
that between healthy foodstuffs and junk food (fruit and<br />
vegetable stalls at every corner), between art and kitsch<br />
(compare the Pinakothek and Glyptothek with the<br />
Gallery of Modern Art in Britain’s cultural capital and<br />
second city, Glasgow).<br />
During my stay as guest of Ludwig Maximilians<br />
University in Munich my behaviour and internal disposition<br />
declared to the whole corridor, maybe even to the<br />
whole building: “I don’t want to disturb you. My apologies!<br />
(Sorry is the first word that every British child<br />
learns.) My task is simply to complete a book and nothing<br />
else. If this language barrier were not already there to<br />
keep us apart then we would have to think of another way<br />
to avoid contact.”<br />
Sometimes I tried to use my terrible German. It often<br />
seemed to me that I was less embarrassed by it than my<br />
German hearers. When I opened my mouth, they looked<br />
Eine Stimme gegen Armut<br />
statt Yeah, Yeah, Yeah. Popstar<br />
Herbert Grönemeyer, Beatles<br />
Speaking out against poverty<br />
instead of Yeah, yeah, yeah.<br />
Pop star Herbert Grönemeyer,<br />
Beatles
********************<br />
„Glücklich der Brite, der drei Monate in München verbringen<br />
darf – in einer Gegend, in der der Unterschied zwischen Arbeit<br />
und Freizeit noch bekannt ist.“<br />
********************<br />
“Happy is the Brit who gets to spend three months in Munich,<br />
in a region which still knows the difference between work<br />
and leisure.”<br />
Kunst und Kitsch (man vergleiche nur die Pinakothek und Glyptothek<br />
mit der Gallery of Modern Art in Großbritanniens Kulturhauptstadt<br />
und zweiter Metropole Glasgow).<br />
Während meines Aufenthalts als Gast an der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
in München signalisierte mein Verhalten und meine<br />
innere Einstellung allen Flurnachbarn, vielleicht sogar allen Kollegen<br />
im gleichen Gebäude dieselbe Botschaft: „Ich hoffe, ich störe nicht.<br />
Verzeihen Sie bitte! (Verzeihung ist das erste Wort, das jedes englische<br />
Kind lernt). Meine Aufgabe besteht lediglich darin, ein Buch fertig zu<br />
stellen und das war’s. Wenn die Sprachbarriere nicht wäre, müsste ich<br />
mir einen anderen Weg ausdenken, jeglichen Kontakt zu vermeiden.“<br />
Manchmal probierte ich mein schreckliches Deutsch aus. Meistens<br />
kam es mir so vor, als ob mir dies selber immer noch weniger peinlich<br />
sei als meinen deutschen Gesprächpartnern. Sobald ich den Mund<br />
aufmachte, sahen sie zu Boden, als wenn es dort ein dahinsiechendes<br />
Tier zu beobachten gäbe. Sie begannen zu schwitzen, ihre T-Shirts<br />
weichten durch, und schließlich suchten wir alle gemeinsam nach dem<br />
Notausgang aus dieser linguistischen Problemzone. Mehr als einmal<br />
war es „das Wetter“, das uns rettete. In der Tat war es häufig bewölkt im<br />
Juli, Gott sei Dank!<br />
Offene Fragen<br />
Ich habe mich oft gefragt, warum die deutsche Kultur, der die Welt<br />
immerhin Bach, Beethoven, Schubert, Brahms und Andere verdankt,<br />
nicht in der Lage ist, einen anständigen Popsong hervorzubringen. Ist<br />
so etwas unter ihrer Würde? Popmusik ist schnell, oberflächlich, flüchtig.<br />
Warum soll man sich damit abgeben? Warum sollten sich die<br />
Deutschen an einem Spiel beteiligen, in dem die Briten spätestens seit<br />
den Beatles weit in Führung liegen? Könnten Deutsche überleben<br />
ohne Depeche Mode-Parties? Ist Deutschland der Mülleimer (oder die<br />
Kotztüte) für die Trümmer der Popmusik der Welt? Dennoch wäre es<br />
nicht sinnvoll für Herbert Grönemeyer, seinen Namen zu ändern,<br />
auch wenn dieser sich schlimmer anhört als Harry Webb (Cliff<br />
Richards) oder Reginald Dwight (Elton John). Nein, er passt zu ihm.<br />
Die Deutschen stehen nicht auf Ironie. In diesem Zusammenhang ist<br />
mir übrigens aufgefallen, wie wenig Wind <strong>von</strong> postmodernen deutschen<br />
Autoren in meinem Forschungsgebiet, der Fundamentaltheologie,<br />
gemacht wird, in der es um Wissen, Glaube und Erkenntnis geht.<br />
Ist das Zufall? Wie auch immer, es ist vermutlich besser so.<br />
Respekt<br />
Ich gebe zu, es ist ein Problem <strong>von</strong> mir, dass ich angesichts <strong>von</strong> Leuten,<br />
die sich für wichtig und bedeutend halten, oft zu grinsen oder sogar<br />
höhnisch zu lachen anfange. Seit den 60er Jahren ist den Briten jedes<br />
Konzept <strong>von</strong> „Respekt“ abhanden gekommen. Zu Hause ist Tony Blair<br />
einfach „Tony“ (eigentlich würde man zumindest „Anthony“ erwarten),<br />
42 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Deutschland im Blick View onto Germany<br />
at the floor as though there was a dying animal to observe. They began to<br />
sweat, shirts got wet, and we all looked for an emergency exit from this<br />
linguistic accident. More than once did “the weather” save us. Indeed it<br />
was frequently cloudy all through July, thank goodness.<br />
Unanswered questions<br />
I often asked myself why German culture which formerly provided the<br />
world with Bach, Beethoven, Schubert, Brahms and others is not up to<br />
the takes of writing a decent, original hit for the pop charts. Is such a<br />
thing “beneath” Germans? For pop music is quick, superficial, ephemeral.<br />
Why should one bother with it? Why should Germans share in a game<br />
in which the British ever since the Beatles are way out in the lead? Could<br />
Germans survive without Depeche Mode parties? Is Germany the wastebucket<br />
(or sick-bucket) for the detritus of the world’s pop music? Yet<br />
there’s no point in Herbert Grönemeyer changing his name on the<br />
ground that it sounds even worse than Harry Webb (>>Cliff Richard) or<br />
Reginald Dwight (>>Elton John). Indeed it suits him. The Germans<br />
don’t really do irony. In this connection I have noticed how little there is<br />
a fuss made by German authors of Postmodernism in my research area,<br />
Fundamental Theology, which is concerned with knowing, faith and<br />
revelation. Is this just a coincidence? However, it is perhaps a preferable<br />
state of affairs.<br />
Respect<br />
I admit it that I have a problem that when someone acts as if they are a<br />
great and important person I often start to smile, even laugh in a sniggering<br />
way. Now, since the 60s the British have lost the concept of<br />
“Respect”. At home Tony Blair is just Tony (one would expect at least<br />
“Anthony”!), we’re not really sure what Queen Elizabeth’s surname is,<br />
and what’s more we don’t care. Such abbreviations are, if not actually<br />
marks of disrespect as such (one thinks back to the beloved Princess Di),<br />
arguably a sign that there is nothing greater or more respect-worthy than<br />
the British sense of humour which would neither undermine nor support<br />
anyone. Yet the German academic hierarchical system I consider to be a<br />
disadvantage for those who inhabit it. It can encourage bossiness and the<br />
bullying of inferiors. What sometimes passes for assertiveness in Germany<br />
I find to be more like aggressiveness in some cases. Assertiveness<br />
has more to do with honesty and courage on matters of principle in front<br />
of the boss and one’s peers, and nothing to do with psychological subjugation<br />
which stifles creativity. But then, most Scots are not only lacking<br />
in respect but are also moaners who feel sorry for themselves!<br />
In no way homesick<br />
I have missed places where no-one actually lives and also the sea, but<br />
what else? Should I say: English television? Well maybe for the football<br />
on it. Ok, digestive biscuits. A good cup of tea. One can learn to give these
wir sind uns nicht sicher, wie eigentlich der Nachname <strong>von</strong> Queen Elizabeth<br />
lautet, und es ist uns auch egal. Solche Abkürzungen sind nicht<br />
direkt Ausdruck <strong>von</strong> Respektlosigkeit (man denke nur zurück an die<br />
geliebte Lady Di), sondern eher ein Zeichen dafür, dass es nichts Größeres<br />
gibt als den englischen Sinn für Humor, der niemanden vernichtet,<br />
aber auch niemanden unterstützt. Die deutschen akademischen Hierarchien<br />
halte ich für einen Nachteil für diejenigen, die Teil dieses Systems<br />
sind. Sie können unter Umständen Herrschsucht und Einschüchterung<br />
<strong>von</strong> Untergebenen fördern. Was in Deutschland als Selbstbehauptung<br />
durchgeht, empfinde ich manchmal schlicht als Aggression. Selbstbehauptung<br />
hat etwas zu tun mit Ehrlichkeit und dem Mut, Vorgesetzten<br />
und Kollegen gegenüber zu seinen Prinzipien zu stehen. Es hat weniger<br />
zu tun mit psychischer Unterwerfung, die Kreativität unterdrückt.<br />
Andererseits: die Schotten wiederum sind nicht nur respektlos, sie sind<br />
auch Jammerlappen, die sich selbst Leid tun.<br />
Gar kein Heimweh<br />
Ich habe Gegenden vermisst, in denen wirklich niemand wohnt, und<br />
das Meer, aber was sonst noch? Soll ich jetzt sagen: englisches Fernsehen?<br />
Na ja vielleicht, wegen des Fußballs. Und eine bestimmte Sorte<br />
Kekse. Eine gute Tasse Tee. Aber man kann lernen, auf diese Dinge zu<br />
verzichten. Im Gegenzug habe ich Anstöße durch eine ganze Welt<br />
neuer Ideen erhalten, die meine eigenen fest gefügten Vorstellungen<br />
vollkommen verändert haben. Ich komme nach Hause zurück, und<br />
sofort vermisse ich die Großstadt, die aufregende Atmosphäre und<br />
den Platz, an dem ein neuer Abschnitt meines Lebens anfing.<br />
Nun danket …<br />
Nur in Deutschland konnte mein Forschungsvorhaben ernst genommen<br />
werden. Es gibt dort ein breites ökumenisches Netzwerk, in dem<br />
ich mich als biblischer Theologe zu Hause fühle. Ich konnte meine<br />
eigenen Ideen beisteuern. Ich habe es geschätzt, <strong>von</strong> Zeit zu Zeit an<br />
einem Seminar teilnehmen zu dürfen; als besonders hilfreich empfand<br />
ich das über die Bibel, die Literatur und die Beziehung zwischen Philosophie,<br />
religiöser Empfindsamkeit und ihrer kreativen Ausdrucksformen.<br />
Ich habe nicht viele neue Freunde gefunden, dafür aber einige<br />
wirklich gute, und angenehme Kontakte, aus denen sich Freundschaften<br />
entwickeln können. Für alles, was ich erhalten habe, sei Gott<br />
gepriesen.<br />
43 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
things up. In exchange I received an impetus for a world of new ideas,<br />
which has turned my fixed ideas on their head. I return home and immediately<br />
I miss the great city, the exciting atmosphere, the place of the start<br />
of a new stage in my life.<br />
Nun danket ...<br />
Only in Germany could my project have been taken seriously. There is a<br />
network of ecumenical width in which I as a biblical theologian could<br />
feel at home. I could put forward my own ideas. I have appreciated the<br />
occasional participation in a seminar, among which that on the bible<br />
and literature and the relationship between philosophy, religious sensibility<br />
and their expression in creative forms was particularly helpful. I<br />
made not many new friends but a few good ones, and some meaningful<br />
contacts, which might develop into friendships. For all I have received,<br />
praise be to God.<br />
****************<br />
„Ich habe mich oft gefragt, warum die deutsche Kultur,<br />
der die Welt immerhin Bach, Beethoven, Schubert,<br />
Brahms und andere verdankt, nicht in der Lage ist,<br />
einen anständigen Popsong hervorzubringen.“<br />
****************<br />
“I have often asked myself why German culture which<br />
formerly provided the world with Bach, Beethoven,<br />
Schubert, Brahms and others is not up to the takes of<br />
writing a decent, original hit for the pop charts.”
