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<strong>Reimar</strong> <strong>Oltmanns</strong><br />

Spurensuche auf verbrannter Erde<br />

Reportagen, Berichte. Erzählungen zur Zeitgeschichte<br />

Deutschland, Europa. Südamerika, Asien, Afrika<br />

(1969-2009)


Für,<br />

Hilde, Anne, Yvonne, Carla, Jannick, Irmgard<br />

, Frankreich<br />

A-8010


Index<br />

Spurensuche .................................................................................................... 1<br />

Vorwort<br />

1969 ................................................................................................................ 3<br />

Kindesmisshandlungen in Deutschland<br />

1970 ...............................................................................................................13<br />

Allah und Armee in Algerien<br />

1971 ...............................................................................................................23<br />

Pest dieser Jahre: Rauschgift<br />

1972 ...............................................................................................................29<br />

Brandstifter der Demokratie<br />

Petra Kelly: Gewaltfreier Widerstand<br />

Deutschland – Deine Nazis<br />

Didacta 72 – Utopia 72<br />

Leben eines Bänkelsängers: Dietrich Kittner<br />

Kanzlersturz Willy Brandts - ein Politiker namens Helms<br />

Kirche in der Nazi-Zeit: Entzauberung einer Legende<br />

SPD-Ausverkauf – Der Mann, der Zeitungen sterben ließ<br />

Am Vorabend der Emanzipation: Eine Frau zum Vorzeigen<br />

1973 ...............................................................................................................67<br />

Streit der Witwen um die „Frankfurter Rundschau“<br />

High noon in Bonn – Parteiverdruss – Parteiprofil<br />

Deutsche Entwicklungshelfer in Afrika – Sextriebe<br />

SPD-Totengräber von 21 Zeitungen<br />

Politik-Karrieren: Geldgier, Betrug, Bestechung, Spionage<br />

1974 ...............................................................................................................85<br />

Lehrlinge in Deutschland: billig und ausgebeutet<br />

Nach den APO-Jahren – nun büffeln sie wieder an den Unis<br />

Bundeswehr – Bargeld, Ehre und Karriere<br />

Axel Springer: nun ade du schöne Welt<br />

Bonner Polit-Affären: „Nur Weiber im Kopf“<br />

Sturmfest und erdverwachsen – so sind die Niedersachsen<br />

Malawi – weiße Herrenmenschen oder Gelder, die im Busch verschwinden<br />

1975 .............................................................................................................127<br />

Deutsche Spätaussieder – Heim ins Reich<br />

Polen – Aufruhr gegen Genossen Gierek<br />

Nazi-Vergangenheit ist Gegenwart – Karrieren<br />

Kriegsdienstverweigerer: Schieß oder du kommst in den Knast<br />

Sittengemälde – Professoren bitten zur Kasse<br />

Zeitgeschichte (1) – Wenn DDR-Bürger schwimmen gehen<br />

Zeitgeschichte (2) - Ende einer Utopie – rote Uni Bremen geht baden<br />

Zeitgeschichte (3) – Heidelberg im Bürgerkrieg. Unwohlsein in Wohlstands-Idyllen<br />

Rechtsradikale in Deutschland – vom Staat finanziert


1976 .............................................................................................................165<br />

Deutsche Arbeitsgerichte : Urteile im Drei-Viertel-Stunden-Takt<br />

Zeitgeschichte (4): Herbert Wehner alte Mann im Wahlkampf in der alten Bundesrepublik<br />

Kirchen <strong>als</strong> Wahlhelfer: „Mit den besten Wünschen Euer Pfarrer“<br />

Zeitgeschichte (5): Verfolgt, verboten, geduldet – Kommunisten in Deutschland<br />

Zukunfts-Roman: Putsch in Deutschland<br />

Berufsverbote - Aufrüstung gegen die Freiheit<br />

1977 .............................................................................................................217<br />

Terrorismus – Deutschland im Herbst<br />

Argentinien – verhaftet, verschwunden<br />

Indonesien – Endlösung auf Buru<br />

Afrika – Massenmorde unter schwarzen Diktatoren<br />

Chile – Foltergeneral Augusto Pinochet (*1915+2006)<br />

Lettland – Unter roten Zaren verbannt<br />

Folter in dieser Welt: Jeder kann der Nächste sein<br />

Israel – Sippenhaft im Land der Bibel<br />

Iran – von Deutschland verraten, vom Schah verfolgt<br />

Brasilien – Furchtlose Kirche gegen Barbarei<br />

Uruguay – Das KZ, das Freiheit heißt<br />

1978 .............................................................................................................305<br />

Freiheit in Deutschland – Die Feinde der Verfassung<br />

Sowjetunion (1) Staatspräsident in Prag ist geisteskrank<br />

Sowjetunion (2) „Ich schäme mich, ein Psychiater zu sein“<br />

Sowjetunion (3) Leidensweg des Generalmajors Pjotr Grigorenko<br />

1979 .............................................................................................................335<br />

Einwanderung: „Wir wollen Deutsche werden“<br />

Bundeswehr: Die Bierfahnen der Armee<br />

Revolution des Règis Debray mit einer Amour foux<br />

Psychiatrie : In den Alsterdorfer Anstalten zu Hamburg zerbrochen<br />

Mörder unter uns – Aus deutschen Landen<br />

1980 .............................................................................................................367<br />

Berlin im Kalten Krieg: lebenslustig und kunterbunt<br />

Jungsozialisten – Was sie wollten, wer sie sind<br />

Alternatives Deutschland: Die Würde des Sponti est unantastbar<br />

Frührentner im Jugendfreizeitheim „Gelse“ in Berlin<br />

Ausgewandert in die Hoffnung – Landkomunen<br />

1981 .............................................................................................................415<br />

Peepshow und Bürgerkrieg – die Frankfurter Buchmesse<br />

Am Strand von Tunix<br />

Puma und Adidas – Krieg der Tröpfe<br />

Jugendcliquen in Deutschland<br />

1983 .............................................................................................................447<br />

Wirtschaft der alternativen Szene


1984 .............................................................................................................459<br />

Betrogene Betrüger: größtes journalistisches Gaunerstück<br />

Voilà, das ist Monsieur Möllemann (*1945+2003)<br />

1986 .............................................................................................................475<br />

Die Bonner Republik – Verlust an Wirklichkeit<br />

1987 .............................................................................................................483<br />

Deutschland von übermorgen: Frankfurts City<br />

1988 .............................................................................................................497<br />

Saufgelage in Ossis Bundeshaus-Bar in Bonn<br />

1989 .............................................................................................................503<br />

Propaganda-Minister oder der häßliche Deutsche<br />

Politik-Darsteller verborgener Sehnsüchte<br />

1990 .............................................................................................................515<br />

Frauen-Macht : Partisanin des permanenten Aufbruchs<br />

Politik-Karriere braucht einen Fernseh-Mann<br />

Kalter Krieg der Männer<br />

1992 .............................................................................................................561<br />

Frankreich: Geschichten in gemeinsam erlebter Einsamkeit<br />

Viva Maria, arriverderci Macho - Frauen erobern Italien<br />

1993 .............................................................................................................571<br />

Entenhausen liegt an der Saône<br />

Fremd im eigenen Land<br />

Scarlett: nachts auf See, tagsüber im Komitee<br />

Im Club der Nukleokraten<br />

1994 .............................................................................................................589<br />

Gekämpft, gesiegt, vergessen – französische Widerstandskämpferinnen<br />

Bordellkultur von einst – Drangsal mit der Prostitution<br />

Fremdenlegion: „Alles ist besser <strong>als</strong> die Heimat“<br />

Mademoiselle chante les blues – Patricia Kaas<br />

Air France-Pilotin - „Sei schön und halte den Mund“<br />

1995 .............................................................................................................611<br />

Katholische Kirche – „Beim nächsten Papst wird alles anders“<br />

Wallfahrten zu Charles de Gaulle (*1890+1970)<br />

Museen, Grands Palais – „Frische Luft für die Gesellschaft“<br />

Frankreichs Première Dame, die Grenzen überschritt<br />

1996 .............................................................................................................627<br />

Grösstes Frauen-Gefängnis Europas – Väter, Freier, Wärter<br />

Armut in Frankreich: Freier Fall ins Elend<br />

SOS-Attentats: Keine Zeit für Wut und Tränen<br />

1997 .............................................................................................................643<br />

Gewalt in Familien, misshandelte Französinnen<br />

2005 .............................................................................................................649<br />

Detemido – torturado – desaparecido – Elisabeth Käsemann


2007 .............................................................................................................655<br />

Elisabeths Badinters Rendezvous mit der Zukunft<br />

2008 .............................................................................................................661<br />

Zeitgeschichte: Reiche Kommunisten von einst -<br />

Unaufhaltsamer Niedergang der PCF in Frankreich<br />

2009 .............................................................................................................673<br />

Matriarchat in Deutschland und seine Folgen


Vorwort<br />

Spurensuche<br />

« Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten<br />

Unmündigkeit » Immanuel Kant aus dem Jahre 1784<br />

Reportagen biegen Wirklichkeiten nicht zurecht, lassen sich nicht in erwartete<br />

ideologische Grundraster und Grundannahmen zwängen – sie sprengen deren Rahmen. Die<br />

klassische Reportage ist geeignet, gravierende, symptomatische Abläufe gleichsam vergangener<br />

Jahrzehnte nach außen zu kehren ; Geschehnisse, die uns auf die eine oder andere Weise immer<br />

wieder beschäftigen, Vorkommnisse, die sich in unser Gedächtnis eingenistet haben.<br />

Spuren gilt es zu sichern , nicht alles den Trampelpfaden zu überlassen. Spurensicherung<br />

nach kleinen Menschen vergangener Epochen, längst verschütterter Schicksale, die uns doch einst<br />

auf irgendeine Weise berührten, prägten ; Fährten und Beschreibungen aus Deutschland,<br />

Frankreich, Italien, Südamerika, Afrika, Asien – vielerorts.<br />

Meine Milieu-Beschreibungen und Berichte über die Mächtigen, Verbannten wie<br />

Ausgesperrten in vielen Ländern, in ihren Epochen belichten die Wirklichkeit, zeigen Denkweisen,<br />

Gefühle, Ohnmachts-Momente und Handlungs-Abläufe einer scheinbar vergangenen Ära.<br />

Vorgeblich – Schauplätze, gar Anlässe mögen sich verändert haben, Grundbedingungen,<br />

Kreislaufspiralen zwischen Ursache und Wirkung hingegen - die sind geblieben. Sie schaffen sich<br />

fortwährend ihre eigene Aktualität. Noch immer hungern Abermillionen von Menschen, hat sich<br />

die Schere zwischen arm und reich bedrohlicher, krasser geöffnet – werden weltweit mit Folter<br />

durch Psychopharmaka « Geständnisse » erpresst, begleiten bestialische Kriege unser Dasein.<br />

Fortschritt ?<br />

Vier Jahrzehnte sind kein Tag – was wir wollten, was wir aus uns- und mit unserer<br />

Identität gemacht haben – oder einfach geschehen liessen ; Fragmente, Zerstückelung, Fratzen. Die<br />

politische Routine in nahezu allen Hauptstädten der Welt entpuppt sich zunehmend geschmeidiger,<br />

konturloser zu einer TV-soap in einem spanischen Zeremoniell des Proporzes. Die Wirklichkeit,<br />

der Alltag in den beschriebenen Ländern indes – dort draußen in Provinzen, Regionen – folgen<br />

ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit, den Lebensgefühlen, Erfordernissen – auch Verzagtheiten von<br />

Menschen, die wir sprachlos am Wegesrang stehen lassen. Ihnen galt meine Aufmerksamkeit. Aus<br />

Jahren des Protests, des Aufbegehrens, des beherzten Hinterfragens widersprüchlicher Aufrisse ist<br />

eine Epoche des Überdrusses, Verdrusses – eben sattsamer Gleichgültigkeit des Fühlens und<br />

Eintönigkeit des Denkens geworden. Deshalb sind Rückblicke, Rückbesinnungen wichtiger denn<br />

je ; vielleicht für eine Neu-Orientierung. Hoffnung ?<br />

Deutschland, in dem ich aufwuchs und lange Jahre meines Lebens verbrachte, war mir<br />

nie gleichgültig. Aber die Jahre des Protests, des Aufbegehrens „im langen Marsch durch die<br />

Institutionen“ hat sich zu alljärlichen „Osterspaziergang“ des Johann Wolfgang von Goethe der<br />

Selbstdarsteller entwickelt . Ernüchterung ?<br />

Dieses Buch « Spurensuche » von nahezu vier Jahrzehnten ist ein Stück<br />

Geschichtsbegleitung, Reportagen <strong>als</strong> Geschichtsbeschreibung. Das zu einer Zeit, in der weltweit –<br />

US-Präsident Barack Obama ausgenommen – auffallend weniger politisch<br />

1


schöpferische »Talente » in Staatsämter drängen – ein Mittelmaß sich daran macht,<br />

« Wohlstandssicherung » nach dem globalen Finanzkollaps zu betreiben. Im Namen der Freiheit<br />

und gegen den allgegenwärtigen Terrorismus schränken Politiker weltweit einst bitter erkämpfte<br />

Freiheitsrechte immer mehr ein, werden Unschuldsvermutungen eines jeden Bürgers allmählich ins<br />

Gegenteil verkehrt. Was der Sicherheit zugefügt, geht der Freiheit ab. Grundlagen für einen<br />

autoritären, alles und jeden kontrollierenden Überwachungs-Kontinent sind längt gelegt ; für<br />

Europa und insbesondere für Deutschland gilt sie allemal.<br />

Spiel mit dem Feuer – « Liberty dies by inches – Freiheit stirbt zentimenterweise » und<br />

das Rückgrat bricht knorpelweise .<br />

R.O. Seillonnaz (France) Mai 2009<br />

2


Kindesmisshandlungen in Deutschland<br />

1969<br />

3


ALLTAG IN DEUTSCHLAND - ELTERN MISSHANDELN<br />

IHRE KINDER – ERWACHSENE SCHLAGEN IMMER<br />

WIEDER ZU<br />

Dieser Report wurde vor nahezu vier Jahrzehnten geschrieben. Er ist aktueller denn je.<br />

Gewalt gegen Kinder - Kindesmisshandlungen , Kindesmissbrauch, körperliche Gewalt,<br />

sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene vielerorts; in Familien, Heimen, in Schulen. Dieser<br />

Bericht belegt, dass sich in Deutschland nur wenig ändern mag. Die Gesellschaft schaut<br />

verschämt weg, die Politik belässt es bei Lippenbekenntnissen, Betroffenheits-Gestik<br />

genannt; Finanznot überall, es fehlt an Sozialpädagogen, an Heimplätzen, an<br />

Etatzuweisungen. Nichts, so will es scheinen, wendet sich zum Besseren - Menschenrecht<br />

ist auch Kinderrecht. Immerhin soll seit 2005 ein so genanntes "Frühwarnsystem" greifen,<br />

wonach bei Eskalationsgefahr sofort geholfen werden kann. Entspannung in Sachen<br />

Kinderschutz ist jedoch nicht in Sicht: Im Jahre 2008 waren von neun Millionen Kindern in<br />

Deutschland insgesamt 1,42 Millionen schwersten Züchtigungen und körperlichen<br />

Gewaltattacken ausgesetzt; etwa zwei Kinder sterben wöchentlich an den Folgen ihrer<br />

Misshandlungen - weltweit sind es 50.000 - Jahr für Jahr.<br />

"Ausholen ist so gut wie geschlagen" Sprichwort aus Afrika<br />

Cuxhavener Zeitung 30. Dezember 1969 / 8. Oktober 2009<br />

Was ist das nur - Folter, Kindesmisshandlung - vielleicht sogar Erziehung? Kinderrechte<br />

haben in Deutschland immer noch keinen offiziellen, verbindlichen Status. Kinder können wie<br />

Freiwild ausgeliefert sein - Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit; von wegen<br />

Menschenrechte, Kinderrechte. Das geschieht in diesen Tagen, Monaten und Jahren; einmal,<br />

immer wieder - unaufhörlich. Ein "Normalfall" in deutschen Familien. - Wutentbrannt schlug der<br />

36-jährige Vater Conrad, Zollbeamter in der Seehafenstadt Emden, mit geballten Fäusten auf<br />

seinen Stiefsohn ein. Immer wieder stieß er ihn mit dem Kopf gegen die abgedunkelte Wand, riss<br />

den scheinbar leblosen Körper empor - schleuderte ihn mit aller Kraft auf den Kokshaufen im<br />

Heizungskeller. "Wenn du willst, kannste noch mehr haben, du elender Krüppel." Er fauchte und<br />

fauchte - versetzte gleichzeitig dem elfjährigen Kind einen Fausthieb. Bewusstlos lag der Junge<br />

Gregor da. Augen zugeschwollen, Lippen aufgeplatzt. Was war geschehen? Gregor hatte gewagt,<br />

seinem Stiefvater Conrad zu widersprechen, wollte erst draußen auf den Straßen Fußball bolzen,<br />

bevor es an die Schularbeiten geht.<br />

Eine klassische Kindes-Misshandlung in diesem Land, die keiner besonderen Erwähnung<br />

bedarf. Zu Tausenden, zu Hunderttausenden kommen Gewaltausbrüche gegen Jungen wie<br />

Mädchen daher- zu alltäglich. Achselzucken vielerorts. Da mag sich kaum einer darüber empören -<br />

Alltag in Deutschland, Gewalt-Alltag, Fernseh-Alltag. Weder Nachbarn noch Schule nahmen<br />

Anstoß am entstellten, deformierten Gesicht des Jungen. Berührungsängste eines scheinbar<br />

intakten Milieus mit Familien, in denen es drunter und drüber geht, wo "Hempel unter dem Sofa<br />

schläft". Das Jugendamt schaltete sich erst ein, nachdem schon Jahre vergangen waren.<br />

Wiederholungsfälle eingeschlagener Gesichter im Schul-Unterricht, an die man sich dann doch<br />

nicht gewöhnen wollte.<br />

In Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde mit einer ansonsten ausgeprägten<br />

Kultur der Rechtsstaatlichkeit, gilt für Kindererziehung das Recht der Germanen etwa 120 Jahre<br />

4


vor Christus immerfort - unausgesprochener Weise in seiner Mentalität versteht sich. Fernab vom<br />

bürgerlichen Gesetzbuch dieser Tage hatte bei den Germanen der Vater die Straf- und Zuchtgewalt<br />

gegenüber seinen Zöglingen. Er konnte über Leben und Tod willkürlich entscheiden. Er hatte das<br />

Recht, sie nach der Geburt auszusetzen, sie zu verstoßen, zu verknechten, zu verkaufen oder zu<br />

töten. Erst mit Übergang von der Groß- zur Individualfamilie sollte sich das grauvolle<br />

Gewaltverhältnis ändern, lindern, schrieb die einst profilierte Gerichtsmedizinerin Elisabeth Trube-<br />

Becker von der Universität Düsseldorf. Die einzige Grande Dame der deutschen Rechtsmedizin<br />

hatte sich Zeit ihres erfolgreichen Wirkens der wissenschaftlichen Aufklärungsarbeit auf dem<br />

Gebiet der Kindtötungen und - misshandlungen verschrieben. - Lichtblicke.<br />

Nachdem der Junge Gregor wieder zu sich gekommen war, quetschte er sich mit blutigem<br />

Gesicht, aufgeschlagenen Lippen durch eine Kellerluke, flüchtete aus dem Elternhaus. Gregor<br />

rannte durch die halbe Stadt zu seinem Lehrer Edmund Erdmann. Der Junge weinte, redete und<br />

weinte. Doch auch dieser hatte Angst, Prügel zu beziehen. Junglehrer war er, gerade von der<br />

Pädagogischen Hochschule auf die Schulklasse losgelassen. Erdmann brachte seinen Schüler<br />

jedenfalls zum Vater zurück, beschwichtigte den Jungen, bestärkte den Gewalttäter in seinem<br />

"Erziehungsauftrag", ganz nach dem Motto "eine Ohrfeige hat noch niemanden geschadet". Für<br />

ihn war der "Fall Gregor" damit erledigt, "sonst", so der Edmund Erdmann später, "hätte ich wohl<br />

möglich auch noch Kloppe bezogen. Wir sind doch Pädagogen und kein Polizeikommando."<br />

Die Mutter indes wollte ihren Ehemann zur Rede stellen. Auf erregte Fragen bekam<br />

sie Antworten. - Prügel-Antworten. Ihr Mann schlug wieder zu - dieses Mal Frau wie Kind. Sie<br />

kassierte oft Ohrfeigen, ohne Vorgeplänkel, ohne Ansatz, einfach nicht auszumachen wie aus<br />

heiterem Himmel. Sie sagte nichts, schminkte sich. Beim Einkauf auf dem Gemüsemarkt am<br />

kommenden Tag lächelte sie vorsorglich sehr stolz den Weg entlang. Prügel <strong>als</strong> Familien-Geheimis.<br />

Selbstaufgabe. Seine Mutter war es auch, die Gregor Beruhigungsmittel, Schlaftabletten<br />

verabreichte. Denn am nächsten Morgen sollte der Junge ja in der Schulklasse wieder wie gewohnt<br />

mit seinem Finger lebendig schnipsen können. Spalierstehen war stattdessen angesagt, neugieriges<br />

Spalierstehen für einen gepeinigten Zehnjährigen. Kindergewalt, Gelächter auf dem Schulhof,<br />

Gekichere im Klassenzimmer bei solch einem zerdepperten Gesicht. Wo eben der private Sender<br />

"TV-Brutal direkt" auf dem Schulhof drehte, da stand irgendwie plötzlich der kleine zerbeulte<br />

Gregor mit seiner geschundenen Visage im Mittelpunkt.<br />

Szenenwechsel - von der Hafenstadt im Ostfriesischen an den Rand des Teutoburger<br />

Waldes - mit dem Eilzug von Emden-West nach Osnabrück HBF. Im Rahmen der "freiwilligen<br />

Jugendhilfe" war dann doch das Fräulein Pausepohl mit ihrer obligat-akkuraten Knotenfrisur <strong>als</strong><br />

Fürsorgerin in dieser Epoche aktiv geworden, hatte für Gregor kurzerhand in einem evangelischen<br />

Kinder- und Jugendheim ein Plätzchen ergattern können. Heimjahre - das waren keine<br />

Kinderjahre, eher schon Bett- oder auch Sexjahre unter kirchlicher Obhut. Das Gebäude, ein hförmiger<br />

Betonkasten in der Größe eines Fußballplatzes mit 98 Fenstern, lag draußen an der Stadt-<br />

Peripherie, eingezäunt zwischen Wald und Acker. Weit und breit nur Wiesen, Lehmwege; ein<br />

Getto, aus dem es kein Entkommen, kein Abhauen gab. Mit ihrem Fernglas auf dem Balkon hatte<br />

Heimleiterin Gertrude Timmermann das vermeintlich ganze Fluchtareal unter Kontrolle, konnte<br />

blitzschnell wegrennende Jungs wie Karnickel ausmachen, aufscheuchen, mit einem dreimonatigen<br />

Stubenarrest bestrafen. Da hockten die geschlagenen, geschundenen Kinder nun in ihren<br />

eingezäunten Zimmern vom "Haus Neuer Kamp" zu Osnabrück, dem vorzeigbaren, erlesenen<br />

Heimneubau der evangelischen Kirche. Meist erzählten sie sich, wenn sie überhaupt redeten, und<br />

nicht durch die Verabreichung von Tranquilizer ruhig gehalten wurden, dann redeten sie von ihren<br />

5


Geschichten, den Gewalt-Geschichten, eine obszöner <strong>als</strong> die andere - der Stephan aus Hannover,<br />

der Ronald aus Berlin, die Karin aus Celle oder auch Ilona aus Iserlohn, der Gregor aus Emden;<br />

keiner war mal gerade älter <strong>als</strong> zwölf Jahre.<br />

Dabei schilderten sie ihre sexuellen Kinder-Erlebnisse - Ur-Geschehnisse mal eben so mit<br />

einer scheinbaren Lockerheit, auch arglosen Unbekümmertheit, <strong>als</strong> hätten sie sich gerade einen<br />

Haribo-Lutscher gekauft. Sie hatten sich sehr oft im Halbkreis aufzusetzen und aus ihrem<br />

Liederheftchen "Mundorgel" zu trällern. Da lagen sie "vor Madagaskar und hatten die Pest an<br />

Bord" oder sie sangen "kein schöner Land in dieser Zeit, <strong>als</strong> hier das unsere weit und breit". Jeden<br />

Morgen vor dem Frühstücksgebet, so wollte es das Heim-Ritual, galt es ein besonders zutreffendes<br />

Liedchen zu schmettern; "Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König." -<br />

Re<strong>als</strong>atire oder bittere Ironie ausgegrenzter Kinder-Jahre. Allabendlich zur Gebets-Andacht vor<br />

dem Zubettgehen hatten sie in der Heimhalle ihren Segen mit sauberen Fingernägeln abzuholen<br />

und zu summen "Herr erbarme dich" ... ... Das war am Sonnabend immer so, bevor des Nachts<br />

schwanzpralle Erzieher während ihres Nachtdienstes zu den Jungs unter die Bettdecken krochen<br />

oder sich Kindergärtnerinnen ihre Nylon-Strumpfhosen von kleinen Mädchen abpellen ließen.<br />

Verschieden waren ihre Anlässe fürs Heim-Asyl, die Szenerien blieben austauschbar:<br />

Gewalteinwirkungen, Handkantenschläge, Fausthiebe und Tritte, sexuelle Abrufbarkeit, sexuelle<br />

Beliebigkeit hatten hinlängliche Spuren hinterlassen - seelische Fußabdrücke, auch<br />

Bindungslosigkeit des Kommens und Gehens genannt. Und wieder waren es nahezu ausnahmslos<br />

Männer mit Klapperlatschen und manierlich blank rasierten Beinen - Frauen mit Knotenfrisuren,<br />

wie einst in der Nazi-Zeit, die auch hier noch fortlaufend ihr Kommando im Namen evangelischer<br />

Pastoren führten. Ein Knoten beim Wecken, ein Knoten bei der Essensausgabe der Suppenkübel,<br />

ein Knoten im Büro, ein Knoten beim Abendlied und letztlich der aufgemachte Knoten im Bett.<br />

Die allgegenwärtig plötzlich auftauchende Knotenfrisur in den sechziger Jahren war schon<br />

irgendwie ein Synonym für ein fortlebendes Mode-Überbleibsel aus einer braunen Epoche;<br />

wenigstens das. - Unbeherrschte , unnahbare, launische Nazi-Fräuleins in Heimen jugendlicher<br />

Fürsorge; hin und wieder gibt es einen kurzen Schlag ins Gesicht oder mit dem Bügelbrett-Lineal<br />

eins auf die Finger. Scheinbar ewig wirken ihre immer und immer wieder ausbrechenden<br />

Brüllereien nach; auf den endlos langen, nie enden wollenden schallgedämpften, abgedunkelten<br />

Fluren. Wer hier überleben wollte in diesem ausgegrenzten Kinder-Getto kleiner Mädchen wie<br />

Jungs - und das wollten eigentlich alle - hatten sehr schnell im Flüsterton sprechen lernen müssen:<br />

Wer sich hier von Erzieherinnen oder Erziehern, aber auch abkommandierten Kalfaktoren nicht<br />

ficken lässt, der hat schon verloren. Augenzwinkern. Achselzucken. Bedrohung. Punktum.<br />

Es war die in der Schweiz lebende Kindheitsforscherin Alice Miller ("Das Drama des<br />

begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, 1979) die darauf dezidiert hinwies: dass<br />

auch ohne vitales Erinnern die Langzeitfolgen von Gewalt, sexuellem Missbrauch latent in Körper<br />

und Seele lauern, dort eine bedenkliche Eigendynamik freisetzen können. Pfade am<br />

gesellschaftlichen Wegesrand waren somit vorgezeichnet. Mit anderen Worten: Hier sorgte eine<br />

wegschauende Gesellschaft dafür, wie sie aus dem Gewalt-Opfer Kind, ausweglos Täter späterer<br />

Jahre macht: Gewalt gegen sich selbst, Gewalt gegen andere. Alice Miller meint: Um solche<br />

Gefahren-Potenziale zu verhindern sei es für solche Kinder wichtig, im Laufe ihres<br />

Erwachsenenwerdens die eigenen authentischen Gefühle von Schmerz in der Kindheit zu<br />

erkennen, und vor allem sie zu verarbeiten. Ohne dieses präzise Erinnern, jenes erneute Erlebbare<br />

sei ein Bezug zur eigenen Geschichte, zum eigenen Geschehen versperrt. Meist ist eine<br />

schonungslose, oft beherzte wie auch schmerzhafte Offenheit zum hastig Verdrängten der Beginn<br />

6


einer langwierigen Entwicklung, die die Seele erstarken lässt. - Kärrnerarbeit. Befreiung. Wer aber<br />

hat dafür das Geld, wer mag schon solche seelische Anstrengungen, Irritationen, mitunter<br />

Verzweifelung aus sich nehmen? - Die wenigsten.<br />

Kindesmisshandlungen sind alltäglich, werden <strong>als</strong> solche kaum wahrgenommen, nur<br />

äußerst selten erkannt - und das im Allgemeinen auch nur, wenn sie einen tödlichen Ausgang<br />

haben. Professor Ulrich Köttgen (*1906+1980), Direktor der Mainzer Kinderklinik, stellte in<br />

seinen Untersuchungen fest, dass die Dunkelziffer bei Kindesmisshandlungen, Kindesmissbrauch<br />

ungewöhnlich hoch ist und allenfalls etwa fünf Prozent der Fälle vor Strafrichtern landen. In der<br />

Regel werden Kinder von Mitgliedern im engsten Familienkreis misshandelt. Die Öffentlichkeit<br />

erhält in jene sorgsam kaschierte Grauzone kaum einen Einblick. Günther Bauer, Kriminaloberrat<br />

im Bundeskriminalamt in Wiesbaden, analysierte insgesamt 56 Fall-Beispiele. Aus diesen filterte er<br />

die Erkenntnisse, dass die Tatbestände der Kindesmisshandlungen weitgehend verschleiert werden.<br />

Kinder leben tage- oder wochenlang eingesperrt, damit fremde Personen etwaige Verletzungen<br />

nicht bemerken können.<br />

Auch wird den Kindern unter Androhung einer schweren Strafe strikt verboten,<br />

irgendetwas über die oft zerrütteten häuslichen Verhältnisse draußen etwa in der Schule zu<br />

erzählen. Und nicht nur dies: Während der Misshandlungen stellen Eltern oft Radio- und<br />

Fernsehgeräte lauter, damit Schreie, Hilferufe, Schmerz-Gestöhne übertönt werden. Ohnmacht der<br />

Kinder im Verbund mit einem festen elterlichen Autoritäts-Zugriff führen dazu, dass die<br />

Misshandelten selbst nie Anzeigen erstatten - zu eingeschüchtert, zu verängstigt. Kriminalist<br />

Günther Bauer resignierte: "Kinder nehmen die fürchterlichen Misshandlungen durch ihre Eltern<br />

quasi wie ein Naturgesetz hin."<br />

Eine Vorkriegs-Statistik des "Vereins zum Schutze der Kinder vor Ausnützung und<br />

Misshandlung" belegt<br />

� dass in 18 Prozent der Fälle den misshandelten Kindern jeder Verkehr mit<br />

familienfremden Personen und jede Beantwortung einer an sie gerichteten Frage<br />

verboten war;<br />

� dass in 17 Prozent der Lautsprecher des Rundfunkgerätes angestellt, der Wasserhahn<br />

aufgedreht oder der Kopf des Kindes auf ein Kissen gedrückt wurde, damit kein<br />

verräterischer Laut nach draußen drang;<br />

� in 36 Prozent der Fälle wurden die Kinder nicht aus der Wohnung gelassen, solange<br />

an ihren Körpern noch Gewalt-Spuren, Blut-Spuren zu sehen<br />

� und in 22 Prozent der Fälle wurden Kinder derart eingeschüchtert und in ihren<br />

Ängsten umgedreht, dass sie selbst im Falle ihrer Wegnahme aus dem Elternhaus<br />

leugneten, gequält, geschlagen, misshandelt worden zu sein.<br />

In den Jahren 1955 bis 1965 wurden im Institut für Gerichtliche und Soziale Medizin der<br />

Universität Kiel die Leichen von 380 Kindern unter 14 Jahren obduziert; darunter zwölf Fälle<br />

aktiver, grober Misshandlungen und sieben Schicksale sträflicher Kinder-Vernachlässigungen. Als<br />

Ursachen für Todesfolgen standen Kopfverletzungen an erster Stelle, davon drei in Verbindung<br />

mit sicher nachgewiesener Fettembolie. Aber immerhin: Jährlich werden etwa 300 bis 400 Fälle von<br />