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen<br />
Kultur und Literatur droht an amerikanischen<br />
Universitäten zu einer bedrohten Art zu werden. Wie<br />
lässt sich der Abwärtstrend stoppen?<br />
Es geht bergab mit der Germanistik in den Vereinigten<br />
Staaten. An vielen Universitäten soll das Fach in naher<br />
Zukunft gestrichen werden. Es fehlt an Nachwuchs. Es<br />
gelingt einfach nicht, siebzehn- oder achtzehnjährige<br />
Leser für deutsche Texte zu interessieren und sie über<br />
das Lernen der Sprache für die deutsche Kultur zu<br />
begeistern. Über kurz oder lang wird das Fach deshalb<br />
nur noch konzentriert an wenigen größeren Universitäten<br />
weiter existieren. Dabei haben gerade die kleinen<br />
Universitäten die Germanistik entscheidend vorangebracht.<br />
Dass sie weniger Geld haben und nicht sämtliche<br />
Epochen und Aspekte deutscher Literatur aufgreifen<br />
können, glichen sie in der Vergangenheit mit Flexibilität<br />
und interdisziplinärer Arbeit aus und etablierten<br />
dabei einen neuen, kosmopolitischen Ansatz. Dieser ist<br />
nun bedroht, denn unglücklicherweise neigen Hochschulverwaltungen<br />
in Zeiten knapper Kassen dazu,<br />
genau dort zu streichen, wo ohnehin bereits das meiste<br />
zusammengestrichen wurde.<br />
Doch es liegt nicht an Nachwuchsproblemen und<br />
Geldmangel allein, dass die Germanistik im Gegensatz<br />
etwa zur französischen Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
auf den absteigenden Ast geraten ist. So ist an<br />
amerikanischen Hochschulen so gut wie nichts über<br />
die Entwicklungen in der jüngeren oder neueren Literatur-<br />
und Kulturwissenschaft in Deutschland bekannt.<br />
Natürlich sind wir mit den herausragenden Schülern<br />
des bekannten Literaturwissenschaftlers Peter Szondi<br />
vertraut, <strong>von</strong> denen viele ja schließlich in den Vereinigten<br />
Staaten waren oder sind. Auch kennen wir einen<br />
einflussreichen Literatur- und Medienwissenschaftler<br />
wie Friedrich Kittler. Aber wir wissen nichts über die<br />
Folgegenerationen <strong>von</strong> Wissenschaftlern, die <strong>von</strong> diesen<br />
beiden Berliner Schulen beeinflusst wurden.<br />
Noch in den 70er und 80er Jahren konnte man die<br />
Germanistik in Deutschland im Vergleich zu den USA<br />
durchaus als provinziell bezeichnen. Viele Vertreter der<br />
beiden einflussreichen zeitgenössischen literaturwissenschaftlichen<br />
Berliner Traditionen machten ihre Karriere<br />
mit Unterstützung amerikanischer Universitäten.<br />
Heute ist dies anders. Am Zentrum für Literatur-<br />
44 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
<strong>Humboldt</strong>ianer im Profil <strong>Humboldt</strong>ians in Profile<br />
Laurence A. Rickels<br />
Rettet die Germanistik<br />
Save German Studies<br />
As an academic subject German culture and literature<br />
is threatening to become an exotic, albeit<br />
threatened species. How can this trend be stopped?<br />
German Studies in the United States is a declining field,<br />
soon to be a condemned site at many universities. There<br />
are not enough junior scholars, and German culture is<br />
not catching seventeen or eighteen year olds where they<br />
read, not drawing them toward that interest in a culture<br />
that gets consummated as language acquisition. This<br />
decline will eventually lead to a concentration of German<br />
Studies at just a handful of “major” universities.<br />
However, improvements in German Studies came about<br />
precisely through the smaller departments at the<br />
“minor” universities. In the past, these institutions made<br />
up for their smaller budgets and their inability to address<br />
all epochs and aspects of German literature with flexibility<br />
and interdisciplinary research, establishing a new,<br />
cosmopolitan approach. Now, this approach is in jeopardy,<br />
for unfortunately, when money gets tight, university<br />
administrations tend to slash funding precisely where<br />
the most severe cutbacks have already been initiated.<br />
However, the downward turn in German Studies, as<br />
opposed to French Language and Literature, is not only<br />
due to a lack of funding and an insufficient recruitment<br />
of junior scholars. We in the American academy know<br />
next to nothing about what is going on in the younger or<br />
newer generation of literary and cultural scholarship in<br />
Germany. Yes, we know about the senior heirs of Peter<br />
Szondi, many of whom were or are in the United States.<br />
We also know about influential media and literary scholars<br />
like Friedrich Kittler. But we know nothing about the<br />
subsequent generations of scholars influenced by these<br />
two Berlin schools.<br />
In the 1970s and 1980s, Germanistik in Germany<br />
was, quite frankly, a provincial field compared to what<br />
one could find in the U.S. Many members of the two<br />
powerful contemporary literary-theoretical traditions<br />
associated with Berlin were able to keep their careers<br />
going through the support of universities in the United<br />
States.<br />
Today, things have changed. This can be observed at<br />
the Zentrum für Literaturforschung (Centre for Literary<br />
Research) in Berlin, for example, where, in contrast with<br />
the hectic routine of overworked professors at the universities,<br />
German scholars of Germanistik engage in a fruitful<br />
*******<br />
Professor Dr. Laurence<br />
Arthur Rickels lehrt<br />
Neuere Deutsche Literaturwissenschaft<br />
an der<br />
University of California<br />
in Santa Barbara, USA.<br />
Als <strong>Humboldt</strong>-Forschungsstipendiat<br />
war er<br />
zwischen 1985 und 1993<br />
mehrmals an den Universitäten<br />
Düsseldorf und<br />
Bochum. Im Sommer 2005<br />
arbeitete er im Rahmen<br />
einer Wiedereinladung<br />
am Zentrum für Literaturforschung<br />
in Berlin.<br />
*******<br />
Professor Dr. Laurence<br />
Arthur Rickels teaches<br />
Recent German Literary<br />
Studies at the University<br />
of California in Santa<br />
Barbara, USA. He stayed<br />
at the Universities of<br />
Düsseldorf and Bochum<br />
as a <strong>Humboldt</strong> Research<br />
Fellow several times<br />
between 1985 and 1993.<br />
He received a renewed<br />
invitation to work at the<br />
Zentrum für Literaturforschung<br />
(Centre for<br />
Literary Research) in<br />
Berlin in the summer of<br />
2005.
****************<br />
„Von unseren jüngeren deutschen Kollegen<br />
können wir sehr viel lernen!“<br />
****************<br />
“There is a great deal to learn from<br />
our younger German colleagues.”<br />
forschung in Berlin beispielsweise lässt sich das beobachten. Abseits<br />
des überlasteten Alltags an den Universitäten findet hier ein fruchtbarer<br />
Austausch zu neuen Themen statt, zwischen deutschen Germanisten<br />
wie mit Gastwissenschaftlern aus den Vereinigten Staaten. Gerade<br />
die jungen deutschen Wissenschaftler füllen hier die Lücken, die durch<br />
die nachlassende Spezialisierung der Kulturwissenschaften in den<br />
USA entstanden sind. Von unseren jüngeren deutschen Kollegen in<br />
den Literatur- und Kulturwissenschaften können wir sehr viel lernen!<br />
Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung in den Vereinigten Staaten<br />
sind sie nämlich nicht ausschließlich damit beschäftigt, Übersetzungen<br />
<strong>von</strong> Judith Butlers Werken zu lesen. Jüngere deutsche Wissenschaftler,<br />
wie beispielsweise die Feodor Lynen-Stipendiaten der <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong>,<br />
sollten darin bestärkt werden, Übersetzungen ihrer<br />
Arbeiten in ihrem Gastland USA zu veröffentlichen, damit nicht nur<br />
die Werke ihrer bereits etablierten Kollegen gelesen werden. Auf diese<br />
Weise könnte die jüngere Generation deutscher Germanisten zeigen,<br />
wie wichtig es wäre, mehr über die Germanistik in Deutschland zu<br />
erfahren – und dies auf Deutsch.<br />
Doch nicht nur mit seinen wissenschaftlichen, auch mit seinen<br />
kulturellen Pfunden muss Deutschland mit Blick auf seine Popularität<br />
in Amerika stärker wuchern. Der Umgang mit Berlin zeigt dies deutlich.<br />
Viele Deutsche pflegen gegenüber ihrer Hauptstadt eine Ambivalenz,<br />
die nicht eben geeignet ist, junge Leute aus dem Ausland neugierig<br />
zu machen. Dabei wird wohl jeder in der internationalen Kulturszene<br />
bestätigen, dass Berlin eine der interessantesten Städte Europas<br />
ist. Für viele amerikanische Künstler – ob jung oder alt – ist sie zu<br />
einer wichtigen Adresse geworden. Viele <strong>von</strong> ihnen haben übrigens,<br />
nachdem sie Berlin für sich entdeckt hatten, angefangen, Deutsch zu<br />
lernen. Wer eine jüngere Generation <strong>von</strong> Studenten der Literaturwissenschaft<br />
und Literaturtheorie in der englischsprachigen Welt gewinnen<br />
will, kann hier<strong>von</strong> lernen: erst kommt das Interesse für die Kultur,<br />
dann für die Sprache und schließlich vielleicht für die Forschung.<br />
45 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
<strong>Humboldt</strong>ianer im Profil <strong>Humboldt</strong>ians in Profile<br />
exchange with each other and with visiting academics from the USA.<br />
Here, it is the young German scholars who bridge the gaps resulting from<br />
a lack of emphasis on genealogy in cultural studies in the USA. There is a<br />
great deal to learn from our younger German colleagues in literary and<br />
cultural studies, who are not, as we tend to imagine in the States, exclusively<br />
engaged in reading translations of Judith Butler. Younger German<br />
scholars, such as the <strong>Humboldt</strong> Foundation's Feodor Lynen Fellows, ought<br />
to be encouraged in getting their work into print in translation alongside<br />
the work of more established figures in their field in the host country. In<br />
this way, the younger generation of German scholars of Germanistik could<br />
be given the chance to prove the importance of learning more about German<br />
studies in Germany – and in German at that.<br />
However, if Germany wants to boost its popularity in America, it has<br />
to make the most of its cultural as well as its academic assets. This can easily<br />
be demonstrated by looking at how Berlin is treated. Many Germans<br />
display an ambivalence towards their capital that is not exactly conducive<br />
to rousing young people's interest abroad. And yet anyone from the international<br />
cultural scene would readily confirm that Berlin is one of<br />
Europe's most interesting cities. Many U.S. artists, younger and older,<br />
have made Berlin one of their addresses. And after thus discovering<br />
Berlin, they learnt German. There is a lesson to learn for anyone wishing<br />
to catch the interest of a younger generation of readers of literature and<br />
literary theory in the English-language world: first people take an interest<br />
in culture, then in the language and ultimately, perhaps, in research.
Lorenzo Perilli<br />
Was Forscher wirklich wollen<br />
What researchers really want<br />
Bürokratische Reformideen und das Schielen nach<br />
falschen Vorbildern gefährden die europäischen Universitäten.<br />
Ein Plädoyer für die Besinnung auf klassische<br />
Stärken und mehr Vertrauen in den Nachwuchs.<br />
Ruhe, Zeit und Vertrauen. Was Forschung braucht,<br />
steckt in diesen Begriffen. Was der wissenschaftliche<br />
Alltag verlangt, ist das genaue Gegenteil: Eile, unverzügliche<br />
Ergebnisse sowie die Hinnahme misstrauischer<br />
Kontrollen. Quantität zählt. Man muss möglichst<br />
viel veröffentlichen und sich darum kümmern,<br />
mehr und mehr zitiert zu werden. Am Ende werden<br />
Publikationen und Zitate einfach zusammengeworfen<br />
und ausgezählt. Ob die Qualität der Arbeit nur gering<br />
oder gar unbeträchtlich ist, interessiert nicht. Denn wer<br />
unter den Auskundschaftungs-Staffeln der europäischen<br />
Ministerien könnte das wirklich beurteilen?<br />
Fortschritte in der Wissenschaft, ob in den Geistesoder<br />
in den Naturwissenschaften, entstehen oft aus<br />
Originalität, aus einer Turbulenz im ruhigen Fluss der<br />
Routine. Doch Originalität wurde und wird nicht<br />
sofort erkannt und akzeptiert. Es dauert, bis sich neue<br />
und ungewöhnliche Ideen durchsetzen. Hätte man, wie<br />
heute immer mehr, einen Citation Index oder Impact<br />
Factor, also das Prinzip des „Gucken-wir-mal-wie-oftich-zitiert-wurde“,<br />
angelegt, um den Wert der Arbeiten<br />
des jungen Albert Einstein oder Kurt Gödel zu beurteilen,<br />
dann hätte ein <strong>von</strong> ihnen vorgeschlagenes Forschungsprojekt<br />
nie eine finanzielle Unterstützung gefunden<br />
– und beide hätten auch keinen Platz in der<br />
akademischen Welt.<br />
Widerstand gegen die zeitgenössische bürokratische<br />
Tendenz zur Abflachung gibt es glücklicherweise<br />
noch – doch wie lange? Die Reformen, die die Gesetzgeber<br />
in vielen europäischen Ländern einführen wollen<br />
oder eingeführt haben, beruhen auf einem Mangel an<br />
Kompetenz. Die Methoden, Ziele und Bedürfnisse <strong>von</strong><br />
Universitäten und Forschern sind unbekannt oder werden<br />
missverstanden. Der erste und verhängnisvolle<br />
Grundfehler besteht in der Überzeugung, dass ein und<br />
dasselbe System für alle Fächer gelten kann und soll.<br />
Doch für Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften<br />
passen nicht ohne weiteres dieselben Lösungen. Was<br />
für die einen sinnvoll ist, kann für die anderen ungünstig<br />
sein. Das gilt für die Organisation der wissenschaftlichen<br />
Arbeit, die Bewertung der Ergebnisse, ja selbst<br />
46 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Bureaucratic reform notions and modelling on the<br />
wrong examples are jeopardising European universities.<br />
A plea for some reflection upon classic<br />
strengths and more faith in the up-and-coming generation<br />
of academics.<br />
Peace, time and trust. These three words sum up what<br />
research really needs. The demands of day-to-day<br />
research are just the opposite: haste, immediate results<br />
and accepting mistrustful controls. What counts is the<br />
quantity. You have to see to it that you publish as much as<br />
you can and get cited as often as possible. At the end of the<br />
day, publications and citations are simply lumped<br />
together and counted. Whether the work is of low quality<br />
or even insignificant is of no interest. For who among the<br />
scouting squadrons dispatched by the European ministries<br />
could really judge this?<br />
Scientific progress, whether it be in the humanities or<br />
the natural sciences, often evolves from originality, from<br />
turbulences in the calm flow of routine. But originality is<br />
not recognised and accepted. It takes time for new and<br />
unusual ideas to establish themselves. If a citation index<br />
or an impact factor (i.e. the principle of “let’s see how<br />
often I’m cited”), both of which are being applied more<br />
and more nowadays, had been used to assess the value of<br />
young Albert Einstein’s or Kurt Gödel’s work, a research<br />
project proposed by either of them would never have<br />
found financial support, and none of them would have<br />
attained a position in the academic world.<br />
True, opposition to the contemporary bureaucratic<br />
tendency towards mediocrity fortunately continues to<br />
exist, but for how long? The reforms that legislators<br />
either wish to, or have already, introduced in several<br />
European countries are based on a lack of competence.<br />
The methods, aims and needs of universities and researchers<br />
are either unknown to them or have been misunderstood.<br />
The first, fateful basic error is the conviction<br />
that one and the same system can, and should, apply to<br />
all subjects. But solutions for the humanities will not<br />
necessarily fit the natural sciences, and vice versa. What<br />
may make sense for one group could be unfavourable for<br />
others. This holds for organising academic activities,<br />
evaluating results and even the length of studies. Lumping<br />
everything together doesn’t make sense. For example,<br />
there are subjects both in the humanities and in the sci-<br />
<strong>Humboldt</strong>ianer im Profil <strong>Humboldt</strong>ians in Profile<br />
*******<br />
Professor Dr. Lorenzo<br />
Perilli lehrt Geschichte<br />
der antiken Philosophie<br />
und Wissenschaft an den<br />
Universitäten Roma Tor<br />
Vergata und Lumsa in<br />
Rom, Italien. 1996 wurde<br />
ihm ein <strong>Humboldt</strong>-Forschungsstipendiumverliehen,<br />
das ihn im selben<br />
Jahr erstmals an die Universität<br />
München führte.<br />
Im Sommer 2005 war er<br />
im Rahmen einer Wiederaufnahme<br />
an der Berlin-<br />
Brandenburgischen Akademie<br />
der Wissenschaften<br />
in Berlin tätig.<br />
*******<br />
Professor Dr. Lorenzo<br />
Perilli teaches History of<br />
Antique Philosophy and<br />
Science at the Universities<br />
Tor Vergata and<br />
Lumsa in Rome, Italy. In<br />
1996, he was awarded a<br />
<strong>Humboldt</strong> Research<br />
Fellowship which<br />
brought him to the University<br />
of Munich in that<br />
same year. In the summer<br />
of 2005 he worked at<br />
the Berlin-Brandenburg<br />
Academy of Science in<br />
Berlin in the context of<br />
a resumption of his<br />
research fellowship.
die Dauer des Studiums. Alle über einen Kamm zu<br />
scheren, ist unsinnig. Es gibt geistes-, aber auch naturwissenschaftliche<br />
Fächer, in denen man keine berufliche<br />
Ausbildung erhält. Man muss auch keine bekommen;<br />
dort wird man zum Denken und Überlegen<br />
ausgebildet, man lernt, Probleme zu lösen und mit<br />
Komplexität umzugehen. Man könnte es Problemwissen<br />
nennen, unabhängig da<strong>von</strong>, ob man mit mathematischen<br />
Formeln, mit physikalischen Experimenten<br />
oder mit einer altgriechischen Handschrift zu tun hat.<br />
Es ist eine Fähigkeit, die heute immer mehr fehlt. An<br />
der Universität sollte man die Gelegenheit bekommen,<br />
sie zu erwerben. Denn oft wird dies die einzige Gelegenheit<br />
sein.<br />
Falsch verstandene Amerikanisierung<br />
Als Rechtfertigung für die meisten Reformideen dient<br />
der Verweis auf die Dominanz der Vereinigten Staaten.<br />
Das europäische System solle und müsse dem angloamerikanischen<br />
angepasst werden. Nur wer die amerikanischen<br />
Verhältnisse nicht kennt, kann diese These<br />
vertreten. Denn ein einheitliches amerikanisches System<br />
existiert als solches nicht. Dennoch kann man viel<br />
<strong>von</strong> den Amerikanern lernen – und aus der eigenen<br />
europäischen Geschichte: In den ersten Jahrzehnten<br />
des 20. Jahrhunderts waren die amerikanischen Universitäten<br />
für die Mehrheit der Studenten kaum mehr<br />
als eine bessere Sekundarschule. Niemand wäre damals<br />
auf die Idee gekommen, demgegenüber die Exzellenz<br />
47 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
ences that do not provide vocational training. Neither<br />
does one necessarily need this training! There, one is<br />
trained to think and consider things and learns how to<br />
solve problems and handle complexity. You could call it<br />
learning how to solve problems, regardless of whether you<br />
are dealing with mathematical formulae, physical experiments<br />
or antique Greek writing. It is an ability that<br />
increasingly appears to be lacking nowadays. Universities<br />
ought to offer the opportunity to learn it. For often<br />
enough, this will be the only opportunity people get.<br />
A wrongly understood Americanisation<br />
Most reform ideas are justified by pointing to the dominating<br />
role the United States plays. It is argued that the<br />
European system should, and has to be, adapted to the<br />
Anglo-American one. Such a proposition can only be put<br />
forward by someone who is not familiar with American<br />
conditions. For there is no such thing as a standard<br />
American system. Even so, a lot can be learnt from the<br />
Americans as well as from Europe’s own history. In the<br />
first decades of the 20th century, the American universities<br />
were little more than an advanced secondary school<br />
for the majority of students. In those days, nobody would<br />
have started to draw comparisons with the German university<br />
and question its excellence. That many (but up to<br />
this day by no means all) American universities succeeded<br />
in catching up so swiftly was also due to the red carpet<br />
treatment they gave to top European scientists. American<br />
universities were sufficiently far-sighted and industrious
Ehemalige deutsche Forschungsministerin Edelgard Bulmahn.<br />
Roter Teppich für Talente?<br />
Germany’s ex-Research Minister Edelgard Bulmahn. A red carpet for talent?<br />
der deutschen Universität zu bestreiten. Die rasante Aufholjagd vieler<br />
(aber bis heute beileibe nicht aller) amerikanischer Universitäten<br />
gelang auch deshalb, weil man einen roten Teppich für die besten<br />
europäischen Kräfte ausrollte. Amerikanische Universitäten hatten die<br />
Tüchtigkeit und Weitsicht, Nutzen aus der Ausbildung der Europäer,<br />
und damit aus europäischen Schulen und Universitäten, zu ziehen.<br />
Die Amerikaner boten das Umfeld, die Europäer die Köpfe.<br />
Es läge für Europa nahe, den eigenen Talenten und Spitzenleuten<br />
ebenfalls einen roten Teppich auszurollen und einen dem amerikanischen<br />
ähnlichen Rahmen anzubieten: ein fruchtbares Umfeld, Öffnung<br />
und Aufgeschlossenheit, Chancen, Vertrauen und – das verbotene<br />
Wort muss fallen – Geld, das heißt „dramatisch höhere Ausgaben<br />
für Forschung und Bildung”, wie der seit langem in den USA lebende<br />
deutsche Historiker Sven Beckert in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift<br />
forderte. Doch was haben sich die europäischen Entscheidungsträger<br />
ausgedacht? Sie ändern und verschlechtern, was unterm Strich<br />
gute Resultate erzielt hat, nämlich unsere Studiengänge und unsere<br />
Universitäten. Das nennt sich dann Modernisierung. Unverändert<br />
dagegen bleibt das, was nicht funktioniert und was fehlt, nämlich jenes<br />
fruchtbare Umfeld. Statt den Fähigkeiten Raum zu geben, werden Hindernisse<br />
in den Weg gelegt.<br />
Der Wahn der Bürokraten<br />
Das haben die Besten unter den Studenten schnell erkannt. Sie wissen,<br />
dass sie mit dem neuen System einer wahren Ausbildung beraubt werden.<br />
Es kann nur schaden, Studiengänge zu verkürzen, Prüfungen<br />
leichter zu machen oder gar die Zahl der zu lesenden Seiten im Voraus<br />
festzulegen. Das Beispiel Italien: Vorlesungsreihen heißen dort jetzt<br />
48 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
<strong>Humboldt</strong>ianer im Profil <strong>Humboldt</strong>ians in Profile<br />
to draw benefits from the training the Europeans had enjoyed, and hence<br />
from European schools and universities. The Americans provided the<br />
environment and the Europeans the brains.<br />
It appears to suggest itself for Europe to roll out a red carpet for its<br />
own talent and excellent researchers and provide a framework similar to<br />
that in America: a fertile environment, accessibility and openness, career<br />
opportunities, faith in people’s abilities and – it has to be said – money,<br />
which means “dramatically higher expenditure on research and education”.<br />
Incidentally, this is what Sven Beckert, a German historian who<br />
has been living in the USA for a long time, called for in this journal’s last<br />
edition. But what have the European decision-makers devised? They are<br />
changing and worsening what has, by and large, yielded good results, i.e.<br />
our study courses and our universities. And this is dubbed modernisation.<br />
In contrast, what remains unchanged is what doesn’t work or is<br />
lacking, i.e. the fertile environment. Instead of making room for abilities,<br />
obstacles are put in people’s path.<br />
The madness of the bureaucrats<br />
The best of the students have been quick to spot this. They know that the<br />
new system is robbing them of true education and training. Shortening<br />
study courses, making examinations easier to pass or even setting the<br />
number of pages to be read in advance can only do harm. Take Italy, for<br />
example. Series of lectures are now called modules – a term that reflects<br />
bureaucratic madness. Within three years’ time, Italian students have to<br />
pass 30 so-called module exams and write a short thesis. Thanks to the<br />
sheer mass of events, they can learn hardly anything in the individual<br />
modules. Against their own will, the students have been turned into customers<br />
shopping from a range of articles resembling the colourful world<br />
of commodities in modern supermarkets.<br />
What makes sense is exactly the opposite. Non multa sed multum –<br />
not many but much! Trying to create a better university by splitting up<br />
subjects and stripping them of their academic content is the wrong<br />
approach. Students have to be given the opportunity to examine, consider<br />
and judge, or in a nutshell, to think. Only in this way can maturity,<br />
self-confidence and the desire to break new ground develop. Only from<br />
such students can society expect anything.<br />
The same applies to research. Only too often, working at a university<br />
or a research institution means writing reports and wasting time and<br />
energy with an activity that until recently was largely unknown to scientists:<br />
inventing credible projects. The author is familiar with several colleagues<br />
who had to invent projects they didn’t need at all. But what they<br />
did need was money to carry on with their projects and to pay junior<br />
staff. That projects require partners to be eligible for funding is a further<br />
error that the majority of the humanities and many a natural science<br />
adhere to. Teamwork in joint projects is not suitable for everything and<br />
everyone. Work in the humanities in particular has always been an indi-
Module – ein Name, aus dem der bürokratische Wahn spricht. Italienische<br />
Studenten müssen innerhalb <strong>von</strong> drei Jahren 30 so genannte<br />
Modul-Prüfungen bestehen, dazu eine kurze Hausarbeit. Wegen der<br />
schieren Masse der Veranstaltungen können sie in den einzelnen<br />
Modulen kaum etwas lernen. Die Studenten sind wider den eigenen<br />
Willen zu Kunden einer Angebotsvielfalt geworden, die sich an der<br />
bunten Warenwelt moderner Einkaufszentren orientiert.<br />
Das Gegenteil ist sinnvoll. Non multa sed multum – nicht vielerlei,<br />
sondern viel! Eine bessere Universität schafft man eben nicht, indem<br />
man Fächer aufsplittet und geistig entleert, sondern indem man Studierenden<br />
die Gelegenheit gibt, zu untersuchen, zu überlegen, zu<br />
beurteilen – in einem Wort: zu denken. Nur so entstehen Reife, Selbstvertrauen<br />
und der Wunsch weiterzugehen. Nur <strong>von</strong> solchen Studenten<br />
kann die Gesellschaft etwas erwarten.<br />
Dasselbe gilt für die Forschung. An einer Universität oder Forschungseinrichtung<br />
zu arbeiten, bedeutet heute allzu oft, Berichte zu<br />
schreiben und Zeit und Energie in einer bis vor kurzem Wissenschaftlern<br />
weitgehend unbekannten Tätigkeit zu verschwenden: das Erfinden<br />
glaubwürdiger Projekte. Der Autor kennt zahlreiche Kollegen, die<br />
Projekte erfinden mussten, die sie überhaupt nicht brauchten. Was sie<br />
aber brauchten, war Geld, um ihre Tätigkeit weiterführen zu können,<br />
und um junge Mitarbeiter zu bezahlen. Dass Projekte, um förderungswürdig<br />
zu sein, Partner brauchen, ist ein weiterer Irrtum, dem die<br />
Mehrheit der Geisteswissenschaften und nicht wenige Naturwissenschaften<br />
anhängen. Teamarbeit an gemeinsamen Projekten eignet sich<br />
nicht für alles und jeden. Vor allem die geisteswissenschaftliche Arbeit<br />
ist immer eine individuelle Tätigkeit gewesen, die aus geduldigem<br />
Überlegen und viel allein beim Studium in Bibliotheken verbrachter<br />
Zeit besteht. Doch nach der langwierigen Vorbereitung eines Projekts,<br />
der Antragstellung, der Fertigstellung der Berichte und des Kostenplans<br />
sowie nach zahlreichen Briefen an Kollegen bleibt für diese<br />
bedrohte Art unter den wissenschaftlichen Tätigkeiten, das individuelle<br />
Nachdenken und Forschen sowie die anstrengende Suche nach dem<br />
richtigen Weg, nicht mehr viel Zeit übrig.<br />
Sinnvolle Reformen liegen auf der Hand: Man muss mehr Personen<br />
fördern und weniger Projekte. Und man muss gerade jüngeren<br />
Wissenschaftlern mehr Vertrauen, Geld und Chancen geben, ohne<br />
dafür etwas anderes zu verlangen als Einsatz und Hingabe. Vertrauen<br />
kommt vor Evaluieren. Vertrauen zu gewähren, bedeutet verantwortlich<br />
zu machen. So können junge Menschen wissenschaftlich und kulturell<br />
weiterkommen, so werden sie, in späterer Zeit, anderen dasselbe<br />
Vertrauen und Wissen weitergeben, das sie bekommen und erworben<br />
haben. Ein junger Wissenschaftler, der Vertrauen in sich und seine<br />
Arbeit spürt und dem eine Perspektive gegeben wird, ist eine sichere<br />
Investition in die Zukunft nicht nur seines Fachs, sondern auch der<br />
Gesellschaft.<br />
49 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Bürokratischer Wahn:<br />
Vorlesungsreihen heißen jetzt Module<br />
Bureaucratic madness.<br />
Series of Lectures are now<br />
called modules.<br />
vidual activity consisting of patient thinking and spending long hours<br />
alone studying in libraries. But after the tedious preparations for a project,<br />
filing the proposal, compiling the reports and the cost plan, and writing<br />
countless letters to colleagues, only little time remains for what is now<br />
a threatened species among academic activities: thinking and researching,<br />
as well as the tedious quest for the right approach.<br />
Meaningful reforms are obvious. More people and fewer projects<br />
have to be funded. And younger scientists and scholars in particular have<br />
to be given more trust, money and opportunities without initially being<br />
demanded to show anything else but commitment. Trust must come<br />
before evaluation. Trusting people means making them responsible. This<br />
is how young people can make progress academically and culturally, and<br />
it paves the way for their passing on trust and knowledge they have<br />
received and acquired to others later on in their career. A young scientist<br />
who perceives trust in himself and his work and who has been offered a<br />
perspective is a safe investment in the future not only of his subject but of<br />
society as well.<br />
****************<br />
„Wissenschaftler verschwenden ihre Zeit mit dem<br />
Erfinden <strong>von</strong> Projekten, die sie in Wirklichkeit gar<br />
nicht brauchen.“<br />
****************<br />
“Scientists are wasting their time inventing projects<br />
they don’t really need.”