Gewalt an Kindern in der Bundesrepublik strafrechtlich verfolgt und etwa in der Hälfte der Fälle<br />

gerichtliche Urteile gesprochen. Es ist aber gerade die Statistik, die sehr ungenau geführt wird,<br />

allgemeine Rückschlüsse verwässert. Viele schwere Vorkommnisse in Sachen<br />

7


Kindesmisshandlungen werden unter der Rubrik "Gefährliche Körperverletzung" oder<br />

"Körperverletzung mit tödlichem Ausgang" verbucht. Somit gelingt es immer wieder, die<br />

eigentliche Dramatik oder auch den Sprengsatz kindlicher Opfer zu vernebeln. Untaten an Kindern<br />

werden nämlich nicht nur nach den Bestimmungen des §223b des Strafgesetzbuches geahndet,<br />

sondern sie können sich rechtlich zugleich <strong>als</strong> schwere Körperverletzung (§ 224 StGB) mit<br />

tödlichem Ausgang (§ 226 StGB) sowie auch <strong>als</strong> Totschlag (§ 212 StGB) darstellen. Gleichwohl<br />

kommt es bei derlei Interpretationsspielräumen in erster Linie auf das "Problembewusstsein und<br />

die Erkenntnisfähigkeit der Richter an, ob sie eine rohe Misshandlung" konzedierten oder auch<br />

nicht", relativiert der Jurist Wilhelm Stille vom Deutschen Kinderschutzbund (gegründet 1953) den<br />

Paragrafen-Schutz-Schirm. Stille: "Vielen Juristen ist ihre Weltfremdheit ins Gesicht geschrieben.<br />

Wie sollen sie da den Dunst familiärer Zerbrechlichkeiten und ihre Auswüchse an sich<br />

herankommen lassen? Ein Unding"<br />

Im Rückblick wurden in der Bundesrepublik zwischen 1950 bis 1960 exakt 2.175 Täter<br />

wegen Kindesmisshandlung abgeurteilt; mit Geldstrafen, Gefängnis und Zuchthaus. Sicherlich<br />

wären zu einer größeren Anzahl von Gerichtsurteilen gekommen, wenn Ärzte nicht der<br />

Schweigepflicht unterlägen. Es war der damalige Justizminister Gustav Heinemann (*1899+1976;<br />

Bundesminister der Justiz 1966-1969), der die deutschen Mediziner zu mehr Courage aufforderte,<br />

indem er wiederholt auf die gültige Rechtslage verwies. Gustav Heinemann am 17. März 1967 vor<br />

dem Deutschen Bundestag: "Ein Arzt darf trotz seiner ärztlichen Schweigepflicht die Polizei oder<br />

die Jugendämter über die ihm bekannt gewordenen Kindesmisshandlungen informieren."<br />

In jedem Fall sind die öffentlich ermittelten Daten sehr ungenau. Sie sind kein<br />

zuverlässiger Gradmesser für die Verrohung des Umgangs der Familien in diesem Land.<br />

Quantitative Größenordnungen sagen allzu oft wenig über die qualitative Tragweite aus - nämlich<br />

einer familiären Erosion, deren Folgewirkungen noch nicht abzuschätzen sind. Kinder-Anwalt<br />

Wilhelm Stille notierte im Mitteilungsblatt des Deutschen Kinderschutzbundes: "Aus unserem<br />

Bewusstsein ist der Kinder-Klaps, der nicht schaden kann, nicht rauszukriegen. Wenn man aber<br />

erkennen muss, dass in einer Reihe von Ereignissen durch ein frühes Eingreifen manches Unheil<br />

hätte verhindert werden können, so darf man auch an dem Problem der ärztlichen Schweigepflicht<br />

nicht vorbeigehen. ... ...".<br />

"Es ist bekannt, dass Eltern und Erziehungsberechtigte versuchen, bei Verletzungen<br />

durch Misshandlungen die Ärzte zu täuschen, zu belügen. Es werden die raffiniertesten Mittel<br />

benutzt. Schwere Verletzungen werden <strong>als</strong> Sturz von der Treppe, vom Stuhl oder Fallen auf den<br />

Fußboden, Verbrennungen und auch Erfrierungen werden mit unglücklichem Zufall,<br />

entschuldbarem Irrtum oder eigenem Verschulden des Kindes erklärt. Es sind Fälle bekannt<br />

geworden, in denen Kinder während einiger Monate mehrfach mit Spuren von Misshandlung<br />

jeweils in eine andere Klinik eingewiesen wurden, ohne dass man der Sache auf den Grund<br />

gekommen war."<br />

Originalton einer Frau, einer Wissenschaftlerin dazu aus den siebziger Jahren.<br />

Zeitgeschichte oder Aktualität ? Lang ist es her, Jahrzehnte um Jahrzehnte - geändert hat sich<br />

wenig, konstatiert Elisabeth Trube-Becker: "Wahllos wird von grausamen Eltern mit allen nur<br />

erreichbaren Gegenständen auf das Kind eingeschlagen, mit Riemen, Peitschen, Stöcken,<br />

Kohlenschaufeln, Kochlöffeln, Feuerhaken etc. Unerschöpflich ist die Fantasie beim Ersinnen von<br />

Grausamkeiten, um dem gequältem Kind Schmerzen zuzufügen: stundenlanges Stehenlassen, Aufund<br />

Abmarschieren während der Nacht, auf den heißen Ofen setzen, Überbrühen mit heißem<br />

Wasser, stundenlanges Haltenlassen von schweren Gegenständen, Halten von brennenden<br />

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Streichhölzern, bis die Finger schmerzen , Frierenlassen - erfrorene Gliedmaßen sind bei<br />

misshandelten Kindern sehr häufig - Tauchen in eiskaltes Wasser bis zum Tod durch Erschöpfung<br />

oder Ertrinken, Liegenlassen in Kot, Urin und vieles mehr."<br />

Erfahrungen aus Westberlin in den siebziger Jahren zeigten allerdings, dass eine wirksame<br />

Vorbeugung gegen Gewalt-Exzesse in Familien, an Schulen, an Frauen und Kindern<br />

erfolgsversprechend ist. Es war der Alleingang der Berliner Senatorin Ilse Reichel (*1925+1993;<br />

1971-1981), zuständig für Familie, Jugend und Sport, die das erste Haus in der Bundesrepublik für<br />

geschlagene Frauen und verprügelte Kinder eröffnete. Wie kein anderes Mitglied im Berliner SPD-<br />

Senat unterstützte und finanzierte Ilse Reichel hilflose Frauen, Eltern-Kind-Gruppen,<br />

Kindertagesstätten, Abenteuerspielplätze. Dabei ließ sich Ilse Reichel zentral von einem<br />

Grundgedanken leiten: Gewaltausbrüche im Vorfeld durch alternative Aufgaben, auch<br />

Freizeitangebote zu verhindern.<br />

In besagten Reichel-Jahren, die nachweislich kinderfreundlichsten, die die Hauptstadt je<br />

erleben konnte, war jedenfalls nach Feststellungen der Berliner Kriminalpolizei eine Zunahme der<br />

Verfahren bei Kindesmisshandlungen um 300 Prozent zu verzeichnen. Aus diesem Anstieg kann<br />

jedoch keine verfehlte Senatspolitik noch ein Mangel an erzieherischen Fähigkeiten der Pädagogen<br />

oder Sozialarbeiterinnen abgeleitet werden. Sie sind das offene Ergebnis einer frauen- und<br />

kinderfreundlichen Politik - die in eine angstfreie Atmosphäre ausstrahlte, in der sich<br />

geschwundene Frauen, auch lädierte Jugendliche erstm<strong>als</strong> zur Polizei wagten - Anzeige erstatteten.<br />

Gleichwohl wird das sozialpsychologische Klima - somit die zwischenmenschliche<br />

Atmosphäre zwischen Flensburg und Basel eher markiert durch eine undurchlässige Mauer des<br />

gefühllosen Schweigens <strong>als</strong> durch solidarische Anteilnahme. Es sind Berührungsängste,<br />

Abgrenzungs-, Distanzierungs- versuche von denen da unten ... ... Mitgefühl ja schön und gut,<br />

wenn es um Notopfer-Spenden auf fernen Kontinenten geht, aber bitte schön doch wohl nicht,<br />

wenn sich Nachbarn die "Köppe einschlagen". Regierungsdirektor Walter Becker, Vorsitzender des<br />

Deutschen Kinderschutzbundes (1969-1972), zeigt auf die zerbrechliche Achillesferse seines<br />

Engagements. Er sagt: "Menschen schauen sich aus der Ferne voyeuristisch Kinder-Schicksale an,<br />

ohne wirklich helfen zu wollen. Dieser Ohne-Mich-Standpunkt ist alltäglich. Wir brauchen aber<br />

Leute, die zupacken, informieren, helfen, Kindesmisshandlungen aufdecken. Wunschdenken?<br />

Auslösende Faktoren, Initial-Momente , Kindern den Krieg zu erklären, sind zuvörderst<br />

Ehekonflikte, Alkoholismus, sozialer Abstieg, Arbeitslosigkeit und Armut. Untersuchungen<br />

belegen, dass soziale Zerrissenheiten zu Aversionen gegen das Kind <strong>als</strong> "Nichtsnutz" bis zum<br />

krankhaften Zwang steigern. Im wohlhabenden Deutschland - dem Land der proklamierten<br />

sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit auch unterer Schichten - leben mehr <strong>als</strong> 2.6<br />

Millionen Kinder in Armut. Vornehmlich in Berlin, dem üppigen Hauptstadt-Schaufenster, sind es<br />

200.000 Kinder und Jugendliche. Und die Zahl driftet weiter steil nach oben. Kinder-Armut hat<br />

sich im Zeitraum der Jahre 2003-2008 verdoppelt - besonders in Mitleidenschaft gezogen sind<br />

Kleinstkinder unter sieben Lebenslenzen - dort, wo Babynahrung ein unerschwinglicher Luxus<br />

wird, da sind in Berlin Reichstag, Museen-Galerien und Oberschicht-Nippes-Boutiquen nicht fern.<br />

Wo das Leben unerschwinglich teuer ist und wenigstens der Tod vom Sozialamt bezahlt wird -<br />

auch da ist Berlin.<br />

Die Sozialwissenschaftler und Bildungsforscher der Universität Bielefeld, Klaus<br />

Hurrelmann und Sabine Andresen, kamen in ihrer ersten umfassenden Milieu-Untersuchung<br />

(World Vision Kinder-Studie, 28. Januar 2008) bei Kindern zwischen acht und elf Jahren zu dem<br />

Ergebnis, "dass die Klassengesellschaft in Deutschland keine neue Entwicklung ist. Erschreckend<br />

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ist aber, wie sich in einem reichen Land wie Deutschland die Armut von Kindern 'eklatant' auf ihre<br />

Biografien auswirkt. Das bedeute: geistige und kulturelle Armut, soziale Armut, materielle Armut,<br />

seelische, emotionale und psychische Armut, schulisches Versagen - und immer wieder Gewalt<br />

gegen Kinder; durchgängig Gewalt.<br />

Der Deutsche Kinderschutzbund unterscheidet in seiner Eingruppierung von<br />

Gewalttätern drei Kategorien. Eine einheitliche, zweifelsfreie wissenschaftliche Aussage gibt es<br />

nicht. Danach sind in der<br />

� ersten Gruppe arbeitsunwillige, haltlose Akteure, die durch eigene Phlegma in<br />

materielle Not geraten. Sie machen in ihren Kindern die Hauptschuldigen ihrer<br />

Familien-Misere aus, vergreifen sich an ihnen;<br />

� zweite Gruppe dominiert der Tyrann. Ein Typus Mann, der herrschsüchtig wie<br />

rücksichtslos seine Familie schikaniert, keinen Widerstand duldet, sondern bricht;<br />

� dritten Gruppe sind sie so genannten Triebtätern zuzuordnen. Männer, die sich mit<br />

ihren Gewaltfantasien, Rauschmitteln hemmungslos ausleben; folglich auch für die<br />

eigene Frau oder Kinder kein Schamempfinden, keine Schmerzgrenze kennen.<br />

Als Strafmaßnahmen gegenüber den Nachkömmlingen galten bis Ende der siebziger Jahre<br />

körperliche Züchtigungen <strong>als</strong> das gängigste Mittel. Bemerkenswert ist, dass die meisten Eltern in<br />

der alten Bundesrepublik - im Gegensatz zu ihren europäischen Nachbarn - in erheblicher<br />

Intensität mit Schlägen zur Sache gingen. Nach Schätzungen des Kinderbundes sollten ungefähr 85<br />

Prozent der Eltern ihre Kinder verprügeln. Davon erhielten im Elternhaus 55 Prozent der Jungen<br />

Stockschläge, 37 Prozent der Mädchen. Im Prinzip wurden Körperstrafen mit der flachen Hand,<br />

einem Lederriemen, Teppichklopfer oder dünnen Rohrstöcken verabreicht. Im Schulmilieu kamen<br />

zudem noch Lineale oder Stöcke zum Einsatz, wurden vorwiegend "Kopfnüsse" ausgeteilt.<br />

Spätestens seit Ende der siebziger Jahre gelten körperliche Züchtigungen <strong>als</strong> nicht mehr<br />

"gesellschaftsfähig" - werden <strong>als</strong> ein "typisches verwahrlostes Unterschichts-Verhalten"<br />

eingeordnet. Seither sind Körperstrafen vom Gesetzgeber verboten. Auch das sogenannte<br />

"Backpfeifen"-Recht der Eltern gegenüber ihren Kindern wurde im Jahre 2000 durch eine<br />

Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ausdrücklich abgeschafft. Nach Neufassung des<br />

Paragrafen 1631 BGB ist es das Kinderrecht, gewaltfrei aufzuwachsen, erzogen zu werden, auch<br />

ohne Demütigungen dem Leben zu begegnen. Im Gesetz heißt es: "Körperliche Bestrafungen,<br />

seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig." Ein<br />

Rechtfertigungsgrund für Prügel gibt es nicht mehr.- Fortschritte in Deutschland.<br />

In zahlreichen Staaten Europas gewann nach Ende des Zweiten Weltkriegs sukzessive die<br />

Auffassung Oberhand, dass körperliche Nötigungen schädlich für die Entwicklung der Kinder<br />

sind. Nicht zuletzt wissenschaftliche psychologische Erkenntnisse rieten dringend davon ab,<br />

weiterhin junge Menschen mit Körperstrafen zu sozialisieren, abzurichten. Danach ist gleichfalls<br />

körperliche Gewalt in Ländern wie Schweden, Island, Finnland, Dänemark, Norwegen, Österreich,<br />

Italien, Zypern, Kroatien, Israel untersagt. Lediglich in den Vereinigten Staaten von Amerika<br />

scheiterten Initiativen auf einen "gewaltfreie Kindererziehung" im Laufe der Jahrzehnte - nicht<br />

einmal, sondern immer wieder.<br />

Auch wenn die Diskrepanz zwischen Gesetzestext und seiner gesellschaftlichen<br />

Wirklichkeit nichts an Schärfe, Dramatik, gar Endzeitstimmungen eingebüßt hat, verfügen<br />

mittlerweile deutsche Polizeidienststellen über speziell geschulte Einsatzkräfte. Sie können direkt<br />

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telefonisch angefordert werden. Mit dem im Jahre 2002 eingeführten Gewaltschutzgesetz wurde<br />

den Opfern zudem Schutz ermöglicht. Ein Familiengericht entscheidet mittlerweile darüber, wie<br />

eine etwaige Eskalation verhindert werden kann. Wohnungsverbote, Kontaktverbote. Für viele<br />

Gewalttäter in ihren Familien bedeutet eine etwa gerichtlich verfügte Trennung Freiheitsstrafe auf<br />

lange Sicht oder Therapie. Dort lernen diese Männer - reichlich verspätet - die Dynamik ihrer<br />

Gewaltexzesse emotional zu begreifen, Folgewirkungen auf ihre Frauen wie Kinder zu verstehen.<br />

Nach Erhebungen der seit 2005 verantwortlichen CDU- Familienministerin Ursula von<br />

der Leyen hat es in den letzten drei Jahren (2003-2006) laut Krimin<strong>als</strong>tatistik 2.900 Ereignisse von<br />

Kindesmisshandlungen gegeben, die Dunkelziffer sei allerdings weitaus höher. Es habe "Fälle<br />

sträflichen menschlichen Versagens" gegeben. Beherzt und zugleich ein wenig kleinlaut, haucht die<br />

Ministerin ins Berliner Hauptstadt-Mikrofon: "Wenn man den Eltern zehn Euro streicht, kriegt das<br />

Kind mehr Prügel. - Wir müssen solche Kinder aus den Familien herausnehmen."<br />

Vor 40 Jahren mahnte der damalige Vize-Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes,<br />

Wilhelm Stille in seinem Tätigkeitsbericht eindringlich. Er schrieb: "Es muss angestrebt werden,<br />

dass das Kind im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit stärker <strong>als</strong> Rechtspersönlichkeit, denn<br />

<strong>als</strong> Objekt der Interessen der Erwachsenen angesehen wird. Das Bürgerliche Gesetzbuch besteht<br />

seit nahezu 80 Jahren, und viele Begriffe haben sich seither gewandelt. Nach Auffassung vieler ist<br />

besonders das derzeitig geltende Recht über die elterliche Gewalt, das Erziehungsrecht<br />

reformbedürftig." - Auf derlei Reformen der Menschenrechte wartet das Land immer noch -<br />

Menschenrechte sind Kinderrechte......<br />

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Allah und Armee in Algerien<br />

1970<br />

13


ALLAH UND ARMEE IN ALGERIEN – ZERREIßPROBEN<br />

NACH BEFREIUNGSKAMPF<br />

Mehr <strong>als</strong> ein Jahrzehnt wurde in diesem Land in Nordafrika einer der „dreckigsten Kriege“<br />

der Welt ausgetragen. Mit dem vom Militär unterstützten Regime versucht die algerische<br />

Regierung ihren Kampf gegen islamische Unterwanderung zu gewinnen. Wieder<br />

Bürgerkrieg in Algerien: Einst französische „Kolonialherren gegen Befreiungskämpfer“ ,<br />

nunmehr „Islamisten gegen Sicherheitskräfte“. Über 200.000 Menschen – die meisten<br />

Zivilisten – starben. „Erfolgsrezept“: Folter. Neuer Verbündeter: die USA. Neue Waffen:<br />

made in USA<br />

Cuxhavener Zeitung vom 31.Dezember 1970 / 18. Dezember 2008<br />

Es dämmerte schon ein wenig, <strong>als</strong> wir in Algier die Kasbah betraten. Ein bisschen Exotik<br />

sollte es noch sein an diesem November Abend; dam<strong>als</strong> waren wir noch jung an Jahren. Und es<br />

hatte etwas mit unserem Fernweh zu tun. Raus aus diesem vom Nebel eingehüllten Deutschland in<br />

solch depressiv anmutenden November-Tagen. Hinein in enge, schmutzige Gassen des Allstadt-<br />

Lebens, wo Hunderte von Kindern im größten Dreck herumwühlen, Männer sich beim<br />

Dominospielchen beweisen - und Frauen sich scheu hinter dicken Gemäuern zu verstecken haben.<br />

Armut pur, alle lächeln - und das fürs Video daheim auch noch umsonst. In vergangenen Jahren<br />

sind in der Kasbah an die 350 Häuser verfallen. Insbesondere in den Herbst-Monaten, wenn<br />

heftige Regengüsse auf Algier prasseln, spülen diese Wassermassen immer wieder alte<br />

Lehmziegelmauern der übereinander gewürfelten Häuser fort. Momentaufnahmen. Der Abend<br />

gehört den Kronleuchtern und Stuckdecken aus dem 19. Jahrhundert in der Edelherberge "El<br />

Minza"; französische Kolonial-Noblesse samt Mittelmeer - Weitwinkelblick inbegriffen.<br />

Spuren kolonialer Vergangenheiten Frankreichs (1830-1962) werden ganz allmählich<br />

beseitigt - Stein um Stein. An einem Mietshaus ist gerade noch auf einer Steinplatte lesbar, dass<br />

dort einmal ein Gericht seine Urteile sprach. Das Gemäuer der kolonialen "Nationalbibliothek" ist<br />

frisch hergerichtet, doch unter der Sperrholzplatte bleibt die alte Gravur verborgen. Hier in der<br />

Kasbah spüre ich einen Hauch vom seelischen Innenleben Algeriens, wird für mich<br />

nachvollziehbar, dass dieser brutale, mörderische Unabhängigkeitskrieg der 50er und 60er Jahre das<br />

Verhältnis zwischen Algerien und Frankreich bis in die Gegenwart hinein belastet. - Knoten im<br />

Kopf, Atemnot.<br />

Ich laufe durch die Kasbah und frage mich - auch zufällige Passanten, mit denen wir ins<br />

Gespräch kommen, ich frage mich immer wieder 'musste das wirklich sein' - dieses Abschlachten,<br />

Foltern, Ausmerzen, Ausrotten ? - Achselzucken vielerorts, Stille überall. Irgendwie und irgendwo<br />

sollte mich ein Psychiater, der auch ein Politiker war, in meinen Gedanken begleiten. Als<br />

Reisevorbereitung hatte ich das Buch Frantz Fanon (*1925+1961) "Die verdammten dieser Erde"<br />

(1961) gelesen - ein Standardwerk jener Jahre. Frantz Fanon wusste nur zu genau, wovon er sprach.<br />

Er war der Vordenker der Entkolonialisierung.<br />

Als Dunkelhäutiger wurde Fanon auf der Karibikinsel Martinique geboren. Die war bis im<br />

Jahr 1946 französische Kolonie. Seither gilt Martinique - nunmehr <strong>als</strong> Département d'Outre-Mer -<br />

<strong>als</strong> ein Teil des französischen Staats-Territoriums. Sicherlich, formal galten die Insel-Bewohner <strong>als</strong><br />

Franzosen, tatsächlich wurden sie von den weißen Siedlern <strong>als</strong> "Schwarze" gebrandmarkt, Bürger<br />

der zweiten Kategorie. Wer die Seele Algeriens berührt, verstehen will, der sollte auch halbes<br />

Jahrhundert später aberm<strong>als</strong> Frantz Fanon entdecken. Er hatte <strong>als</strong> Chefarzt im Jahr 1953 im<br />

14


Psychiatrischen Krankenhaus im algerischen Blida gearbeitet, das 45 Kilometer von Algier entfernt<br />

liegt. Hier wurden verwundete Widerstandskämpfer behandelt, versteckt, Schmerzen vieler<br />

Folteropfer gelindert, therapiert. Fanon schrieb: "Ganze Jahrhunderte lang hat Europa nun schon<br />

den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und zu seinem Ruhm<br />

unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen eines 'angeblichen geistigen Abenteuers' fast die<br />

gesamte Menschheit erstickt. Seht, wie es heute zwischen der atomaren und der geistigen<br />

Auflösung hin und her schwankt ...“<br />

Keine Frage , dass im Krankenhaus der Franzosen Kolonial-Herren durchgreifen -<br />

Trennung der Patienten nach Herkunft, eigene Pavillons für Europäer und Moslems. Konsequenz:<br />

Franz Fanon schließt sich dem algerischen Freiheitskämpfer an. Sein Krankenhaus hatte die<br />

französische Armee strzuvor hinreichend demoliert, ein Streik des Pflegeperson<strong>als</strong> wurde blutig<br />

niedergeschlagen. Verängstigt ging Chefarzt Fanon des Weges, wurde des Landes verwiesen, <strong>als</strong><br />

Aktivist der Front de Libération Nationale (FLN) - der militanten Unabhängigkeitsbewegung<br />

Algeriens kam Fanon zurück.<br />

Er markierte: "Verlassen wir uns nicht auf dieses Europa, das nicht aufhört, vom<br />

Menschen zu reden und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken der Welt ... ... Die<br />

Vereinigten Staaten sind ein Monstrum geworden, bei dem der Geburtsfehler, die Krankheiten und<br />

die Unmenschlichkeiten Europas grauenhafte Dimensionen angenommen haben ... ... Die Dritte<br />

Welt steht heute <strong>als</strong> eine kolossale Masse Europa gegenüber; ihr Ziel muss es sein, die Probleme zu<br />

lösen, die dieses Europa, nicht hat lösen können ... Für Europa für uns selbst und für die<br />

Menschheit müssen wir eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen<br />

Menschen auf die Beine stellen."<br />

Apropos "neue Haut" oder auch "neue Menschen" - meine Gedanken gingen in Algerien<br />

nahezu ein Jahrhundert zurück. Eine Rückbesinnung auf Isabelle Eberhardt, um durch sie und<br />

vielleicht mit ihr die Zukunft zu entdecken - eine feminine, autonome Zukunft auch mit all ihren<br />

Abgründen und Widersprüchen. Isabelle Eberhardt (*17. November 1877 in Genf; + 21. Oktober<br />

1904 in Ain Sefra - Algerien) war eine russischstämmige schweizerische Weltenbummlerin und<br />

Reiseschriftstellerin. Viele Jahre hatte sie <strong>als</strong> Mann verkleidet die arabische Welt erkundet. Am 21.<br />

Oktober 1904 war Isabelle in der Sahara zwischen Dattelpalmen und Sanddünen ertrunken.<br />

Erst wenige Stunden vor ihrem Tod hatte Isabelle Eberhardt entgegen des Rates ihres<br />

Arztes das vor Stürmen geschützte Krankenhaus von Ain Sefra verlassen. Sie hatte sich in ein<br />

Lehmhaus einquartiert, das zwischen Kneipen und Bordellen in einem ausgetrockneten Flussbett<br />

lag. Dort wollte sie schreiben, weiter texten an ihren Reiseberichten, über die Einsamkeit in der<br />

Sahara und die Wüsten-Welt der Männer. Si Mahmoud nannte sich die verkleidete Isabelle. Ein<br />

Unwetter tobte plötzlich auf den gelben Dünen, ein Unwetter, wie es diese Region seit<br />

Menschengedenken noch nicht erlebt hatte, brach herein - es nahm Isabelle gleich mit - in den Tod<br />

mit ihren 26 Jahren. (Eglal Errera: Isabelle Eberhardt - Eine Biografie; Lenos Verlag, Basel, 1987)<br />

Im Mai 1897 zog es Isabelle mit ihrer Mutter aus der kleinbürgerlich gestrickten Schweiz<br />

hinaus nach Algerien. Sie gelangte in eine Kleinstadt namens Bône, die sich dam<strong>als</strong> nach nahezu 60<br />

Jahren Kolonisation wie eine typische französischer Kleinstadt ausnahm - breite Boulevards,<br />

elegantes Hotel, einen plantagenumsäumten Platz vor dem Rathaus, Banken, Boulangerien.<br />

Charcuterien, Epicerien, Quinquallierien - eben Außenausstattungen, die das französische<br />

Bürgertum nun einmal für sein savoir vivre oder auch Wohlbefinden benötigt. Isabelle hingegen<br />

suchte das arabische Algerien. Sie lernte rasch Arabisch und fand Freunde unter einheimischen<br />

Studenten. Um sich frei bewegen zu können, vertauschte Isabelle ihre westeuropäischen Mädchen-<br />

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Kleider mir denen eines arabischen Mannes; in einem langen weißen Burnus, schnitt sich ihre<br />

Haare ab und setzte sich einen Turban auf; fortan nannte sich Isabelle männlich Si Mahmoud<br />

Saadi.<br />

Immerhin konnte sich Isabelle von ihren Honoraren ihre Reiseberichte ein Pferd leisten.<br />

Mit ihm zog sie allein durch die Sahara. Im Jahre 1901 heiratete sie Slimène Ehni, einen Leutnant<br />

der algerischen Hilfstruppen des französischen Kolonialregimes. Beide führten aber keine Ehe im<br />

herkömmlichen Sinne, lebten nie zusammen. War es Isabelle, die es immer wieder in die Wüste - in<br />

die Einsamkeit zog. Sie rauchte Kif, trank viel, leidenschaftlich viel Alkohol und trat unablässig <strong>als</strong><br />

Mann auf; in der Kleidung männlicher Beduinen, Burnus und Reitstiefel. Konflikte mit der<br />

Kolonial-Administration waren vorprogrammiert, brachen auch immer wieder auf.<br />

Frankreichs Männer der Fremdenlegion missbilligten Lebensstil wie Lebensverständnis<br />

dieser Frau, die sie eher einem ihrer Wüsten-Bordelle übergeben hätten <strong>als</strong> in ihr eine feministische<br />

Vorkämpferin autonomer Frauenrechte zu sehen. Männer, die nach romantisch unterlegten<br />

Legenden von Legionären auf Kamelen im Jahre 1843 südlich von Oran eine Stadt namens Sidi Bel<br />

Abbes gründeten. - Ein Wüstenort von einer Stadtmauer mit vier Toren umschlossen wurde das<br />

Hauptquartier kolonialistischer Allgegenwart, Zentrum der Fremdenlegion; einer gefürchteten<br />

Sondertruppe mit Freiwilligen aus vielen Ländern. Ihre Brutalität galt <strong>als</strong> Beleg für "berufliche<br />

Kompetenz". Von hier aus "putschte" die OAS (Organisation Armée Secrète) gegen die eigene<br />

Pariser Regierung. Vom reichen kolonialen Landadel gekaufte Söldner sollten Anfang der sechziger<br />

Jahre mit Waffengewalt gegen Pariser Beschlüsse, Algerien seine Unabhängigkeit zu geben. Folter,<br />

Massaker, bestialische Quälereien, Menschenrechtsverletzungen zählten zu routinegeübten Tages-<br />

Abläufen; von 7 Uhr morgens bis zum Sonnenuntergang Schmerzensschreie. (Christian Reder,<br />

Elfie Semontan: Sahara, Verlag Springer, Wien, New York, 2004)<br />

Es waren die gefürchteten Jahre, die Befehls- und Kommandojahre über Leben und Tod,<br />

des französischen Gener<strong>als</strong> Jacques Massu (*1908+2002) - einer der bedeutendsten Soldaten<br />

Frankreichs im 20. Jahrhundert. Im Januar 1957 übernahm Massu den Oberbefehl über die Region<br />

Algier. Er ließ in der Kasbah algerische Freiheitskämpfern der FLN niedermetzeln oder auch<br />

"säubern", wie es dam<strong>als</strong> noch bezeichnenderweise hieß. Schmauchspuren. Friedhofsruhe. Im<br />

Mutterland Frankreich vornehmlich schmückten ihn seine Landsleute mit Pauken wie Fanfaren;<br />

Ehrentitel wie der "Held von Algier" inbegriffen. Gefoltert haben seine Soldaten aus dem Land der<br />

Menschenrechte - rund um die Uhr, Haus um Haus, Vergewaltigungen inbegriffen. Verständlich,<br />

dass ein solcher General der Kolonialherren bei den Algerienfranzosen („Pieds Noirs“) beliebt war<br />

- gar Quälereien, bestialische Schmerzen <strong>als</strong> "erträglich" befand. Von den Tätern dieser<br />

blutrünstigen Epoche ist niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Im späten Alter, zwei Jahre<br />

vor seinem Tod, gestand er "systematisch Folterungen während des Algerienkrieges" ein. Jacques<br />

Massu: "Ich bereue".<br />

Erst 1999 mochte Frankreichs Parlament, die Nationalversammlung, den Begriff<br />

"Algerienkrieg" offiziell zulassen. Bis dahin war nach französischer Lesart lediglich von<br />

"Ereignissen" gesprochen worden. "Ereignisse", die 1,7 Millionen französische Soldaten in<br />

Nordafrika kämpfen ließen, von denen 25.000 getötet und 60.000 verwundet wurden. "Ereignisse",<br />

die auf algerischer Seite 1,7 Millionen Menschen in den Tod schickten.<br />

Der Philosoph Jean-Paul Sartre (*1905+1980) nannte Fanons-Buch "Verdammte dieser<br />

Erde" einen "Striptease unseres Humanismus". Darin versuchte Frantz Fanon nachzuweisen, dass<br />

die Deklassierten und Kolonialisierten der Dritten und Vierten Welt gegen Gewalt der<br />

Unterdrückung nur ein Mittel haben: mit Gewalt zu antworten, weil sie allein die psychischen<br />

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"Verstümmelungen" (Fanon) der Unterdrückung zu heilen vermag. Jahrzehnte später - im neuen<br />

Jahrtausend angekommen - werden Fanon und noch viele Weggefährten seiner Epoche <strong>als</strong><br />

Vordenker, Vorläufer des mittlerweile international agierenden Terrorismus eingestuft. - Verquere<br />

Jahre, verqueres neues Denken .<br />

Wo und mit wem haben in der Geschichte jem<strong>als</strong> Freiheitskämpfe ohne Gewalt ohne<br />

Waffen stattgefunden? Seit wann aber werden politisch legitimierte Unabhängigkeits-Konflikte von<br />

Ländern, Regionen mit Anarcho-Terroristen ohne Sinn und Verstand oder gewöhnliche Banden in<br />

einem Atemzug genannt, abgestempelt. Waren etwa die französischen Résistants gegen die<br />

deutschen Besatzer auch Terroristen, Graf von Stauffenberg (*1907+1944) oder Georg Elser<br />

(*1903+1945) auch gewöhnliche, kriminelle Gewalttäter, die Hitler zu liquidieren gedachten? -<br />

Waren auch sie Terroristen? Oder etwa die unterdrückten, gejagten, gefolterten Kurden in der<br />

Türkei und im Norden Iraks - Freiheitskämpfer oder auch sie Terroristen? Grobschlächtig,<br />

unachtsam - gedankenverloren dümpeln vorherrschende Definitionen im neuen Jahrtausend vor<br />

sich hin. Klärungsbedarf.<br />

Jedenfalls sah Algeriens erster Präsident Ahmed Ben Bella (1962-1965) in Frantz Fanon<br />

nicht nur einen "Kampfgefährten", sondern einen Führer, der durch sein "geistiges und politisches<br />

Testament" die algerische Revolution sicherte. Seinerzeit wurde in der Dritte Welt auch vom<br />

Fanontismus geredet; in Entwicklungsländern, in denen mehr <strong>als</strong> zwei Drittel der Weltbevölkerung<br />

lebt, die doppelt so schnell wächst wie beispielsweise Europa. Diese <strong>als</strong> Buch gebündelte<br />

Druckerschwärze gilt <strong>als</strong> Weltanschauung in jenen Nationen, in denen 30 bis 40 Prozent der<br />

Stadtbewohner in Slums hausen, zwanzig Prozent der Arbeitswilligen keinen Job finden - mitunter<br />

85 Prozent der Menschen Analphabeten sind - sage und schreibe über 25 Millionen Kinder,<br />

Männer und Frauen an direkten wie indirekten Folgen des Hungers sterben.<br />

Es waren die frühen Jahre des Algierfranzosen Albert Camus (*1913+1960). Er hatte<br />

bereits seine erste Essay-Sammlung "L'Homme révolté" (Der Mensch in der Revolte) (1947-1951)<br />

veröffentlicht. Nur Albert Camus wollte sich mit seiner schwer erkämpften Rolle <strong>als</strong> Romancier in<br />

Literaten-Salons bürgerlicher Zaungäste kaum begnügen. Ein sozusagen "linker Pazifist", das war<br />

er, ein Schreiber, der sich einmischte. So versuchte Camus <strong>als</strong> Journalist gleichsam aktuell Einfluss<br />

zu nehmen, geißelte Härte wie Unnachgiebigkeit der Kolonialherren unter der Trikolore. Nur seine<br />

Vermittlungsversuche verhallten in dieser fanatisch aufgeladenen Vorkriegsperiode. Das Camus-<br />

Plädoyer einer bürgerrechtlichen Gleichstellung der „arabes“ war den meisten Franzosen verpönt,<br />

zu radikal. - Berührungsängste. Von Tuberkulose gezeichnet schrieb Albert Camus 1957 einen<br />

Sammelband von meist in Nordafrika spielenden Erzählungen - Resignation und wohlbedachte<br />

Reminiszenzen an Algerien - "L'Exil et le Royaume" (Das Exil und das Reich). - Algerien ein Land,<br />

das er liebte. Im Januar 1960 kam Albert Camus bei einem Autounfall in Frankreich ums Leben. -<br />

Unterdessen musste Algerien noch zwei Jahre für seine Unabhängigkeit kämpfen.<br />

Der revolutionäre Marxist und südamerikanische Guerillaführer Ernesto Che Guevara<br />

(*1928+1967) wies der algerischen Politik ihre Richtung, <strong>als</strong> er auf der 2. afro-asiatischen<br />

Wirtschaftskonferenz im Februar 1965 in Algier erklärte: "Möge das großartige algerische Volk, das<br />

wie kaum ein anderes ausgebildet ist in den Leiden für die Unabhängigkeit, unter der<br />

entschlossenen Führung seiner Partei mit unserem lieben Genossen Ahmed Ben Bella an der<br />

Spitze, uns zur Inspiration dienen in diesem erbarmungslosen Kampf gegen den weltweiten<br />

Imperialismus."<br />

Ob Befreiungskämpfe politisch wie moralisch legitim sind, ist nicht Gegenstand dieses<br />

Berichts. Bekanntlich waren es lateinamerikanische Priester und Freiheitskämpfer wie in Bolivien<br />

17


der katholische Theologe Camilo Torres (*1929+1966) oder in Brasilien Hunderte von Priestern<br />

bis hin zu dem legendären Che Guevara - allesamt waren dereinst zutiefst davon überzeugt, nur mit<br />

Waffengewalt eine sozial gerechtere Gesellschaft - einen Sozialismus mit menschlichen Antlitz -<br />

aufbauen zu können. Ihre Parole: "Auch Jesus hätte zur Kalaschnikow gegriffen." Zumindest<br />

schien in jenen Jahren der algerische Befreiungskampf den südamerikanischen Guerillas Mut zu<br />

machen, auf ihrem Kontinent sich mit Granaten an die Macht zu bomben. Es war Che Guevara,<br />

der den Begreifungskampf Algeriens <strong>als</strong> "vorbildlich" hinstellte. In dem Buch "L'an V de la<br />

Révolution Algerienne" (Das fünfte Jahr der algerischen Revolution) weist Frantz Fanon daraufhin,<br />

"dass die menschliche Hinterlassenschaft Frankreichs in Algerien eine ganze Generation von<br />

Algerien sein wird, die vom willkürlichen und kollektiven Totschlag mit allein seinen<br />

psychoaffektiven Nachwirkungen geprägt ist."<br />

Nach 132 Jahren Herrschaft und acht Jahren Krieg räumten die Kolonialherren im Jahr<br />

1962 ihr verwüstetes Schlachtfeld - eine Millionen Europäer , vor allem Franzosen, Spanier und<br />

Italiener, hatten über Jahrzehnte Rohstoffe wie Bodenschätze des Landes ausgebeutet - zurück<br />

blieb ein malträtiertes Volk. - Ein Volk, das 1.695.000 Menschen verloren hatte. Ein Volk der<br />

Algerier, das zu 85 Prozent aus Analphabeten bestand - bitter verarmt in primitiven Hütten lebend.<br />

Für diese "Verdammten dieser Erde" gab es weder Industrie noch eine auf Produktivität<br />

ausgerichtete Landwirtschaft; einfach nichts - zum Leben zu wenig und doch zum Sterben zu viel.<br />

Bezeichnend dafür war, dass beispielsweise im Jahre 1962 an der Universität Algier 890 Franzosen,<br />

aber nur 60 Algerier studieren durften.<br />

Das einzige, was Algerien besaß, das waren für die westliche Welt nahezu unerschöpfliche<br />

Rohstoff-Vorkommen. Die Ölreserven werden auf 11,8 Milliarden Barrel und die Gasreserven auf<br />

4,5 Billionen Kubikmeter geschätzt. In Algerien liegen die drittgrößten Erdölverkommen Afrikas.<br />

Trotz dieser üppigen Wohlstands-Reserven will es dem Land nicht gelingen, die enorme<br />

Auswanderungsquote zu stoppen. Etwa 2,3 Millionen Algerier leben auf der Suche nach einem Job<br />

im Ausland; vornehmlich in Frankreich - 1,5 Millionen. Immerhin waren im Jahre 2003 26 Prozent<br />

der Jugendlichen des 32 Millionen Volkes in Algerien ohne Beschäftigung. - Eine<br />

Arbeitslosenversicherung gibt es nicht.<br />

Die 1996 in Kraft gesetzte Verfassung ist ein überarbeiteter Aufguss aus dem Jahre 1963.<br />

Aus einer volksdemokratischen Republik (1963) wurde eine Präsidialrepublik. Dreh und<br />

Angelpunkt der algerischen Macht ist danach der Staatspräsident (Abd al-Asis Bouteflika seit 1999)<br />

in diesem Präsidialregime, das sich auf eine Ein-Parteienherrschaft stützt. Dem Präsidenten der<br />

Republik ist <strong>als</strong> Staatschef die vollziehende Gewalt im vollen Umfang übertragen. Er bestimmt und<br />

leitet die Innen- und Außenpolitik, ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, ernennt Minister wie<br />

Beamte nach seinem Gutdünken - verkündet Gesetze, offiziell zumindest. Nach Ansicht des<br />

Algieren-Experten Werner Ruf, emeritierter Professor für Internationale Politik an der Universität<br />

Marburg, regiert in Algerien "noch das Militär". Der Parlamentarismus sei Fassade. "Dahinter<br />

herrscht eine undurchsichtige Clique an der Spitze des Militärs. Das sind Leute, die sich bereichern.<br />

Die Korruption ist gewaltig", urteilt Werner Ruf.<br />

Seit seiner Unabhängigkeit begleiten Algerien enorme Schulden - Auslandskredite.<br />

Paradoxien des Landes: Obwohl erstm<strong>als</strong> im Jahre 1963 die Einkommens- und<br />

Körperschaftssteuern erhöht wurden, decken diese Staatseinnahmen nur rund 30 Prozent der<br />

notwendigen Ausgaben ab. Neue Abhängigkeiten: Die Kolonialherren gingen, internationale Bank-<br />

Konsortien zogen ein - sie finanzierten zu Beginn der "Souveränität" zwei Drittel des<br />

Staatshaushaltes (2008: 27 Milliarden Dollar Auslandsschulden.<br />

18


Als Algerien von Frankreich unabhängig wurde, bestand seine Armee etwa aus 60.000<br />

Soldaten; vornehmlich rekrutiert aus der Befreiungsfront. Die Gesamtstärke der Streitkräfte, die <strong>als</strong><br />

best funktionierende Organisation des Landes gilt, betrug laut BICC-Informationsdienst aus den<br />

Jahre 2007:<br />

� 137.500 Aktive, einschließlich ca. 75.000 Wehrpflichtige;zusätzlich 150.000<br />

Reservisten;<br />

� Paramilitärische Einheiten: ca. 181.200<br />

� Davon Gendarmerie (dem Verteidigungsministerium zugeordnet): 20.000<br />

� Nationale Sicherheitskräfte (Direktorat für Nationale Sicherheit): 16.000<br />

Mehr <strong>als</strong> zehn Jahre neuerlichen Bürgerkriegs mit der offiziell verbotenen, extremistischen<br />

"Islamischen Heilsfront" (1992-2002) haben zu einer durchgängigen Militarisierung der gesamten<br />

Gesellschaft beigetragen. Weit über 100.000 Menschen fanden aberm<strong>als</strong> den Tod. Gegen die so<br />

genannten Radikal-Islamisten agierten vielerorts die modern bewaffneten "Patrioten" überall<br />

abrufbar, überall einsetzbar - von niemanden zu stoppen, auf eigene Faust unterwegs. Guerilla-<br />

Kampf. Straßenkampf. Das waren etwa 500.000 Milizen, die landesweit mit ihren automatischen<br />

Schnellfeuerwaffen auf Islamisten zielten. Aufrüstung nach innen - Aufrüstung nach außen.<br />

Überdies wird Algerien seit Bestehen des Staates mit sowjetischen Waffen aufgemöbelt, Luftwaffe<br />

und Marine fortwährend modernisiert. Seit 2005 liefert Russland unter anderem 300 Kampfpanzer<br />

T-90, an die 40 Luftüberlegenheitsjäger, 28 Mehrzweckjäger, drei Fregatten der Koni-Klasse, zwei<br />

U-Boote der Kilo-Klasse und noch vieles, vieles mehr an Kriegswaffen. Kriegstechnologie,<br />

Kriegsmaschinerie führen ein von der Öffentlichkeit abgeschirmtes Eigenleben - ein Staat im Staate<br />

Algerien. Immerhin gab dieses nordafrikanische Land allein im Jahre 2006 für Waffen aus Russland<br />

7,5 Milliarden Dollar aus. Verständlich, dass 15 Prozent des algerische Staatsetats für derlei<br />

Hochrüstungsprojekte verschlungen werden. Laut Weltbank betrugen die gesamten algerischen<br />

Rüstungsimporte im Jahre 2004 insgesamt 282 Millionen US-Dollar.<br />

Unter den Franzosen litt Algerien darunter, dass sein Schulsystem einseitig auf die Belange<br />

der Kolonial-Bevölkerung ausgerichtet war; kamen 40 Prozent der Volksschulkinder und 80<br />

Prozent der Gymnasiasten kamen aus ihren Reihen. Nach der Unabhängigkeit fehlte es an Lehrern,<br />

Schulen und vor allem an Geld. Erst 17 Jahre nach dem Befreiungskrieg wurde die allgemeine<br />

Schulpflicht (1976) über neun Schuljahre eingeführt. Und das zu einer Zeit, in der die<br />

Analphabetenquote noch um die 80 Prozent betrug. Sie macht mittlerweile bei Männern "nur<br />

noch" 22 Prozent und bei Frauen immerhin ganze 40 Prozent aus. Fortschritte. Aber gleichfalls zu<br />

einer Zeit, in der Kinderarbeit <strong>als</strong> kalkulierter Wirtschaftsfaktor das Bruttosozialprodukt erhöht.<br />

In der berühmten Teppich-Industrie arbeiten Kinder im Alter zwischen 10 und 14 Jahren<br />

für zwei bis drei Mark pro Stunde. Im Bildungsministerium erklären mir Beamte <strong>als</strong> Rechtfertigung:<br />

Man wüsste sonst nichts mit ihnen anzufangen. Es seien junge Menschen, die "nicht in der Lage<br />

sind, eine Schule zu besuchen", verlautbart ihre Ausrede beschwichtigend. Fest steht hingegen<br />

zweifelsfrei, dass die algerischen Fabriken der harten Konkurrenz auf dem Weltmarkt nicht<br />

annähernd gewachsen wären, wenn sie nicht ihre jungen Arbeitskolonnen mit "Apfel und Ei"<br />

abspeisten, sondern menschenwürdige Löhne zahlten. Nach UNICEF-Erhebungen aus dem Jahre<br />

2008 sind Algeriens Kinder in Fabriken, in der Landwirtschaft, auf dem Bau, in Autowerkstätten,<br />

<strong>als</strong> Straßenverkäufer - und im Kinderhandel im Einsatz - 600.000 zwischen sieben und siebzehn<br />

Jahren alt. Kinder, die für ihr Überleben und das ihrer Familien malochen müssen - Tag für Tag,<br />

19


wo Schulen fern sind und der Arbeitstag keine acht Stunden zählt. - Kinderarbeit im Jahr<br />

Zweitausend.<br />

Kritiker westlicher Entwicklungshilfe in den sechziger Jahren führten Armut und<br />

Analphabeten-Dasein auf eine neue Form des Kolonialismus zurück. Ursache wie Auslöser für<br />

diese Dritte-Welt-Misere waren immer wieder mangelnde Effektivität von Wirtschaftsabläufen der<br />

Dritten Welt auf den internationalen Märkten. Und hinter dem Terminus "mangelnde Effektivität"<br />

verbarg sich ein altes Manko unter neuem Namen - nunmehr keine Ausbeutung für eine fremde<br />

Nation, sondern Abschöpfung der Werte im Namen des weltweit gewebten Kapit<strong>als</strong>. Ursache für<br />

den Kapitalexport war schon in den sechziger Jahren ein Absinken der durchschnittlichen<br />

Profitraten in den hoch industrialisierten Mutterländern. Koloniale Extraprofite waren gefragter<br />

denn je.<br />

Wochen um Wochen war ich mit jungen Leuten in Algerien unterwegs - von Algier nach<br />

Oran, von Sidi bel Abbès nach Constantine, durch Wüsten, Steppen, Stein- und Felssteppen vorbei<br />

an Oasen, hinein in entlegene winzige , scheinbar ganz vergessene Orte bis hin nach Tindouf in der<br />

östlich gelegenen Sahara, wo annähernd 45.000 Menschen ihr Dasein eingerichtet haben. Eigenartig<br />

gerade hier in Tindouf, wo auch die Exilregierung der nach Unabhängigkeit strebenden<br />

Demokratischen Arabischen Republik Sahara ihren Sitz hat, diesem Gott verlassenen Tindouf<br />

fühlte ich mich an Isabelle Eberhardt Testpassage erinnert. Sie schrieb: "Der Tag brach im<br />

unendlich zarten, über die Dünen gleitenden Licht der Morgenröte an. Die Luft ist noch rein und<br />

klar, in den Oasen flüstert eine frische Brise sanft im dichten, störrischen Blätterwerk der Palmen.<br />

Der einzigartige Zauber dieser unvergesslichen Augenblicke inmitten des tiefen Friedens der Wüste<br />

lässt sich nicht in Worte fassen. Wer nie in der Wüste erwacht ist, hat keine Ahnung davon von der<br />

unvergleichlichen irdischen Schönheit der frühen Morgenstunden ...“<br />

"Wir müssen einen neuen Menschen auf die Beine stellen", schrieb der Psychiater und<br />

Vordenker der Entkolonialisierung Frantz Fanon <strong>als</strong> Hinterlassenschaft für seine algerischen<br />

Weggefährten, ehe er ein Jahr vor der Befreiung Algeriens in Washington an Krebs starb. Nur wie<br />

und mit wem? Ich traf auf einst junge Revolutionäre, die im Nu ihre Panzerspähwagen mit<br />

blankgewienerten Staatskarossen inklusive Fahrer vertauschten. Genugtuung vieler Orte. Junge<br />

Menschen, die vom Umbruch träumten, redeten - sich aber zugleich in feudalen Villen, mit Stuck<br />

verkleideten Decken, Kamin, Parkett, drei Meter hohen Fensterfassaden <strong>als</strong> "neue Herren"<br />

einrichteten; mit einem untertänigen Dienstpersonal, für das ein Fingerschnipsen <strong>als</strong> Kommando<br />

für eine Bestellung ausreichte. Beinahe so, <strong>als</strong> sei der Wiederholungszwang eine ausweglose<br />

Gesetzmäßigkeit. Eine Jugend, die nach außen hin kein eigenes Erleben, keine eigene<br />

Wahrnehmung, keine Generationskonflikte benennen durfte - nur jene Litaneien, stereotypen<br />

Floskeln ihrer scheinbar übergroßen Väter von sich zu geben verstand.<br />

Hamid, ein sympathisch-offener Typ von mal gerade 22 Jahren, hat in Algier seine Eltern<br />

verloren, die Parteijugend wurde zu seiner Heimstatt - Ersatz-Heimat. Er hatte gerade in der Villa<br />

seiner FLN-Garde ein Glas Rouge in den Konferenzsaal serviert bekommen, da verkündet er<br />

maßstabsgetreu: "Die Erfahrung der Revolution hat gezeigt, dass es nur eine Partei geben darf, um<br />

eine geschlossene Masse herzustellen. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten kann es gar nicht<br />

geben, weil es das oberste Ziel ist, die Revolution auf wirtschaftlicher und bildungspolitischer<br />

Ebene zu verwirklichen", hat Hamid verkündet. Punktum. Die Revolution hat Algeriens Kinder in<br />

Villen und Supermärkte entlassen. Der Weg in den Pfründestaat <strong>als</strong> Selbstbedienungsladen<br />

politischer Klassen war vorgezeichnet. Die Chance, die Frantz Fanon in diesem neuen Algerien<br />

sah, aus den Fehlern Europas zu lernen, versickerte im Wüstensand.<br />

20


Was gilt es aber zu tun, wenn ein jahrelang verinnerlichtes Feindbild - das der Franzosen -<br />

plötzlich nicht mehr existiert. Löcher entstehen, Argumentationsdefizite, die über Jahre lieb<br />

gewonnene intakte Sozialpsychologie ganzer Gruppen geraten ins Rutschen. Böte sich da nicht der<br />

verhasste Staat Israel an; das Land der Juden <strong>als</strong> Passepartout jedweder Unzulänglichkeiten. Keiner<br />

konnte dam<strong>als</strong> ahnen, dass in diesem von Unterdrückung, Krieg, Folter und Armut durchtränkten<br />

Algerien eine noch weitaus größere brutalere Schlacht bevorstünde - eben einer der dreckigsten<br />

Kriege zwischen "Islamisten" und "Sicherheitskräften", in dem über 200.000 Menschen verreckten.<br />

Die britische Zeitung "The Independent" berichtete: "Aber in den letzten fünf Jahren sind<br />

zunehmend mehr Beweise aufgetaucht, dass Teile dieser selben (staatlichen) Sicherheitskräfte in<br />

einige der blutigsten Massaker involviert waren, mit eingeschlossen dem H<strong>als</strong>aufschneiden von<br />

Babys.‘ The Independent' hat sehr detaillierte Berichte über die algerische Polizeifolter und die<br />

außergerichtliche Exekution von Frauen und von Männern veröffentlicht (1997). Und doch hat die<br />

USA, <strong>als</strong> Teil dieses obszönen 'Krieg gegen den Terrorismus', sich mit dem algerischen Regime<br />

angefreundet ...“ Längst war unter dem Oberbegriff Terrorismus Folter weltweit gesellschaftsfähig<br />

geworden. - Absurde Jahre.<br />

Es war aber erst der wirtschaftliche Niedergang Ende der achtziger, Anfang der neunziger<br />

Jahre, der das Machtmonopol der Einheitspartei FLN dezimierte. Schwere Unruhen überzogen<br />

Staat und Machtapparat. Ursachen waren in alltäglicher Korruption herrschender Schichten,<br />

Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Verelendung, und einer Hoffnungslosigkeit im Hier und Jetzt<br />

junger Generationen zu suchen. Zögerlich wurde halbherzig eine Demokratisierung eingeleitet. Mit<br />

einer neuen Verfassung galt es die Trennung von Partei und Staat zu verankern, politische<br />

Freiheiten wie Garantien der Menschenrechte mit Pathos zu verkünden; Jahre zu spät, verschenkte,<br />

vertane Jahre. Es waren längst die Stunden der Extremisten angebrochen - allen voran die der<br />

Extremisten - der islamischen Heilsfront (Front islamique du salut/FIS). Sie rief zum bewaffneten<br />

Kampf und wurde 1992 verboten. In Algier herrscht seit dem Jahre 2001 ein allgemeines<br />

Demonstrationsverbot.<br />

Bombenanschläge, Bombenexplosionen hatten eine Eigendynamik entwickelt - Jahr für<br />

Jahr. Sprengsätze um 1988, Sprengsätze um 2007 am 11. Dezember auf das Gebäude der<br />

Flüchtlingsorganisation UNHCR im Stadtteil Hydra und in der Nähe des Obersten Gerichtshofs<br />

im benachbarten Stadtteil Ben Akoun. Wieder starben 26 Menschen, wieder bekannte sich die "al-<br />

Qaida des Islamischen Maghreb" zum Terror dieser Ära.<br />

Bei den Präsidentschaftswahlen am 8. April 2004 wurde Staatspräsident Abd al-Aziz<br />

Bouteflika (seit 1999 im Amt) mit 83 Prozent der Stimmen für eine zweite Amtszeit wiedergewählt.<br />

Er wollte und will immer noch mit seiner Vorlage einer "Charta für Frieden und nationale<br />

Versöhnung" ein Land befrieden. Offenbar aussichtslos. Amnesty international in London<br />

analysierte, kritisierte: "Sie (die Versöhnungspolitik) verneint jede Verantwortung der<br />

Sicherheitskräfte und der Milizen für schwere Menschenrechtsverletzungen. Kritik an den<br />

Sicherheitsorganen stellt sie unter Strafe. Die Verordnung, mit der sie umgesetzt wird, verhindert<br />

eine gerichtliche Untersuchung und Aufklärung des Schicks<strong>als</strong> Tausender im Verlauf des<br />

Bürgerkriegs "verschwundener Personen". Klagen gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte müssen<br />

von den Gerichten abgewiesen werden." - Makulatur. Vertane Chancen in einem Land voller<br />

zerrissener Seelen.<br />

Als ich Algerien im Jahr 1970 verlies, las ich auf meinem Rückflug nach Paris im Buch<br />

"Prinzip Hoffnung" des Philosophen Ernst Bloch (*1885+1977). Darin sagt Bloch "radikal zu sein,<br />

bedeutet das Übel an der Wurzel zu packen. Er fährt fort: "Es gibt keinen Sozialismus ohne<br />

21


Demokratie und keine Demokratie ohne Sozialismus." - Das gilt für Algerien, diese geschundene<br />

Nation, allemal.<br />

22


Pest dieser Jahre: Rauschgift<br />

1971<br />

23


RAUSCHGIFT ODER DIE PEST DIESER JAHRE - DROGEN,<br />

DRUGS, ECSTASY, LSD, HEROIN ... .... IRGENDWANN<br />

KREPIEREN. TOTE WERDEN NUR NOCH<br />

MITGESCHRIEBEN.<br />

Heroin hat ihn fertigmacht: Joe, der Fixer, ist ausgeflippt. Ihn interessiert nichts<br />

mehr, nur noch der "Stoff". Und jetzt ist er impotent. Für die Gesellschaft ist Joe<br />

"Abschaum", "Abfall", ist er Trash" (Müll). "Trash" hieß auch der Film aus Andy<br />

Warhols Produktions-"Fabrik". Superstar Joe Dallesandro spielte den Süchtigen, für den<br />

es kein Zurück mehr gab und der sich eines guten Tages die letzte Spritze gab. "Trash"<br />

war schon in den siebziger Jahren einer der authentischen Kinofilme. Albträume ... ...<br />

Neue Hannoversche Presse vom 1. August 1971 /5. Februar 2009<br />

Sie nennen ihn Schadow; sie die Fixer, Spritzer, Hascher, LSD-Freaks - gleich auf den<br />

Abstellgleisen hinter Hannovers Hauptbahnhof. Seinen bürgerlichen Namen weiß in diesem Kreis<br />

niemand, tut auch nichts zur Sache. Schadow, ein Vorstadt-Junge aus dem betuchten Bürgerviertel<br />

um den Vier-Linden-Platz in Barsinghausen, zählt zu jenen Jugendlichen, die dem Rauschgift<br />

verfallen sind. Er weiß es, er weiß, dass es <strong>als</strong>bald mit ihm jäh zu Ende geht. - Nur ein Zurück, das<br />

gibt es für ihn nicht mehr, sagt er. "Eher verrecke ich ..." tönt er teilnahmslos in die Spelunke.<br />

Von den Bahnschienen kommend hockt Schadow sich dösend in dieser hannoverschen<br />

Kneipen-Ecke; hier sitzt er meist -tagein, tagaus. Immer sind es dieselben Typen, dieselben Lieder<br />

von der Musik-Box, der gleiche Qualm, dieselben Grimassen, dasselbe belanglose Gequatsche.<br />

Stereotyp blättert der mal gerade 18jährige Schüler aus der zwölften Klasse in den Mickey-Maus-<br />

Heften. Am liebsten würde Schadow lieber heute <strong>als</strong> morgen in Rente gehen. Einfach verweigern,<br />

"null Bock und so". Seinen alten Klassenraum in der Penne hat er schon seit Monaten nicht mehr<br />

gesehen. Seinen Lehrer, Jörg-Ulrich Bockstiegel, grüßt er auf der Straße nicht mehr, wenn sie sich<br />

zufälligerweise begegnen. Er schaut weg. Sein Gesicht ist hager, die Augäpfel haben bereits<br />

überdimensionale Form angenommen, seine Haare sind schulterlang, strähnig und schmutzig<br />

zugleich. Aus der Musik-Box hämmert an diesem Nachmittag zum wievielten Male Mike Oldfields<br />

"Shadow on the wall". Und diese Melodie hat immer wieder von Schadow gedrückt, er steht auf<br />

diesen Song, schließlich nennen ihn hier doch alle Schadow. - Ein Junge in seinen besten Jahren.<br />

Die Zeiten, in denen Schadow Haschisch rauchte, sind endgültig vorbei. Seine<br />

Alltagserfahrung, wie vieler seiner Zeitgenossen (49 Prozent der 12- bis 25jährigen) kennt das auf<br />

dem Markt angebotene Rauschgift-Repertoire aus dem ff. Nur Schadow, das heißt sein Körper,<br />

verlangt nach stärkeren Mitteln. Opium, Morphium, Meskalin und LSD, Marihuana gibt's überall so<br />

in Hannover auf den stillgelegten Gleisen vor dem Nuttenviertel in der Ludwigstraße. - Hastig, von<br />

anfänglicher Sucht schon an gerempelt, ist er wie ein Besessener immer auf der Suche nach Stoff<br />

und Kick. Schadow, mal gerade 18 Jahre alt geworden (Mutter Monika backte zu seinem<br />

Geburtstag einen Topf-Kuchen), gehört zu jenen 60.000 Rauschgiftsüchtigen in diesem Land.<br />

Im nächsten Jahr (1972) werden es nach Schätzungen der Experten 120.000 Jungrentner<br />

sein - die irgendwo und irgendwie in lichtfreien Nischen dahinsiechen oder sich in einer<br />

Nervenheilanstalt (Psychiatrie) wiederfinden werden. In Zahlen: Im Jahr 1950 gab es in<br />

24


Deutschland 1.737 Rauschgiftdelikte - 57 Jahren später im Jahre 2007 sind bereits 248.355<br />

Straftaten erfasst; von der Dunkelziffer gar nicht zu sprechen. Sie liegt um ein Vielfaches höher.<br />

Gewiss - in Deutschland dieser Zeiten gaben sich alle irgendwie "betroffen" von Ferne,<br />

aus der Distanz heraus. Vor allem die Linke in der Sozialdemokratie mit ihrer innewohnenden<br />

gesellschaftspolitischen Empörungs-Theatralik war immer und immer wieder aufs Neue<br />

"betroffen", solange ihr gesellschaftlicher Aufstieg gewährleistet schien. Der Begriff<br />

"Betroffenheit", dieses ausgeleierte Passepartout-Wörtchen aus den achtziger Jahren, signalisierte in<br />

Wirklichkeit keine Erregtheit, Ergriffenheit, keine Abhilfe, keine neuen Denkansätze, keine neuen<br />

Aktivitäten. Berührungsängste mit den unappetitlichen Schmuddelkindern des Rauschgifts<br />

kennzeichnet das einstige "Modell Deutschland". Ein Notstand, an den sich alle gewöhnt haben,<br />

wird er doch sorgsam verwaltet - weit weg, versteht sich. Schubladen. Weit weg in den Köpfen<br />

vieler war der Drogenmissbrauch, aber gleichsam der Alkoholismus, weil er im Bewusstsein so<br />

mancher Menschen mit den Bildern gestrandeter, obdachloser Zeitgenossen sich festgesetzt hatte.<br />

Dass die Drogenwelt hingegen sich schon längst ins scheinbar so intakte Bürgertum des gehobenen<br />

Mittelstands sattsam hineinfraß - das wurde kurzum bockig ignoriert, weil es einfach nicht wahr zu<br />

sein hatte. Verniedlichungen. Verdrängungen .<br />

Der Anblick dieses "ausgebrannten Typen", wie man über diese kaum 16jährigen<br />

Jugendlichen in diesen Fixer-Kreisen zu sagen pflegt, signalisiert eine Endstation - Endstation<br />

Sehnsucht. Hier zählt nur ein ungeduldiges, schmerzliches Verlangen - Stoff. Dam<strong>als</strong> im Jahr 1970<br />

waren es in Deutschland etwa eine Millionen Menschen; bis ins Jahr 2007 hat sich die Anzahl auf<br />

nahezu zwei Millionen verdoppelt: ein Leben nur für und mit dem Rausch. Erstm<strong>als</strong> seit nahezu<br />

einem halben Jahrzehnt verzeichnete das Jahr 2008 eine alarmierende Trendwende.<br />

Insgesamt starben im besagten Zeitraum 1.449 Menschen ihren Drogen-Tod. Das sind 3,9<br />

Prozent mehr <strong>als</strong> im Vorjahr. Nach Prognosen der Drogenbeauftragten, Sabine Bätzing, sei mit<br />

einem weiteren Anstieg der Todesrate zu rechnen. Der Grund: Folgeerkrankungen wie Hepatitis C<br />

forderten neue Opfer. Auffällig sei außerdem, dass bei der Zahl der Drogentoten ältere Jahrgänge<br />

"ins Gras beißen" (Bätzing). Hauptursache sei, dass die Hälfte der Rauschgift-Toten hätten<br />

zeitgleich mehrere illegale Stoffe konsumiert. Etwa 70 Prozent kamen im privaten Umfeld ums<br />

Leben. "Das Bild vom Drogentoten auf dem berühmten Bahnhofsklo", so die Politikerin, sei ein<br />

für allemal passé.<br />

Vor drei Stunden gab Schadow sich den letzten "Schuss" (Injektion). Jetzt ist es wieder<br />

soweit. Zahlreiche Einstiche an seinen beiden Armen veranlassen den Hascher Christoph zu der<br />

lakonischen Bemerkung: "Der macht es nicht mehr lange". Erst kürzlich hätte den arg<br />

weggetretenen Schadow eine Überdosis Heroin beinahe ins Jenseits befördert. Christoph: "Der lag<br />

schon so da, dass wir einen Leichenwagen holen wollten." - Teilnahmslos ist die Fixer-Sprache,<br />

schematisch werden noch die "Abgänge" irgendwo im Hinterkopf gehalten. - Ende der Durchsage.<br />