Nachrichten<br />
News<br />
Neues aus der deutschen und internationalen Wissenschaftsszene sowie Informationen über forschungspolitische Trends.<br />
News from the German and the international academic scene and information about research policy trends.<br />
www.young-germany.de<br />
An junge „High-Potentials“ aus aller Welt richtet sich<br />
das vom Auswärtigen Amt initiierte englischsprachige<br />
Internetportal, das neugierig machen soll auf Deutschland.<br />
Mit immer wieder neuen Inhalten informiert die<br />
Seite über Karrierechancen und innovative Entwicklungen<br />
in Forschung und Wissenschaft. Sie gibt aber<br />
auch wertvolle Tipps zu den alltäglichen Dingen des<br />
interkulturellen Lebens: Wann brauche ich als Nicht-<br />
EU-Bürger einen deutschen Führerschein, wer bietet<br />
wann wem das Du an, oder wie viel Trinkgeld gibt man<br />
üblicherweise in deutschen Restaurants?<br />
Die Seite ist ein Gemeinschaftsprojekt der Internetredaktion<br />
des Auswärtigen Amts und des Societäts-<br />
Verlags in Frankfurt am Main. Auch Stipendiaten der<br />
<strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong>, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes<br />
(DAAD), des Goethe-Instituts sowie verschiedener<br />
Wissenschaftsorganisationen waren an der<br />
Entstehung der Internetseite beteiligt und gaben Hinweise,<br />
welche Informationen für Ausländer in Deutschland<br />
wirklich wichtig sind. Erfahrungsberichte <strong>von</strong> Stipendiaten<br />
sind auf www.young-germany.de ebenfalls<br />
zu lesen. Eine Kommunikationsplattform bietet eine<br />
Möglichkeit zum gegenseitigen Austausch.<br />
<strong>50</strong> >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
www.young-germany.de<br />
Young high potentials from all over the world are to be<br />
attracted by an English-language Internet portal aimed<br />
at rousing people’s curiosity about Germany that was<br />
initiated by the German Foreign Office. With constantly<br />
updated contents the page provides information about<br />
career opportunities and innovative developments in<br />
research and science. But it also gives valuable advice on<br />
everyday aspects of intercultural life. If I am a non-EU<br />
citizen, when do I need a German driving licence? Who<br />
addresses whom at what point as “du”, and what tip do<br />
waiters in German restaurants usually reckon with?<br />
The page is a joint project of the Foreign Office’s<br />
Internet Editorial Team and the Societäts-Verlag publishing<br />
company in Frankfurt am Main. Grant-holders<br />
and fellows of the <strong>Humboldt</strong> Foundation, the German<br />
Academic Exchange Service (DAAD), the Goethe Institute<br />
and various science organisations were involved in<br />
developing the Internet page and contributed advice on<br />
what information is really important for foreigners in<br />
Germany. Accounts of what grant-holders and fellows<br />
have experienced can also be read at www.young-germany.de.<br />
A communication platform offers readers an<br />
opportunity for mutual exchange.<br />
Wie viel Trinkgeld sollte in<br />
deutschen Cafés gegeben<br />
werden? Fragen wie diese<br />
beantwortet die Seite<br />
www.young-germany.de<br />
How much do you tip a<br />
waiter at a German café?<br />
Questions like this one are<br />
answered at www.younggermany.de
Deutsche Hochschulen im Ausland<br />
Im Wintersemester 2005/2006 hat die Deutsch-Jordanische<br />
Hochschule (German Jordanian University –<br />
GJU) ihren Betrieb am vorläufigen Standort in<br />
Amman aufgenommen. In Kooperation mit der jordanischen<br />
Regierung wird sie <strong>von</strong> der Fachhochschule<br />
Magdeburg-Stendal nach dem Modell deutscher Fachhochschulen<br />
eingerichtet.<br />
Immer mehr deutsche Hochschulen gründen<br />
inzwischen Zweigstellen im Ausland. Dabei handelt es<br />
sich teilweise um Beteiligungen am Aufbau deutscher<br />
Hochschulen wie der Deutschsprachigen Universität<br />
Budapest und der Deutschen Universität in Kairo, teilweise<br />
um Außenstellen deutscher Hochschulen oder<br />
auch um Studiengänge, die in Zusammenarbeit mit<br />
ausländischen Hochschulen durchgeführt werden.<br />
Gegenwärtig existieren 30 Initiativen dieser Art, <strong>von</strong><br />
denen 26 sich noch in der Förderphase durch das<br />
Bundesministerium für Bildung und Forschung befinden.<br />
17 der so genannten Off Shore-Angebote sind<br />
in Asien angesiedelt, 5 in Osteuropa, jeweils 3 im<br />
Nahen Osten und in Lateinamerika und 2 in Afrika.<br />
Ein Schwerpunkt der Studiengänge liegt auf den Ingenieurwissenschaften,<br />
der Rest verteilt sich über die<br />
Natur-, Rechts-, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften<br />
und andere Fachrichtungen. Die durchschnittliche<br />
Studiengebühr beträgt 2.000 Euro. Unterrichtssprache<br />
ist in der Regel englisch, wobei ein Aufenthalt in<br />
Deutschland meist in die Programme integriert ist.<br />
„Ein Ziel der Projekte besteht darin, auf dem internationalen<br />
Bildungsmarkt Fuß zu fassen“, erklärt Dr.<br />
Christian Thimme, zuständig für Studienangebote<br />
deutscher Hochschulen im Ausland beim Deutschen<br />
Akademischen Austauschdienst (DAAD), „zumindest<br />
einige der Hochschulen hoffen, langfristig durch die<br />
Studiengebühren auch Einnahmen zu generieren.<br />
Daneben eröffnen sich durch die Kooperationen ganz<br />
neue Chancen, Joint Ventures zu bilden; Firmen beider<br />
Partnerländer werden häufig in die Erstellung der<br />
Curricula miteinbezogen. Auch kulturpolitische Motive<br />
spielen eine Rolle, wie bei den deutschsprachigen<br />
Studiengängen in Osteuropa.“ Die Motive der ausländischen<br />
Partnerhochschulen sind ganz ähnlich gelagert.<br />
Für sie bedeutet die Kooperation eine Erweiterung<br />
ihres Studienangebots und erhöht die Chancen<br />
für Gemeinschaftsprojekte mit der Wirtschaft.<br />
51 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
German higher education<br />
institutions abroad<br />
The German Jordanian University (GJU) has commenced<br />
its activities for the winter semester of<br />
2005/2006 at its temporary site in Amman. It is being<br />
set up in co-operation with the Jordanian Government<br />
by the Fachhochschule Magdeburg-Stendal along the<br />
lines of German Fachhochschulen (degree-awarding,<br />
practice-oriented higher education institutions).<br />
Nowadays, more and more German higher education<br />
institutions are setting up subsidiaries abroad.<br />
Some of them consist of participation in establishing<br />
German higher education institutions such as the German-speaking<br />
University of Budapest and the German<br />
University in Cairo, while others are branches of German<br />
higher education institutions or are study courses<br />
run in co-operation with foreign institutions. To date,<br />
there are 30 of these initiatives 26 of which are still<br />
being funded by the German Federal Ministry of Education<br />
and Research. 17 of these offshore programmes are<br />
being run in Asia, 5 in Eastern Europe, 3 each in the<br />
Middle East and Latin America and 2 in Africa. One of<br />
the focal points of the courses is the engineering sciences,<br />
while the rest of them are distributed among the natural,<br />
law and economic sciences as well as cultural studies<br />
and other disciplines. The average tuition fee is 2,000<br />
euros. As a rule, teaching is in English, with a visit to<br />
Germany usually being included in the programmes.<br />
“One of the goals the projects aim at is to gain a foothold<br />
on the international education market,” explains Dr.<br />
Christian Thimme, who is responsible for study programmes<br />
of German higher education institutions<br />
abroad at the German Academic Exchange Service<br />
(DAAD). “At least some of the institutions hope that<br />
they will also be able to generate income from tuition<br />
fees in the long run. In addition, co-operation schemes<br />
open up entirely new opportunities to form joint ventures.<br />
Frequently, firms of both partner countries are<br />
involved in curriculum development. Cultural policy<br />
motives also play a role, as is the case with the Germanlanguage<br />
study courses in Eastern Europe.”<br />
The foreign partner institutions have very similar<br />
ambitions. For them, co-operation means being able to<br />
extend their study programmes and better opportunities<br />
to run joint projects with industry.<br />
Nachrichten News<br />
Die Deutsche Universität<br />
in Kairo<br />
The German University<br />
in Cairo
Mehr ausländische Doktoranden<br />
durch Graduiertenschulen<br />
Nachdem der Anteil der ausländischen Doktoranden in<br />
Deutschland nach Auskunft des Statistischen Bundesamts<br />
in den letzten Jahren bereits leicht zugenommen<br />
hat (<strong>von</strong> 8,7 Prozent im Jahr 2002 auf 10 Prozent im Jahr<br />
2003, dem letzten vorliegenden Wert) erhoffen sich die<br />
Organisatoren neuer Graduiertenprogramme einen<br />
weiteren Anstieg. Neben der Exzellenzinitiative des<br />
Bundes und der Länder, in deren Rahmen Graduiertenschulen<br />
als ein Schwerpunkt gefördert werden, startet<br />
im Jahr 2006 auch eine neue Initiative aus der außeruniversitären<br />
Forschung: die Helmholtz-Kollegs. In<br />
Zusammenarbeit mit verschiedenen Hochschulen bietet<br />
die Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren<br />
(HGF) ein eigenes Programm für Doktoranden<br />
an, das in englischer Sprache durchgeführt werden soll.<br />
Angestrebt wird ein Ausländeranteil <strong>von</strong> circa 40 Prozent.<br />
„Neben der wissenschaftlichen Ausbildung sollen<br />
die Teilnehmenden auch ein berufsqualifizierendes, persönlichkeitsbildendes<br />
Training erhalten“, erklärt Dr.<br />
Bärbel Köster <strong>von</strong> der Geschäftsstelle der Helmholtz-<br />
Gemeinschaft. Gefördert werden Dissertationsprojekte<br />
aus den Forschungsbereichen der HGF: Energie, Erde<br />
und Umwelt, Gesundheit, Schlüsseltechnologien, Struktur<br />
der Materie oder Verkehr und Weltraum mit bis zu<br />
300.000 Euro im Jahr.<br />
„Ein Vorteil der Graduate Schools ist die Mehrfachbetreuung“,<br />
konstatiert Bernhard Lippert <strong>von</strong> der<br />
Hochschulrektorenkonferenz, „Studierende aus dem<br />
Ausland fühlen sich hier in der Regel gut aufgehoben,<br />
weil sie dieses Modell vielfach <strong>von</strong> zu Hause kennen.<br />
Mehrfachbetreuung bedeutet zum einen weg <strong>von</strong> der<br />
Eins zu Eins-Promotion, bei der der Doktorand ganz<br />
52 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
More Foreign Doctoral Candidates<br />
Thanks to Graduate Schools<br />
With the share of foreign doctoral candidates in Germany<br />
already having grown slightly over the last few years<br />
according to the Federal Statistical Office (from 8.7 percent<br />
in 2002 to 10 percent in 2003, the latest available<br />
value), the organisers of new programmes for postgraduates<br />
are now hoping for a further increase. In addition to<br />
the Initiative for Excellence of the Federal Government<br />
and the Länder in the framework of which the Graduate<br />
Schools are being funded as a priority area, a new initiative<br />
is also starting in non-university research in 2006: the<br />
Helmholtz Graduate Schools. In collaboration with various<br />
higher education institutions, the Helmholtz Association<br />
of National Research Centres (HGF) is running a<br />
programme of its own for doctoral candidates that is to be<br />
held in English. The aim is to cater for a 40-percent share<br />
of foreigners.<br />
“In addition to their scientific training, the students<br />
are also offered special training to acquire vocational<br />
qualifications and develop their personality,” explains<br />
Dr. Bärbel Köster of the Helmholtz Association head<br />
office. Doctoral theses from the research fields of the HGF<br />
such as energy, earth and environment, health, key technologies,<br />
the structure of matter or transport and space<br />
are to be supported with up to 300,000 euros a year.<br />
“One advantage of the Graduate Schools is multiple<br />
supervision,” Dr. Bernhard Lippert of German Rectors’<br />
Conference stresses. “As a rule, students from abroad feel<br />
well supported here because they are largely familiar<br />
with the model from at home. For one thing, multiple<br />
supervision means bidding farewell to one-to-one support<br />
in which the doctoral candidate has to rely entirely<br />
on his PhD supervisor. Second, as a rule, the supervisors<br />
come from different focal areas, enabling them to provide<br />
Absolventen vor der<br />
Universität Bonn<br />
Nachrichten News<br />
Graduate students from the<br />
University of Bonn
auf seinen Doktorvater angewiesen ist. Zum anderen<br />
kommen die Betreuer in der Regel auch aus verschiedenen<br />
Schwerpunkten und sind dadurch insgesamt in der<br />
Lage, eine größere Bandbreite <strong>von</strong> Anregungen zu geben.<br />
Die Betreuung wird interdisziplinärer.“<br />
Gute Erfahrungen mit der Graduiertenbetreuung<br />
hat auch die Max-Planck-Gesellschaft in ihren International<br />
Schools gemacht. Hier liegt der Anteil der Doktoranden<br />
aus dem Ausland inzwischen bei 60 Prozent.<br />
Dialog zwischen Politik und Wissenschaft:<br />
Think Tanks in Deutschland<br />
Ende der 90er Jahre ging die Bundesregierung nach Berlin<br />
– und nicht nur sie.Verbände und Firmen, Wissenschaftsorganisationen<br />
und Journalisten, Interessensvertreter aller<br />
Art zogen in die neue Hauptstadt. Als eine der mittelbaren<br />
Folgen lassen sich seitdem veränderte Kommunikationsbeziehungen<br />
zwischen den politisch Handelnden<br />
und den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen<br />
beobachten. So wird den Journalisten ein neuer ruppiger<br />
Umgangston nachgesagt und den Wirtschaftslobbyisten<br />
ein verstärkter Einfluss. Auch der Austausch zwischen<br />
Politikern und Wissenschaftlern hat sich intensiviert – so<br />
die Wahrnehmung <strong>von</strong> Dr. Volker Perthes, Direktor der<br />
<strong>Stiftung</strong> Wissenschaft und Politik, die 1998 ihren Sitz<br />
nach Berlin verlegt hat. „Grundsätzlich haben wir festgestellt,<br />
dass die Beratungsfreudigkeit der Politiker zugenommen<br />
hat, seit die Regierung in Berlin ist“, berichtet<br />
Perthes, „zum einen sind durch den Umzug alte Strukturen<br />
aufgebrochen und zum anderen herrscht durchgehend<br />
Sparzwang: Bevor jemand neu eingestellt wird,<br />
greift man lieber auf externe Fachleute zurück. So kommt<br />
es relativ häufig vor, dass wir gebeten werden, beispielsweise<br />
einen Fraktionsarbeitskreis in 20 Minuten in ein<br />
Themengebiet einzuführen oder an einem Brainstorming<br />
in einem Ministerium teilzunehmen. Wir haben unsererseits<br />
neue interaktive Formen der Politikberatung eingerichtet<br />
wie gemeinsame Arbeitskreise mit Politikern.<br />
Inzwischen achten wir auch verstärkt darauf, den handlungsorientierten<br />
Bedürfnissen <strong>von</strong> Entscheidungsträgern<br />
entgegenzukommen und kurz, konzise und verständlich<br />
zu schreiben. Die kurzen Zusammenfassungen<br />
werden mehr gelesen.“<br />
In Deutschland gibt es schätzungsweise zwischen 80<br />
und 130 Think Tanks, das heißt Einrichtungen, deren<br />
53 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
a wider range of advice. Supervision becomes more interdisciplinary.”<br />
The Max Planck Society has also gained good experience<br />
with the supervision of doctoral candidates in its<br />
International Schools. Here, the share of doctoral candidates<br />
from abroad is already at 60 percent.<br />
A Dialogue between politics and science:<br />
think tanks in Germany<br />
Towards the end of the 90s, the German Federal Government<br />
moved to Berlin. And with it, associations and<br />
companies, science organisations and journalists and<br />
representatives of all sorts of interest groups moved to the<br />
new capital as well. Changes in the communication relations<br />
between the political actors and the different groups<br />
in society have been observed as one of the resulting<br />
impacts since then. Journalists are said to have a gruffer<br />
way of speaking, while industrial lobbyists are claimed to<br />
have increased their influence. Exchange between politicians<br />
and scientists has intensified as well, according to<br />
what Dr. Volker Perthes, Director of the “<strong>Stiftung</strong> Wissenschaft<br />
und Politik”, has observed. The foundation<br />
moved its headquarters to Berlin in 1998. “We have generally<br />
noticed that readiness to consult experts has grown<br />
among politicians since the government moved to<br />
Berlin,” Perthes reports. “Moving has meant breaking up<br />
old structures. And then there is the requirement for<br />
everybody to economise. Before taking on any new staff,<br />
one prefers to resort to external specialists. Thus we are<br />
relatively often asked to introduce a working group of a<br />
parliamentary party to a topic within 20 minutes’ time<br />
or to take part in a brainstorming session at a ministry.<br />
We for our part have introduced new, interactive forms of<br />
policy consulting such as joint working groups with<br />
politicians. Nowadays, we also take care that we are<br />
amply considering the action-oriented requirements of<br />
decision-makers and write material in a short, concise<br />
and comprehensible manner. Brief summaries are read<br />
more.”<br />
It has been estimated that there are between 80 and<br />
130 think tanks in Germany. Think tanks are institutions<br />
whose research relates to political activities in some way.<br />
Nachrichten News
Forschung in irgendeiner Form für die politische Arbeit<br />
relevant ist. Dazu zählen die großen Wirtschaftsforschungsinstitute,<br />
außen-, friedens- und sicherheitspolitische<br />
Organisationen und Einrichtungen der Sozial-,<br />
Umwelt- und Technikforschung wie die Akademien für<br />
Technikfolgenabschätzung. Eine große Gruppe bilden die<br />
Ressortforschungsinstitutionen, die einzelnen Ministerien<br />
zugeordnet sind und in deren Auftrag forschen.<br />
Während die akademischen Institute stolz auf ihre politische<br />
Neutralität sind, engagieren sich andere Think Tanks<br />
explizit für bestimmte politische Richtungen oder gesellschaftliche<br />
Interessen. Hierzu gehören die Forschungsakademien<br />
der parteinahen politischen <strong>Stiftung</strong>en wie die<br />
SPD-nahe Friedrich-Ebert-<strong>Stiftung</strong> oder die CDU-nahe<br />
Konrad-Adenauer-<strong>Stiftung</strong>, aber auch parteiunabhängige<br />
Institute wie das Öko-Institut Freiburg, dessen Gründungsmitglieder<br />
sich dem Widerstand gegen die Kernenergie<br />
verbunden fühlten und das sich seitdem für umweltpolitische<br />
Fragestellungen einsetzt.<br />
Für Einrichtungen, die als Think Tanks erfolgreich<br />
sein wollen, hat es sich als sinnvoll erwiesen, auf drei Ebenen<br />
aktiv zu sein: in der wissenschaftlichen Community,<br />
in der Politikberatung und im Kontakt mit der allgemeinen<br />
Öffentlichkeit. Dies ist auch die Erfahrung <strong>von</strong> Professor<br />
Dr. Klaus Zimmermann, Präsident des Deutschen<br />
Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin, und<br />
Direktor des Bonner Forschungsinstituts zur Zukunft der<br />
Arbeit (IZA). „Unser Ziel ist es, zu <strong>50</strong> Prozent Forschung<br />
zu betreiben und zu <strong>50</strong> Prozent Politikberatung“, erklärt<br />
Zimmermann, „etwa 45 Prozent unseres Gesamtetats<br />
stammen aus Beratungsaufträgen“. Immer wieder kommt<br />
es vor, dass Wissenschaftler zu Ergebnissen gelangen, bei<br />
denen sie zwar großen Handlungsbedarf sehen, die <strong>von</strong><br />
der Politik aber nicht aufgegriffen werden. In solchen Fällen<br />
wenden sie sich gerne an die Presse. „Was öffentlich<br />
diskutiert wird, zieht irgendwann auch die Aufmerksamkeit<br />
der Politiker auf sich und findet Eingang in die Parteiprogramme“,<br />
hat Zimmermann festgestellt, „ein Beispiel<br />
für ein Thema, das uns gegenwärtig stark beschäftigt und<br />
das unserer Ansicht nach zu wenig beachtet wird, ist das<br />
Zuwanderungsgesetz. Es ist absehbar, dass in Deutschland<br />
54 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
They include the major economic research institutes, foreign,<br />
peace and security policy organisations as well as<br />
institutions of social, environmental and engineering<br />
research such as the technology assessment academies. The<br />
departmental research institutions allocated to individual<br />
ministries and conducting research the latter have commissioned<br />
form a large group. While the academic institutions<br />
are proud of their political neutrality, other think<br />
tanks are explicitly engaged in supporting certain political<br />
causes or interests in society. These include the research<br />
academies of the political foundations associated with the<br />
political parties, such as the Friedrich-Ebert-<strong>Stiftung</strong>, or<br />
the Konrad-Adenauer-<strong>Stiftung</strong>, affiliated to the SPD and<br />
the CDU respectively, as well as institutes independent of<br />
parties such as the “Öko-Institut” (Institute for Applied<br />
Ecology) of Freiburg, whose founding members dedicated<br />
themselves to opposing nuclear power and which since<br />
then has campaigned for environmental policy issues.<br />
It has proved sensible for institutions that wish to be<br />
successful as think tanks to be active at three levels: in the<br />
scientific community, in policy consulting and in contacts<br />
with the general public. This is also the experience made<br />
by Professor Dr. Klaus Zimmermann, President of the<br />
German Institute for Economic Research (DIW), Berlin,<br />
and Director of the Bonn Institute for the Study of Labour<br />
(IZA). “Our aim is to conduct <strong>50</strong> percent research and <strong>50</strong><br />
percent policy consulting,” Zimmermann explains.<br />
“Around 45 percent of our overall budget come from consulting<br />
orders.” Again and again, scientists arrive at results<br />
for which they note a considerable need to take action but<br />
that are not addressed by politics. In such cases, they frequently<br />
get in touch with the press. “What is discussed in<br />
public will at some stage attract the attention of the politicians<br />
and enter the party programmes,” Zimmermann<br />
notes. “One example of a topic that is currently keeping us<br />
very busy and that we believe is being given too little attention<br />
is the law on immigration. One can already reckon<br />
with a dearth of qualified specialists in Germany in the<br />
future. But they can only come from abroad. However, as<br />
a rule, people immigrating currently are low-qualified.<br />
Here, there is a lack of political initiative.”<br />
Nachrichten News
in Zukunft qualifizierte Fachkräfte fehlen werden. Diese<br />
können nur aus dem Ausland kommen. Die Leute, die im<br />
Moment zuwandern, sind jedoch in der Regel gering qualifiziert.<br />
Hier mangelt es an politischen Initiativen.“<br />
Wo die Wissenschaftler bei den Politikern adäquate<br />
Reaktionen auf Forschungsresultate vermissen, reagiert<br />
die andere Seite auch schon mal mit dem Vorwurf der<br />
Praxisferne. Wissenschaftler würden zu theoretisch arbeiten<br />
und hätten zu wenig Verständnis für das politische<br />
Tagesgeschäft. Hierzu Professor Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld,<br />
Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung<br />
(CAP) an der Universität München: „Politik<br />
folgt einer bestimmten Ratio. Ein Politiker hat für einen<br />
anstehenden Sachverhalt in einem gegebenen Moment<br />
zahlreiche Aspekte gleichzeitig im Blick zu halten. So geht<br />
es zum einen um Sachfragen, zum anderen aber auch um<br />
strategische Gesichtspunkte des Machterhalts. Dieser<br />
Situationsratio der Politik steht die Systemratio der Wissenschaft<br />
gegenüber. Dessen muss sich der Wissenschaftler<br />
bewusst sein. Umgekehrt sollte der Politiker beachten,<br />
dass der Experte nicht alle strategischen Aspekte bedenken<br />
wird. Der Dialog zwischen Politik und Wissenschaft<br />
funktioniert überall dort, wo sich beide Teile dessen bewusst<br />
sind. Der Wissenschaftler sollte beispielsweise ein<br />
Gespür für Timing haben. Ein Papier, das heute gebraucht<br />
wird, kann in zwei Tagen vollkommen wertlos sein. Die<br />
Aufbereitung <strong>von</strong> Informationen vollzieht sich in Politik<br />
und Wissenschaft unterschiedlich.“<br />
Das Modell der Think Tanks stammt ursprünglich<br />
aus den USA, wo diese Einrichtungen für die Politik eine<br />
große Rolle spielen und dabei häufig parteipolitisch festgelegt<br />
sind. Weidenfeld zufolge hängt dies auch damit<br />
zusammen, dass die politische Infrastruktur in den USA<br />
dünner ist als in Deutschland. Was dort <strong>von</strong> Think Tanks<br />
geleistet werde, übernehmen in Deutschland Parteien<br />
und Verbände. Bei der Positionierung auf einem zunehmend<br />
internationalen Markt der Gutachtenvergabe, betrachten<br />
deutsche Wissenschaftler – so Zimmermann –<br />
ihre politische Neutralität auch als Standortvorteil.<br />
55 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
When scientists point to a failure among politicians<br />
to respond adequately to research results, the other side<br />
sometimes replies by way of pointing to their being out of<br />
touch with reality. Scientists, it is claimed, work too theoretically<br />
and understand too little of day-to-day political<br />
activities. Commenting on this, Professor Dr. Dr. h.c.<br />
Werner Weidenfeld, Director of the Centre for Applied<br />
Policy Research (CAP) at Munich University, claims:<br />
“Politics follows a certain reason. At a given moment, a<br />
politician has to keep an eye on several aspects of a forthcoming<br />
issue simultaneously. There are factual issues as<br />
well as strategic considerations on sustaining power. This<br />
reason stemming from a given situation in politics is<br />
countered by the systematic reason of science, a state of<br />
affairs that the scientist has to be aware of. Conversely, the<br />
politician ought to bear in mind that the expert will not<br />
consider all strategic aspects. Dialogue between politics<br />
and science will work whenever both sides are aware of<br />
this. For instance the scientist should have a sense of timing.<br />
A paper required today may be entirely useless in two<br />
days’ time. The processing of information progresses in<br />
different ways in politics and science.”<br />
The think tank model originates from the USA,<br />
where these institutions play a major role in politics and<br />
are frequently tied to the policies of a single party.<br />
According to Weidenfeld, this is also due to the infrastructure<br />
of politics in the USA being thinner than that<br />
in Germany. What is achieved there by think tanks is<br />
dealt with in Germany by parties and associations.<br />
Regarding positioning oneself on an increasingly international<br />
market of commissioning of reports and studies,<br />
Zimmermann maintains that German scientists view<br />
their political neutrality as a locational advantage.<br />
Nachrichten News<br />
Seit die Regierung in Berlin<br />
sitzt, hat die Beratungsfreudigkeit<br />
der Politiker<br />
zugenommen – so die<br />
Wahrnehmung auf Seiten<br />
der Wissenschaft. Im Bild<br />
der Sitz des Bundestages,<br />
<strong>von</strong> außen und innen.<br />
Since the Government<br />
moved to Berlin, politicians<br />
have become more eager to<br />
benefit from consultancy<br />
services – at least this is<br />
what scientists claim. The<br />
picture shows the seat of<br />
the German Parliament from<br />
the outside and inside.
Neues aus der <strong>Stiftung</strong><br />
News from the Foundation<br />
Fünf <strong>Humboldt</strong>ianer erhalten Nobelpreis<br />
Bei der diesjährigen Nobelpreisverleihung wurden<br />
fünf <strong>Humboldt</strong>ianer ausgezeichnet. Der Nobelpreis<br />
für Chemie ging zu gleichen Teilen an den ehemaligen<br />
<strong>Humboldt</strong>-Forschungsstipendiaten Professor Robert<br />
H. Grubbs und den <strong>Humboldt</strong>-Forschungspreisträger<br />
Professor Richard R. Schrock sowie an ihren Kollegen<br />
Professor Yves Chauvin. Sie wurden für die Entwicklung<br />
<strong>von</strong> Methoden auf dem Gebiet der organischen<br />
Syntheseverfahren ausgezeichnet.<br />
Der Nobelpreis für Physik wurde an die <strong>Humboldt</strong>ianer<br />
Professor Roy J. Glauber, Professor Theodor<br />
W. Hänsch und Professor John L. Hall vergeben.<br />
Hänsch und Hall teilen sich eine Hälfte der Auszeichnung<br />
für Beiträge zur Entwicklung der laserbasierten<br />
Präzisionsspektrographie. Glauber bekommt die andere<br />
Hälfte des Preises für Beiträge zur Quantentheorie<br />
der optischen Kohärenz.<br />
Damit gehören insgesamt 40 Nobelpreisträger<br />
zum weltweiten Netz der Forschungsstipendiaten und<br />
Forschungspreisträger der <strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong>-<br />
<strong>Stiftung</strong>. Die <strong>Stiftung</strong> gratuliert herzlich und ist stolz<br />
auf ihre <strong>Humboldt</strong>ianer. „Dass die Förderung <strong>von</strong><br />
<strong>Humboldt</strong>ianern, seien sie junge Stipendiaten oder<br />
bereits vielfach anerkannte Preisträger, immer auch<br />
Investitionen in die Zukunft sind, beweisen die diesjährigen<br />
Nobelpreisträger aus der <strong>Humboldt</strong>-Familie<br />
stellvertretend für viele <strong>Humboldt</strong>ianer weltweit“,<br />
sagte Generalsekretär Dr. Georg Schütte.<br />
Robert Grubbs, geboren 1942, hatte 1975 als<br />
<strong>Humboldt</strong>-Forschungsstipendiat in Deutschland gearbeitet.<br />
Der damals 33-Jährige forschte ein halbes Jahr<br />
am Institut für Strahlenchemie (heute Max-Planck-<br />
Institut (MPI) für Bioanorganische Chemie) in Mülheim<br />
an der Ruhr. Er etablierte sich schon zu dieser<br />
Zeit als einer der führenden amerikanischen Wissenschaftler<br />
in der organometallischen Chemie. Heute<br />
forscht er am California Institute of Technology (Caltech)<br />
in Pasadena, California, USA.<br />
Richard Schrock, Jahrgang 1945, hatte 1994 den<br />
<strong>Humboldt</strong>-Forschungspreis erhalten und im Anschluss<br />
mit Mitteln des Preises in Deutschland geforscht.<br />
Hierzu war er bis 2004 zu wiederholten<br />
Forschungsaufenthalten Gast am Anorganisch-<br />
Chemischen Institut der TU München in Garching<br />
und hatte am MPI für Kohlenforschung in Mülheim<br />
56 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Five <strong>Humboldt</strong>ians receive Nobel Prize<br />
At this year’s presentation of the Nobel Prize, five <strong>Humboldt</strong>ians<br />
were distinguished with awards. The Nobel<br />
Prize for Chemistry went to erstwhile <strong>Humboldt</strong> Research<br />
Fellow Professor Robert H. Grubbs and <strong>Humboldt</strong><br />
Research Award Winner Professor Richard R.<br />