Schadow, der diesen Satz eigentlich mitgehört haben sollte, schweigt dazu. Der "Schuss"<br />

hat ihn wieder "high" auf die Kneipen-Stühle fallen lassen; jedenfalls so "high", dass sein Körper<br />

reglos daliegt. Der Junge habe vom Aussehen her Gelbsucht, könnte man bei seinem Anblick <strong>als</strong><br />

Unbeteiligter meinen. "Ja, ja", murmelt Kollege Edgar, "unsere Gelbsucht heißt Heroin". Ob<br />

Schadow, Christoph oder auch Edgar - diese Rausch-Minuten "das ist unser Leben". Es sei eine<br />

Phase der Euphorie, in der sie sich empor auf eine lichte Öde tragen lassen. Blitz-Momente, in<br />

denen sie steigen, wachsen und schweben; immer leichter und seliger werden, immer scheinbar<br />

reiner und göttlicher, ohne Wissen, ohne Leid und Mangel, ohne Sehnsucht und Vorstellungen,<br />

ohne Dunkelheit und Fessel, nichts <strong>als</strong> ein stiller glänzender Glanz über und jenseits der Welt ... ...<br />

25


Das Jahr 1970 wird, wenn man später einmal die Chroniken aufschlägt, <strong>als</strong> der markante<br />

Auftakt klassischer Rauschgift-Subkulturen West-Europas in die unrühmlichen Annalen der<br />

Geschichte eingehen. Bis dato glaubten Sozialbehörden, Polizeiapparate den illegalen Drogen-<br />

Handel wie auch den Konsum unter "Kontrolle" zu haben. Währenddessen wich dieses staatliche<br />

Omnipotenz-Gebaren arg kleinlaut der Betrachtung - "nichts im Griff " zu haben. Ob Verbrauch,<br />

Verbreitung, Vertrieb, Handel - längst hatte die Drogen-Mafia in Schulen, Jugend- oder<br />

Freizeitheime Regie übernommen. Der Politik mit seinen Institutionen des Staates schien somit<br />

alles entglitten. Dabei hatte der Rauschgift-Krieg der Banden mit ihren Hehlern mal gerade erst<br />

begonnen. Und Schadow aus Barsinghausens vom Autoverkehr beruhigten Gutbürger-Viertel um<br />

den noblen Vier-Linden-Platzes ist nur einer von zig Tausenden in Deutschland, die trotz<br />

Warnungen, Ermahnungen ihre "heile, intakte Welt" in Opiaten suchen. "Nur weg aus diesem Stall<br />

von Anstand und Verlogenheit", sagt Schadow da.<br />

Die höchste Steigerung der Rauschgift-Kriminalität brachte das Jahr 1969 mit 4.761 Fällen<br />

in der alten Bundesrepublik. Aber gerade in dieser Deliktgruppe ist die Dunkelziffer sehr hoch.<br />

Schätzungen gehen dabei so weit, dass auf einen erkannten Fall bis zu 300 unerkannte zu rechnen<br />

sind. In einer Sitzung des niedersächsischen Landtags im April 1971 in Hannover musste sich<br />

Innenminister Richard Lehners (1967-1974; *1918+2000) eingestehen, dass "der Anteil der<br />

Minderjährigen an der Gesamtzahl der Rauschgift-Täter bereits 80,7 Prozent beträgt." - Modell<br />

Deutschland.<br />

Allein in den Vereinigten Staaten von Amerika stieg die Zahl von Heroinsüchtigen im<br />

Laufe der vergangenen zehn Jahre (1961-1971) von 60.000 auf mindestens 150.000 Menschen -hat<br />

unterdessen im Jahr 2007 eine Größenordnung von offiziell 200.000, bei einer geschätzten<br />

Dunkelziffer von 400.000 erreicht. Zudem wird die Anzahl derer, die Marihuana inhalieren auf<br />

etwa zehn Millionen US-Bürger angegeben, berichtete die "Washington Post". Allein in der<br />

Metropole New York starben bereits Anfang der siebziger Jahre täglich drei Leute an den Folgen<br />

ihres Yunkee-Daseins. Und die Vereinigten Staaten insgesamt verzeichneten allein im Jahr 2000<br />

über 17.000 Drogentote. Bei einer Gesamtbevölkerung von 300 Millionen Menschen sind das etwa<br />

sechs Drogentote auf je 100.000 Einwohner. Deutschland indes hatte im Jahr 2007 einen leichten<br />

Rückgang an Drogentoten zu verzeichnen. Im Vergleich zum Jahr 1991 starben immerhin 731<br />

Jugendliche (2.135 Tote) im Jahre 2007 weniger. Fortschritt.<br />

Die Gier nach harten wie weichen Drogen hat natürlich auch in Deutschland Folgen<br />

gezeitigt. Mittlerweile leben zwischen 168.000 und 282.000 Heroinabhängige in dieser<br />

bundesdeutschen Republik (Jahr 2005). Das sind weitaus mehr, <strong>als</strong> es die Verantwortlichen offiziell<br />

zugeben mögen. Alarmstimmung. Selbst Behandlungen der viel gepriesene Ersatzdroge wie<br />

Methadon und Buprenorphin offenbaren sich bei näherer Betrachtungsweise <strong>als</strong> Makulatur. In<br />

Deutschland bietet nur jeder vierte der etwa achttausend Ärzte, die zur Abgabe dieser Ersatz-<br />

Substanzen berechtigt sind, tatsächlich eine erfolgsversprechende Therapie an.<br />

Exorbitant hohe Gewinne, ohne allzu viel Aufwand eingeheimste Profite - das sind die<br />

Initialzündungen für den illegalen Drogenhandel. So kostet beispielsweise ein Gramm Kokain in<br />

der Herstellung etwa einen US-Dollar. Der Konsument hingegen muss für dieses Gramm etwa das<br />

80- bis 150fache bezahlen. Der Preis für Haschisch aus dem Anbaugebiet - im Norden Pakistans,<br />

Afghanistans und in der Türkei - beträgt etwa 5 bis 10 Euro pro Kilogramm. Auf den nicht gerade<br />

friedlich - eher kriegerisch zugehenden Umschlagplätzen des Nahen Ostens wird die "heiße Ware"<br />

zum fünffachen Aufpreis verhökert. Diese Zwischenhändler ihrerseits schlagen nochm<strong>als</strong> etwa 300<br />

Prozent drauf -ebenso ihre "Gewährsleute" in Deutschland. Wenn ein Kilogramm Haschisch auf<br />

26


Reisen geht, steigt mit jedem Kilometer sein Preis. Der Endverbraucher legt letztendlich bis zu<br />

3.000 Euro für ein Kilo auf den Tisch.<br />

Es ist eine nicht mehr zu verleugnende Tatsache: Die Erlöse aus dem Drogenhandel<br />

werden hauptsächlich für den illegalen Waffenhandel dazu verwendet. Weltweit gilt es,<br />

paramilitärische Truppen aufzurüsten - Regionalkriege zu entfachen. So finanzierten die Franzosen<br />

bereits ihren Indochinakrieg (1946-1954) und Jahre danach die USA ihre Vietnaminvasion (1946-<br />

1975) zum Teil durch Rauschgift-Geschäfte. Dam<strong>als</strong> galt es, verbündete Armeen durch Heroin-<br />

Verkäufe auf dem Weltmarkt zu finanzieren. Tragend war die Mittler-Rolle des amerikanischen<br />

Geheimdienstes CIA - kein Geschäft ohne US-Agenten.<br />

Es war der amerikanische Enthüllungs-Journalist Gary Webb (*1955+2004), der in seiner<br />

Artikel-Serie "Dark Alliance" einen lückenlosen Nachweis über Kokain-Schmuggel durch die<br />

nicaraguanischen Contra-Rebellen in die USA führte. Seinerzeit im Jahre 1996 wurde mit diesen<br />

Erlösen ihr Krieg gegen die unliebsamen und USA-kritischen Sandinisten geführt. Laut Gary Webb<br />

soll die von ihm aufgedeckte Contra-Connection für die Hälfte des in dieser Zeit in die USA<br />

geschmuggelten Kokains verantwortlich gewesen sein. Gary Webb wurde am 10. Dezember 2004<br />

in seinem Haus in Sacramento erschossen aufgefunden. Der Pulitzer-Preisträger (1990) starb durch<br />

zwei Schüsse aus einer Waffe vom Kaliber 38 in den Kopf. Der örtliche Untersuchungsrichter<br />

deklarierte Webbs Tod <strong>als</strong> Selbsttötung. Spekulationen, dass Gary Webb ermordet worden sein<br />

könnte, nehmen seither kein Ende......<br />

Zurück nach Hannover an der Leine in den siebziger Jahren - dem Ausgangspunkt des<br />

deutschen "Drogen-Wunders". Viele Jugendliche freundeten sich einstweilig mit dem Kiff an, weil<br />

sie raus wollten aus einer Gesellschaft, die vom hohlen Profitstreben geprägt ist und an scheinbar<br />

überkommenen Normen stur festhält. Manche Pennäler dieser Jahre flüchteten in ihre eigene Welt,<br />

zumeist "heile" Welt. - Nur raus aus dieser erkalteten, unnahbaren, scheinbar sinnlos<br />

daherlebenden Gesellschaft war die Devise. Und jene vermeintliche Idole einer "neuen" Welt, die<br />

Pop- , Soul- und Beatgruppen um Jimi Hendrix (*1942 +1970) oder auch Frank<br />

Zappa(*1940+1993), verstanden es verlockend, diese neue Gesellschaft im Jenseits "schmackhaft"<br />

zu machen. Was so viel hieß: Nur wer "in", sei "high“. Das schien plötzlich ihr Leben oder besser<br />

gesagt ihre Welt, in der sie leben wollten. - Nur dort.<br />

Dam<strong>als</strong> träumten viele Avantgardisten des verführten Geschmacks von einer<br />

permanenten Revolution, vom romantisch angehauchten Ernesto Che Guevara (*1924 +1967) im<br />

fernen Südamerika - und sei es nur auf einem überlebensgroßen Poster. Ein Konterfei, das in vielen<br />

Trabanten-Vorstädten, auch ergrauten Beton-Bauten, ein Synonym für Hoffnung auf eine<br />

gerechtere Welt mit menschlichem Antlitz war. "Macht kaputt, was euch kaputt macht", tönte es<br />

durch Hannovers Straßen - gegen Kapitalismus, gegen Springers Massenblatt namens "Bild". Dabei<br />

haben Hippies, Kiffer, Studenten, Schüler und auch Lehrlinge recht schnell eines lernen müssen -<br />

Deutschland ist eben nicht drogen- aber dafür weitestgehend hoffnungsfrei.<br />

Jedes Milieu, jede Subkultur entwickelt im Laufe der Zeit seine eigene Sprache, eigene<br />

Begriffe, eigene Ausdrucksweisen; so auch die Drogenszene. Ihr Repertoire ist eine Mischung aus<br />

dem Jargon der Halb- und Unterwelt, verbunden mit einem englischen "Fachsprachencharakter"<br />

für Süchtige. So will es gelingen, dass sich Szene-Angehörige allein schon durch ihren emotionalen<br />

Sprachbezug abgrenzen - ausgrenzen - aussteigen. Wer in diesem In-Group-Gebaren heimisch<br />

werden will, der hat 211 neue Wörter zu lernen. Da heißt es eben Body Packing (Transportieren<br />

von Drogen in Körperöffnungen), Deutsche Hecke (Schlechtes Cannabis) oder auch Lady (für<br />

LSD).<br />

27


Junkie Shadow starb im Alter von 22 Jahren. Auf den Bahngleisen des einstigen<br />

Güterbahnhofs, dort wo er auf seinen Stoff wartete, brach er zusammen, schlug mit Kopf wie<br />

Genick auf die Gleise. Nichts, so will es scheinen, erinnert noch an diesen einst lebensfrohen<br />

Jungen aus der Flower-Power-Ära in seinem Land. Niemand mag sich noch an ihn erinnern. Im<br />

Armengrab zu Gehrden, einer Nachbargemeinde seines Heimatortes Barsinghausen, verläuft sich<br />

Shadows Spur. Aus Shadow, der mit bürgerlichen Namen Klaus-Dieter Klemme hieß, war da<br />

längst eine Nummer geworden und selbst die ist nach Jahrzehnten zur Unkenntlichkeit verwischt,<br />

getilgt. - Ende der Durchsage.<br />

Szenenwechsel. - Seit einigen Jahren klappert Django mit seinem Suchtmobil Schulen und<br />

Sportveranstaltungen im Großraum Hannover ab. Djangos Drogen-Karriere hatte schon in der<br />

Grundschule begonnen. Alkohol, Amphetamine, Kokain und Heroin. Seinen silbergrauen Van<br />

baute der 49jährige mittlerweile zu einem Informations- und Hilfs-Mobil aus. Überlebenshilfe im<br />

Land illegaler Rauschgifte. Gewiss - hat Django es geschafft, konnte sich all die Jahre mehr oder<br />

recht knapp über Wasser halten - finanziert mit kriminellen Methoden. Django gesteht: " Ich habe<br />

nur noch geklaut, am Ende brauchte ich 300 Euro pro Tag."<br />

Irgendwie absehbar, dass Django eines Tages in den Bau einfuhr. Dort wurde er clean -<br />

notgedrungenerweise. Seither kurvt Django <strong>als</strong> Drogenberater über Wald und Feld, von Schulen zu<br />

Jugendzentren. Weit über zehntausend Pennäler und Gymnasiasten hat Django bereits von seiner<br />

Lebensbeichte erzählen können. An diesem Tag berichtet er vor 160 Jungen und Mädchen in einer<br />

Schulturnhalle zu Barsinghausen. Django schildert packend, authentisch von einem Kiffer, von der<br />

nicht enden wollenden Gier und Hatz nach diesem teuflischen Gift. Er schildert, Leben,<br />

Familiengeschichte, Alltag, Zerrüttung -Drogen-Tod. Es war mucksmäuschen still im Saal. - Keiner<br />

konnte ahnen, dass der längst vergessene, oder auch unbekannte Shadow der ältere Bruder dieses<br />

Wohnmobil-Django war.<br />

28


1972<br />

Brandstifter der Demokratie<br />

Petra Kelly: Gewaltfreier Widerstand<br />

Deutschland – Deine Nazis<br />

Didacta 72 – Utopia 72<br />

Leben eines Bänkelsängers: Dietrich Kittner<br />

Kanzlersturz Willy Brandts - ein Politiker namens Helms<br />

Kirche in der Nazi-Zeit: Entzauberung einer Legende<br />

SPD-Ausverkauf – Der Mann, der Zeitungen sterben ließ<br />

Am Vorabend der Emanzipation: Eine Frau zum Vorzeigen<br />

29


STAATSFEINDE, VERFASSUNGSFEINDE,<br />

DEMONSTRANTEN - KALTER KRIEG IN DEUTSCHLAND<br />

ODER "BRANDSTIFTER DER DEMOKRATIE"<br />

In Gedenken an Peter Brückner (*1922+1982). Er wurde zu Beginn der siebziger<br />

Jahre in der Jugendrevolte mit Büchern und Aufsätzen, so über die "Transformation der<br />

Demokratie", zu einer markanten Symbolfigur des Protests. Als Psychologie-Professor in<br />

Hannover erhielt Brückner mehrfach - wegen angeblicher Unterstützung der RAF, und der<br />

"Mescalero-Affäre" - Berufsverbot. Erst 1981 wurden alle Disziplinarmaßnahmen gegen<br />

ihn aufgehoben. Zuvor hatte der Hochschullehrer in langwierigen Prozessen, Jahre um<br />

Jahre - durch alle Gerichtsinstanzen - obsiegt. Wenige Monate später starb Peter Brückner<br />

in Nizza an Herzversagen. Der Bürgerrechtler Jürgen Seifert (*1928+2005) organisierte in<br />

Hannover trotz Einschüchterungen den Widerstand im inneren des Landes.<br />

Frankfurter Rundschau vom 1. Februar 1972<br />

Er hatte es sich lange hin und her überlegt, ob er die Rede halten sollte. Staatssekretär<br />

Hans Wedemeyer vom niedersächsischen Kultusministerium, der ihn vor dem Teach-in zu sich<br />

zitierte, riet zur beamtenrechtlichen Zurückhaltung und zeigte mögliche juristische Konsequenzen<br />

auf. Dem Komitee "Solidarität mit Peter Brückner", das ihn zu dieser Rede aufforderte, gab er<br />

schließlich doch sein Jawort: Jürgen Seifert, Professor der Politikwissenschaft an der Technischen<br />

Universität Hannover.<br />

Es sollte eine Rede, so Seifert, für die Studenten sein. Eine Rede, die durch die<br />

Suspendierung des Psychologie-Professors Peter Brückners ihrer Empörung Luft machen wollte<br />

und in einer Resolution zu der Auffassung gelangte: "Das niedersächsische Kultusministerium hat<br />

sich zur Strafvollzugsbehörde eines von Massenmedien inszenierten Schauprozesses gemacht, der<br />

seine Hintermänner und Interessen in CDU, Genscher-FBI-Fraktion und im 'Bund Freiheit der<br />

Wissenschaft' hat."<br />

Doch was ursprünglich den Studenten galt, die sich im Lichthof der Technischen<br />

Universität versammelt hatten, besaß politische Bedeutung und sorgte für landespolitischen<br />

Zündstoff. Jürgen Seifert, durch seine zahlreichen Notstandsdebatten rhetorisch versiert, rechnete<br />

mit Gesellschaft, Justiz und den Düsseldorfer Anklägern (in einem der ersten Baader-Meinhof-<br />

Prozesse gegen Karl-Heinz Ruhland, dem Quartierbeschaffer und späteren Kronzeugen) ab.<br />

Stürmischer Beifall der ohnehin emotional aufgeladenen Zuhörer war ihm sicher, <strong>als</strong> er eine<br />

Parallele zwischen dem Wissenschaftler Theodor Lessing, 1926 Professor der Technischen<br />

Universität Hannover, und Peter Brückner zog.<br />

Lessing musste auf Grund eines Erlasses des preußischen Ministers für Wissenschaft,<br />

Kunst und Volksbildung seine Lehrtätigkeit einstellen. Am 31. August 1933 wurde Lessing durch<br />

"Schergen des NS-Regimes", so Seifert, in Marienbad ermordet. Und Jürgen Seifert verkündet<br />

wörtlich: "Wir sind hier zusammengekommen, damit aus der vorläufigen Maßnahme des<br />

Kultusministers vom vergangenen Donnerstag nicht ein neuer Fall Theodor Lessing wird. Wir sind<br />

hier zusammengekommen, um den Hochschullehrern und Studierenden dieser Universität, um<br />

allen Bürgern unseres Landes, die ihren Stab über Peter Brückner bereits gebrochen haben, zu<br />

sagen, wie haltet ihr es denn nun mit dem Rechtsstaat, dessen fundamentales Prinzip lautet:<br />

30


Niemand darf <strong>als</strong> schuldig behandelt werden, solange seine Schuld nicht durch ein Gericht<br />

rechtskräftig nachgewiesen ist ?"<br />

Seifert glaubte zu wissen, was er sagte: " ... dass die politischen Motive einer Ulrike<br />

Meinhof (*1934+1976) der Praxis derjenigen hundertmal mehr vorzuziehen sind, die durch die Art<br />

der gegenwärtigen Verfolgung dazu beitragen, dass in diesem Land erneut Gestapo-Methoden für<br />

legitim gehalten werden können. Nicht die Rote Armee Fraktion hat an den Fundamenten des<br />

Staatswesens gerüttelt, sondern eine Praxis der Strafverfolgung, die im Kampf gegen die Gruppe<br />

Baader-Meinhof die rechtsstaatliche Ordnung Stück für Stück ausgehöhlt hat.<br />

Er fragte: "Ende der 50er Jahre entstand im Zusammenhang mit der Verfolgung der KPD<br />

der Begriff der Kontaktschuld: Der bloße Kontakt konnte, unabhängig von der Absicht, zur<br />

strafrechtlichen Verfolgung und zur Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz führen. Sollten diese<br />

Zeiten, gegen die Gustav Heinemann (*1899+1976) und Diether Posser einst gekämpft haben,<br />

heute unter veränderten Umständen wiederkommen?" Auf den Düsseldorfer Ruhland-Prozess<br />

eingehend, erklärte Jürgen Seifert: "Der Prozess gegen Karl-Heinz Ruhland ist einzigartig in der<br />

deutschen Rechtsgeschichte. In diesem Prozess ist alles verkehrt ... Zeugen werden geladen, die der<br />

Angeklagte, nach seinen eigenen Ausführungen nur aus Angaben Dritter her kennt. Der<br />

Vorsitzende scheut sich nicht, den Angeklagten danach zu fragen, bei wem dieser in jener oder jene<br />

Nacht übernachtet hat. Fast immer fällt ein Name. Immer ist ein Dritter diskreditiert oder<br />

diskriminiert. So genügt ein Satz, den Ruhland von Gudrun Enßlin (*1940+1977) gehört haben<br />

will, sie könne jederzeit Auskunft einholen über den Stand der Ermittlungen, um die Direktorin<br />

eines Frauengefängnisses, hier fällt der Name nicht, aber Ungezählte können sich denken, wer<br />

damit gemeint ist." Seifert fragt weiter, was hat das alles mit der Wahrheitsfindung im Ruhland-<br />

Prozess zu tun? "Wo ist die liberale Presse, die sagt, das läuft ab wie ein Schauprozess; der<br />

Düsseldorfer Prozess enthält - wenigstens im Ansatz -die Verfahrensweisen, die die von Stalin<br />

inszenierten Schauprozesse kennzeichneten."<br />

Letztlich kommt er zu dem Schluss: "In diesem Prozess geht es denjenigen, die für diesen<br />

Prozess verantwortlich sind, in erster Linie nicht um den Angeklagten Ruhland, sondern um die<br />

Diffamierung und Kriminalisierung Dritter und der politischen Linken insbesondere."<br />

Die Rede war gehalten, der anschließende Fackelzug zu Peter Brückners Wohnung<br />

beendet. Niedersachsens Politiker reagierten unverzüglich und mit aller Schärfe. Kultusminister<br />

Peter von Oertzen (*1924+2008), den Seifert seit den 50er Jahren kennt und der ihn auf den<br />

Lehrstuhl in Hannover berief, leitet ein Vorermittlungsverfahren ein. Justizminister Hans Schäfer<br />

(*1913+1989) lässt durch den Celler Gener<strong>als</strong>taatsanwalt überprüfen, ob Seiferts Rede<br />

strafrechtlich relevant sei, und Ministerpräsident Alfred Kubel (*1909+1999) fällt ein politisches<br />

Urteil, indem er gegenüber der Deutschen Presseagentur erklärt, Seifert habe sich in einer Weise<br />

geäußert, die mit seinem Treueverhältnis <strong>als</strong> Landesbeamter dem Staat gegenüber nicht zu<br />

vereinbaren sei. Im Plenum des Landtages betont der Ministerpräsident: "Wenn ich einem<br />

Hochschullehrer, <strong>als</strong>o einem Wissenschaftler vorwerfe, er argumentiere nicht rational: so sollten Sie<br />

verstehen, dass es kaum ein härteres Urteil über den Wert seiner Argumente geben kann. Nehmen<br />

Sie bitte entgegen, dass ich jede Unterstellung, ich wolle Äußerungen von Professor Seifert<br />

verharmlosen, entschieden zurückweisen muss."<br />

Der Sprecher der CDU, Werner Remmers, sah sich zu einer Stellungnahme veranlasst.<br />

"Die 'Vorgänge um Brückner und Seifert in Hannover sollten nun endgültig allen Demokraten<br />

deutlich gemacht haben: Es ist revolutionären Kräften gelungen, Positionen in den Hochschulen zu<br />

31


esetzen, von denen aus ein systematischer Kampf gegen die freiheitliche Demokratie geführt wird.<br />

Wollen wir die Brandstifter der Demokratie auch noch beköstigen und beherbergen?"<br />

Remmers fuhr fort: „Da lobe ein Professor der politischen Wissenschaften die<br />

gesellschaftlichen Motive Ulrike Meinhofs. Skandal. Da vergleiche derselbe Professor Aktionen<br />

unserer Justiz mit Gestapo-Methoden. Unerhört. Derselbe Professor - Lehrer jener Studenten, die<br />

später unseren Kindern Gemeinschaftskunde lehren sollten - stelle die Arbeit eines ordentlichen<br />

Gerichtes in die Nähe stalinistischer Schauprozesse. Unerhört. Berufsverbot, raus aus der<br />

Gesellschaft des öffentlichen Dienstes. Seifert drehe die Dinge auf den Kopf.<br />

Nicht das Gericht betreibe die Kriminalisierung und Diffamierung der politischen<br />

Linken, sondern jene hätten die politische Linke diffamiert und kriminalisiert. Sie hätten die Gewalt<br />

<strong>als</strong> politisches Mittel eingesetzt , die zur Verletzung der politischen Spielregeln aufriefen. Brückner<br />

habe Letzteres schon 1968 in einer DDR-Zeitung gesagt: 'In dieser Demonstration gegen<br />

Polizeiterror und den Springer-Konzern sehe ich ein Signal der Hoffnung. Ich habe seit langem<br />

darauf gewartet. Es gibt Kräfte, gegen die man sich unter Umständen auch unter Bruch der<br />

Spielregeln zur Wehr setzen muss.'“<br />

Jürgen Seifert ist in die Defensive geraten. Eine derartige Reaktion auf seine Rede hatte er<br />

nicht erwartet: "Meine Taktik war offensiv angelegt und die Inhalte auf die Aushöhlung der<br />

Rechtsstaatlichkeit gerichtet." Seifert sieht sich <strong>als</strong> Wissenschaftler, der sich gegenüber Studenten<br />

verpflichtet fühlt und das gesagt haben wollte, "was die Studenten bewegt". Er meint: "Wenn ich<br />

meine Aufgabe <strong>als</strong> Politikprofessor nicht wahrnehmen würde, wenn ich nicht bei einer solchen<br />

Gelegenheit das Wort ergreife, um zu vermeiden, dass die Solidarität zu Peter Brückner zu einer<br />

nicht differenzierten Beurteilung wird, wer drängt dann jene Gruppierungen zurück, die einen<br />

Gesetzesbruch um des Gesetzesbruchs willen wollen?"<br />

Während die niedersächsische CDU ihr Urteil über den Wissenschaftler inzwischen fällte,<br />

SPD-Politiker seine Rede nach strafrechtlichen Verfehlungen überprüfen ließen - wurde im<br />

Kultusministerium gegen den ungescholtenen Jürgen Seifert ein Vorermittlungsverfahren<br />

eingeleitet. Ziel ist die Eröffnung eines formalen Disziplinarverfahrens mit der Maßgabe einer<br />

Amtsenthebung. Lehrverbot, Berufsverbot eines unbequemen Universitäts-Professors. Freiheit in<br />

Deutschland – Gedankenfreiheit, Redefreiheit. Bleibt ein schwacher Trotz: In dem Refugium<br />

Universität wird Jürgen Seiferts Rede in Seminaren der Universität analysiert und diskutiert -<br />

Sympathie wie Beifall sind ihm dort gewiss. Aber der Campus gehört ja schon seit Jahren zum<br />

„exterritorialen Gebiet“ von Deutschland, von dem man möglichst wenig Notiz nimmt.<br />

32


GEWALTFREIER WIDERSTAND IN EINER AGGRESSIVEN,<br />

HOCHGERÜSTETEN WELT<br />

In Erinnerung an Petra Kelly (*23. November 1947 in Günzburg;+ ermodert in der<br />

Nacht zum 1. Oktober 1992 in Bonn. Sie war eine herausragende Friedensaktivistin ihrer<br />

Zeit und Gründungsmitglied der Partei Bündnis 90 /Die Grünen<br />

Frankfurter Rundschau vom 28. Februar 1972 und vom 05. März 2009<br />

Ganz in Nähe der von Panzerketten durchwühlten Truppen-Übungsplätzen in der<br />

Lüneburger Heide rüsten sich 30 Jugend-Offiziere der westdeutschen Armee für einen ganz<br />

anderen, nicht-militärischen Kampf - den Kampf um bessere Argumente; die Meinungsschlacht<br />

gegen die deutsche Friedensbewegung in den siebziger und achtziger Jahren. Für jungen Soldaten,<br />

so sagten sie, werde "die Schlacht dort erfolgreich geschlagen, wo es um unser Selbstverständnis<br />

geht". Nachdenklich fügten die "Bürger in Uniform hinzu: "Wir sind im Umbruch. Das jahrelang<br />

fixierte Freund-Feind-Schema stimmt nicht mehr."<br />

Und das in einer Welt, die jährlich 1,6 Billiarden Mark für militärische Rüstung ausgibt, die<br />

ein Atomwaffen-Arsenal beherbergt, das in seiner Sprengkraft 16 Milliarden Tonnen<br />

herkömmlichen Sprengstoffs TNT entspricht. Einer Erdkugel, auf der das reichste Fünftel der<br />

Bevölkerung über 71 Prozent des Welteinkommens, das ärmste Fünftel aber nur über zwei Prozent<br />

verfügt ein Globus, auf dem 500 Millionen Menschen hungern, 600 Millionen Menschen ohne<br />

Arbeit sind und eine Milliarde in tiefster Armut leben.<br />

Es war die Epoche der Petra Karin Kelly, Friedensaktivistin und Mitbegründerin der<br />

Partei Die Grünen. Sie war eine seltene Ikone der grünalternativen Bewegung in den siebziger,<br />

Anfang der achtziger Jahre in Deutschland. Sie besaß Charisma, Leidenschaft und<br />

Überzeugungskraft. Ihr Fachgebiet <strong>als</strong> Bundestagsabgeordnete und Vorstandssprecherin der<br />

Grünen war das Leid dieser Erde - Abteilung Kriegsgefahr, Rohstoffabbau,<br />

Bevölkerungswachstum, Verelendung der Menschen - zuständig für Antiatom-,<br />

Gleichberechtigungs-, Friedensbewegungen, vielerorts und nirgends -ausnahmslos weltweit <strong>als</strong><br />

globale Überlebensfrage. Überall marschierte Petra Kelly vorneweg, sprach mit vibrierendem<br />

Menschheitspathos vor 400.000 Demonstranten im Jahre 1981 gegen Hochrüstung, atomare<br />

Aufrüstung im Bonner Hofgarten. Folgerichtig wurde sie im Jahre 1982 mit dem Alternativen<br />

Nobelpreis (Right Livelihood Award) ausgezeichnet.<br />

Der politische Aufstieg der Petra Karin Kelly in der grün-alternativen Friedensbewegung<br />

verlief atemberaubend. Im Jahre 1977 gelangte sie in den Vorstand des Bundesverbandes<br />

Bürgerinitiative Umweltschutz; zwei Jahre später wurde Petra Spitzenkandidatin der Wahlliste<br />

"Sonstige Politische Vereinigungen - Die Grünen" für die Europawahl 1979. Schon ein Jahr später<br />

avancierte sie zur ersten Parteisprecherin der von ihr mitgegründeten Partei "Die Grünen".<br />

Ihren Wahrnehmungen und Empfindungen, von vielen Polit-Profis <strong>als</strong> "Betroffenheits-<br />

Getue" verhöhnt, galten das Leiden der Menschen und die krasse Ungerechtigkeit in ihrer Ära. Sie<br />

litt darunter. Zuweilen schrieb Petra Kelly Sätze über sich auf, wie schwach, wie zerbrechlich sie<br />

sich fühlte. Seit ihrer Kindheit war sie nierenkrank. Sie litt unter der Schule, sie litt unter dem<br />

Verlust ihres Vaters, sie litt an den Folgen familiärer Zerwürfnisse wie viele Scheidungskinder.<br />

33


Jahre später, <strong>als</strong> Petra Kelly zwischen 1971 und 1982 <strong>als</strong> Verwaltungsrätin bei der Europäischen<br />

Gemeinschaft in Brüssel arbeitete, litt sie unter der Behäbigkeit der Bürokratie. Jahre später litt die<br />

sich oft unverstanden gefühlte Petra Kelly unter den Grünen Parteikollegen auf den Abgeordneten-<br />

Bänken im Parlament. Dort im Deutschen Bundestag fungierte sie im Jahr 1983 <strong>als</strong> Sprecherin<br />

ihrer Fraktion. Und im Jahr 1980 gründete Petra Kelly mit dem Friedensforscher Theodor Ebert<br />

im westfälischen Minden den Bund für Soziale Verteidigung.<br />

Petra Kelly weilte natürlich nicht unter den 30 Jugend-Offizieren der Bundeswehr im<br />

niedersächsischen Fallingbostel. Nur mit ihrer Ausstrahlung, ihrem Sendungs-Bewusstsein, da hatte<br />

sie so manche Soldalten der Bundeswehr längst mit den Grünen-Botschaften erreicht. Fragen wie<br />