Schrock as well as their colleague Professor Yves Chauvin.<br />
They were rewarded for developing methods in the<br />
field of organic synthesis processes.<br />
The Nobel Prize for Physics was awarded to <strong>Humboldt</strong>ians<br />
Professor Roy J. Glauber, Professor Theodor<br />
W. Hänsch and Professor John L. Hall. Hänsch<br />
and Hall share half of the reward for their contributions<br />
to developing laser-based precision spectroscopy, while<br />
Glauber has received the other half of the prize for<br />
his contributions to the quantum theory of optical<br />
coherence.<br />
This means that a total of 40 Nobel Prize Winners<br />
now belong to the <strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong> Foundation’s<br />
world-wide network of research fellows and research<br />
award winners. The Foundation wishes to extend<br />
its sincere congratulations and is proud of its <strong>Humboldt</strong>ians.<br />
“That promoting <strong>Humboldt</strong>ians, whether<br />
they be young research fellows or award winners who<br />
have already earned several distinctions, always also<br />
means investing in the future is proven by this year’s<br />
Nobel Prize Winners of the <strong>Humboldt</strong> Family, representing<br />
many <strong>Humboldt</strong>ians world-wide”, said<br />
Secretary General Dr. Georg Schütte.<br />
Born in 1942, Robert Grubbs worked as a <strong>Humboldt</strong><br />
Research Fellow in Germany in 1975. Grubbs, who was<br />
33 at the time, was involved in research at the Institute<br />
for Radiation Chemistry (now Max Planck Institute<br />
(MPI) for Bioinorganic Chemistry) in Mülheim an der<br />
Ruhr for half a year. At the time, he had already established<br />
himself as one of America’s leading scientists in<br />
the field of organometallic chemistry. Today, he conducts<br />
research at the California Institute of Technology<br />
(Caltech) in Pasadena, California, USA.<br />
Richard Schrock was born in 1945 and received the<br />
<strong>Humboldt</strong> Research Award in 1994. With the prize<br />
money, he subsequently financed his research in Germany,<br />
where he had several research stays as a visiting<br />
academic at TU Munich’s Institute of Anorganic Chemistry<br />
in Garching up to 2004. Also he worked at the MPI<br />
of Coal Research in Mülheim an der Ruhr. In the 90s, he<br />
Professor Robert H. Grubbs<br />
Professor Richard R.<br />
Schrock<br />
Professor Roy J. Glauber
an der Ruhr gearbeitet. In den 90er Jahren wurde er<br />
zum Namensgeber der Forschung zu Übergangsmetallen,<br />
der „Schrock Chemistry“. Schrock arbeitet am<br />
Massachusetts Institute of Technology (MIT),<br />
Cambridge, Massachusetts, USA.<br />
Roy Glauber, der im September seinen 80. Geburtstag<br />
feierte, war mit dem <strong>Humboldt</strong>-Forschungspreis<br />
für seine Verdienste auf dem Gebiet der Quantenoptik,<br />
speziell der Laserforschung, ausgezeichnet<br />
worden und hatte mit Mitteln des Preises insgesamt<br />
für ein Jahr am MPI für Quantenoptik in Garching<br />
geforscht.<br />
Theodor Hänsch, Jahrgang 1941, hatte im Alter<br />
<strong>von</strong> 35 Jahren den <strong>Humboldt</strong>-Forschungspreis für die<br />
Anwendung des Lasers in der Spektroskopie erhalten.<br />
Er war einer der Ersten, die die Methode der Zweiphotonen-Spektroskopie<br />
experimentell einsetzten. Im<br />
Rahmen dieser Auszeichnung war er insgesamt neun<br />
Monate am MPI für Quantenoptik in Garching und<br />
an der Universität Frankfurt tätig.<br />
John Hall, Jahrgang 1934, hatte die Auszeichnung<br />
der <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong> für seine Pionierarbeiten auf<br />
dem Gebiet optischer Frequenzstandards und ultrastabiler<br />
Laser für die höchstauflösende Spektroskopie<br />
und Interferometrie erhalten. Sein damaliger Gastgeber<br />
war der heute gemeinsam mit ihm ausgezeichnete<br />
Theodor Hänsch, mit dem er als Forschungspreisträger<br />
vier Monate am MPI für Quantenoptik in Garching<br />
zusammenarbeitete.<br />
Weitere Informationen unter:<br />
www.humboldt-foundation.de/presse/nobel<br />
Further information at:<br />
www.humboldt-foundation.de/presse/nobel<br />
57 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
gave his name to research into transition metals,<br />
“Schrock Chemistry”. Schrock works at the Massachusetts<br />
Institute of Technology (MIT), Cambridge, Massachusetts,<br />
USA.<br />
Roy Glauber, who celebrated his 80 th birthday in<br />
September, had been distinguished with the <strong>Humboldt</strong><br />
Research Award for his achievements in the field of<br />
quantum optics, especially laser research, and, with the<br />
prize’s funding, had done research at the MPI of Quantum<br />
Optics in Garching for one year in all.<br />
At the age of 35, Theodor Hänsch, who was born in<br />
1941, had received the <strong>Humboldt</strong> Research Award for<br />
the application of the laser in spectroscopy. He was one<br />
of the first to use the method of two-photon spectroscopy<br />
experimentally. In the framework of this award, he<br />
spent a total of nine months at the MPI of Quantum<br />
Optics in Garching and at the University of Frankfurt.<br />
Born in 1934, John Hall had received the <strong>Humboldt</strong><br />
Foundation’s award for his pioneering work in the field<br />
of optical frequency standards and ultra-stable lasers for<br />
maximum-resolution spectroscopy and interferometry.<br />
His then host was Theodor Hänsch, with whom he<br />
worked together as a research award winner at the MPI<br />
of Quantum Optics in Garching for four months and<br />
with whom he was now jointly honoured.<br />
Neues aus der <strong>Stiftung</strong> News from the Foundation<br />
Professor Theodor W.<br />
Hänsch<br />
Professor John L. Hall
Rechtsexpertentreffen in Tokio<br />
Vom 29. September bis zum 1. Oktober 2005 fand in<br />
Tokio der Kongress „Globalisierung und Recht –<br />
Beiträge Japans und Deutschlands zu einer internationalen<br />
Rechtsordnung im 21. Jahrhundert“ statt. Im<br />
deutsch-japanischen und internationalen Rechtsvergleich<br />
wurden Vereinheitlichungen im Wirtschaftsund<br />
Zivilrecht und der Einfluss und die Grenzen des<br />
Völkerrechts diskutiert sowie Lösungen für die rechtlichen<br />
Folgen der Globalisierung gesucht. Teilnehmer<br />
waren neben rund 2<strong>50</strong> Rechtsexperten und Nachwuchswissenschaftlern<br />
aus beiden Ländern die deutsche<br />
Justizministerin Brigitte Zypries, der japanische<br />
Vizejustizminister Shigeyuki Tomita, der Präsident des<br />
Europäischen Gerichtshofs Professor Vassilios Skouris<br />
sowie der Vizepräsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts<br />
Professor Winfried Hassemer. Der Kongress<br />
fand als Teil des Deutschlandjahres in Japan statt<br />
und war eine gemeinsame Veranstaltung der <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong><br />
und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes<br />
in Zusammenarbeit mit der Japan<br />
Society for the Promotion of Science.<br />
Weltkongress der Germanistik in Paris<br />
Mehr als 1.200 Teilnehmer folgten der Einladung <strong>von</strong><br />
Professor Jean-Marie Valentin, <strong>Humboldt</strong>-Forschungspreisträger<br />
und Präsident der Internationalen<br />
Vereinigung für Germanistik (IVG), zum Weltkongress<br />
der IVG in Paris vom 26. August bis 3. September<br />
2005. Die weltweit wichtigste Germanistentagung findet<br />
alle fünf Jahre statt, diesmal zum Thema „Germanistik<br />
im Konflikt der Kulturen“. Die <strong>Humboldt</strong>ianer<br />
Professor Theodore Ziolkowski aus Princeton, Professor<br />
Anil Bhatti aus Neu Delhi und Professor Yushu<br />
Zhang aus Peking eröffneten jeweils einen Tag des<br />
Kongresses. Neu gewählter IVG-Präsident und vierter<br />
<strong>Humboldt</strong>ianer in diesem Amt ist der <strong>Humboldt</strong>-Forschungspreisträger<br />
Professor Franciszek Krysztof<br />
Grucza aus Polen. Professor Dimitrij Dobrovolskij,<br />
ebenfalls <strong>Humboldt</strong>ianer, wurde mit dem Grimm-<br />
Preis des Deutschen Akademischen Austauschdienstes<br />
ausgezeichnet.<br />
58 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Legal experts meet in Tokyo<br />
The Congress “Globalisation and law – Japanese and<br />
German contributions to an international system of<br />
laws in the 21 st century” took place in Tokyo from the<br />
29 th September to the 1 st October. In a comparison of<br />
German-Japanese and international law, standardisations<br />
in commercial and civil law and the influence and<br />
limits of international law were discussed and solutions<br />
were sought for the urgent legal consequences of globalisation.<br />
In addition to around 2<strong>50</strong> legal experts and junior<br />
scientists from both countries, the congress was<br />
attended by German Minister of Justice Brigitte Zypries,<br />
Japanese Vice-Minister of Justice Shigeyuki Tomita, the<br />
President of the European Court of Justice, Professor<br />
Vassilios Skouris, and the German Federal Constitutional<br />
Court’s Vice-President Professor Winfried Hassemer.<br />
The Congress was part of the German Year in<br />
Japan and was jointly run by the <strong>Humboldt</strong> Foundation<br />
and the German Academic Exchange Service in cooperation<br />
with the Japan Society for the Promotion of<br />
Science.<br />
World congress of German language<br />
and literature in Paris<br />
More than 1,200 participants accepted the invitation by<br />
Professor Jean-Marie Valentin, <strong>Humboldt</strong> Research<br />
Award Winner and President of the “International<br />
Association for Germanic Studies” (IVG), to the IVG<br />
World Congress in Paris from the 26 th August to the 3 rd<br />
September 2005. This congress, the most important<br />
meeting of the subject’s scholars world-wide, takes place<br />
every five years, and this time, it focused on the topic of<br />
“German language and literature in a field of tension<br />
between cultures”. <strong>Humboldt</strong>ians Professor Theodore<br />
Ziolkowski from Princeton, Professor Anil Bhatti from<br />
New Delhi and Professor Yushu Zhang from Beijing<br />
each opened one day of the congress. The newly elected<br />
IVG President, and the fourth <strong>Humboldt</strong>ian to hold this<br />
office, is <strong>Humboldt</strong> Research Award Winner Professor<br />
Franciszek Krysztof Grucza from Poland. <strong>Humboldt</strong><br />
Fellow Professor Dimitrij Dobrovolskij was honoured<br />
with the Grimm Prize of the German Academic<br />
Exchange Service.<br />
Neues aus der <strong>Stiftung</strong> News from the Foundation
Weiterführung des Japanese-German<br />
Frontiers of Science Symposiums<br />
Am 26. September 2005 unterzeichneten der Präsident<br />
der Japan Society for the Promotion of Science Professor<br />
Motoyuki Ono und der Generalsekretär der <strong>Alexander</strong><br />
<strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong> Dr. Georg Schütte ein<br />
„Memorandum of Understanding“ zur Weiterführung<br />
des Japanese-German Frontiers of Science Symposiums<br />
bis 2007. Dem ersten Symposium im Januar 2005 in<br />
Mainz folgte bereits im November die zweite Konferenz<br />
in Kanagawa, Japan. Die Symposien bieten jungen<br />
Natur- und Sozialwissenschaftlern aus Japan und<br />
Deutschland die Gelegenheit, sich fachübergreifend<br />
auszutauschen und gemeinsame Forschungsinteressen<br />
zu entdecken. Die Treffen sollen den Dialog zwischen<br />
japanischen und deutschen Nachwuchswissenschaftlern<br />
fördern sowie bilaterale Wissenschaftskooperationen<br />
und Kontakte unter den Wissenschaftlern beider<br />
Nationen stärken.<br />
Organisationsreform der<br />
<strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong><br />
Seit dem 1. September hat die Geschäftsstelle der<br />
<strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong> in Bonn eine<br />
neue Organisationsstruktur. Mit dem neuen Zuschnitt<br />
vieler Arbeitsbereiche und Abläufe will die <strong>Stiftung</strong><br />
die Wirksamkeit ihrer Arbeit sichern und die in den<br />
letzten Jahren kontinuierlichen Einschnitte in ihren<br />
Etat so weit es geht ausgleichen. Dies bedeutet große<br />
Umstellungen und Anstrengungen vor allem für die<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aber auch die<br />
<strong>Humboldt</strong>ianerinnen und <strong>Humboldt</strong>ianer sowie die<br />
Förderer und Partner werden die Veränderungen<br />
bemerken. Anfangs vielleicht noch durch Ungewohntes,<br />
etwa wenn langjährige Ansprechpartner nun<br />
andere Aufgaben haben und neue Verfahren alte Routinen<br />
ersetzen. Danach aber sollen <strong>Humboldt</strong>ianer<br />
sowie Förderer und Partner <strong>von</strong> den Veränderungen<br />
profitieren: durch den Erhalt gewohnter Stärken und<br />
einen weiter verbesserten Service.<br />
Im Kern gibt es folgende Änderungen:<br />
• Die verschiedenen Beratungsleistungen sind in einem<br />
neuen Referat „Marketing und Mobilitätszen-<br />
59 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Dr. Georg Schütte, Generalsekretär<br />
der <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong>,<br />
und Professor Motoyuki Ono,<br />
Präsident der Japan Society for<br />
the Promotion of Science<br />
Dr. Georg Schütte, Secretary<br />
General of the <strong>Humboldt</strong><br />
Foundation, and Professor<br />
Motoyuki Ono, President of the<br />
Japan Society for the Promotion<br />
of Science<br />
Continuation of the Japanese-German<br />
Frontiers of Science Symposium<br />
On the 26 th September 2005, the President of the<br />
Japan Society for the Promotion of Science, Professor<br />
Motoyuki Ono, and the <strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong><br />
Foundation’s Secretary General, Dr. Georg Schütte,<br />
signed a “Memorandum of Understanding” on a continuation<br />
of the Japanese-German Frontiers of Science<br />
Symposium up to 2007. The first Symposium, which<br />
took place in Mainz in January 2005, was already<br />
followed in November by the second conference in<br />
Kanagawa, Japan. The symposia offer junior natural<br />
and social scientists from Japan and Germany the<br />
opportunity to engage in interdisciplinary exchange<br />
and discover common research interests. The meetings<br />
are to promote dialogue between Japanese and German<br />
junior scientists and boost bilateral academic co-operation<br />
and links among the scientists of both nations.<br />
Organisational reform of the<br />
<strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong> Foundation<br />
A new organisational structure was introduced for<br />
the Headquarters of the <strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong><br />
Foundation in Bonn on September 1 st . The reorganisation<br />
of several activity areas and procedures is to<br />
ensure the effectiveness of the Foundation’s work and<br />
compensate, wherever this is possible, for the continuous<br />
cuts in its budget over the last few years. This means big<br />
changes and efforts on the part of the staff in particular.<br />
But the <strong>Humboldt</strong>ians as well as the sponsors and partners<br />
are going to notice the changes, too. Initially, some<br />
aspects might be unfamiliar, for example if long-standing<br />
contacts happen to have new responsibilities or<br />
when new procedures replace old routines. But afterwards,<br />
<strong>Humboldt</strong>ians as well as sponsors and partners<br />
are expected to benefit from the changes: by retaining<br />