"ist eine gewaltfreie Konfliktaustragung, eine soziale Verteidigung" möglich? Sicherlich ist soziale<br />

Verteidigung, ziviler, nicht-militärischer, gewaltloser Widerstand gegen Aggression, Intervention<br />

zum Abschreckungssystem im Sinne einer funktionalen Äquivalenz keine kurzatmige<br />

Lösungsmöglichkeit zum angeblichen militärischen Gleichgewicht, etwa zwischen Ost und West.<br />

Doch gemeinsam mit dem Politikwissenschafter Theodor Ebert (Professor am Otto-Suhr-Institut<br />

in Berlin, 2002) entwarf Petra Kelly unter dem Begriff der Sozialen Verteidigung eine Alternative<br />

zur Kriegsführung, Kriegsbedrohung, Kriegsvernichtung dieser Epochen. Langfristig und im<br />

komplexeren Sinne hinterfragt, ermögliche die Soziale Verteidigung gleichwohl ein anderes<br />

Denken, "weil die gesellschaftlichen Grundlagen radikal in Frage gestellt werden, auf denen das<br />

bestehende Drohsystem aufrecht erhalten wird und die den Herrschenden in Ost wie West, Süd<br />

und Nord ständig ermöglichen, dessen Ausbau, Perfektionierung kritiklos propagieren zu können"<br />

(Theodor Ebert).<br />

Nach Auffassung der NATO will das Abschreckungssystem keinen militärischen Sieg<br />

garantieren, sondern den Ausbruch eines Krieges verhindern. Aber es ist gerade die so genannte<br />

drohende Gewaltanwendung, die Petra Kelly heftigst kritisiert. Für sie ist es unsinnig, dass mit einer<br />

militärischen Drohung, offene Gewaltanwendung und militärische Konflikte - auch durch die<br />

laufende Perfektionierung der Kriegswaffen-Technologie -verheerende Vernichtungs-Feldzüge<br />

verhindert werden können. Petra Kelly: "Wir wissen doch längst, dass der Versuch durch<br />

Abschreckung Kriege zu vermeiden, das Gegenteil erreicht wird - nämlich die systematische<br />

Vorbereitung von Kriegen." Auch nehme die viel gepriesene Abschreckungspolitik dem Gegner die<br />

Chance, die bei ihm vermuteten aggressiven Erwartungen zu widerlegen, da das militärische<br />

Gewaltsystem auf allen denkbaren Ebenen Vergeltung androhe.<br />

Die Soziale Verteidigung hingegen, urteilte Petra Kelly, sei ein klassischer Bestandteil der<br />

Theorien von gewaltfreier Konfliktaustragung. Gemeinsam mit Theodor Ebert trachtete Petra<br />

Kelly danach, historische, spontane und konzeptionslose Einsätze gewaltloser Methoden zu einer<br />

tragfähigen Strategie zu entwickeln. - Kärrnerarbeit. Ausgangsbasis sei die Theorie der "Macht von<br />

unten durch gewaltfreie Aktion". Bisher seien in der Politik-Wissenschaft Konflikte untersucht<br />

worden, in denen unterprivilegierte Schichten um mehr soziale Gerechtigkeit und um die Änderung<br />

sozialer Strukturen gekämpft hatten. Für den Friedensforscher Theodor Ebert waren derlei<br />

Auseinandersetzungen typisch, wie die Etablierten pazifistische Akteure mit ihren bürokratischen<br />

Apparaten erfolgreich ausmanövrierten.<br />

Die Grundform des Widerstands ist, dem Aggressor den Gehorsam zu verweigern und<br />

nach der demokratischen Grundordnung der eigenen Gesellschaft mit gesteigerter<br />

Einsatzbereitschaft die selbst gesetzten Aufgaben, Ziele, Lebens-Ideal zu erfüllen. Die soziale<br />

Verteidigung ist kein Hungerstreik der Nation, sondern gesteigerte Normalität unter "abnormen<br />

Bedingungen".<br />

34


Die Jahre des sozusagen letzten Appells der Petra Kelly begannen mit einem früheren<br />

Generalmajor der Bundeswehr. Gert Bastian (*1923+1992) war im Streit über die Richtigkeit des<br />

NATO-Doppelbeschlusses aus der Armee ausgeschieden .Er hatte sich mit einseitigem<br />

Abrüstungsverlangen an die NATO ("Krefelder Appell" von 1980 bis 1983 von vier Millionen<br />

Bundesbürgern unterzeichnet) der Friedensbewegung angeschlossen. Mitte der achtziger Jahre<br />

bezog das Paar Kelly/Bastian ein gemeinsames Haus in Bonn - agierten erst noch <strong>als</strong> gewählte<br />

Abgeordnete im Bundestag. Später – ohne Amt wie Mandat - arbeiteteten Bastian/Kelly<br />

zusehends aussichtsloser gegen ihre geringer werdende Bedeutung in der Öffentlichkeit an,<br />

verloren an Einfluss, ihr Charisma verblich – auch bei den Grünen . Abstieg, Zerwürfnisse,<br />

Bitterkeit.<br />

In der Nacht zum 1. Oktober 1992 erschießt Gert Bastian mit der Pistole vom Typ<br />

Derringer seine Lebensgefährtin Petra Kelly in der gemeinsamen Wohnung in Bonn-Tannenbusch<br />

und anschließend sich selbst. Petra Kelly schulterte das Leid dieser Erde - <strong>als</strong> Mensch zerbrach sie<br />

daran und wurde im Schlaf ermordet. - Mit ihrem Tod fand eine deutsche Aufbruchs-Ära ihr jähes<br />

Ende.<br />

35


DEUTSCHLAND DEINE NAZIS - BEI BELASTENDEN<br />

FRAGEN VERGANGENHEIT SCHWIEG DER BARON<br />

Otto Freiherr von Fircks (*14. September 1912 in Pedswahlen in Lettand; +17.<br />

November 1989 in Hannover) war Landwirt, SS-Obersturmführer in Litzmannstadt (SS-Nr.<br />

357261), Mitglied der CDU/CSU Fraktion im Deutschen Bundestag 1969-1976.<br />

Geschichts-Aufarbeitung nach drei Jahrzehnten der Nazi-Barbarei: Die Mörder<br />

sind unter uns, auch wenn sie nicht getötet haben. Ein KZ-Aufseher in Dachau wurde<br />

Bürgermeister in diesem Landkreis. Eine "Bürokraft des SS-Dienststellenleiters in Paris<br />

wurde Bürgermeister von Bürgstadt. Der Kommandeur der Sicherheitspolizei im<br />

französischen Angers, im Range eines SS-Hauptsturmführers, trat über zwanzig Jahre <strong>als</strong><br />

"Herr Rechtsanwalt Ernst" vor dem Oberlandesgericht in Oldenburg in schwarzer Robe<br />

auf. - Deutsche Karrieren. Sie waren sicherlich keine "Nazi-Größen". Aber sie haben eine<br />

unverdächtig erscheinende Kontinuität - eine deutsche Mentalität bewahrt.<br />

Der Holocaust hatte schätzungsweise 150.000 Täter, Organisatoren, Vollstrecker.<br />

Auf deutschem Boden sind aber nach dem Kriege nur 88.587 staatsanwaltschaftliche<br />

Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Ohne Strafe an "Verbrechen gegen die<br />

Menschlichkeit" blieben 80.000 Täter. Sie sind straffrei ausgegangen. Der Anspruch der<br />

Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse, die Ehre und Würde der Verletzten<br />

wiederherzustellen und das verletzte Recht wieder einzusetzen - ist nicht erfüllt worden.<br />

Nur ein präzises Erinnern für jüngere Generationen lässt die schon dam<strong>als</strong><br />

festgefahrenen restaurativen Abläufe in ihrer bedrückenden Gesamtheit des Verdrängens<br />

und der Lügen erkennen. Ein Prozess, der seit Ende der achtziger Jahre durch die<br />

rechtsextreme NPD oder auch durch die Nationale Sammlung eine scheinbar ungeahnte,<br />

fortwährende Aktualität gewinnt. Momentaufnahmen aus einem typischen Nazi-Verfahren<br />

jener Jahre.<br />

Frankfurter Rundschau 1. März 1972 und 2. März 2009<br />

Vor der 6. Kleinen Strafkammer des Landgerichts Hildesheim bot sich den etwa 300<br />

Zuschauern an zwei Verhandlungstagen ein seltenes, zeitweilig arg zweifelhaftes Bild. Auf der<br />

Anklagebank saß der 40jährige Volksschullehrer Artur Sahm, ehedem bis 1969 niedersächischer<br />

Landesvorsitzender der Deutschen Friedens-Union (DFU) aus Burgdorf bei Hannover. Nach dem<br />

KPD-Verbot von 1956 war die DFU 1960 mit dem Ziel gegründet worden, sozialistische und<br />

kommunistische Kräfte zu bündeln. Artur Sahm, von untersetzter Figur mit Nickelbrille und<br />

Halbglatze, hinterließ vor Gericht so ganz den Eindruck „vom Dorfschulmeisterlein, dem es nichts<br />

anderes <strong>als</strong> um die Wahrheit geht“. Dabei hatte er sich wegen übler Nachrede und Verleumdung in<br />

einer Berufungsverhandlung zu verantworten. - Verquere Welten. In einem Flugblatt, das Artur<br />

Sahm kurz vor der Bundestagswahl 1969 in der 18.000 Einwohner zählenden Kreisstadt verteilte,<br />

warf er dem damaligen CDU-Kreisvorsitzenden und Bundestagsabgeordneten Otto Freiherr von<br />

Fircks vor, sich "an den nazistischen Untaten wegen der Besetzung Polens" beteiligt zu haben.<br />

Wörtlich hatte Arthur Sahm formuliert: Otto Freiherr von Fircks "war tätig beim SS-<br />

Aussiedlungsstab in Litzmannstadt (Lodz) der sog. 'Umwanderungszentr<strong>als</strong>telle, der UMZ, von der<br />

die Zwangsauswanderung der unerwünschten Juden und Polen gelenkt worden ist. Heute jedoch<br />

36


will von Fircks nichts mit der 'Aussiedlung', der Vertreibung von über einer Millionen Polen aus<br />

Siedlungsgebieten zu tun gehabt haben", schrieb der Pädagoge.<br />

Und er holte noch weiter aus. Weiter heißt es seinem DIN-A4-Papier, dass von Fircks die<br />

Polen mit Wanzen verglichen habe. Und dass der Reichsführer SS, Heinrich Himmler<br />

(*1900+1945; hauptverantwortlich für Holocaust an europäischen Juden, Sinti und Roma) ihm,<br />

dem Freiherrn von Fircks, in Anerkennung seiner Verdienste den Rang eines SS-<br />

Obersturmbandführers verliehen hatte. Das vier eng beschriebene Schreibmaschinenseiten<br />

umfassende Flugblatt berichtete zudem detailliert darüber, was dam<strong>als</strong> sonst noch so alles in Polen<br />

geschah. Zitat: "Fast in allen größeren Orten fanden durch die erwähnen Organisationen (SS und<br />

Polizei) öffentliche Erschießungen statt. Die Auswahl war dabei völlig verschieden und oft<br />

unverständlich, die Ausführung vielfach unwürdig. Verhaftungen waren fast immer von<br />

Plünderungen begleitet".<br />

Auf dem Handzettel stand auch vermerkt: "Durch die Tätigkeit der SS-Einsatzgruppen<br />

waren bis zum Februar 1940 schon etwa 300.000 Polen "umgesiedelt" worden. Allein aus dem<br />

Warthegau wurden 120.000 polnische Landbesitzer deportiert. Auf ihre verlassenen Höfe wurden<br />

u.a. auch die bäuerlichen Landleute des Freiherrn von Fircks delegiert. In den Statistiken der SS<br />

stieg die Zahl der liquidierten oder - wie es hieß - der "sonderbehandelten" Polen und Juden auf<br />

"einige Zehntausend". Bei der "außerordentlichen Befriedungsaktionen" im Frühjahr 1940 wurden<br />

3.500 Polen reihenweise umgebracht.<br />

Zur Erinnerung, wider das Vergessen. - Mit vorbereiteten Listen trieben die SS-Häscher<br />

polnische Lehrer, Ärzte, Beamte, Geistliche, Gutsbesitzer und Kaufleute in die Umsiedlungs- oder<br />

Auffanglager, die sich nicht selten <strong>als</strong> Liquidierungsstätten erwiesen. Die "rassisch Wertvollen"<br />

wurden herausgesucht, die polnische Elite wurde vernichtet. Der Rest sollte verkümmern und <strong>als</strong><br />

Arbeitsvolk den Deutschen dienen. Der polnischen Jugend wurde beigebracht, dass es ein Gebot<br />

Gottes sei, den Deutschen gehorsam zu sein, ehrlich, fleißig und brav.<br />

Arthur Sahm warf dem CDU-Bundestagskandidaten von Fircks letztendlich vor, "sich an<br />

den nazistischen Untaten wegen der Besetzung Polens" beteiligt zu haben. Das Amtsgericht<br />

Burgdorf hatte den Lehrer in erster Instanz freigesprochen; doch Otto Freiherr von Fircks ging in<br />

die Berufung. Er wollte es nicht auf sich sitzen lassen, dass er sich 1940 <strong>als</strong> Leiter eines SS-<br />

Einsatzstabes im Landkreis Gnesen an von Hitler befohlenen Verbrechen in Polen beteiligt, in<br />

Nacht-und-Nebel-Aktionen polnische Bauern vertriebe habe, um deutschen Siedlern Platz zu<br />

machen - zu guter Letzt die Polen gar mit "Wanzen" verglichen habe.<br />

Das Amtsgericht in Burgdorf war nach siebenstündiger Verhandlung im Mai 1971 zu dem<br />

Schluss gekommen, dass die Vorwürfe Sahms "im Kern wahr" seien. Ein Urteil, das der CDU-<br />

Politiker nicht hinnehmen wollte. Berufung. So saßen sich nunmehr der linke Volksschullehrer<br />

Arthur Kahm und Freiherr Otto von Fircks (in der Rolle des Nebenklägers) erneut gegenüber.<br />

Doch diese sonderbare Rollenverteilung wurde zu keiner Minute dem tatsächlichen Prozess-Ablauf<br />

gerecht. Die "Braunschweiger Zeitung" beobachtete richterliche Berührungsphobien der Herren in<br />

schwarzer Robe, wenn es um die unerlässliche Aufarbeitung deutscher Vergangenheit geht. Sie<br />

kommentierte: "In diesem Prozess ist alles ganz anders. Der Angeklagte (Arthur Sahm) ist in<br />

Wahrheit der Angreifer, und der Nebenkläger (Freiherr von Fircks) muss sich verteidigen. Der<br />

gerichtliche Verteidiger Heinrich Hannover aus Bremen wirkt mit der Technik eines Staatsanwalts,<br />

während der Anklage-Vertreter gewissermaßen in der neutralen Ecke steht. Die Vertreter der<br />

Nebenkläger möchten diesen gern in eben dieser Ecke haben und versuchen, aus Formalität<br />

37


Palisaden zu bauen. Es wäre zum Schmunzeln, wenn es nicht so traurig wäre." - Deutsche<br />

Vergangenheits-Bewältigung.<br />

Immer dann, wenn Heinrich Hannover durch geschickte Fragen den baltischen Baron<br />

schwer zu belasten drohte, konnte sich der frühere niedersächsische Vertriebenenfunktionär, der er<br />

auch einmal war, "an nichts mehr erinnern". Er schwieg und überließ seinen Anwälten das<br />

prozessuale Terrain. Laut wurden die Anwälte, sehr laut - <strong>als</strong> wollten sie durch ihre penetrante<br />

Brüllerei geschehenes Unrecht vergessen machen.<br />

Den geschickten Fragen der Verteidigung lagen mehr <strong>als</strong> 300 Dokumente zugrunde, die<br />

Arthur Sahm während eines einwöchigen Warschaubesuchs in Archiven fand. Dass Otto Freiherr<br />

von Fircks Leiter des Sozialarbeitsstabs in Gnesen war, zudem im Mai 1940 von Heinrich Himmler<br />

ehrenhalber zum SS-Obersturmführer ernannt wurde, das gab von Fircks notgedrungenerweise zu.<br />

An die "Merkpunkte" für jene Arbeitsstäbe, mit dem Stempel "geheim" versehen, konnte er sich<br />

freilich nicht mehr erinnern. Aus ihnen ging zweifelsfrei hervor, dass Aus- und Ansiedlung von<br />

Polen und Deutschen nahezu nahtlos ineinander übergingen, wie es auch der Staatsanwalt in<br />

seinem Plädoyer hervorhob. So heißt es unter anderem in dem sechs Seiten umfassenden<br />

Dokument: "Erst wenn die evakuierte polnische Familie außer Sicht ist, erfolgt die Einweisung der<br />

Ansiedler." Oder: "Nur der beste polnische Besitz ist zu erfassen."<br />

CDU-Bundestagsabgeordneter von Fircks hingegen behauptet mit einer beinahe immer<br />

wiederkehrenden Stereotypie, Aus- und Ansiedlung von Polen, Wolhynien- und Galiziendeutschen<br />

haben miteinander absolut nichts zu tun gehabt. Was sich allerdings in jenen düsteren Tagen<br />

deutsche Geschichte offenbar abspielte, schilderte Sahms Kronzeuge, der Polendeutsche Eberhard<br />

Jagemann. Er war zu dieser Zeit dem Arbeitsstab <strong>als</strong> Dolmetscher zugeordnet: In den frühen<br />

Morgenstunden wurden die Dörfer umstellt, an den Ausgängen Maschinengewehre postiert. Die<br />

Polen mussten in aller Kürze ihre Höfe verlassen und wurden zum Abtransport gebracht. Während<br />

die Aktion reibungslos ablief, blieb ein Teil des Polizeikommandos im Dorf, um aus den Häusern<br />

die Kruzifixe und Heiligenbilder zu entfernen. Sie wurden dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt.<br />

Wenige Stunden später erreichten die Trecks mit Balkandeutschen die Dörfer.<br />

Zwar bestätigte Eberhard Jagemann ausdrücklich, von Fircks bei derartigen<br />

Aussiedlungsaktionen nie beobachtet zu haben. Doch er fügte sogleich hinzu: "Es kann ihm aber<br />

nicht verborgen geblieben sein." Selbst der von dem Freiherrn benannte Zeuge, namens Paulich,<br />

sagte aus, dass der Arbeitsstab Aus- und Ansiedlung zu verantworten hatte. - Und Leiter dieses<br />

Arbeitsstabs war nun einmal der baltische Baron Freiherr Otto von Fircks.<br />

Die Aussagen Eberhard Jagemanns mussten von Fircks mehr <strong>als</strong> unangenehm sein; denn<br />

der Kronzeuge bestätigte dem Gericht auch, dass von Fircks während einer Dienstbesprechung zu<br />

Unnachsichtigkeiten und Härte gegenüber den Polen aufgefordert habe und sie immer wieder mit<br />

Wanzen verglichen habe.<br />

Nebenkläger von Fircks, mittlerweile in der Rolle des Verteidigers, trachtete immer<br />

eindringlicher danach, den Kronzeugen Jagemann <strong>als</strong> einen "unglaubwürdigen und zwielichtigen<br />

Kommunisten" vorzuführen. Der Kalte Krieg dieser Jahre. Der Freiherr unterstellte ihm, Jagemann<br />

sei schon deshalb "unglaubwürdig", weil er nach dem Kriege "stilles Mitglied der KPD" gewesen<br />

sei. Er veranstalte hier eine "Hexenjagd" gegen unbescholtene CDU-Politiker der Bundesrepublik.<br />

Als noch junger Prozess-Beobachter für die Frankfurter Rundschau zum Landgericht<br />

gereist, fragte ich mich bei diesem Hass erfüllten Verhandlungsablauf, wer hier eigentlich zu<br />

Gericht saß - ein SS-Scherge oder durch Nazis verfolgte Kommunisten. Verquere Zeiten, in denen<br />

38


ein einstiger SS-Obersturmführer - mit der Immunität eines Bundestagsabgeordneten ausgestattet -,<br />

unversehens zu einem Verfolgten stilisiert. So sagten zwei weitere KPD-Funktionäre, die von<br />

Eberhard Jagemanns stille KPD-Mitgliedschaft hätten wissen müssen, unter Eid aus, dass es eine<br />

so genannte stille Mitgliedschaft überhaupt nicht gegeben habe.<br />

Der Staatsanwalt indes zog die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen Eberhard Jagemanns<br />

nicht in Zweifel. Er sprach von "drei Säulen" (Dokumente, Aussage-Jagemann und die nahtlose<br />

Aus- und Ansiedlung), die beweiskräftig genug wären, um den Vorwurf glaubwürdig zu machen,<br />

von Fircks habe sich an nazistischen Untaten beteiligt. Heinrich Hannover bemühte in seinem<br />

Plädoyer ein Stück der Zeitgeschichte: " Niemand hätte sich um die Vergangenheit des Freiherrn<br />

von Fircks gekümmert, wenn er sich in eine stille Ecke zurückgezogen hätte, doch dieser Herr von<br />

Fircks ist Bundestagsabgeordneter der CDU, der durch die Ostpolitik Willy Brandts (1966-1974)<br />

ganz Europa geschädigt sieht."<br />

Dass dam<strong>als</strong> bitteres Unrecht an den Polen im Namen der Deutschen geschehen ist,<br />

vermag Otto von Fircks nicht einzusehen. Wenn er überhaupt etwas vor den Richtern von sich<br />

gibt, dann wehrt er sich mit Vehemenz dagegen, die Vertreibung polnischer Bauern <strong>als</strong> "Untat" zu<br />

bezeichnen. Schließlich habe er ja auch keine Tötung begangen, der Freiherr. Zwei Tage warteten<br />

Prozess-Beobachter auf Worte des CDU-Politikers, die da etwa lauten würden: heute weiß ich, dass<br />

dam<strong>als</strong> Unrecht geschehen ist. Heute bedaure ich das zutiefst. Fehlanzeige. Keine Reue, kein<br />

Bedauern. Zur Urteilskündung war von Fircks erst gar nicht mehr erschienen.<br />

Im Gegenteil: Das Landgericht Hildesheim unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor<br />

Günter Weber, 45, verurteilte Artur Sahm zu einer Geldstrafe von 2.000 Mark und zur<br />

Veröffentlichung des Urteils in mehreren überregionalen Zeitungen. Richter Weber befand, Sahm<br />

sei in seinem Flugblatt "weit über das Ziel hinausgeschossen". Obwohl er einen Teil der gegen von<br />

Fircks erhobenen Vorwürfe habe beweisen können, müsse das Flugblatt im Gesamtzusammenhang<br />

gesehen werden. In diesem so zitierten, so genannten "Gesamtzusammenhang" sei auch von<br />

Gräueltaten die Rede, die von Fircks nicht beweiskräftig zu unterstellen seien.<br />

Indes: Für den Lehrer Artur Sahm und seinen Rechtsanwalt Heinrich Hannover geht der<br />

Rechtsstreit weiter. Sahm hat sich jetzt vor einer Disziplinarkammer zu verantworten.<br />

Anklagepunkt ist aberm<strong>als</strong> sein Flugblatt. Er habe sich, in dem er polnische Dokumente der<br />

Zeitgeschichte zitierte, nicht der beamtengemäßen Zurückhaltung bei politischen Äußerungen<br />

auferlegt, lautet der Vorwurf, den das niedersächsische Kultusministerium gegen ihn erhob. Aus<br />

dem Fall von Fircks ist längst unversehen Fall Sahm geworden. Eine rund 100 Seiten umfassende<br />

Dokumentation eines Disziplinarverfahrens, das mittlerweile vier Jahre alt ist, sprach bereits eine<br />

neue Sprache in dem Land der Dichter und Denker - die Sprache des exakt in diesem Jahr - 1972 -<br />

erstm<strong>als</strong> in Hannover ausgeübten Berufsverbots. - Aus Tätern werden Opfer, aus Verfolgern<br />

werden Verfolgte. "Wir wollen mehr Demokratie wagen" - das sagte Willy Brandt (1969-1974) <strong>als</strong><br />

Bundeskanzler in jener Epoche des Aufbruchs. - Deutsche Zeit-Geschichte.<br />

39


DICTACTA 72 – UTOPIA 72<br />

Bildungsausstellung in Hannover: Viel Show-Effekte, viel Effekt-Hascherei - für<br />

den Schulalltag ändert sich so gut wie nichts - Bildungs-Misere: Dauer-Thema in<br />

Deutschland – keine Besserung in Sicht<br />

Frankfurter Rundschau 25. März 1972<br />

Pädagogisches Inferno oder ein Paradies für Lehrer? Alles, aber auch alles, was irgendwie<br />

mit Vorschul-, Schul-, Hochschule-, Aus-, Fort-und Weiterbildung zu tun hat - präsentiert sich<br />

mittlerweile in 14 Hallen auf über 700 Messeständen; zur Schau gestellt für nahezu 70.000<br />

Besucher. Gigantomanie pur, Monstershow im Großformat. Fernab von der Schul-Wirklichkeit<br />

dieser und künftiger Jahre demonstrieren Konzerne und Großverlage während der XI. Didacta in<br />

Hannover, was sie unter Fortschritt im Bildungswesen verstehen. Nur mit dem Schulalltag, mit den<br />

Unzulänglichkeiten, Engpässen, verpassten Chancen im deutschen Bildungssystem hat dieser<br />

Messe-Jahrmarkt namens Didacta reichlich wenig zu tun.<br />

Begriffe wie "Tele-Didaktik", Worthülsen wie "Auditive Medien" oder "Algorithmus, gar<br />

ein "Single-Conzept-Film" deuten unmissverständlich darauf hin: die Industrie glaubt einen neuen -<br />

für sie äußerst profitablen, weithin ausbaufähigen Markt entdeckt zu haben. Zwar ist seit längeren<br />

offenkundig, dass Großunternehmen gigantische Summen in derartige Bildungs-Projekte<br />

investieren. Doch in welchem Ausmaß und mit welchen Marketing-Potenzial Lern- und<br />

Lehrprogramme entwickelt werden, darüber vermittelt die didacta einen breiten Flächen-Aufriss.<br />

Wer jahrein, jahraus durch die Messehallen wandert, kann kaum glauben, dass Deutschland in den<br />

europäischen Bildungs-Vergleichstests derart weit in den Keller abzurutschen vermochte.<br />

Die Fernseh-GmbH, ein Unternehmen der Bosch-Gruppe, stellt beispielsweise ihre<br />

Vidikon-Farbkamera TV 140 in den Mittelpunkt ihrer Ausstellungs-Präsentation. Mit<br />

entsprechenden Zusatzgeräten vermag diese Linse unter anderem Objekte, die durch das<br />

Mikroskop betrachtet werden, auf den Bildschirm zu projizieren. Ferner kann sie Filme oder Dias<br />

direkt vom jeweiligen Projektionsgerät abnehmen und zu den Monitoren weiterleiten. Das<br />

Nonplusultra der Farbkamera TV 140 scheint für Bosch in der Liveübertragung zu liegen. Das<br />

Nonplusultra des deutschen Bildungsalltags hingegen diktiert eine andere Schulwirklichkeit. Kaum<br />

Deutsch, kaum Physik, Mathematik eingeschränkt, Geschichte ab und zu - das ist nahezu überall<br />

die Wirklichkeit im westdeutschen Schulbetrieb geworden. Gespart wird vielerorts ohne Sinn und<br />

Verstand. Deutschland ein Bildungsland - ein Notstandsland.<br />

Wer jedoch beispielsweise nach den Preisen dieses Vidikon-Farbkamera-Zuges fragte,<br />

bemerkte schneller <strong>als</strong> es ihm recht sein konnte, dass ein solches Projekt mit der Realität der<br />

deutschen Schulen nichts zu tun hat; und das selbst unter den günstigsten Bildungs-Prognosen<br />

dieser Jahre. Zwar versicherten Firmenvertreter, das gesamte technische Instrumentarium sei<br />

pädagogisch erprobt, doch drängt sich unweigerlich die Frage auf, wer die finanziellen Belastungen<br />

auch nur halbwegs tragen kann.<br />

Allein die Farbkamera ohne Liveübertragung kostet an die 30.000 Mark (Möglichkeiten:<br />

Mikroskop-, Film- und Dia-Überspielung). Der Preis für eine Farbkamera mit Liveübertragung und<br />

den dazu erforderlichen Zusatz-Apparaten (Vidikon-Farbkamera-Zug) für alle<br />

Anwendungsbereiche beträgt etwa 180.000 Mark. Und das in einer Zeit, in der Wirtschafts- und<br />

Finanzminister Helmut Schmidt (1972-1974 ) Mitte der siebziger Jahre im Rahmen der<br />

40


mittelfristigen Finanzplanung die Bildungsausgaben des Bundes von 58 auf 53 Milliarden Mark<br />

zusammenstrich. Und das ausgerechnet in einer Ära, in der etwa in der Universitätsstadt Bochum<br />

Lehrerinnen und Lehrer Lernmittel wie Lehrmittel für den Schulunterricht aus eigener Tasche<br />

zahlen. Zu kostspielig seien für das Bochumer Rathaus die Aufwendungen bis zu 500 Euro pro<br />

Jahr, unerlässliche Bücher, Lernprogramme, Lernmittel zu finanzieren. - Bildungs-Nation<br />

Deutschland.<br />

Der Philipskonzern hält dagegen sein neuartiges PIP-System (Programmid individual<br />

Presentation) für geeignet, im Rahmen der inneren Differenzierung dem Unterricht neue Impulse<br />

zu vermitteln. Es handelt sich hierbei um ein Wiedergabegerät, das getrennt Schmalfilm- und<br />

Tonkassetten synchron ablaufen lässt. Dies ist deshalb möglich, weil in der Tonkassette<br />

Steuerimpulse für den Schmalfilm gespeichert sind. Der Vorteil dieses Systems liegt darin: ein und<br />

demselben Film können verschiedene Tonkassetten zugeordnet werden. Für die Unterrichtspraxis<br />

ergeben sich dadurch Differenzierungsmöglichkeiten nach dem Schwierigkeitsgrad der wörtlichen<br />

Information. Außerdem kann derselbe Film durch andere Tonkassetten unter anderen Aspekten<br />

betrachtet werden (Schwerpunktbildung). Nicht zuletzt wird das Gerät wohl auch für den<br />

Sprachunterricht interessant sein. Die kontinuierliche Regulierung der Film-Geschwindigkeit von<br />

Standbild bis zu 24 Bildern pro Sekunde beeinträchtigt zudem nicht die Bildqualität.<br />

Trotz dieser technischen Vorteile kann der Philipskonzern wohl kaum damit rechnen, sein<br />

PIP-System in absehbarer Zeit in deutschen Schulen einführen zu können. Ein Cassettescope LCH<br />

2020, mit dem maximal zwei Schüler gleichzeitig über Kopfhörer arbeiten, kostet immerhin rund<br />

1.500 Mark. Selbst bei einer Klassenfrequenz von 30 Schülern, von der die meisten Lehrer in der<br />

Bundesrepublik träumen, müssten mindestens 15 Cassettescopes für eine Klasse zur Verfügung<br />

stehen. Das wären je 22.500 Mark pro Klasse ausschließlich für besagte Apparatur. Die dazu<br />

notwendigen Programme kosten in der Produktion je nach Qualität nochm<strong>als</strong> zwischen 15.000 bis<br />

20.000 Mark. Ein Philipsvertreter abgeklärt: "Gewiss teuer, doch selbst die staatlichen Schulen von<br />

morgen werden diesen Preis nicht zahlen können oder auch wollen. Es bleibt allenfalls bei<br />

lauth<strong>als</strong>igen Politiker-Versprechen. In Wirklichkeit bewegt sich in Sachen Bildung und Ausbildung<br />

nichts in Deutschland."<br />

Bosch und Philips sind zwei markante Beispiele im Konzert der 107 in- und ausländischen<br />

Aussteller, die Audiovisionsgeräte und Zubehör anboten. Die Technik dominiert eindeutig, prägt<br />

das Denken. Nicht etwa Pädagogik, sondern Audiovision war der erstm<strong>als</strong> der zentrale Begriff, mit<br />

dem die Besucher konfrontiert wurden. Zeitwende. So erklärte der Vorsitzende des<br />

Fachausschusses Schulwesen des Verbandes für Arbeitsstudien Refa, Bernd Krommweh: "Ob<br />

Sprachlabor, Computer oder auch schulinternes Fernsehen - der auf der Didacta '72 gezeigte<br />

offenkundige Technisierungsgrad der Schule zeichnet ein völlig unrealistisches Bild des deutschen<br />