strengths they are accustomed to and by even better<br />
service standards.<br />
The major changes are:<br />
• The various advisory services have been combined in the<br />
new “Marketing and Mobility Centre”. In this way, academics<br />
interested in the funding programmes who are seek-<br />
Neues aus der <strong>Stiftung</strong> News from the Foundation<br />
Weitere Informationen<br />
unter: www.humboldtfoundation.de/en/<br />
netzwerk/frontiers<br />
Further information at:<br />
www.humboldt-foundation.de/en/netzwerk/<br />
frontiers
trum“ zusammengefasst worden. Dadurch können<br />
die Erstberatung <strong>von</strong> Interessenten an den Förderprogrammen<br />
und die allgemeine Beratung im Rahmen<br />
des deutschen Mobilitätszentrums für Forscher<br />
aus einer Hand erfolgen.<br />
• Innerhalb der Auswahlabteilung sind die Zuständigkeiten<br />
nicht mehr nach dem Förderprogramm und<br />
dem Namen des Bewerbers, sondern nach Fächern<br />
gegliedert. Auf diese Weise hat in Zukunft jeder wissenschaftliche<br />
Gastgeber und jeder Gutachter dauerhaft<br />
die gleichen Ansprechpartner in der <strong>Stiftung</strong>.<br />
• Die zwei bisherigen Abteilungen für die Betreuung<br />
der <strong>Humboldt</strong>ianer während des Erstaufenthaltes<br />
in Deutschland und während des Nachkontaktes<br />
sind zusammengelegt worden. Die daraus neu entstandene<br />
Abteilung „Förderung und Netzwerk“ ist<br />
nach geografischen Gesichtspunkten in vier Regionalreferate<br />
gegliedert, so dass nun jeder <strong>Humboldt</strong>ianer<br />
möglichst auch über die Erstförderung hinaus<br />
die gleichen Ansprechpartner in der <strong>Stiftung</strong> hat.<br />
Parallel zu der neuen Organisationsstruktur werden<br />
zahlreiche Verwaltungsverfahren gestrafft und<br />
vereinheitlicht.<br />
Präsident Wolfgang Frühwald<br />
feiert 70. Geburtstag<br />
Rund 130 Gäste waren am 5. Oktober auf Einladung<br />
der <strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong> in die Bad<br />
Godesberger Redoute gekommen, um den 70.<br />
Geburtstag ihres Präsidenten, Professor Dr. Wolfgang<br />
Frühwald, und seiner Frau Viktoria Frühwald in einem<br />
feierlichen Festkolloquium zu begehen. <strong>Humboldt</strong>ianer,<br />
Freunde und langjährige Weggefährten aus Kultur,<br />
Politik und Wissenschaft sowie Mitarbeiter der<br />
<strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong> trafen sich zu einer „Literarischen<br />
Weltreise“.<br />
Die Stationen der <strong>von</strong> Generalsekretär Dr. Georg<br />
Schütte moderierten Reise markierten die Auftritte<br />
<strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong>ianern: Professor Dr. Naoji Kimura aus<br />
Japan, Professor Dr. Luigi Forte aus Italien und Dr.<br />
Sorin Gadeanu aus Rumänien berichteten über ihre<br />
60 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
ing advice for the first time as well as researchers<br />
looking for general advice in the context of the German<br />
Mobility Centre can be offered services all in one.<br />
• Within the Selection Division, the responsibilities are<br />
not distributed according to the funding programme<br />
and the applicant’s name but according to subjects. In<br />
this way, every academic host and every reviewer will<br />
permanently have the same contacts in the<br />
Foundation in future.<br />
• The two divisions handling support for the <strong>Humboldt</strong>ians<br />
during their first stay in Germany and<br />
during follow-up contact have been merged. The resulting<br />
“Funding and Networking” division is subdivided<br />
into four regional units along geographical<br />
lines, so that each <strong>Humboldt</strong>ian has the same contacts<br />
in the Foundation, starting with initial sponsorship.<br />
In parallel with the new organisational structure,<br />
numerous administrative procedures are going to be<br />
streamlined and standardised as well.<br />
President Wolfgang Frühwald<br />
celebrates his 70 th birthday<br />
On the 5 th October, around 130 guests came to Bad<br />
Godesberg’s Redoute at the invitation of the <strong>Alexander</strong><br />
<strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong> Foundation to celebrate the 70 th birthdays<br />
of its President, Professor Dr. Wolfgang Frühwald,<br />
and his wife Viktoria Frühwald with a ceremonial festive<br />
colloquium. <strong>Humboldt</strong>ians, friends and longstanding<br />
companions from culture, politics and the academic<br />
world as well as <strong>Humboldt</strong> Foundation staff met<br />
to embark on a “literary tour of the world”.<br />
The stops of the trip, moderated by Secretary General<br />
Dr. Georg Schütte, were marked by presentations<br />
given by <strong>Humboldt</strong>ians Professor Dr. Naoji Kimura<br />
from Japan, Professor Dr. Luigi Forte from Italy and<br />
Dr. Sorin Gadeanu from Romania, who gave accounts<br />
of their meetings with Wolfgang Frühwald.<br />
Neues aus der <strong>Stiftung</strong> News from the Foundation<br />
Das neue Organigramm<br />
im Internet:<br />
www.humboldt-foundation.de/de/stiftung/<br />
organigramm<br />
The new organisation<br />
chart in the Internet:<br />
www.humboldt-foundation.de/en/stiftung/<br />
organigramm
Begegnungen mit Wolfgang Frühwald. Die amerikanische<br />
Bundeskanzler-Stipendiatin Sommer Noel<br />
Ulrickson interpretierte in einer Tanzperformance<br />
Texte des deutschen Dramatikers Heiner Müller. Den<br />
musikalischen Höhepunkt setzte Barbara Frühwald,<br />
die Tochter des Geburtstagskinds, mit Interpretationen<br />
<strong>von</strong> Chansons, Liedern aus Israel und Italien<br />
sowie internationalen Jazzklassikern.<br />
Ein besonderes Geschenk erhielt der Präsident der<br />
<strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong> <strong>von</strong> der Marga und Kurt Möllgaard-<strong>Stiftung</strong><br />
im Stifterverband für die Deutsche<br />
Wissenschaft. Die <strong>Stiftung</strong> würdigt Wolfgang Frühwalds<br />
Verdienste in der Wissenschaftsförderung mit<br />
dem 2005 erstmals verliehenen Marga und Kurt Möllgaard-Preis.<br />
Mit dem Preis soll die wissenschaftliche<br />
Leistung eines Nachwuchswissenschaftlers aus Osteuropa<br />
ausgezeichnet werden. Wolfgang Frühwald wird<br />
die Forscherin oder den Forscher selbst auswählen<br />
und das Stipendium verleihen.<br />
Wolfgang Frühwald genießt den Ruf eines der<br />
renommiertesten deutschen Experten in der internationalen<br />
Wissenschaftsförderung und Bildungspolitik<br />
und eines bedeutenden Literaturwissenschaftlers. Als<br />
langjähriger Präsident zunächst der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />
und seit 1999 der <strong>Humboldt</strong>-<br />
<strong>Stiftung</strong> ist er ein erfahrener und leidenschaftlicher<br />
Wissenschaftsmanager, der immer auch die Brücke<br />
schlug zwischen der Kunst, den Geistes- und den<br />
Naturwissenschaften. Er ist der erste Geisteswissenschaftler<br />
im Amt des Präsidenten der <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong>.<br />
Im Laufe seiner Karriere wurde er mit zahlreichen<br />
wissenschaftlichen Auszeichnungen geehrt.<br />
Zuletzt erhielt er am 17. November dieses Jahres einen<br />
der höchsten deutschen Orden, das Große Verdienstkreuz<br />
mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik<br />
Deutschland.<br />
Weitere Informationen zu Vita und Ehrungen Wolfgang Frühwalds unter:<br />
www.humboldt-foundation.de/de/stiftung/praesidenten/fruehwald.htm<br />
Further information on Wolfgang Frühwald’s life and honours at:<br />
www.humboldt-foundation.de/en/stiftung/praesidenten/fruehwald.htm<br />
61 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Professor Dr. Wolfgang<br />
Frühwald und Ehefrau<br />
Viktoria Frühwald im Kreise<br />
<strong>von</strong> Familie und Freunden.<br />
Professor Dr. Wolfgang<br />
Frühwald and his wife<br />
Viktoria Frühwald with<br />
family and friends.<br />
In a dance performance, Sommer Noel Ulrickson, an<br />
American Federal Chancellor Fellow, interpreted texts<br />
written by German dramatist Heiner Müller. The musical<br />
climax was provided by Barbara Frühwald, the<br />
birthday boy’s daughter, with versions of chansons,<br />
songs from Israel and Italy and international jazz classics.<br />
The <strong>Humboldt</strong> Foundation’s President received a<br />
special present from the Marga and Kurt Möllgaard<br />
Foundation in the Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft<br />
(Donors' Association for the Promotion of Sciences<br />
and Humanities in Germany). This foundation is<br />
paying tribute to Wolfgang Frühwald’s achievements in<br />
the promotion of science with the Marga and Kurt<br />
Möllgaard Prize, awarded for the first time in 2005 and<br />
intended to distinguish a junior scientist from Eastern<br />
Europe for his or her academic performance. Wolfgang<br />
Frühwald is to choose the researcher himself and award<br />
the fellowship.<br />
Wolfgang Frühwald enjoys the reputation of being<br />
one of Germany’s most senior experts in international<br />
science promotion and education policy as well that of a<br />
renowned literary scholar. As long-standing President<br />
of, initially, the Deutsche Forschungsgemeinschaft<br />
(German Research Foundation) and, since 1999, the<br />
<strong>Humboldt</strong> Foundation, he is an experienced and passionate<br />
science manager who has always succeeded in<br />
forging links between art, the humanities and the sciences.<br />
He is the first humanities scholar to have taken<br />
office as President of the <strong>Humboldt</strong> Foundation. He has<br />
been honoured with numerous academic awards in the<br />
course of his career. Recently, on the 17 th November of<br />
this year, he received one of the highest German decorations,<br />
the Große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens<br />
(Knight Commander’s Cross of the Order<br />
of Merit) of the Federal Republic of Germany.
Vom Zyklopen bis zum Alien – die mythischen Ungeheuer<br />
sind bis heute nicht ausgestorben. Die Faszination<br />
der Menschen <strong>von</strong> unbezwingbaren Monstern<br />
hält sie am Leben.<br />
Beim Stichwort „Mythologie“ denkt man zunächst an<br />
die <strong>von</strong> Ovid, Hesoid, Homer und Vergil geschaffene<br />
antike Sagenwelt. Der Mythos ist eine Erzählung vom<br />
Anfang der Zeit, der Götter und der Menschen. Die<br />
Monster lassen sich in eine Welt der Geschichten hineinholen,<br />
die die reale Welt lebbar machen und die<br />
Menschen handlungsfähig erscheinen lassen. Gegenüber<br />
einem riesigen Kosmos, einer unendlichen Zeit<br />
und einer gefährlichen Natur, erscheint der Mensch<br />
klein und ohnmächtig. Im Mythos aber kann er das<br />
Fremde und Übermächtige zähmen, indem er ihm einen<br />
Sinn und eine eigene Geschichte gibt.<br />
Diese mit dem Mythos verbundene Archaik widerspricht<br />
scheinbar der Moderne, deren Selbstverständnis<br />
sich aus dem rationalen Handeln der Individuen<br />
ableiten soll. Der Moderne wird eine übermäßige Betonung<br />
der Rationalität vorgeworfen, die sich gegen alles<br />
richtet, was fremd, unbekannt und nicht vernünftig ist.<br />
Wie kommt es dann, dass nach wie vor eine Faszination<br />
<strong>von</strong> Ungeheuern und Monstern ausgeht?<br />
Moderne Mythen<br />
Nicht nur, dass die Monster noch immer nicht ausgestorben<br />
sind. Das Unheimliche ist monströser denn je.<br />
Weil man es nicht mehr in Gestalt übermenschlicher<br />
Mächte auftreten lassen kann, bleibt nur mehr das Erschrecken<br />
der Menschen über sich selbst. Denn mit den<br />
mythischen Geschichten verschwindet weder die Gewalt<br />
noch sind die modernen technischen Errungenschaften<br />
per se harmlos.<br />
Für die Erzählung moderner Mythen ist der Film<br />
das brauchbarste Medium, weil er jung genug ist, um<br />
gegenüber dem klassischen Medium Buch etwas Eigenständiges<br />
darzustellen, gleichzeitig aber konventionell<br />
genug, um in der Mitte der Kultur platziert zu sein.<br />
Schließlich existiert mit der Science Fiction ein spezielles<br />
Genre, das sich besonders gut für mythologische Erzählungen<br />
eignet, die eigens für die Moderne gemacht<br />
sind.<br />
Konsequent wird dort die Erzählung mythischer<br />
Taten in den Kosmos verlegt. In den unendlichen Wei-<br />
62 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
Wissenschaft und Kultur Science and Culture<br />
Jörn Ahrens<br />
Von der Antike ins Weltall<br />
From the antique to outer space<br />
Whether it be the Cyclops or the alien – mythological<br />
monsters still aren’t extinct. What keeps them<br />
alive is that unbeatable beasts seem to fascinate<br />
people.<br />
When mention is made of “mythology”, one will first of<br />
all think of the antique legends created by Ovid, Hesoid,<br />
Homer and Vergil. A myth is a tale from the beginnings<br />
of time, the gods and humankind. The monsters can be<br />
integrated into a world of stories that help people to cope<br />
with the real world and seemingly give their characters<br />
the ability to act. Faced with a gigantic cosmos, infinite<br />
time and nature which is full of dangers, the human<br />
being appears to be small and helpless. But in the myth,<br />
he can tame alien and overpowering forces by giving<br />
them a meaning and a tale of their own.<br />
This archaic concept related to myths appears to<br />
clash with modernity, whose self-understanding is supposed<br />
to be deduced from the rational action of individuals.<br />
Modernity is accused of overemphasising a rationality<br />
which opposes everything that is strange, unknown<br />
and unreasonable. So how come ogres and monsters<br />
still tend to fascinate us?<br />
Modern myths<br />
Not only have monsters still not died out, the uncanny<br />
tends to be more monstrous than ever. Because one can<br />
no longer have it appear in the shape of superhuman<br />
forces, all that is left is for people to become scared of<br />
themselves. For just because the mythical tales are a thing<br />
of the past, this does not mean that overwhelming forces<br />
have ceased to exist or that the modern technological<br />
achievements are per se harmless.<br />
Films are the best medium to narrate modern myths<br />
because they are still young enough to represent something<br />
independent vis-à-vis the traditional medium of<br />
the book while still being conventional enough to assume<br />
a central role in culture. Finally, science fiction constitutes<br />
a special genre that is particularly suitable for<br />
mythological tales written explicitly for modernity.<br />
There, tales of mythical acts are consistently transferred<br />
to the cosmos. In the infinite depths of space travelled<br />
in the past only by Elohim and sun chariots, spaceships<br />
meet each other in science fiction on optimally<br />
charted routes. Nevertheless, they keep surrounded by<br />
the blackness of space that science fiction continues to<br />
*******<br />
Dr. Jörn Ahrens ist Kulturwissenschaftler<br />
an<br />
der <strong>Humboldt</strong>-Universität<br />
Berlin. Zurzeit forscht er<br />
als Feodor Lynen-Forschungsstipendiat<br />
am<br />
Massachusetts Institute<br />
of Technology in Cambridge,<br />
USA.<br />
*******<br />
Dr. Jörn Ahrens is a<br />
scholar of cultural<br />
studies at Berlin’s <strong>Humboldt</strong><br />
University. He is<br />
currently doing research<br />
as a Feodor Lynen<br />
Research Fellow at the<br />
Massachusetts Institute<br />
of Technology in Cambridge,<br />
USA.