Bildungswesen auf." Der Pädagoge fragt sich: "Was nützen kostenaufwendige Sprachlabore, wenn<br />

geeignete Programme fehlen. Was nützen schulinterne Fernseh-Anlagen, wenn es wiederum die<br />

ohnehin hoch verschuldeten Bundesländer überlassen bleiben soll, die kostspielige Software zu<br />

bezahlen?" Fata Morgana.<br />

Ähnlich äußerte sich auch der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft, Erziehung und<br />

Wissenschaft (GEW), Erich Frister (1968-1981; *1927 +2005), wenn er davon sprach: "Die<br />

Diskrepanz zwischen dem, was Produzenten, Händler und Verlage auf den Lehrmittel-<br />

Ausstellungen zeigen und dem, das sich eine normale Schule leisten kann, entspricht etwa dem<br />

Gefälle zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern."<br />

41


Wer sich nach derlei fortwährenden Konzern-Höhenflügen wieder dem widerborstigen<br />

Schulalltag nähern wollte, der fand bei dem Verlag Westermann in der Zeitschrift Schul-<br />

Management Ausstattungsvorschläge und Kosten-Kalkulationen für eine vierzügige Sekundarstufe<br />

(Klasse 7 bis 10). Die Ausstattungs-Alternativen, die <strong>als</strong> eine Minimalausrüstung verstanden<br />

werden, beziehen primär nur "traditionelle" Geräte ein (vier Tageslicht-Projektoren, zwei Episkope,<br />

ein 16mm-Tonprojektor, zwei Dia-Projektoren, ein Tonband-Gerät, einen Plattenspieler und ein<br />

Radio). Diese eher traditionelle Ausrüstung, die den Audiovisions-Experten nur ein gelangweiltes<br />

Lächeln abtrotzt, kostet etwa 11.000 Mark. Bemerkenswert ist jedoch, dass bei einem zusätzlich<br />

vorgeschlagenen Erweiterungsprogramm, das bis zu einem Gesamtpreis von 55.000 Mark geht,<br />

Video-Rekorder und Fernsehkameras (schwarz-weiß) erst dann ihre Berücksichtigung finden, wenn<br />

jede Klasse mit ihrem eigenen Tageslicht-Projektor ausgestattet ist. - Chancengleichheit.<br />

Während für Westermann-Verlagsdirektor Schröder Tageslichtprojektoren "sich in den<br />

Schulen inzwischen etabliert haben", diktiert die Statistik eine andere Sprache. Danach besitzen<br />

insgesamt 62 Prozent aller westdeutschen Schulen noch nicht einmal einen einzigen Tageslicht-<br />

Projektor. Diese Zahl veröffentlichte Heribert Heinrichs (*1922+2004) Professor für<br />

Medienpädagogik an der Universität Hildesheim (1958-1987). Selbst von Westermanns<br />

Minimalprogramm ist die Schul-Wirklichkeit noch sehr weit entfernt. Die Untersuchungen, die<br />

Heribert Heinrichs in seinem Buch "Lehr- und Lernmittel" (1972) veröffentlichte, beweisen dies<br />

hinreichend. Demzufolge hatte ein deutscher Klassenlehrer im Jahre 1968 durchschnittlich nur 125<br />

Mark <strong>als</strong> Jahresausgabe seines Schulträgers für die so genannte Erweiterung, Ergänzung oder auch<br />

Erneuerung seines didaktischen Reservoirs (ohne Bücherei) zur Verfügung. Deutschland - ein<br />

Entwicklungsland. Zur Erinnerung: Im Etatjahr 1970 waren es sage und schreibe 140 Mark und im<br />

Jahr 1971 wieder nur 135 Mark. In einer niedersächsischen Großstadt beispielsweise wurden pro<br />

Schüler 6,50 Mark anno 1971 gewährt.<br />

Wie das Institut für Bildungswesen in Frankfurt a/M in seiner Informationsschrift über<br />

die Bildungsmedien mitteilte, sollen bei günstigen Voraussetzungen im Jahre 1975 jedem Schüler in<br />

der Bundesrepublik Lehrmittel für durchschnittlich 51 Mark zukommen. Dies bedeutet zwar eine<br />

Verdoppelung gegenüber dem Jahr 1970, wo durchschnittlich 27 Mark für einen Schüler ausgeben<br />

wurde; dennoch wird diese Verdoppelung nicht einmal ausreichen, den jetzigen Stand der<br />

Lehrmittelversorgung in Nordrhein-Westfalen für die ganze Bundesrepublik zu erzielen. Dort<br />

können schon jetzt 56,40 Mark pro Schüler disponieren. Trotz dieser niederschmetternden Zahlen<br />

über die Möglichkeit, Gelder für Lernmittelausgaben bereit zu stellen, glauben Firmen auf ihre<br />

Absätze, hoffen auf ihre Märkte – Gewinnmargen.<br />

Von den Unternehmen wenig propagiert und von der Öffentlichkeit kaum betrachtet,<br />

haben seit der letzten didacta 1970 in Basel nach schwedischem Vorbild Kooperations-Prozesse<br />

stattgefunden, die in den so genannten System-Gemeinschaften ihren Niederschlag finden. Der<br />

Klettverlag kooperiert mit der Bosch-Gruppe Leibold-Heraeus, während Westermann mit der<br />

Firma Philips zusammenarbeitet. Der Klettverlag sagt dazu, es gehe den drei Partnern nicht darum,<br />

Medien um jeden Preis zu produzieren, sondern vernünftige, realisierbare didaktische Unterrichts-<br />

Materialien in Kombination anzubieten. Auch Westermann und Philips sehen die Rechtfertigung<br />

der System-Gemeinschaft darin, dass Informatiker und Pädagogen nicht länger aneinander<br />

vorbeireden sollen.<br />

Obwohl es inzwischen zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen Pädagogik und<br />

Informatik gekommen ist, stellt sich der kritischen Didacta die Frage, mit welcher Berechtigung die<br />

Firmen im gegenwärtigen Entwicklungs-Stadium der Kooperation „von perfekten audiovisuellen<br />

42


Lehr- und Lernsystemen“ sprechen. Derlei Anmaßungen finden ihren Höhepunkt im Angebot<br />

eines weiteren großen Elektrokonzerns, der die erst eben auf den Markt präsentierte Bildplatte <strong>als</strong><br />

„Bildungs-Platte“ bezeichnet, da „das Videosystem Bildplatte idealer Träger von Lernprogrammen<br />

aller Art“ sei.<br />

Wenn man vom audiovisuellen Bereich einmal absieht, so hatte die didacta 72 recht wenig<br />

zu bieten. Das meiste, von einigen Bücher-Neuerscheinungen abgesehen, konnte auch schon 1970<br />

in Basel besichtigt werden. Die am Sonderschultag der didacta anwesenden Pädagogen bekamen<br />

zwar einen Vortrag geboten, erhielten aber nur wenig neue Anregungen, die sich auf ihre<br />

Unterrichtspraxis beziehen. Es zeigt sich wieder einmal mehr, dass der ohnehin arg vernachlässigte<br />

Sonderschul-Bereich für die Industrie nicht attraktiv ist. Vielleicht auch deshalb, weil in der<br />

Zielgruppe Lernbehinderung weniger Geld zu verdienen ist. Würde man nach den<br />

Ausstellungsständen gehen, könnte man spontan den Eindruck gewinnen, <strong>als</strong> sei die<br />

Sonderschulpädagogik mit der Vorschulerziehung identisch; Randerscheinungen auf der Messe<br />

allemal. Dasselbe gilt auch für den Bereich Erwachsenbildung; ein Schatten-Dasein, das<br />

seinesgleichen sucht.<br />

Während Industrie und Verlage mit ihren audiovisuellen Programmen in höheren<br />

Regionen abheben, schweben und die Vorteile ihrer Konzeptionen den Messebesuchern zu<br />

erklären versuchen, haben etwa die Junglehrer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft auf<br />

dem didacta-Gelände die Aktion Kleine Klasse gestartet. Durch Flugblätter weisen die Pädagogen<br />

auf einen Erlass des Jahres 1872 hin, in dem gefordert wurde: „Jede Klasse ihren Klassenlehrer;<br />

jede Klasse ihren Klassenraum: Verbesserung der Ausstattung mit zeitgemäßen Unterrichts-<br />

Material und keine Anfänger-Klasse mit mehr <strong>als</strong> 20 Schülern!“ Diese Forderung erschienen 100<br />

Jahre später noch ebenso utopisch, wie folgende Zahlen verdeutlichen: Im Jahr 1968/1958 kamen<br />

auf einen Grundschullehrer in der Bundesrepublik 36 Kinder; 1969/1970 waren es „nur“ 33<br />

Kinder. In derselben Zeit verbesserte Frankreich seine Klassenfrequenz von 29 auf 25 Schüler.<br />

Anstelle didacta 72 wäre die Bezeichnung utopia 72 angebracht gewesen. Seither läuft<br />

jährlich die größte Fachmesse für Bildungswirtschaft mit einem enormen Public-Relations-<br />

Aufwand ab. Nebelkerzen. Tatsächlich offenbart es sich <strong>als</strong> ein Festival von Verlags-Marketing-<br />

Expertem mit ihren Kultus-Bürokraten im Schlepptau. Jahr für Jahr, Messetag für Messetag gilt es<br />

im betäubenden Wortschwall der Innovation etwas zu würdigen, zu feiern; mal soll ein<br />

„Höchstmaß an sozialer Gerechtigkeit“ erreicht werden; mal muss der Lehrer für seine „engagierte<br />

und gute Arbeit“ belobigt werden; mal fordert Niedersachsens Kultusministerin Elisabeth Heister-<br />

Neumann (CDU): „Wir brauchen eine höhere Bildungs-Qualität.“ Auf der didacta herrscht seit<br />

ihres Bestehens stets Feiertagsstimmung mit theatralisch inszenierten Kalendersprüchen, die „den<br />

Eltern Mut machen“ soll, weil „vieles auf einem guten Weg ist“ (Bundesbildungs-Ministerin<br />

Annette Schavan im Jahre 2009).<br />

Nur am miserablen Zustand im deutschen Bildungswesen, Lehrermangel, baufällige<br />

Schulgebäuden, zu hohe Klassenfrequenzen, unzureichende Ganztagsschulen, mangelnde<br />

Unterrichts-Ausstattungen, fehlendes Lern- und Lehrmaterial, Lücken in der vorschulischen<br />

Betreuung – daran vermochte in den vergangenen Jahrzehnten niemand etwas auszurichten. Aber<br />

immerhin in einer Disziplin ist Deutschland Rekordhalter: Kein Land der Welt leistet sich 16<br />

eigenverantwortliche Kultusminister mit eigener Bürokratie, eigenen Schulplänen, eigenen<br />

Anordnungen und Erlassen, eigenen Schulferien schon immer.<br />

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VIEL KABARETT - ABER KEINE KARRIERE: LEBEN EINES<br />

BÄNKELSÄNGERS: DIETRICH KITTNER<br />

Ausgewandert von Hannover ins österreichische "Exil" in die Steiermark Von den<br />

„wilden“ Jahren Protest-Jahrzehnten gezeichnet. Dietrich Kittner, widerspenstiger Rebell,<br />

Sänger, Satiriker, der nicht "vernünftig" werden will. Bilanz eines ungeliebten<br />

Außenseiters.<br />

Frankfurter Rundschau 18. April 1972/ 12. Januar 2008<br />

Er ist ein Mann der Grenzüberschreitungen, Grenzverletzungen - ein feixender Tabu-<br />

Brecher früherer Jahrzehnte. Nahezu 45 Jahre macht Dietrich Kittner politisches Kabarett im<br />

deutsch-sprachigen Europa. Immer unterwegs, immer auf Tour, von Saal zu Kneipe, vom Tresen<br />

zum Barhocker mit über 7.000 Veranstaltungen in drei Jahrzehnten. - Lang ist's her; unter<br />

Satirikern Rekord verdächtig.<br />

Dam<strong>als</strong> in der so genannten 68er Bewegung, <strong>als</strong> "Liedermacher" des Protests wie Franz-<br />

Josef Degenhardt oder auch Dieter Süverkrüp mit ihren -Songs über Notstandsgesetze,<br />

Vietnamkrieg Hallen füllten, der Rebellen-Look zum Mode-Schick aufstieg - das waren gleichsam<br />

seine Jahre - Kittner-Jahre. Dam<strong>als</strong>, <strong>als</strong> Polit-Satire mehr mit bissiger Aufklärung <strong>als</strong> mit<br />

wohlgefällig vermarkteter Comedy zu tun hatte, da galt der mittlerweile 73jährige Dietrich Kittner<br />

<strong>als</strong> "gefürchteter, aufmüpfigster Satiriker" deutscher Zunge. Eben, wie Günter Wallraff es einmal<br />

über Dietrich Kittner formulierte: "Er ist der Einzelkämpfer und Partisan, der sich wesentlich<br />

weiter vorwagt auf feindliches Terrain <strong>als</strong> alle etablierten - früher mal politischen Kabaretts<br />

zusammen."<br />

Da hockt er nun in seinen alten Tagen in der Steiermark im arg verträumten Städtchen<br />

Bad Kersburg zu Österreich. Wer Dietrich Kittner von früher kennt und ihn erneut begegnet, der<br />

spürt schon nach seinen ersten Sätzen, dieser Mann ist ausgewandert - Distanz und Schutz <strong>als</strong> Exil.<br />

Er sagt: "Wer nicht kämpft geht unter, wer kämpft reibt sich auf." Der alte Barde lächelt wehmütig,<br />

spürt er irgendwie schon, dass seine letzten Auftritte in Deutschland angebrochen sind, müde ist er<br />

geworden - etwa vom Deutschlandlied und Tagesthemen-News von "Mega-Hartz IV" über "Aldi-<br />

Schnellbehandlungszentren" bis zum "Zirkus Bush" oder mit Golf-Viagra in den Puff. -<br />

Resignation.<br />

Es sind Lebensskizzen eines Mannes, die keine Kontinuität vermissen lassen, die da<br />

lauten: Aufbruch, Abbruch, Ausdauer, Stehvermögen, Hatz wie Atemlosigkeit - und das mithin vier<br />

Jahrzehnte lang. Dabei sind Kittners Programme kaum in Schubläden zu suchen. Er beherrscht alle<br />

Stile und Spielrichtungen der 10. Muse; Sketch und Conference, Parodie und Ballade, Nachricht,<br />

Pamphlet und Moritat. Aus all dem mischt er einen Cocktail, der das Publikum wachrüttelt. -<br />

Aufklärung mit Polit-Satire auf höchstem Niveau.<br />

Aufmüpfigkeit, Gegen-Rede, Widerspruch, Widerstand - das waren schlechthin noch nie<br />

so recht die Lebensart der Deutschen. Es waren die siebziger Jahre, <strong>als</strong> Tausende wie Abertausende<br />

junger Menschen wegen ihrer unangepassten Gesinnung mit Berufsverboten abgestraft wurden.<br />

Dietrich Kittner bekam Fernseh-Verbot in Deutschland - praktisch sein Leben lang. Lediglich -<br />

und das ausnahmsweise zur Mainzer Fastnacht - machten die Mächtigen der Republik "gute Miene<br />

zum bösen Spiel", wenn mal da mal einer aus dem politischen Kabarett am sorgsamen Politikeroder<br />

Manager-Image tupfte. So humorvoll artig gab man sich in diesem Land; nicht so Kittner.<br />

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Auf der Bühne seines Einmannkabaretts genoss Dietrich Kittner unter Ausschluss der<br />

Medien-Öffentlichkeit Narrenfreiheit, selbst dann, wenn er mit der Sozialdemokratie nicht lange<br />

zauderte und führende Genossen unter gleißendem Scheinwerferlicht seinem Publikum <strong>als</strong><br />

"spezielle Charaktere des Aufstiegs" ausleuchtete - Abend für Abend vors Schienbein trat. Was<br />

SPD-Funktionäre ihrem Parteimitglied Kittner auf der Bühne noch konzedierten, dazu waren sie<br />

auf einer von Kittner organisierten Flugblatt- und Unterschriften-Aktion nicht mehr bereit.<br />

Berührungs-Ängste mit Kommunisten. "Verträge ratifizieren! Rechtsentwicklung stoppen",<br />

verlautbarte es da. - Die Folge: Partei-Rausschmiss.<br />

Dam<strong>als</strong> bestimmte die Neue Ostpolitik von Egon Bahr (Bundesminister für besondere<br />

Aufgaben 1972-1974) "den Wandel durch Annäherung" die Ostverträge mit Polen und der<br />

damaligen DDR. Verständigung, ein neuer Umgang der Menschen in beiden Systemen war gefragt.<br />

Nicht jedoch so an der Parteibasis zu Hannover. Der Widersinn jener sozialdemokratischen Jahre<br />

mit ihren Öffnungs-Gebaren gen Osten mit ihrer geradezu traumatischen Phobie vor<br />

vermeintlicher kommunistischer Unterwanderung - dafür sollte mit dem Fall Kittner ein populäres<br />

Parade-Beispiel statuiert werden. Stein des Anstoßes im politisch penibel sortierten Deutschland:<br />

auch ein paar westdeutsche Kommunisten hatten gewagt, sich per Unterschrift auf dem Kittner-<br />

Flugblatt öffentlich für die Entspannungspolitik der Ära Brandt/Scheel (1969-1974) zu bekennen.<br />

Es blieb dem niedersächsischen Verfassungsschutz vorbehalten, eine Handvoll Kommunisten<br />

unter den 1.500 Menschen ausfindig zu machen, die ihre Unterschrift gegeben hatten. Es waren<br />

erste Schnüffel-Aktionen, die wenig später im Überwachungsstaat der Berufsverbote eine ganze<br />

studentische Jugend mundtot zu machen glaubte.<br />

Mit dem Damoklesschwert im Nacken - "denke an deine Parteikarriere, grenze dich<br />

rigoros von Kommunisten und ihren Organisationen ab" - zwang der SPD-Apparat in Hannovers<br />

Odeonstraße seine Mitglieder ihren Namen auf dem Kittner-Flugblatt zurückzuziehen. Willy<br />

Brandt (Bundeskanzler 1969-1974): "Wir wollen mehr Demokratie wagen.") Ausnahmslos alle<br />

kuschten, keiner will da wirklich seinen Namen gegeben haben. Friedhofsruhe. Wäre Kittner nicht<br />

Kittner, dann hätte er dasselbe getan. Nur ging es ihm, wie er beteuerte, "um Glaubwürdigkeit".<br />

Auch wolle er sich ausgerechnet von diesen "satten und kugelrunden SPD-Funktionären nicht zum<br />

Toren" machen lassen. Denn nach Thomas Mann (*1875+1955) ist der "Antikommunismus die<br />

Grundtorheit des 20. Jahrhunderts".<br />

Kittner war zeitlebens ein Mann des Protests und Provokation. Viel Kraft, Energie - auch<br />

so manche Federn hat er dabei lassen müssen. So Mitte der sechziger Jahre, <strong>als</strong> er auf offener<br />

Straße in Hannovers Innenstadt mit Stahlhelm und Gasmaske festgenommen wurde - eine Aktion,<br />

die er <strong>als</strong> Widerspruch gegen die Notstandsgesetze verstanden wissen wollte.<br />

Seinen Höhepunkt an Einfluss und Popularität gewann er <strong>als</strong> Mitinitiator der Aktion<br />

"Roter Punkt" in Hannover gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr in den Jahren<br />

1969-1973. Der Klub Voltaire in der Nicolaistraße war Kittners Domizil, praktisch wohnte er dort<br />

gleich neben der Theke im Hinterstübchen. Hier im Zentrum der Außerparlamentarischen<br />

Opposition in Niedersachsen ging es Kittner und Kumpanen um die Schaffung eines kulturellen<br />

Ortes einer neuen linken Gesprächs- und Streitkultur.<br />

Der Klubname vermittelte ein Gedenken an den französischen Philosophen und<br />

Schriftsteller Voltaire, der mit bürgerlichen Namen François-Marie Arouet (*1694+1778) hieß. Er<br />

war einer der tragenden Initiatoren der französischen Aufklärung, außerdem Mitarbeiter an der<br />

großen "Enzyklopädie" - ein Anhänger des Deismus. (Gehen von Gott aus, Schöpfer des<br />

Universums aus. Glauben aber, dass Gott keinen Einfluss auf die Geschehnisse auf Erden hat).<br />

45


Und unter Schaffung einer neuen linken Gesprächs- und Streitkultur wurde in den<br />

Anfangsjahren verstanden, eigene Standpunkt vertreten, artikulieren zu können, ohne dem<br />

Anderen abzusprechen, dass auch er eigene Positionen, Ansichten besitzen und mit Leidenschaft<br />

vertreten darf. Für Dietrich Kittner in jenen Jahren war die Streitkultur schlechthin positiv besetzt.<br />

Sie ermöglicht alte Normen, überkommenes Gefüge radikal in Frage zu stellen - nach Alternativen<br />

Ausschau zu halten. Aufbruch-Zeiten.<br />

Undenkbar schien Kittner dam<strong>als</strong>, die Sozialdemokratie links liegen zu lassen. Er wollte<br />

sie einbinden in die Phasen des politischen Umbruchs. Das glaubte er jedenfalls. So war für das<br />

ausgeschlossene SPD-Mitglied Kittner über seinen Verstoß noch längst nicht das letzte Wort<br />

gesprochen. Er kämpfte weiter, sogar bis vor dem Landgericht. Nach dem Motto, was dem einen<br />

recht ist, ist dem anderen billig, will er mit seinen Anwälten erreichen, dass der Parteiausschluss<br />

revidiert wird.<br />

Die Unterstützung des linken Flügels der Partei ist ihm dabei gewiss. Niedersachsens<br />

Juso-Chef Gerhard Schröder (Bundeskanzler 1998-2005) urteilte: "Das Engagement für die<br />

Ostverträge wird doch durch die Teilnahme von irgendwelchen Kommunisten nicht diskreditiert."<br />

So will Kittner mit einer Akte von Flugblättern, die ihm aus allen Teilen der Bundesrepublik<br />

zugeschickt wurden, vor Gericht ziehen. Dort glaubt er beweisen zu können, dass SPD-Politiker<br />

vom Kommunalparlament bis hin zum Bundestag ähnliche Aufrufe unterzeichnet haben, an denen<br />

auch Kommunisten beteiligt waren.<br />

Der Aberwitz dieser Tage. Kittner war im Besitz eines Flugblatts, das auch der Journalist<br />

und SPD-Politiker Fritz Sänger (*1901+1984), Mitglied der Bundesschiedskommission,<br />

unterzeichnet hatte. Fritz Sänger meint zwar, "die Unterschrift ist ohne meine Kenntnis auf das<br />

Flugblatt gekommen", fügt aber gleichzeitig hinzu, "man hätte es ruhig unterschreiben können". Im<br />

Übrigen bedaure er die ganze Rausschmeißerei außerordentlich."<br />

Tatsächlich sieht sich Dietrich Kittner <strong>als</strong> das Bauern-Opfer seines Intrigen-Spiels. Er<br />

behauptet in seiner Dokumentation: "Die SPD-Zentrale lancierte -zumeist über die "Bild"-Zeitung<br />

oder über den CDU-nahen Pressedienst "Rundblick" diffamierende Artikel. Sie sollen sodann <strong>als</strong><br />

später Beweise dafür benutzt werden, dass es die Beschuldigten höchst persönlich seien, die der<br />

SPD in der Öffentlichkeit einen Image-Schaden zufügten. Auch habe ihm der SPD-<br />

Geschäftsführer Hans Striefler zugefeixt: "Endlich, jetzt haben wir dich!" - Es war eine der<br />

üblichen Disziplinierungs-Maßnahmen oder auch Maulkörbe. Sie wurden immer dann präsentiert,<br />

wenn es darum ging, mit Hilfe der Satzung unbequeme Kräfte los zu werden.<br />

Seinerzeit gewichtete Ernst Gottfried Mahrenholz (SPD-Karriere <strong>als</strong> Staatssekretär in der<br />

Staatskanzlei - später Kultusminister in Niedersachsen, Verfassungsrichter in Karlsruhe) den<br />

Kittnerexodus sehr korrekt. Er sagte mir <strong>als</strong> Korrespondent der Frankfurter Rundschau in<br />

Hannover: "Wenn es wirklich nur darum ginge, unbequeme Kräfte loszuwerden, dann ist dies ein<br />

Skandal."<br />

In letzter Konsequenz war die "Aktion Roter Punkt", die empfindliche SPD-Achillesferse,<br />

die der Straßenprotest unverhofft traf - und Kittner einer ihrer Anführer. Es begann damit, dass die<br />

Verkehrsknotenpunkte bis hin zu den Außenbezirken blockiert wurden - keine Straßenbahn fuhr<br />

mehr. Der Grund Fahrpreiserhöhungen um 30 Prozent waren beschlossen worden. Gleichzeitig<br />

sollte aber satte Gewinne des Unternehmens ÜSTRA an seine Aktionäre um 1,4 Millionen Mark<br />

ausgezahlt werden. - Nichts ging mehr, keine Straßenbahn mehr fuhr im Großraum Hannover.<br />

Rote Aufkleber an der Heckscheibe signalisieren die Mitnahmebereitschaft für jedermann. Überaus<br />

46


harte Polizeieinsätze sollten den Protest ersticken. Alsbald mussten Politiker und Polizisten<br />

miterlebten, wie sich der Unmut auf die gesamte Bevölkerung übertrug - sich immer mehr<br />

Menschen mit Studenten, Schülern - auch -Arbeitern solidarisierten. Ein Novum im Deutschland<br />

der Nachkriegsjahre. Die Zahl der Schwarzfahrer stieg, f<strong>als</strong>che Tickets wurden hergestellt,<br />

Fahrbahnautomaten aufgebrochen. Und eine schwer bewaffnete Polizei, die dem Massenprotest<br />

hilflos gegenüberstand.<br />

Es waren Kittners bewegende Tage, Wochen und Monate, es war ein Massenprotest, den<br />

er mit dem Parteiausschluss zu bezahlen hatte. Die Moral der Gehschicht': gemeinsam mit dem<br />

Liedermacher Franz-Josef Degenhardt, Dieter Sülverkrüp und Mitgliedern der Gruppe Floh de<br />

Cologne wandten sie sich zum real existierenden DDR-Sozialismus zu. Kittner tingelte seither<br />

immer wieder durch die DDR. Immer öfter konstatierte er, ob in Dresden oder Karl-Marx-Stadt<br />

(Chemnitz), auch ungefragt, wie heimatlos ihn die alte Bundesrepublik gemacht habe. Heute lebt er<br />

in Österreich. Ein Zurück nach Deutschland wird es für ihn nicht mehr geben. - Lang, lange ist es<br />

her. Wie sang Franz-Joseph Degenhardt seinerzeit: " ... dass das nur solche Geschichten bleiben,<br />

die man den Enkeln erzählen kann es gibt eine Menge Leute, die haben ein Interesse daran ...".<br />

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KANZLER-STURZ WILLY BRANDT, OSTVERTRÄGE UND<br />

EIN FDP-POLITIKER NAMENS WILHELM HELMS IM<br />

RAMPENLICHT – AUS DEUTSCHEN LANDEN DER<br />

ZEITGESCHICHTE<br />

Ein bis dato unbekannter Bauer aus dem niedersächsischen Bissenhausen wollte<br />

zu Beginn der siebziger Jahre deutsche Nachkriegs-Geschichte schreiben, gar<br />

Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974) stürzen – die auf Entspannung bedachte<br />

Ostpolitik der sozialliberalen Koalition aus den Angeln hebeln – Wilhelm Helms, Mitglied<br />

des Deutschen Bundestages in der 6. Wahlperiode, erst in der FDP-, dann <strong>als</strong> Gast in der<br />

CDU/CSU-Fraktion. Dam<strong>als</strong> in seiner ersten Amtszeit, konnte sich Willy Brandt<br />

(*1913+1992) im Bundestag nur auf die rechnerische Mehrheit von zwölf Stimmen stützen.<br />

Doch diese Majorität schmolz zusehends zusammen. Überläufer, Übertritte – ein Polit-<br />

Spektakel erhitzte seinerzeit vielerorts aufgebrachte Gemüter. Schon bei seiner ersten Wahl<br />

zum Bundeskanzler im Oktober 1969 hatte der SPD-Vorsitzende gerade mal zwei Stimmen<br />

mehr <strong>als</strong> notwendig bekommen. Schon ein Jahr später – 1970 – liefen drei FDP-<br />

Bundestagsabgeordnete zur CDU über.<br />

Am 23. April 1972 erklärte sodann auch der FDP-Abgeordnete Wilhelm Helms in<br />

seiner „Stunde der Wahrheit“ seinen Parteiaustritt; unter anderem mit der Begründung<br />

gegenüber dem Autor: „Irgendwas mache ich mal, dann komme ich schon groß heraus.“<br />

Das Schicksal der ersten sozialliberalen Koalition stand auf dem Spiel.<br />

Landwirtschaftsminister Josef Ertl (*1925+2000) und Innenminister Hans-Dietrich<br />

Genscher eilten zu Wilhelm Helms nach Bremen. Der aber sagte stereotyp seinen<br />

prominenten Parteifreunden, er habe die Missachtung wie auch die Geringschätzung<br />

seiner Person in Bonn satt. Respekt wolle er, Anstand sei gefragt. Wenigstens einmal<br />

möchte er, der Bauer aus Bissenhausen, vom Fraktionschef der CDU/CSU, Dr. Rainer<br />

Barzel (*1924+2006) empfangen werden. Possenspiel eines Hinterbänklers – die Republik<br />

hielt in jenen Tagen den Atem an.<br />

Frankfurter Rundschau vom 26. April 1972<br />

Eigentlich wollte Wilhelm Helms, so steht es zumindest in seinem Termin-Kalender, am<br />

Montagabend für die bevorstehenden Haushaltsberatungen im Bundestag einen Redetext<br />

ausarbeiten. Doch da sich die Bonner „Ereignisse derart überschlugen“, und er sich zudem bei der<br />

Bundestags-Verwaltung „erst einmal informieren will, welche politischen Möglichkeiten einem<br />

fraktionslosen Abgeordneten bleiben“, lässt der Ex-FDPler Helms Redetext und Sprechübungen<br />

sein. Er steht wetteifernden Journalisten nunmehr den dritten Tag atemlos Rede und Antwort – in<br />

eigener Sache versteht sich.<br />

Dies geschieht nicht etwa in Bonn, sondern weitab vom Schuss in seinem heimatlichen<br />

Bissenhausen, einem Dorf in der Grafschaft Hoya, das ganze fünf Bauernhöfe umfasst –<br />

Weltpolitik auf dem Acker. In der Pose eines Staatsmannes, der sich auf seinen Landsitz zurückzog,<br />

im Bewusstsein eine für die deutsche Bevölkerung wichtige Entscheidung getroffen zu haben, lehnt<br />

Wilhelm Helms sich in seinen Klubsessel zurück und beginnt zu erzählen, dass er die Bonner<br />

Politik nur zu genau kennt, so <strong>als</strong> sei er auf einer Versammlung des Landvolks. Helms-<br />

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Erzählstunden. Wäre Helms nicht Helms, dann zöge er sich bis zur Abstimmung des von der<br />

CDU/CSU beantragten konstruktiven Misstrauensvotums am 27. April 1972 gegen Bundeskanzler<br />

Willy Brandt im Deutschen Bundestag zurück.<br />

Nur der Landwirt aus Bissenhausen liebt Turbulenzen, ganz gewiss auch hektische<br />

Szenerien in diesen Stunden. – Helms-Stunden. Unverkennbare Momente eines verblichenen<br />

Hinterbänklers, der sich urplötzlich im gleißenden Rampenlicht knalliger Kontraste wähnt – <strong>als</strong><br />

Aufmacher-Meldungen nahezu aller europäischen Fernsehstationen. Er genießt es geradezu, das im<br />

„Fall Brandt“, wie er zu sagen pflegt, „an mir kein Weg vorbeiführt“. Interview über Interview, ein<br />

Gespräch mit der FDP-Spitzen-Garnitur Hans-Dietrich Genscher und Josef Ertl (*1925+2000)<br />

eigens nach Bremen herbeigeeilt, mit denen er sich in „vielen Dingen einig weiß“. Dann wieder ein<br />

Statement für die ARD. Und selbst der amerikanische Nachrichtensender CBS wartet schon in der<br />

Diele.<br />

Große Politik-Entwürfe großer Worte huschen da übers Bauern-Gebälk. Heimvorteil,<br />

Stallgeruch. Auf die Frage, warum er solch ein Spektakel, solch ein Gedöns veranstalte, zumal er<br />

die ohnehin arg angespannte Situation um die Ostverträge weiterhin verschärfe, argumentiert Bauer<br />

Wilhelm Helms mit seinen Wählern, deren er sich im Sinne seiner Politik verpflichtet glaubt. Nur<br />

direkt hat er von den Bürgern in seinem Wahlkreis gar kein Mandat erhalten. Über die berühmte<br />

Landesliste der niedersächsische FDP – <strong>als</strong>o über die Zweitstimme – zog er ins Parlament ein; zum<br />

politischen Überleben zu wenig, für ein Karriere-Ende noch zu viel - noch. Ganze 13,1 Prozent der<br />

Landsleute hatten in seinem Wahlkreis das Polit-Talent Wilhelm Helms erkannt. Dürre Zeiten.<br />

Wilhelm Helms weiß, was die Stunde geschlagen hat, die er selbst einläutete. „Ich wittere<br />

das“, sagt er knapp. Zwar will er „keine Weltpolitik dem eigentlichen Sinn nach betreiben“; er lässt<br />

aber unverhohlen wie überzeugt durchblicken, er habe immer einen „richtigen Riecher“ für<br />

politische Entwicklungen und die sich daraus ergebenen Entscheidungen gehabt; eben ein<br />

„Gespür“ dafür, Macht und Mandat zu sichern.<br />

In der Tat: Zumindest einmal hat Wilhelm Helms das schon durchgezogen, was er <strong>als</strong><br />

seine „richtige Intuition“ ausgibt. Das war im Jahr 1962, <strong>als</strong> er das sinkende Schiff der am rechtskonservativen<br />

Rand agitierenden Deutschen Partei (DP) ganz plötzlich verließ. Seinerzeit war er<br />

fasziniert vom Gedanken, die „Erneuerung Deutschlands“ voranzutreiben und diese junge<br />

Republik aus der „geistig-moralischen Krise“ zu führen. Ob ehemalige Wehrmachts-Offiziere,<br />

Vertriebene aus Ostpreußen oder Schlesien – sie saßen allesamt einträchtig mit Wilhelm Helms<br />

einst auf seinem Acker. Die Restauration im Nachkriegs-Deutschland sammelte ihre gestrauchelten<br />

Väter. Männer, die aber nach ihren Taten von Mord, Tod, Demütigungen, Flucht und Hunger<br />

lediglich einen zentralen Gedanken vor sich hertrugen: Die Wiederherstellung ihrer Würde,<br />

Männlichkeit und somit der nationalen deutschen Identität. Genugtuung.<br />

Dam<strong>als</strong> fischte, buhlte eine auf nationale Gesinnung abgerichtete FDP um die Gunst des<br />

rechten Wählerrandes. Folglich hatte Überläufer Wilhelm Helms eigentlich nur die Etiketten<br />

ausgetauscht. Es war mehr oder minder eine Plakat-Erneuerung in der Grafschaft Hoya, die früher<br />

mal liberale Maximen zur vordringlichen Priorität erhob. Dabei ist Bauer Helms gar kein Mensch<br />

der „Konflikte liebt“. „Nein“, beteuert er da, „ich benötige den Zuspruch, ich brauche Harmonie,<br />

richtige Harmonie.“ Das sei ihm allemal wichtiger <strong>als</strong> „diese aufgemotzten intellektuellen Konflikte,<br />

die man sowieso nicht verarbeiten“ kann. Das sei der eigentliche Grund dafür gewesen, warum er<br />

vor zehn Jahren nach seinem Austritt bei den Deutsch-Nationalen wieder die Konsequenzen zieht.<br />

Dieses Mal geht er allerdings auf eine „spektakuläre Weise“ aus der FDP. Helms lächelt: „Ich habe<br />

dazu gelernt.“<br />

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Ginge es tatsächlich ausschließlich um etwaige Meinungs-Konflikte oder gar um die viel<br />

herbei geredeten Gewissensnöte des Wilhelm Helms – nichts wäre undramatischer <strong>als</strong> das. Dem<br />

niedersächsischen FDP-Landeshauptausschuss versicherte er noch am 26. März 1972, er werde die<br />

Partei definitiv nicht verlassen und gleichzeitig nachhaltig für die Ostverträge eintreten. Am selben<br />

Tag hat er sich – begleitet von minutenlangen Ovationen – erneut zum FDP-Kreisvorsitzenden in<br />

Hoya wählen lassen. Hingegen: Keine vier Wochen waren ins Land vergangen, da schien für<br />

Politiker Wilhelm Helms derlei FDP-Bekenntnisse „der Schnee von gestern“ zu sein.<br />

Nach einer FDP-Veranstaltung des Kreisverbandes Harburg-Land am 20. April 1972<br />

fasste er wetterfühlig den spontanen Beschluss, nunmehr die Liberalen – wie einst die Deutschen-<br />

Nationalen – zu verlassen. Neuerliche Gründe, gar aktuelle Vorkommnisse gab es wohl keine. Es<br />

sei denn, mangelnde Beachtung, mangelnde Ehrerbietung für den „Willem aus Bonn“. „Tja“,<br />

erinnert sich Günter Helmrich, seinerzeit FDP-Kreisvorsitzender in Buchholz in der Nordheide,<br />

„nach einer Partei-Veranstaltung haben die Zuhörer ihrem Referenten Helms vor dem Heimweg<br />

nicht anständig auf Wiedersehen gesagt, ihn nur ausgelacht, weil sie alle schein reichlich abgefüllt<br />

waren wie die Haubitzen.“ Land und Leute in einem Heide-Städtchen. Ernüchterung.<br />

Immerhin drei Tage brauchte Wilhelm Helms, um sich zu berappeln, gar seinen<br />

Parteiaustritt zu bekräftigen. Gemeinsam mit seiner Frau formulierte er einen Telegramm-Satz. Da<br />

verlautbarte es, er müsse nunmehr die Konsequenzen ziehen, weil die „liberale Eigenständigkeit“<br />

der Freien Demokratischen Partei nicht mehr gewährleistet sei. Der Ostpolitik Brandt/Scheel stehe<br />

er allerdings nach wie vor positiv gegenüber. – Kater-Stunde. Jedenfalls könne von einem Monate<br />

langen Hin und Her, Ungewissheiten keine Rede mehr sein.<br />

Fragt man Wilhelm Helms in diesen Zeiten des politischen Umbruchs danach, wo die<br />

„liberale Eigenständigkeit“ der FDP nicht mehr gewährleistet sei, dann spricht der Abgeordnete<br />

schnell von einem „desolaten Haufen“. Gemeint seien damit jene undurchsichtigen Partei-<br />

Apparate und insbesondere der ewig und ewig diskutierende FDP-Bundesvorstand mit seinen<br />

„Wichtigtuern“. Berührungs-Phobien. Indes: alternative gesellschaftspolitische Thesen vermag der<br />

Landwirt nicht zu formulieren; schon gar nicht solche, die den Ruf nach liberaler Eigenständigkeit<br />

rechtfertigen. Auch das Freiburger Grundsatz-Programm – geschrieben von Karl-Hermann Flach<br />

(*1929+1973), Werner Maihofer (Bundesminister 1972-1978) und Walter Scheel (Bundespräsident<br />

1974-1979) lehnt Wilhelm Helms kategorisch ab.<br />

Die Freiburger Thesen, verabschiedet auf dem FDP-Parteitag vom 27. Oktober 1971,<br />

markierten einen reformorientierten „Sozialen Liberalismus“ <strong>als</strong> Erneuerung der Partei. Danach<br />

sollte der Liberalismus in der Bundesrepublik sich nicht nur <strong>als</strong> Mehrheitsbeschaffer für<br />

Regierungen begreifen, sondern ganz im Sinne ihres Vordenkers Friedrich Naumann (*1860+1919)<br />

soziales Engagement, Freiheitsrechte eines jeden Bürgers ausbauen helfen.<br />

„Programme“, befindet Wilhelm Helms da, „die sind schon gut. Nur dieses komplizierte<br />

Zeug, das habe ich, das konnte ich auch nicht bis zu Ende durchlesen. Papierberge bleiben<br />

Papierhaufen. Das hat auch mit Realpolitik wenig zu tun.“<br />

„Aber, warum nur, Herr Helms, sind Sie so stur, ja ignorant, wenig aufgeschlossen, wenn<br />

es um neue Denkansätze geht“, frage ich. Stille, Achselzucken, Verlegenheit. Er weicht lieber aus,<br />

redet lieber von lokalen Ereignissen in seiner Grafschaft Hoya – von einer notwendigen<br />

„politischen Zusammenarbeit, die in Fleisch und Blut übergehen“ müsse.<br />

Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte die FDP-Bundestagsfraktion „die Staatsmänner<br />

um Willy Brandt (*1913+1992) kaltgestellt.“ Und im Übrigen sei es die Schuld der Partei-<br />

50


Ideologen, dass sich „die sozialliberale Koalition bis auf die Knochen blamiere“. Was den SPD-<br />

Politiker Herbert Wehner (*1906+1990) angelangt, so nennt ihn sein Bundestags-Kollege schlicht<br />

“hirnrissig“. – Aus deutschen Landen frisch auf den Kabinettstisch.<br />

So aufbrausend geht es zu, wenn „Willem“, wie er von Freunden gehätschelt wird, mal in<br />

Bonn und anderswo kurz dazwischentritt. Verständlich, dass er sodann die ganze Bundesrepublik<br />

<strong>als</strong> ein „Trauerspiel“ begreift. Er sei ja nach Bonn gekommen, um mitzudenken, mitzumachen,<br />

politische Gedanken in die Tat umzusetzen. Anträge habe er geschrieben. Sie landeten über kurz<br />

oder lang in Papierkörben. Immer wieder habe er sich zu Wort gemeldet, Diskussionsbeiträge zu<br />

diesem oder jenem Fragenkomplex hinzugefügt. Im Grunde habe er seine Aufgabe <strong>als</strong><br />

Parlamentarier viel zu ernst, viel zu wörtlich genommen. – Wilhelm Helms: „Ein mildes Lächeln<br />

war oft die Reaktion. Dieses Grinsen ist es ja, was mich zur Weißglut treibt.“<br />

Als sich am Rande einer Tagung in der Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach<br />

FDP-Politiker über die personelle Zusammensetzung der Landeslisten für die Bundestagswahl<br />

1973 unterhielten, tauchte der Name Wilhelm Helms nirgendwo mehr auf. – Kurzum aussortiert.<br />

Helms drohte intern erregt. „Irgendwann mache ich mal was, dann komme ich ganz groß raus.“<br />

Schließlich sei er über Jahrzehnte in seiner Grafschaft eine „überragende politische Persönlichkeit“<br />

gewesen – und dann solch ein jämmerlicher Abgesang in Bonn? Verärgert, verletzt, verstört zog<br />

Wilhelm Helms seine Konsequenzen, weil er doch weiter in der Bundesrepublik Deutschland<br />

„mitmischen“ will. Nun zieht es ihn zur Christlichen Union. Daraus macht er keinen Hehl mehr.<br />

Einmal von Rainer Barzel (*1924+2006), dem allgegenwärtigen Fraktionschef, empfangen<br />

zu werden – „das wäre schon eine Sache“, mutmaßt er. Auf künftige Abstimmungen im Bundestag<br />

eingehend, konstatiert er: „Wenn ich nicht gegen den Kanzler Brandt stimme, verlasse ich einen<br />

Teil meiner politischen Position.“ Vabanque-Spiel.<br />

Der „Landwirt zu Bissenhausen“ machte in diesen politisch angespannten Tagen nach<br />

dem Text eines Protestliedes von sich reden: „Irgendwas mach‘ ich mal, dann komme ich ganz<br />

groß heraus.“ Doch nach dem 4. Mai 1972 wird man nicht einmal mehr im Foyer oder in der Bar<br />

des Bundestages über den Politiker Wilhelm Helms ein Wort verlieren. Vor der Diskussion um die<br />

Ostverträge und seinen spektakulären Austritt aus der FDP was das ja auch nicht der Fall.<br />

Postscriptum . – Willy Brandt siegt über Wilhelm Helms – 18 Jahre nach dem<br />

gescheiterten Misstrauensvotum hat der damalige SPD-Kanzler Willy Brandt einen späten Sieg über<br />

den Ex-FDP-Abgeordneten Wilhelm Helms errungen. Helms, Landwirt in Bissenhausen, hatte sich<br />

vor dem Münchner Landgericht gegen eine Passage in Brands Memoiren gewehrt, wonach der<br />

Liberale dem sozialliberalen Kanzler im Vieraugengespräch „mit Tränen in den Augen“ gestanden<br />

habe, er werde „wegen des Hofes“ mit der CDU-Opposition gegen Brandt stimmen. Auch das<br />

Münchner Oberlandesgericht (OLG) gab jetzt dem SPD-Ehrenvorsitzenden recht. Brandt habe<br />

„glaubhaft gemacht“, dass seine Schilderung zutreffend sei, nicht jedoch die Darlegung von Helms.<br />

Die Richter zeigten sich besonders von Aussagen des damaligen FDP-Chefs Walter Scheel und des<br />

FDP-Abgeordneten Kurt Spitzmüller sowie der Sozialdemokraten Egon Bahr und Karl Wienand<br />

beeindruckt. Dazu gehörter Bericht, Helms habe „finanzielle Probleme mit seinem Hof“ gehabt.<br />

Eine von Helms vorgelegte Bankbestätigung habe dagegen „keine näheren Daten zur<br />

wirtschaftlichen Situation im Jahre 1972“ erbracht. Auch sei, so das OLG, nach dem versuchten<br />

Sturz einer Regierung das „zeitgeschichtliche Interesse der Allgemeinheit“ an der Information<br />

höher zu bewerten <strong>als</strong> „das persönliche Integritätsinteresse“ eines einzelnen.<br />

Quelle: Spiegel vom 06.08.1990 – 32/90.<br />

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KIRCHE IM NATIONALSOZIALISMUS: ENTZAUBERUNG<br />

EINER LEGENDE. EIN DENKMAL WANKT - "DER KRIEG<br />

ALS GEISTIGE LEISTUNG" - BISCHOF HANNS LILJE<br />

(*1899+1977)<br />

Die Kirchen in Deutschland waren tief in die Nazi-Diktatur verstrickt. Nur wenige<br />

Christen fanden Courage zu widerstehen. Zu ihnen soll Hanns Lilje (*1899 +1977),<br />

Hannovers Protestanten-Bischof, gezählt haben; ein emphatischer "Prediger des inneren<br />

Widerstands", <strong>als</strong> "kühnster Sprecher der Bekennenden Kirche" gegen Hitler-<br />

Deutschland hieß es landauf, landab in all den Jahren. Tatsächlich war Hanns Lilje im<br />

Nachkriegs-Deutschland eine der wenigen weltgewandten Persönlichkeiten des<br />

Protestantismus im 20. Jahrhundert. Ein Theologe, an dem sich viele aufrichteten,<br />

Orientierung suchten, ein Märtyrer. Letzte Forschungen belegen zweifelsfrei, Liljes<br />

Opposition gegen die Nazis ist Legende - zwischen wohldosierter Dichtung und<br />

unterdrückter Wahrheit. Wie konnten derlei Verklärungen über all die Jahrzehnte<br />

funktionieren? Propaganda-Tricks , Vertuschungen ? Begegnung mit einem Mitläufer.<br />

Zeitgeschichte.<br />

Zur Erinnerung: Hanns Lilje war elffacher Ehrendoktor, Träger des Großen<br />

Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik<br />

Deutschland, des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland<br />

sowie der Niedersächsischen Landesmedaille. Er ist Namensgeber der 1989 gegründeten<br />

synodalen Hanns-Lilje-Stiftung. Lilje starb im Alter von 78 Jahren. Seine Grabstätte<br />

befindet sich auf dem Klosterfriedhof in Loccum.<br />

Frankfurter Rundschau 28. April 1972<br />

In der Meraner Straße im hannoverschen Waldhausen verbringt Landesbischof a.D.<br />

Johannes Ernst Richard - genannt Hanns - Lilje seinen Lebensabend. "Ein Christ im<br />

Welthorizont", wie Lilje oft genannt wurde, der "allzeit das Ohr am Boden gehabt und das Grollen<br />

sich ankündigender Bewegung im voraus vernommen" hat, so charakterisierte ihn die Frankfurter<br />

Allgemeine Zeitung. Ich habe mich auf mein Gespräch mit Hanns D. Lilje intensiv vorbereitet,<br />

Fragen notiert. Ich wusste um seine geschliffene Sprache, um seine wortgewaltige<br />

Argumentationsweise - eine vielleicht vordergründige Prägnanz, die aber gleichwohl unliebsame<br />

Ereignisse, Erinnerungen vom Tisch zu fegen verstehen. Nun, an seinem Lebensabend, hatte<br />

Hanns Lilje die Gelassenheit gefunden, fernab von der aktuellen Kirchenpolitik, Bilanz zu ziehen,<br />

eine Art Lebensresümee aufzuzeichnen – seine Memoiren zu schreiben.<br />

Hanns Lilje war seit 1947 kein Landesbischof im herkömmlichen Sinne. Als Prediger und<br />

Journalist (Urbegründer des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblattes 1948-2000), <strong>als</strong> Theologe und<br />

Seelsorger, <strong>als</strong> Kirchenführer und Schriftsteller versuchte er nicht nur, wie er es nannte, "Brücken<br />

zu schlagen". Das jedenfalls schrieb der Evangelische Pressedienst 1969 zu seinem 70. Geburtstag.<br />

Hanns Lilje war, wie er selbst von sich sagt, in all den politischen Zeiten der Irrungen und<br />

Wirrungen ein "politischer Pragmatiker", der keinen Weg betrat, "von dem ich nicht wusste, dass<br />

ich ihn nicht zu Ende gehen kann". Diese Maxime bestimmte seine Kirchenpolitik, sei es <strong>als</strong><br />

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Gener<strong>als</strong>ekretär der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (1927-1935) oder auch <strong>als</strong><br />

Präsident des Lutherischen Weltbundes, der er von 1952 bis 1957 war.<br />

Ein Schlüsselerlebnis, das Lilje zur Theologie führte, gab es nicht. Ursprünglich wollte er<br />

Verkündiger sein, "um mein Leben an eine ernsthafte große Aufgabe dieser Art zu verwenden".<br />

Doch schon 1927 - sechs Jahre vor Hitlers Machtergreifung - begann für ihn <strong>als</strong> Gener<strong>als</strong>ekretär<br />

der Deutschen Christlichen Vereinigung der steile Aufstieg in die Hierarchie der Kirchenpolitik,<br />

von der er sich bis zu seiner Pension nicht mehr losreißen konnte - und auch wollte. Folglich<br />

begründete Lilje im Jahr 1933 die "Jungreformatorische Bewegung" mit und sagte zur NS-<br />

Machtübergabe ein "freudiges Ja". - Kirchen-Karriere.<br />

Als Gener<strong>als</strong>ekretär und später <strong>als</strong> Vizepräsident dieser Organisation will er "das<br />

Handwerk gelernt haben, um überhaupt in der geistigen Diskussion dieser Zeit drin sein zu<br />

können". Tagungen, Vortragsveranstaltungen und zeitweilig literarische Aufträge haben ihn "in das<br />

Licht der Öffentlichkeit gerückt". Und obwohl er "kein dramatischer Mensch war und auch nicht<br />

unbedingt provozierende Dinge gedacht und gesagt hat" (Lilje) schrieb er nach dem misslungenen<br />

Attentat auf Hitler am 8. November 1939 in der Zeitschrift "Furche": "Dass durch solche<br />

Anschläge der Siegeswille des nation<strong>als</strong>ozialistischen Deutschland nicht gelähmt werden darf,<br />

bedarf keines Wortes." Liljes Kirchen-Wort zu einer Zeit, <strong>als</strong> in Hitler-Deutschland längst Bücher<br />

und Synagogen brannten und der Angriffskrieg begonnen hatte.<br />

Zwar gehörte Hanns Lilje zur Bekennenden Kirche um Dietrich Bonhoeffer<br />

(*1906+9.April 1945 im KZ Flossenburg ermordet) und Martin Niemöller (*1892+1984 - seit 1937<br />

Häftling im KZ Sachsenhausen), doch ein Widerstandskämpfer war der rhetorisch wetterfeste<br />

Bischof im schwarzen Talar mitnichten. Ganz im Gegenteil. Weil Hanns Lilje vielleicht "kein<br />

dramatischer Mensch" war, schrieb er 1941 in den Furche-Schriften, einen Aufsatz "Der Krieg <strong>als</strong><br />

geistige Leistung", um, wie er sich heute rechtfertigt, "den Menschen, die in die Maschinerie des<br />

Krieges hineingeraten sind, zu helfen, ihre geistige Existenz wahren zu können".<br />

So steht dort geschrieben: "Für Luther ist der Krieg 'Gottes Werk' - in demselben Sinne,<br />

in dem Größe und Grauen der Geschichte Gottes Werk heißen und in dem alle Geschichte<br />

gleicherweise Zeichen seiner Gnade wie seines Zornes ist ...“ - Verständlich, dass Gott im Dienst<br />

"nationaler deutscher Belange" steht. Lilje im Originalton: "Es muss nicht nur auf den<br />

Koppelschlössern der Soldaten, sondern in Herz und Gewissen stehen: Mit Gott!" - Gott <strong>als</strong><br />

Legitimation der Nazi-Barbarei; Hanns Lilje sein Chefinterpret: "Soldaten sind Männer, die jetzt<br />

wieder den grauen Rock der Ehre tragen."<br />

Lilje Nachkriegsleben mit neu zurechtgerückten Collagen begann schon zwei Jahre nach<br />

dem Zusammenbruch am 8. Mai 1945. Da lobte ihn der "Internationale Biografische Dienst" <strong>als</strong><br />

einen vom Volksgerichtshof Verurteilten, der die "eisernen Fenstergitter und Türen des<br />

berüchtigten Gefängnisses von Moabit mit seinem ungebrochenen Geist gesprengt habe, längst ehe<br />

nach dem Einmarsch der alliierten Truppen in Berlin die Zeiten sich öffneten".<br />

Im selben Jahr, im Frühjahr 1947, stellte die viel beachtete britische Zeitung British Zone<br />

Review, dem wichtigsten Presseorgan des Kontrollrats, Lilje <strong>als</strong> einen "mutigen Deutschen" dar,<br />

der in Gestapo-Haft kam (1944 bis 1945), weil er in das Komplott des deutschen Widerstands vom<br />

20. Juli verstrickt gewesen sei. Naheliegend, dass dieser Lilje in einem Atemzug mit den<br />

Widerstandskämpfern Theodor Steltzer (*1885+1967), Fabian von Schlabrendorff (*1907+1980),<br />

Helmuth Graf von Moltke (*1907+23. Januar 1945 gehängt im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee)<br />

und Eugen Gerstenmaier (*1906+1986; <strong>als</strong> Mitglied des Kreisauer Kreises am 20. Juli 1944<br />

53


verhaftet) genannt wurde. Beinahe so, <strong>als</strong> sei Hanns Lilje einer der wenigen, der den Nazi-Schergen<br />

noch entronnen sei. Lilje <strong>als</strong> Märtyrer. Karriere-Bausteine. Blanko ausgestellte Persilscheine, die<br />

dem Kirchenmann nicht nur hohe Reputation sicherten, sondern gleichfalls zu einer der ersten von<br />

den Briten genehmigten Zeitungslizenzen verhalfen - das "Sonntagsblatt", welches er herausgab.<br />

In Wahrheit hatte sich Hanns Lilje nicht gegen die Nazis gestellt. Auch war er nicht - wie<br />

immer wieder in Umlauf gesetzt - zum Tode, sondern zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt<br />

worden. Letztlich war der Prozess am Volksgerichtshof unter dem Vorsitzenden Roland Freisler<br />

(*1893+1945) gegen den Kirchenmann wegen seiner zahlreichen Auslandskontakten<br />

("Landesverrat") inszeniert worden - und nicht wegen seiner Zugehörigkeit zu einer<br />

Widerstandsgruppe gegen Hitler, gar zu den Männern des 20. Juli 1944. -Aufklärung.<br />

Junge Theologen um den Göttinger Pastoren Hartwig Hohnsbein fertigten zum 70.<br />

Geburtstag des Landesbischofs einen Raubdruck über sein Nazi-Mitläufertum an. Sie ließen ihm -<br />

<strong>als</strong> "Festschrift deklariert" - ein Exemplar zukommen. Danach war es Hanns Lilje, der den<br />

Anführer des zivilen Widerstands, Carl Goerdeler (*1984+1945), nationalkonservativer<br />

Oberbürgermeister von Leipzig, jede bittende Hilfe bei seiner geplanten Flucht ins Ausland - <strong>als</strong><br />

letzte Rettung - verweigerte. Er, Goerdeler, so Liljes Maßgabe, solle doch lieber nach Leipzig<br />

zurückkehren Carl Coerdeler wurde 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Pastor Hartwig<br />

Hohnsbeins Befund: "Lilje war verlässlicher Parteigänger für die NS-Machthaber, bis er, sehr<br />

zufällig, selbst in das Räderwerk ihrer brutalen Unrechtsordnung kam."<br />

Es waren junge Theologen und in der Kirche aktive Christen, die ihren Landesbischof<br />

nach seiner Vergangenheit im Nation<strong>als</strong>ozialismus fragten. Viele junge Menschen fragten in den<br />

sechziger Jahren ihre Väter. Es war die Zeit der ersten schüchternen Aufarbeitung des<br />

Unvorstellbaren - die Massenmordes im Namen der Deutschen. Es war die Zeit, des Publizisten<br />

Eugen Kogon (*1903+1987) mit seinem Standardwerk über den "SS-Staat". Es waren die Jahre des<br />

Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich (*1908+1982) mit seiner deutschen<br />

Zustandsbeschreibung "Die vaterlose Gesellschaft" oder "Die Unfähigkeit zu trauern". Es waren<br />

aber nicht die Jahre, Aufklärungsjahre, Trauerjahre des Landesbischofs im Namen der Christen.<br />

Denk- und Diskussionsverbot. Hanns Lilje beschied lapidar: "Ich habe keinen Anlass, diese Kritik<br />

ernst zu nehmen, weil sie Ausschnitte aus einer geplanten Antipropaganda gegen die Kirche sind,<br />

deren Ursprung höchstwahrscheinlich in der DDR zu suchen ist." Ende der Durchsage. Kein<br />

Pastor wagte aufzumucken, Kritiker versteckten sich.<br />

Zwei Jahre nach Kriegsende wurde Hanns Lilje, inzwischen zum Oberkirchenrat<br />

avanciert, von der hannoverschen Landessynode zum Landesbischof gewählt. Er trat damit die<br />

Nachfolge des NSDAP-Parteigängers und Antisemiten Bischof August Marahrens (*1875+1950)<br />

an, dem er zuvor des Öfteren in der Kirchenpolitik begegnet ist: insbesondere um 1935, <strong>als</strong> August<br />

Marahrens Präsident des Lutherischen Weltkonvents war und Lilje <strong>als</strong> Gener<strong>als</strong>ekretär fungierte.<br />

Von der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen, dass mit der Amtsübergabe Marahens/Lilje<br />

eine unscheinbare, innere Kontinuität gewahrt wurde.<br />

Im Klartext: Hitler-Befürworter von einst gaben sich im neuen Gewande den<br />

Tresorschlüssel in die Hand. Nach draußen hin sollte die Ablösung Marahrens durch Lilje die<br />

Landessynode offensichtlich demonstrativ einen Schlussstrich unter die nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />

Geschehnisse signalisieren; aber nur fürs Kirchenpublikum. Denn intern in vielen Pastorenstuben<br />

waren beklemmende Erinnerungen an die Marahens-Ära noch zu frisch, lebte auch das kirchliche<br />

Amtsblatt der Landeskirche zu Hannover vom 21. Juli 1944 in so manchen Seelsorger-Köpfen fort.<br />

Ein Amtsblatt der Zeitgeschichte, in dem August Marahrens "<strong>als</strong> Dank für die gnädige Errettung<br />

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des Führers für den darauffolgenden Sonntag folgendes Gebet anordnete: "Heiliger barmherziger<br />

Gott! Von Grund unseres Herzens danken wir Dir, dass Du unserem Führer bei dem<br />

verbrecherischen Anschlag Leben und Gesundheit bewahrt und ihn unserem Volke in einer Stunde<br />

höchster Gefahr erhalten hast. In Deine Hände befehlen wir ihn ...“<br />

Die Zeichen in der Nachkriegsgeschichte der evangelischen Kirche standen auf Sturm. So<br />

heißt es in der "Stimme", einer Zeitschrift um den früheren KZ-Häftling im Konzentrationslager<br />

Sachsenhausen und Widerstandskämpfer Martin Niemöller (*1892+1984): "Im Unterschied zur<br />

Gruppe der deutschen Christen konnte die lutherische antisozialistische Fraktion ihre<br />

Machtposition in den Landeskirchen und in der EKD auch nach 1945 behaupten, und sie setzte in<br />

den entscheidenden Jahren 1945 bis 1949 alles daran, eine kirchliche und gesellschaftliche<br />

Neuordnung zu verhindern."<br />

Das Hauptaugenmerk dieses gesellschaftlichen Kirchen-Kampfes um Erneuerung oder<br />

Bewahrung bei den Protestanten richtete seinen Blickwinkel auf zwei Protestantenführer jener<br />

Jahre - eben Hanns Lilje <strong>als</strong> Mann der westdeutschen Restauration - und Martin Niemöller,<br />

Repräsentant des Neubeginns, Vertreter der Aufarbeitung auch des Unrechts, das im Namen der<br />

evangelischen Kirche geschehen ist. Er schrieb in diesen Jahren einen Vers, der wohl kaum besser<br />

das allseits lähmende, erstickende Klima reflektiert:<br />

"Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war kein Kommunist.<br />

Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter.<br />

Als sie die Sozialisten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialist.<br />

Als sie die Juden einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.<br />

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."<br />

Doch einen gab es dann noch noch - der aber protestierte nicht: Hanns Lilje. Ganz im<br />

Gegenteil: Vier Jahre nach dem Nazi-Gräuel forderte der Bischof einen Schlussstrich zu ziehen,<br />

eine "Liquidation der Vergangenheit". Er war ein Exponent der anti-sozialistischen Lutheraner<br />

nach 1945. Und Hanns Lilje bekannte sich im Frühjahr 1971 erstmalig im Rückblick auf seine<br />

Amtszeit <strong>als</strong> Landesbischof ganz offen zur Wiederherstellung alter Verhältnisse, zur<br />

Wiedereinsetzung aller Figuren in ihren Ämtern - zur Restauration.<br />

Vor der hannoverschen Synode sagte er: "Wir haben in der Tat wiederhergestellt. Und ich<br />

darf, ehe dieses Wort der Restauration wieder absinkt in den Streit der Schlagworte, sagen: Genau<br />

das war unsere Pflicht." War es auch seine Pflicht, sich für verurteilte NS-Täter einzusetzen;<br />

darunter Massenmörder wie Paul Blobel (+1894+1951; u.a. Führer des Sonderkommandos 4a, das<br />

60.000 Menschen, darunter 30.000 Juden am 29. und 30. September 1941 bei Kiew ermordete und<br />

Franz Six (*1909+1975; SS-Brigadeführer - Generalmajor - verantwortlich für Logistik der<br />

Judenverfolgung)?<br />

Hatte Hanns Lilje noch 1945 zusammen mit Martin Niemöller und Gustav Heinemann<br />

(*1899+1976; Bundespräsident 1969-1974) das "Stuttgarter Schuldbekenntnis" unterschrieben, so<br />

trennten sich die Wege beider Theologen in den fünfziger Jahren. Schon 1947 war Martin<br />

Niemöller in der Synode äußerst umstritten, galt <strong>als</strong> "linksverdächtig". So steht in einem Urantrag<br />

geschrieben: Sie (Synode) steht auf dem Standpunkt, dass Herr Niemöller <strong>als</strong> Leiter des<br />

Außenamtes der evangelischen Kirche untragbar ist." Aus den Synodalprotokollen geht hervor,<br />

dass Niemöller für den ehemaligen deutschnationalen niedersächsischen Ministerpräsidenten<br />

Heinrich Hellwege (*1906 +1991; Ministerpräsident des Landes Niedersachsen 1955-1959) ein<br />

Dorn im Auge war. Grund der Auseinandersetzung: Martin Niemöller suchte vergeblich in Zeiten<br />

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des "Kalten Krieges" eine "positive Klärung" der Westdeutschen zu ihren östlichen Nachbarn.<br />

Antikommunisten Hellwege vor der Synode: "Solche Parolen sind gefährlich, weil sie den<br />

Widerstandswillen des deutschen Volkes gegen die östliche Bedrohung schwächen, und weil sie<br />

damit der ernstlichen Bemühung der Bundesregierung und unser aller geistiges Bollwerk in den<br />

Rücken fallen." - Kirchenpolitik.<br />

Ihren Höhepunkt fand heftigst die Auseinandersetzung in der Diskussion um<br />

Wiederaufrüstung, Gründung der Bundeswehr im Jahre 1956. Wieder sollten Pastoren Panzer und<br />