Das Biest und die Schöne: Szenen aus „Alien – Director’s Cut“<br />
The Beast and the beauty. Scenes from “Alien – Director's Cut”<br />
ten des Weltraums, in denen einst nur Elohim und Sonnenwagen<br />
kreuzten, treffen in der Science Fiction Raumschiffe auf bestens kartographierten<br />
Routen aufeinander. Trotzdem bleibt drumherum die<br />
Schwärze des Weltraums, die die Science Fiction weiterhin in das Licht<br />
des Unheimlichen taucht. Weitab im Nichts des Alls lauern unaufhörlich<br />
diverse Monstren und dunkle Mächte, die im Zweifelsfall größer,<br />
mächtiger und schrecklicher sind, als die Schar kosmischer Argonauten.<br />
Über diese Form der medialen Inszenierung kann sich auch die<br />
Moderne noch ihres Selbstverständnisses vergewissern. Im Film werden<br />
mythologische Motive aufgenommen und für die zeitgenössische<br />
Konsumentenkultur transformiert. Die Mythologie der Moderne besitzt<br />
die Besonderheit, dass sie sich nicht zurückphantasiert, sondern<br />
nach vorn in einen unbekannten Zeit-Raum vorstößt. Trotzdem erzählt<br />
auch diese Mythologie <strong>von</strong> einem Ursprung, wenn die in den<br />
Weltraum katapultierten Helden auf fremde Wesen treffen und zeigen<br />
müssen, dass sie trotz all der Armaturen, mit denen sie sich umgeben<br />
haben, selbst überleben können. Dieses Muster lässt sich natürlich in<br />
zahllosen Science Fiction-Filmen antreffen, aber in „Alien“, einem heute<br />
als Klassiker des Genres verehrten Film des Briten Ridley Scott aus<br />
dem Jahr 1979, verdichtet es sich besonders stark.<br />
Gefährliche Neugier<br />
Neugierde zeichnet die Menschen in der Moderne aus. Nur durch eine<br />
uferlose, zuweilen abenteuerliche Neugier entsteht Wissen, das sich<br />
anhäuft und vermehrt und schließlich sogar die Eroberung des Weltraums<br />
ermöglicht. Das kann auch gefährlich sein und geht nicht ohne<br />
Abenteuer und Konflikte ab. So steht auch in dem Film „Alien“ am<br />
Beginn allen Unheils die Neugierde eines Besatzungsmitglieds des<br />
Raumfrachters „Nostromo“, durch die er die Aufmerksamkeit eines<br />
fremden, aggressiven Organismus auf sich zieht und diesen so mit an<br />
Bord schleppt. Dieser Organismus stammt aus einer wenig einladenden<br />
Höhle im Inneren eines gestrandeten Raumschiffs einer offenbar<br />
fremden Zivilisation. Höhlen fungieren als Reich der Toten ebenso wie<br />
als Ort des Ursprungs menschlicher Kultur, und im Schutz <strong>von</strong> Höhlen<br />
leben sowohl diverse Heroen als auch Ungeheuer im Verborgenen<br />
und warten auf ihre Gelegenheit. Auf diese Weise werden archaisierende<br />
Ursprungsphantasien und der ungezähmte neuzeitliche Wissensdurst<br />
geschickt miteinander verbunden.<br />
63 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
cast the light of the uncanny into. A multitude of monsters and dark<br />
forces are constantly lurking far away in the nothingness of space that<br />
might well be bigger, more powerful and also more terrible than the host<br />
of cosmic argonauts. This kind of medial stage management is also a way<br />
for modernity to reassure itself of its self-understanding. A film adopts<br />
mythological motives, transforming them for contemporary consumer<br />
culture. What is special about the mythology of modernity is that it does<br />
not fantasise into the past but ventures forwards, into a new time and<br />
space. Even so, this mythology also relates to an origin when the heroes<br />
catapulted into outer space encounter alien beings and have to demonstrate<br />
that they can survive in spite of all the instruments they have surrounded<br />
themselves with. Of course this pattern can be found in countless<br />
science fiction films, but in “Alien”, created by the British film director<br />
Ridley Scott in 1979 and praised nowadays as a classic of this genre,<br />
it appears in a particularly condensed form.<br />
Dangerous inquisitiveness<br />
People living in the modern world are distinguished by curiosity. Knowledge<br />
that accumulates and multiplies to eventually enable the conquest<br />
of space can only develop thanks to a boundless, perhaps even adventurous<br />
inquisitiveness. This can also be dangerous and does not progress<br />
without adventures and conflicts. In the film "Alien", too, disaster is preceded<br />
by the curiosity of a crew member on board the space cargo ship<br />
"Nostromo" because of which he attracts the attention of an alien,<br />
aggressive organism that he then carries on board. This organism comes<br />
from a hardly inviting cave inside a stranded spaceship of a clearly hitherto<br />
unknown civilisation. Caves serve as the realm of the dead as well as<br />
providing human culture’s location of origin, and both a multitude of<br />
heroes and monsters live in caves, waiting for their opportunity to come.<br />
This is a clever way of linking fantasies about the origin of life and the<br />
world that relate to archaic concepts and modernity’s unfettered thirst<br />
for knowledge.<br />
However, embarking on a successive decimation of the cargo ship’s<br />
crew, the alien itself soon proves to be even more dangerous than curiosity.<br />
Ultimately, it transpires that its getting there is by no means a coincidence<br />
but that the power of curiosity has long in advance, and in the<br />
dark, drawn its plans to see to this. The corporation that owns the space<br />
cargo ship carefully set up this coup in order to use the extremely resis-
*****************<br />
„In den unendlichen Weiten des Weltraums, in denen<br />
einst nur Elohim und Sonnenwagen kreuzten, treffen<br />
in der Science Fiction Raumschiffe auf bestens kartographierten<br />
Routen aufeinander.“<br />
*****************<br />
“In the infinite depths of space travelled in the past<br />
only by Elohim and sun chariots, spaceships meet each<br />
other in science fiction on optimally charted routes.”<br />
Als noch gefährlicher als die Neugierde erweist sich jedoch schnell<br />
das Alien selbst, das sukzessive die Besatzung des Frachters dezimiert.<br />
Schließlich stellt sich heraus, dass es keinesfalls zufällig dorthin gelangt<br />
ist, sondern jene Macht der Neugierde <strong>von</strong> langer Hand und im Verborgenen<br />
genau dafür gesorgt hat. Der Konzern, der Besitzer des Raumfrachters<br />
ist, hat diesen Coup sorgfältig eingefädelt, um die äußerst<br />
widerstandsfähige und aggressive Lebensform wissenschaftlich für die<br />
Entwicklung <strong>von</strong> Biowaffen zu nutzen. Aus diesem Grund wurde<br />
unter die Besatzung mit dem Wissenschaftsoffizier Ash auch ein<br />
Androide gemischt, der das Alien indirekt durch Unterlassung essentieller<br />
Hilfe schützt. Als <strong>von</strong> Menschen geschaffener Roboter kennt der<br />
Androide keine Gefühle, was ihn mit dem Alien verbindet. Es stellt für<br />
ihn gerade deshalb den perfekten Organismus dar, weil es vollkommen<br />
frei <strong>von</strong> Moral und Gewissen ist. Denn es sind genau diese Eigenschaften,<br />
die den Menschen verletzbar machen und damit ein mögliches<br />
menschliches Defizit darstellen. Wenn es darum geht, menschliche<br />
Moral gegen das Alien und den Androiden überlebensfähig zu<br />
machen, thematisiert der Film eine entscheidende Eigenschaft, die den<br />
Menschen sowohl <strong>von</strong> animalischen Organismen als auch <strong>von</strong> Göttern<br />
unterscheidet und nicht in technischer Kompetenz aufgeht.<br />
Letztlich handelt der Film <strong>von</strong> einem immerwährenden Kampf –<br />
nicht so sehr des Guten gegen das Böse. Denn obwohl mit dem Alien<br />
das denkbar Böse auf den Plan tritt, ist unter der Besatzung des Raumfrachters<br />
niemand ohne Abstriche „gut“. Geschildert wird ein Kampf<br />
um die menschliche Selbsterhaltung und das Überleben trotz des<br />
moralischen Makels. Begleitet werden die Menschen im Film dabei<br />
<strong>von</strong> einer fortwährenden Angst vor der Übermacht der Phänomene,<br />
denen sie ausgeliefert sind – ganz gleich ob es Natur oder Technik ist.<br />
Zwar wird mit dem Alien das Monströse wieder an ein Monster delegiert,<br />
aber zudem sind im ganzen Film weder die Kollegen noch die<br />
technischen Instrumentarien wirklich verlässlich. So zeigt sich, dass<br />
die in der mythischen Erzählung transportierten Motive <strong>von</strong> den Taten<br />
des Helden gegen Übermächte und für den Erhalt der Menschen<br />
noch immer als Misstrauen gegen die eigenen Produkte wie auch<br />
gegen Umweltbedingungen wirksam sind. Filme wie „Alien“ erzählen<br />
da<strong>von</strong>, dass dieses Misstrauen berechtigt ist und die Dämonen anwesend<br />
bleiben sowie dass es immer noch heroischer Anstrengungen<br />
bedarf, um die „conditio humana“ zu behaupten. Was Wunder, wenn<br />
der Bedarf an Erzählungen über mythologische Ungeheuer nach wie<br />
vor nicht gedeckt ist.<br />
64 >> <strong>Humboldt</strong> kosmos 86/2005<br />
tant and aggressive organism in the scientific development of bioweapons.<br />
This is why the crew also includes science officer Ash, an android<br />
that indirectly protects the alien by failing to provide essential<br />
help. As a robot created by humans, the android has no feelings, which<br />
affiliates him to the alien. To him, it represents the perfect organism precisely<br />
because it is completely free of morals and conscience. For exactly<br />
these properties make human beings vulnerable, representing a possible<br />
human deficit. When it comes to making human morals able to survive<br />
vis-à-vis the alien and the android, the film focuses on a crucial property<br />
distinguishing humans both from animal organisms and gods that has<br />
not become an element of technical competence.<br />
Ultimately, the film is about a continuous struggle – although not so<br />
much between good and evil. For while all conceivable evil enters the<br />
stage with the alien, none of the crew members are flawlessly “good”.<br />
Rather, the film shows a struggle for human self-preservation and survival<br />
in spite of moral blemishes, with the characters being accompanied<br />
by a continuous fear of the phenomena they have been exposed to gaining<br />
the upper hand – irrespective of whether they are natural or technical.<br />
Although monstrosities are once again allocated to a monster,<br />
throughout the entire film, neither the crew members nor the technical<br />
instruments are truly reliable. Thus it emerges that the motives for the<br />
deeds of the heroes against superior forces and for people’s self-preservation<br />
that are transported in the mythical tale are still effective in the<br />
shape of mistrust of one’s own products and of the environmental conditions.<br />
Films like “Alien” demonstrate that this mistrust is justified and<br />
that heroic efforts are still required to assert the “conditio humana”. Little<br />
wonder that the demand for tales of mythological monsters still exists.
>><br />
>><br />
>><br />
>><br />
>><br />
>><br />
>><br />
>><br />
Förderprogramme im Überblick Survey of sponsorship programmes<br />
Die <strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong>-<strong>Stiftung</strong><br />
verleiht jedes Jahr:<br />
bis zu 600 Forschungsstipendien an hoch qualifizierte,<br />
promovierte Wissenschaftler aus dem Ausland im Alter<br />
<strong>von</strong> bis zu 40 Jahren für langfristige Forschungsaufenthalte<br />
in Deutschland<br />
bis zu <strong>50</strong> Georg Forster-Forschungsstipendien an hoch<br />
qualifizierte Wissenschaftler aus Entwicklungsländern<br />
im Alter <strong>von</strong> bis zu 45 Jahren für langfristige<br />
Forschungsaufenthalte in Deutschland<br />
bis zu 100 Forschungspreise an international anerkannte<br />
Wissenschaftler aus dem Ausland<br />
ungefähr 20 Friedrich Wilhelm Bessel-Forschungspreise<br />
an Spitzenwissenschaftler aus dem Ausland<br />
im Alter <strong>von</strong> bis zu 45 Jahren<br />
Sofja Kovalevskaja-Forschungspreise an erfolgreiche<br />
Spitzenwissenschaftler aus dem Ausland im Alter <strong>von</strong><br />
bis zu 35 Jahren zum Aufbau eigener Arbeitsgruppen<br />
für langfristige Forschungsaufenthalte in Deutschland<br />
(Verleihung alle zwei Jahre)<br />
bis zu 1<strong>50</strong> Feodor Lynen-Forschungsstipendien<br />
an hoch qualifizierte, promovierte, deutsche Wissenschaftler,<br />
die jünger als 38 Jahre sind, für langfristige<br />
Forschungsaufenthalte im Ausland<br />
2 Max-Planck-Forschungspreise an je einen in<br />
Deutschland und einen im Ausland tätigen Wissenschaftler<br />
zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit<br />
je 10 Bundeskanzler-Stipendien für künftige Führungskräfte<br />
aus der Russischen Föderation und den USA<br />
Zuschüsse zu deutsch-amerikanischen und/oder -kanadischen<br />
Wissenschaftskooperationen in den Geistes-,<br />
Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften im<br />
Rahmen des TransCoop-Programms<br />
The <strong>Alexander</strong> <strong>von</strong> <strong>Humboldt</strong> Foundation<br />
grants annually:<br />
up to 600 research fellowships to highly qualified foreign<br />
scientists and scholars holding doctorates and aged up to<br />
40 years for long-term research stays in Germany<br />
up to <strong>50</strong> Georg Forster Research Fellowships to highly<br />
qualified scientists and scholars from developing countries,<br />
aged up to 45 years, for long-term research stays in<br />
Germany<br />
up to 100 research awards to internationally recognised<br />
scientists and scholars<br />
approximately 20 Friedrich Wilhelm Bessel Research<br />
Awards to outstanding scientists and scholars resident<br />
outside Germany and aged up to 45 years<br />
Sofja Kovalevskaja Research Awards to scientists and<br />
scholars from abroad with outstanding research records,<br />
aged up to 35 years, for establishing their own working<br />
groups for long-term research stays in Germany<br />
(awarded every two years)<br />
up to 1<strong>50</strong> Feodor Lynen Research Fellowships to highly<br />
qualified German scientists and scholars holding<br />
doctorates and aged up to 38 years, for long-term<br />
research stays abroad<br />
2 Max Planck Research Awards to a German and a<br />
foreign academic for international co-operation<br />
10 German Chancellor Scholarships each for prospective<br />
leaders from the Russian Federation and the USA<br />
Subsidies towards German-American and/or -Canadian<br />
academic research co-operations in the humanities, social<br />
sciences, economics and law under the TransCoop<br />
Programme