Soldaten, diesmal in ihrer Habtachtstellung gegenüber dem Kommunismus, Pate stehen, Beistand<br />

leisten, Gottvertrauen zusprechen. Es war Kanzler Konrad Adenauer (*1876+1967), der die<br />

Pastoren - neun Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg - mit seinem Militärseelsorge-Vertrag wieder in<br />

die Kasernen rief. Es waren Martin Niemöller und Helmut Gollwitzer (*1908+1993), die eine<br />

abermalige Bindung ihrer Kirche an Panzern mit ihren Pastoren strikt ablehnten. Hanns Lilje<br />

hingegen engagierte sich mit seinem Kollegen Otto Dibelius (*1880+1967) fürs Engagement<br />

schwarzer Talare auf Kasernen-Höfen; nach dem Motto: Gotteswort überall.<br />

Bezeichnenderweise steht nichts über derlei gravierende Richtungskämpfe in offiziellen<br />

Kirchen-Verlautbarungen. Lediglich das "Jahrbuch für kritische Aufklärung" vermerkt: "Der<br />

Protest meldete sich auf der außerordentlichen Synode der EKD zu Wort, die auf Wunsch der<br />

Kirchen in der DDR wie von westdeutscher Seite wegen der Verbreitung der allgemeinen<br />

Wehrpflicht und des Militärseelsorgevertrages einberufen wurde. In einem am 29. Juli 1956<br />

angenommenen Ausschuss-Resolution heißt es: 'Der Rat der EKD hat beschlossen, endgültige<br />

Maßnahmen zur Ordnung der Militärseelsorge nicht zu treffen ...' Der Beschluss sollte 'beachtet'<br />

und 'keine Tatsachen geschaffen werden, die die EKD zu dieser Sache binden'. Sandkasten-<br />

Demokratie,<br />

Indes: Unter 'bewusster Missachtung' (Helmut Gollwitzer) dieses Synodalbeschlusses<br />

unterzeichnete der Ratsvorsitzende der DKD, Bischof Otto Dibelius sowie der Leiter der<br />

Kirchenkanzlei Heinz Brunotte (*1896+1984) den Militärseelsorgevertrag am 23. März 1957 in<br />

Bonn. Erster Militärbischof wurde Hermann Kunst (1957-1972; *1907+1999). Er war auch ohne<br />

Befragen der Synodalen kurzerhand ernannt worden. Hanns Lilje war jedenfalls ohne Wenn und<br />

Aber auf der Seite von Armee und Pastoren in Uniform zu finden. Er befand: "Es war schon<br />

immer Unsinn, wenn man meint, dass die Militärseelsorge die Waffen segnen soll."<br />

Der Konflikt zwischen beiden Flügeln in der evangelischen Kirche hatte zumindest Mitte<br />

der fünfziger Jahre ein solches Ausmaß erreicht, dass sich auch der damalige US-Außenminister<br />

John Forster Dulles (*1988+1959; US-Außenminister 1953-1959) für derlei Diadochen-Kämpfe in<br />

Sachen Jesus in Deutschland interessierte. Aus den Adenauer-Memoiren geht hervor: "Botschafter<br />

Krekeler habe John Forster Dullas sagen müssen, dass leider in der protestantischen Kirche neben<br />

den Persönlichkeiten von so klarer Haltung wie den Bischöfen Dibelius und Lilje sowie den Laien<br />

von Thadden-Trieglaff noch eine ganze Reihe von Geistlichen durchaus keine realistische<br />

Einstellung zum Problem des Kommunismus hätte."<br />

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Hanns Lilje will sich in all den verirrten und verwirrenden Epochen treu geblieben sein.<br />

Der "politische Pragmatismus", so sagt er, war der "einzige Weg, der uns ein Überleben sicherte".<br />

Und wenn er während seiner Amtszeit Fehler gemacht, Fehleinschätzung vorgenommen habe,<br />

dann sind sie darin zu suchen, "dass ich mir nicht immer so viel zugetraut habe, wie manche<br />

Situationen es von mir abverlangt hätten"; den Weg des geringsten Widerstands gegangen zu sein.<br />

Nach einer kurzen Pause fährt er fort: "Ich habe versucht, behutsam zu sein, um die Situation nicht<br />

noch weiter zu verschärfen." Kirchen-und Gesellschaftspolitik gehören für Hanns Lilje "organisch<br />

zusammen".<br />

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FREIHEIT – DIE SICH MEINEN - DER MANN, DER<br />

ZEITUNGEN STERBEN LIESS<br />

In der bundesdeutschen Nachkriegs-Gesellschaft Ende der sechziger / Anfang<br />

der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wollte Bundeskanzler Willy Brandt<br />

(1969-1974) "mehr Demokratie" wagen. Pressefreiheit - innere wie äußere -zählte zum<br />

Identitätskern einer rebellierenden APO-Jugend, vornehmlich gegen den Springer-Konzern<br />

mit seinem Massenblatt "Bild".<br />

Nur im sozialdemokratischen Parteiapparat nahm man vom sogenannten<br />

"Demokratie-Protest" draußen auf der Straße kaum Notiz. Dort herrschte<br />

Kadavergehorsam, Zensur, Parteilinie, wenn es um die SPD-eigenen Zeitungen ging. Wer<br />

nicht spurte, flog oder mit dem Rausschmiss wurde sogleich die ganze Zeitung<br />

dichtgemacht - wegen Misserfolgs, Hauptsache das Partei-Profil stimmt.<br />

Der Mann, der Zeitungen sterben ließ, und einen Teil der westdeutschen<br />

Pressekonzentration zu verantworten hatte, hieß Alfred Nau (*21. 11. 19o6+18. 5. 1983). Er<br />

war Schatzmeister oder auch Kassenführer einer Partei, die insgeheim mit Boulevard-<br />

Macharten von Springers "Bild"-Zeitung liebäugelte und ihre Manager inständig hofierte.<br />

Versteckte Rollenspiele, verzerrte Lebensprofile -Rückblicke. Zeitgeschichte<br />

Frankfurter Rundschau 02. November 1971 stern, Hamburg 10. August 1972<br />

Er kleidet seine Pförtner in grün-weiße Trikots und formuliert höchst persönlich<br />

Werbetexte fürs eigene SPD-Blatt: etwa "Der Mief ist weg". In den Rotationshallen der "Neuen<br />

Hannoverschen Presse" (Auflage 91.000) reichte Zeitungsmacher Peter Krohn werbewirksam<br />

einbestellten Rentnern Kaffee wie Kuchen. Im Hochzeitstaxi ließ er Jungvermählte zur Kirche<br />

chauffieren -posierte mit Pärchen und Pastoren vorm Kirchenportal. Er kaufte erlesene Möbel fürs<br />

Haus, lässt seine Zeitung des Nachts wie die traditionelle Marktkirche illuminieren. Keine Frage, ob<br />

Feuerwerk-Spektakel, Beatveranstaltungen, Leserparlamenten und einem in den Traditionsfarben<br />

von Hannover 96 getünchten Verlagshaus - das sind die kernigen "Marketing-Elemente", mit<br />

denen ein früherer Manager im Axel-Springer-Verlag "den Geruch des Parteiblattes" vertreiben,<br />

Parteibuch-Journalisten den Garaus machen will. Die einst biedere SPD-Zeitung rutscht von einem<br />

Extrem ins andere - nunmehr ohne Gesinnung, aber mit viel Spektakel oder x-beliebigen Boulevard<br />

knüppeldicker Schlagzeilen.<br />

Seit einem halben Jahr ist Peter Krohn (Haus-Jargon. "Dr. Peter Kroenisch"; in<br />

Anlehnung an den "Bild"-Zeitungs Chefredakteur Peter Boenisch; *1927 +2005) dabei, von einem<br />

Extremen in das andere zu rotieren - aus einem biederen SPD-Ja-Sager-Blatt ein verkitschtes,<br />

entpolitisiertes Familienblatt zu zaubern - unter SPD-Regie. Seit die neuen Fahnen auf dem Dach<br />

des Verlagshauses wehen, haben sich Redakteure, Reporter und Fotografen in ihre Schützengräben<br />

verkrochen. Angst um Arbeitsplätze treibt sie umher, Courage, gar Demokratie sind Fremdbegriffe<br />

aus einer fremden Zeit - und das in Jahren des SPD-Aufbruchs.<br />

Das einst hart umkämpfte Redaktionsstatut, das die Unabhängigkeit der Journalisten vor<br />

Partei-Direktiven sichern sollte, ist ganz in Vergessenheit geraten. Gefragt sind nicht etwa<br />

Pressefreiheit, Meinungsvielfalt, Informationsdichte, sondern ausschließlich ein<br />

betriebswirtschaftlich ausgetüfteltes "Gesamtmarketing-Konzept". Eben ein Plan, mit dem sich<br />

über Anzeigen, Werbung samt Vertrieb Geld verdienen lässt; viel Geld. Da werden halt Artikel im<br />

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edaktionellen Teil für solvente Kunden geschrieben. - PR-Freiheit in einer schönen SPD-Welt, die<br />

sich noch Zeitung nennen darf - noch.<br />

Etwa ein Dutzend Redakteure hat sich inzwischen nach einem anderen Arbeitsplatz<br />

umsehen müssen. Der zweite Schub von Entlassungen soll in absehbarer Zeit möglichst unauffällig<br />

folgen. Jedenfalls ist der Anfang schon gemacht - eingebettet in die Krohn'sche Philosophie -<br />

immer nur lächeln, "wenn ich hinlange"... Ganz klar für Peter Krohn, den die Sozialdemokratie mit<br />

diesem Posten betraute, gilt nicht Quantität, sondern ausschließlich die Qualität, die sich in breit<br />

angelegten Boulevard-Geschichten niederzuschlagen hat. "Wir müssen aus der Redaktion die Luft<br />

herauslassen", ist die Meinung des Verlagsleiters zu den plötzlichen Rausschmissen.<br />

Redakteure, Redakteurinnen hingingen sind arg verunsichert, weil keiner so recht weiß,<br />

wer und wann <strong>als</strong> nächster auf der Straße steht. Seltsam, sie schweigen und ängstigen sich bei einer<br />

Zeitung, die der SPD gehört. "Von Mitbestimmung kann hier keine Rede mehr sein", wagt sich<br />

Redaktionsvolontär Dirk Busche aus der Deckung.<br />

Ein halbes Dutzend Berufsjournalisten wollten nicht mit dem allgegenwärtigen<br />

Krohn'schen Damoklesschwert etwaige Rausschmisse erleben und kündigten. "Das kommt davon,<br />

wenn man Journalisten wie den letzten Dreck behandelt", erregt sich der Landesvorsitzende der<br />

Deutschen Journalisten-Union Peter Leger (*1924+1991). Der Karikaturist, seit 22 Jahren für das<br />

SPD-Blatt tätig, wechselte mit Jahresbeginn zur gutbürgerlichen "Hannoverschen Allgemeinen"<br />

(Auflage: 227.000).<br />

Ein weiterer, der stellvertretende Chefredakteur Konradjoachim Schaub, im Alter von 62<br />

Jahren, soll <strong>als</strong> nächster gefeuert werden. Schaub selbst bestreitet aus Angst vor Repressalien seine<br />

Kündigung. Doch für den Journalistenverband (DJV) sehen die Fakten anders aus. Sein<br />

Vorsitzender, Hans-Günther Metzger, erhärtet: "Seit einigen Tagen liegt uns eine Kopie des<br />

Kündigungsschreibens der 'Neuen Hannoverschen Presse' an Herrn Schaub vor. Er hat uns<br />

beauftragt, dagegen juristisch vorzugehen“.<br />

Auch in der Sozialdemokratie ist mittlerweile das Unbehagen an dieser "Politik der<br />

Rausschmisse" gewachsen. In der Landeshauptstadt wird die Kritik am deutlichsten artikuliert.<br />

Ganz nach dem Motto, "was sollen wir mit diesem auf Harmonie getrimmten Familien-Boulevard.<br />

Wir bestellen dann lieber die eher konservative 'Hannoversche Allgemeine'." Sie böte uns mehr<br />

Informationen <strong>als</strong> unsere abgewirtschaftete Partei-Presse. Der niedersächsische<br />

Bundestagsabgeordnete Günter Wichert (1969-1974) zeigte sich weniger erschüttert: "Ich habe die<br />

Entwicklung kommen sehen und die zuständigen Parteigremien deutlich gewarnt. Leider ohne<br />

Erfolg."<br />

Insgesamt fünf Redakteure, darunter ein Ressortleiter, haben mittlerweile von sich aus<br />

Konsequenzen gezogen. Sie werden sich in naher Zukunft für Konkurrenzblätter engagieren. Doch<br />

an Nachfolgern wird es beim "Krohn"-Blatt kaum mangeln. Hermann Ahrens, zuvor<br />

Redaktionsleiter der "Bild"-Zeitung in Bremen, hat just zu diesem Zeitpunkt seinen Job in der einst<br />

traditionsreichen Zeitung der Sozialdemokratie angetreten.<br />

Aber es sind immer neue Gerüchte, die fortwährend unvermutet Nahrung suchen. Der<br />

Branchendienst "text intern" prophezeit gar die Einstellung weiterer SPD-Zeitungen - trotz aller<br />

hastig vorgetragenen Dementis: der "Neuen Hannoverschen" und der in Dortmund erscheinenden<br />

"Westfälischen Rundschau". Natürlich widersprechen die SPD-Verlage. Was bleibt ihnen auch<br />

anderes übrig? Nur die Kritik an SPD-Schatzmeister Alfred Nau wächst. Der nordrheinwestfälische<br />

Ministerpräsident Heinz Kühn (*1912+1992) über Nau: "Er denkt immer an das Wohl<br />

59


der Partei. Die SPD wäre mit ihrer Pressepolitik besser gefahren, wenn Nau einmal an etwas<br />

anderes gedacht hätte."<br />

Nau nennt sich bescheiden "Partei-Kassierer". Doch Eingeweihten gilt er <strong>als</strong> der<br />

mächtigste Mann in der SPD. Seit 26 Jahren verwaltet Alfred Nau in der Bonner "Baracke"<br />

unangefochten die Millionen, die in die Parteikasse fließen. Er ist die Symbolfigur des treuen<br />

Funktionärs, ein Mann der ersten Stunde nach 1945, der sich "für die Partei in Stücke reißen<br />

lassen" würde, wie Willy Brandt schrieb.<br />

Manager Nau steuert das viertgrößte Presseunternehmen in der Bundesrepublik, die<br />

"Konzentrations GmbH" mit einem Jahresumsatz von zuletzt 509 Millionen Mark. Er kontrolliert<br />

Zeitungsverlage, die täglich nahezu 700.000 Exemplare auf den Markt bringen. Er ist für 10.000<br />

Arbeitsplätze verantwortlich. - Der Schatzmeister, Manager und Verleger ist außerhalb der<br />

Parteizentrale kaum bekannt. Nau tritt nicht ins Rampenlicht, Ministerämter haben ihn nie gereizt.<br />

Er ist die "graue Eminenz" in der Bonner Baracke, wortkarg, zurückhaltend, sich aber immer seiner<br />

Schlüsselposition bewusst.<br />

Alfred Nau, 65, seit 50 Jahren SPD-Mann, verteidigt entschlossen sein Machtmonopol im<br />

Parteiapparat. Er vereitelte, dass der frühere Bundesgeschäftsführer Hans-Jürgen Wischnewski<br />

(*1922+2005) einen eigenen Verfügungsetat erhielt und so selbstständig Mitarbeiter hätte<br />

engagieren können. Als "Ben Wisch" daraufhin 1971 seine direkte Wahl durch den Bundesparteitag<br />

anstrebte, um seine Position zu stärken, brachte Nau genügend Stimmen dagegen zusammen. Der<br />

Antrag erhielt nicht die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit. Resigniert nahm "Ben Wisch" seinen<br />

Hut.<br />

Zu Naus 65. Geburtstag schrieb Parteichef Willy Brandt (1964-1987): "Er genoss und<br />

genießt das Vertrauen, Treuhändler von Hunderttausenden zu sein. Gerade dies begründet auch<br />

seine besondere Stellung im Parteivorstand und im Präsidium." - Ein dreiviertel Jahr später aber ist<br />

der "Treuhänder von Hunderttausenden" mit seiner Pressepolitik ins Zwielicht geraten. Immer<br />

mehr sozialdemokratische Zeitungen sind zum Sterben verurteilt. Kaum waren die Berliner<br />

Tageszeitungen "Telegraf" (1946-1972) und "Nachtdepesche" eingestellt und 230 Mitarbeiter<br />

gekündigt, meldet der Branchendienst "text intern" Gerüchte über das bevorstehende Ende der<br />

"Neuen Hannoverschen" und der in Dortmund erscheinenden "Westfälischen Rundschau". Ende<br />

September 1972 muss die parteieigene "Kieler Druckerei" schließen. SPD-Druckereien in Köln und<br />

Hannover können sich nur über Wasser halten, indem sie über ihre Rotationen Springers Bild-<br />

Zeitung laufen lassen.<br />

Der SPD-eigene "Auerdruck" in Hamburg druckt einen Großteil der bundesdeutschen<br />

Porno- und Regenbogenpresse. Die SPD-eigene Wochenzeitschrift "Die Zwei" (Startauflage:<br />

650.000) mit Schnulzen über Romy Schneider, Farah Diba und Soraya fand zu wenig Leser und<br />

musste drei Monate nach ihrem Erscheinen eingestellt werden. Die Berliner Zeitungseinstellungen<br />

hatten peinliche Begleiterscheinungen. Zur selben Zeit, <strong>als</strong> die Springer-Presse die SPD zum<br />

Prügelknaben der Nation machte, verhandelte der sozialdemokratische Schatzmeister mit dem<br />

Springer-Verlag wegen der "Nachtdepesche". Als die Angelegenheit publik wurde, wollte Alfred<br />

Nau die Verhandlungen <strong>als</strong> "unverbindliche Gespräche" abtun. Darauf Springer: "Es ist<br />

unzutreffend, dass lediglich unverbindliche Gespräche über eine Übernahme der 'Nachtdepesche'<br />

durch den Axel-Springer-Verlag stattgefunden haben. Es handelte sich vielmehr um ... konkrete<br />

Verhandlungen."<br />

60


Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Alfred Nau exakt 40 Millionen in "Nachtdepesche" und<br />

"Telegraf" hineingepumpt. Außerdem steuerte der Berliner Senat 1971 ein zinsloses Darlehen von<br />

2,5 Millionen Mark bei. Dabei war die Lage dieser Blätter schon hoffnungslos, <strong>als</strong> 1962<br />

Herausgeber und Chefredakteur Arno Scholz (*1904+1971) die SPD an beiden Zeitungen<br />

beteiligte. Der ehemalige Geschäftsführer der SPD-Konzentrations GmbH und Nau-Intimus Fritz<br />

Heine (*1904 +2002) schrieb kürzlich an Fritz Sänger (*1901 +1984), den früheren Chefredakteur<br />

der Deutschen Presse-Agentur, über diese Transaktion: "Dam<strong>als</strong> war im Grunde genommen die<br />

wirtschaftliche Entwicklung schon so weit vorangeschritten, dass es keine Möglichkeit mehr gab,<br />

das Unternehmen erfolgreich weiterzuführen."<br />

In jener Zeit allerdings war für die SPD, die von den Millionen<br />

Wiedergutmachungszahlungen für während der Nazi-Zeit geraubtes Eigentum zehrte, Geld noch<br />

kein Problem. Zum Pressekonzern zählten in seiner Hochblüte über 26 Zeitungen und 30<br />

Druckereien mit 15.000 Beschäftigten, die Gesamtauflage betrug 1,4 Millionen Exemplare. Alfred<br />

Nau verkündete noch 1964 stolz: "Fünf Millionen deutsche Bürger lesen SPD-nahe Zeitungen -<br />

doppelt so viele wie 1933."<br />

Derselbe Alfred Nau hat aber seit 1949 Blumen auf die Gräber von über 20 SPD-nahen<br />

Zeitungen legen müssen, davon auf sieben allein in den letzten anderthalb Jahren. Um den<br />

Restbestand zu retten, die bisher innerhalb der "Konzentration" unwirtschaftlich und führungslos<br />

für sich arbeitenden SPD-Unternehmen zu rationalisieren und konkurrenzfähiger zu machen, gab<br />

der Parteivorstand Ende Dezember 1971 grünes Licht für eine Zusammenfassung aller SPD-<br />

Zeitungen und Druckereien unter einem zentralen Management: der "Deutschen Druck- und<br />

Verlags GmbH". Die Partei schuf damit einen straffen Konzern - zur gleichen Zeit, <strong>als</strong> Parteilinke<br />

und Jungsozialisten die Entflechtung der Pressekonzerne forderten.<br />

Während diese SPD-Presse-Holding prüft, welche Zeitungen noch zu retten sind, mehren<br />

sich in der Partei die Stimmen, die Alfred Nau die große Pleite anlasten. Holding-Geschäftsführer<br />

Alois Hüser: "Der liebe Gott schuf Kluge, Dumme, ganz Dumme und SPD-Funktionäre, die für<br />

die Presse verantwortlich sind." SPD-MdB Professor Günter Slotta (*1924+1974): "50.000<br />

Jungsozialisten können in einem Jahr nicht so viel Quatsch produzieren, wie Alfred Nau an einem<br />

Tag." SPD-Vize Herbert Wehner (*1906+1990): "Wenn wir selbstkritisch die Entwicklung unserer<br />

sozialdemokratischen Presse betrachten, so fehlen unternehmerischer Geist und unternehmerische<br />

Fähigkeiten, um in der Konkurrenz mit anderen sich durchzusetzen."<br />

Und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Heinz Kühn (1966-1978): "Nau ist ein<br />

guter Parteikassierer, aber von Pressepolitik hat er keine Ahnung. Es gibt nur noch einen Weg:<br />

redaktionelle Unabhängigkeit von der Partei, Schluss mit der Bevormundung und gute Journalisten<br />

in die SPD-Redaktionsstuben. Allzu oft war bei der Besetzung von Führungspositionen die<br />

Gesinnung ein Alibi für Leistung und Qualifikation."<br />

"Bewährte Genossen aus der Weimarer Zeit", die keine Ahnung vom Zeitungsmachen<br />

hatten, waren mit der Führung von Zeitungsverlagen beauftragt worden. Ein typisches Beispiel:<br />

Gustav Schmidt-Küster (*1902 +1988), vor dem Zweiten Weltkrieg kleiner Buchhändler in<br />

Magdeburg, übernahm das Management der Hannoverschen Druck und Verlagsgesellschaft mbH,<br />

in der die "Hannoversche Presse" erschien. Einige Jahre später wurde Gustav Schmidt-Küster<br />

Honorarkonsul von Malta, Am Verlagshaus wurde das Konsulatsschild angeschraubt, und die<br />

Redakteure mussten ihren Chef mit "Herr Konsul" anreden.<br />

61


Die Herausgeber, Bundesminister Egon Franke (*1913+1995) und der frühere<br />

hannoversche Bezirksgeschäftsführer Hans Striefler (*1907+1998) kümmerten sich in ihrer<br />

Eigenschaft <strong>als</strong> "Zensoren" nur darum, dass die Redakteure und Redakteurinnen in ihrer<br />

Berichterstattung auch stets SPD-freundlich waren. Selbstbewusste Journalisten, etwa der einstige<br />

"Panorama"-Chef des Norddeutschen Rundfunks, Peter Merseburger musterten sie ab, weil sie sich<br />

nicht ständig von zeitungsfremden Parteileuten vorschreiben lassen wollten, wen sie zu kritisieren<br />

hatten und wie sie eine Zeitung gestalten müssten. -Schere im Kopf.<br />

Obwohl die "Hannoversche Presse" (1949 mit 260.000 Auflage noch eine der führenden<br />

deutschen Tageszeitungen) schon anno 1965 tief in den roten Zahlen steckte, griff Alfred Nau<br />

nicht ein. Er handelte erst, <strong>als</strong> Gustav Schmidt-Küster in den Ruhestand trat und das Blatt<br />

heruntergewirtschaftet war. Nun fiel Nau in das andere Extrem; Panik pur in der Baracke. Er<br />

engagierte <strong>als</strong> Blattmacher den ehemaligen Springer-Manager Dr. Peter Krohn. Dessen erste<br />

Amtshandlungen: Er entließ mehr <strong>als</strong> 30 Redakteure, stellte ein Dutzend Bezirksausgaben ein,<br />

setzte den Chefredakteur ab und machte sich selbst zum Redaktionsleiter, kündigte die<br />

Mitbestimmungsrechte der Redaktion (Redaktionsstatut) und änderte den Titel der Zeitung<br />

zweimal innerhalb kürzester Zeit. Erfolg: 1972 hat die "Neue Hannoversche" nur noch eine<br />

Auflage von rund 92.000.<br />

Zudem: Ein zinsloser Parteikredit von zwei Millionen Mark für die Zeitungsrenovierung<br />

ist schon verbraucht. Neu-Manager Krohn: "Wir brauchen einen finanziell potenten Partner." Der<br />

ist noch nicht in Sicht. Krohn gesteht freimütig: "Meine kaufmännische Lieblingslösung heißt<br />

Springer." Dieses Wort eines SPD-Managers kommt einem Offenbarungseid gleich. Jahrelang hat<br />

Alfred Nau aus den SPD-Verlagen Gelder herausgepumpt, anstatt sie sinnvoll zu investieren.<br />

Verleger und Konsul Schmidt-Küster musste sechs Prozent seines Rohgewinns abführen. Der<br />

ehemalige Geschäftsführer der in Dortmund erscheinenden "Westfälischen Rundschau", Paul<br />

Sattler, schätzte den Betrag, den er in den Jahren 1947 bis 1953 der Parteizentrale überwies, auf<br />

rund zwei Millionen Mark. 1953 stellten die SPD-Zeitungen zusätzlich eine Million Mark für den<br />

Wahlkampf zur Verfügung.<br />

Der Bochumer Zeitungswissenschaftler Professor Kurt Koszyk sieht für die noch<br />

vegetierenden SPD-Zeitungen keine Überlebenschance. "In der SPD-Parteizentrale gibt es für<br />

diese schwierige Aufgabe keine qualifizierten Leute.<br />

Alfred Nau und seine Mitarbeiter haben es versäumt, zur rechten Zeit eine<br />

Zukunftsperspektive für ihre Zeitungen zu entwickeln. Sie haben weder eine Meinungs- noch eine<br />

Marktforschung betrieben, was bei den anderen Verlagen selbstverständlich ist. Die SPD-<br />

Zeitungen haben den Kontakt zum Leser verloren, ohne dass sie es merkten. Das Kind ist nun im<br />

Brunnen."<br />

62


AM VORABEND DER EMANZIPATION -<br />

KONZESSIONSDAMEN IN DER POLITIK: EINE FRAU ZUM<br />

VORZEIGEN<br />

Besondere Eigenschaften: MdB und weiblich. Hauptsache eine Frau. Das<br />

Unbehagen zwischen "Traditionsdamen" und Feministinnen in der Sozialdemokratie. Am<br />

Vorabend der Frauen-Emanzipation in den siebziger Jahren gelang einer ehemaligen<br />

Sekretärin und Lebensgefährtin des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher (*1895 +1952) der<br />

stille Aufstieg ins zweithöchste Staatsamt - zur Präsidentin des Deutschen Bundestages -<br />

Annemarie Renger (*1919 +2008)<br />

stern, Hamburg, 17. Dezember 1972<br />

"Ich kam, sah und siegte", beschrieb Annemarie Renger ihren Eintritt in die Politik; <strong>als</strong><br />

sie, die Kriegerwitwe, 1945 mit ihrem dam<strong>als</strong> siebenjährigen Sohn auf der Suche nach einem Job im<br />

Zentralbüro der SPD in Hannover vorsprach - und ganz plötzlich Assistentin des<br />

Parteivorsitzenden Kurt Schumacher (*1895+1952) wurde. Ein Foto aus dieser Schutt-und-Asche-<br />

Ära zeigt, wie Annemarie Renger den wegen seiner Bein- und Armamputation behinderten Kurt<br />

Schuhmacher stützt - ein Bild der Zeitgeschichte.<br />

Dam<strong>als</strong> in den entsagungsreichen Nachkriegs-Wirren lebte die 26jährige junge Frau in der<br />

Lüneburger Heide. Hier arbeitete sie <strong>als</strong> Küchen-Magd in einem Lazarett. Ihr Ehemann und drei<br />

Brüder, ja praktisch die ganze Familie, hatten im Krieg ihr Leben lassen müssen. Annemarie<br />

Renger, von Beruf kaufmännische Gehilfin, wurde zunächst die Schreibkraft des von jahrelanger<br />

KZ-Haft gezeichneten Kurt Schumacher; später noch viel mehr: Lebensgefährtin, Privatsekretärin,<br />

Reisebegleiterin, Haushälterin, engste Vertraute in den Aufbau-Jahren. - Blitz-Karriere.<br />

27 Jahre später siegte Annemarie Renger, 53, nicht, sondern wurde zur Siegerin erklärt.<br />

Schon in der Wahlnacht hatten sich die SPD-Führungsmänner darauf verständigt, dass Annemarie<br />

Renger am 13. Dezember 1972 <strong>als</strong> erste Frau und <strong>als</strong> erste Sozialdemokratin zur<br />

Bundestagspräsidentin gewählt sollte. Zwar hatte keiner einen so großen SPD-Sieg erwartet (SPD<br />

wurde erstmalig mit 45,8 Prozent und 230 Mandaten) und damit gerechnet, dass die<br />

Sozialdemokraten <strong>als</strong> jetzt stärkste Parlamentsfraktion Anspruch auf das zweithöchste Amt im<br />

Staat haben würden, Doch dann schlugen Kanzler Willy Brandt (1969-1974) und Fraktionschef<br />

Herbert Wehner (1969-1983) mit der Beförderung der dreifachen Großmutter auf den<br />

Präsidentenstuhl "gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe" (SPD-MdB Günter Wichert 1969-<br />

1974).<br />

Sie konnten endlich einer Frau ein hohes Staatsamt geben - und damit wenigstens das<br />

Etikett ein wenig verkleistern, dass im neuen Bundestag noch weniger Frauen sitzen <strong>als</strong> im vorigen.<br />

Und Willy Brandt blieb es erspart, die seit langem auf einen Posten hoffende Genossin Renger <strong>als</strong><br />

Nachfolgerin von Käte Strobel (*1907+1996) ins Kabinett aufrücken zu lassen. Denn mit der<br />

Ernennung der überaus ehrgeizigen und prestigebedachten Dame Renger zur Ministerin für<br />

Jugend, Familie und Gesundheit hätte Kanzler Brandt viele Genossen verärgert: die Jusos, von<br />

denen die SPD-Rechte Renger nichts wissen will; die Frauen, die in ihr nicht mehr die Anwältin<br />

ihrer Interessen sahen; und manche alte Genossen, die Annemarie Renger seit Jahren <strong>als</strong><br />

Nachlassverwalterin des Nachkriegschefs Schumacher und <strong>als</strong> wandelndes Gewissen,<br />

Herrschaftswissen der Partei erleben mussten.<br />

63


Mit dem Namen Renger verbindet sich durch Amt und Würden schon Frauen-Aufbruch,<br />

Frauen-Mitbestimmung, Frauen-Partizipation in diesen Jahren. Nebelkerzen. Bei näherer<br />

Betrachtung richten sich die Röntgenblicke auf eine wohldosierte Schönwetter-Rhetorik. Denn seit<br />

Bestehen der Bundesrepublik hält Annemarie Renger für das feminine Selbstbewusstsein vor<br />

Frauenverbänden "nur schöne Reden ", (SPD-MdB Lenelotte von Bothmer 1969-1980;<br />

*1915+1997) "ohne jem<strong>als</strong> ernsthaft auch nur für die kleinste Konzeption zur Emanzipation der<br />

Frauen einzutreten, Konflikte gegen die Männer durchzustehen." Schon zu jener Zeit beginnen<br />

SPD-Frauen erst zaghaft, dann zusehends vehementer ein neues Gruppenbewusstsein zu<br />

entwickeln, heißen sie nun von Bothmer, Anke Brunn (NRW-Ministerin für Wissenschaft und<br />

Forschung 1985-1988)oder Dorothee Vorbeck (hessische Staatssekretärin im Kultusministerium<br />

1982-1984).<br />

(dam<strong>als</strong> zog sie <strong>als</strong> "Miss Bundestag" durch die Lande und porträtierte sich kurz und<br />

knapp): "Das, was ich bin, bin ich durch Kurt Sie wollen weg von der Annemarie-Renger-AsF<br />

(Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen) - dort, wo in "Geselligkeits- und Erlebnis-<br />

Klubs" beim "Kochen und Schminken" sozialdemokratisch gedacht, gefühlt, gehofft und gestrickt<br />

wird. Sie sagen: "Wir wollen über die Beseitigung der kapitalistischen Klassengesellschaft die volle<br />

Emanzipation erstreiten." Annemarie Renger entgegnet: "Ich wundere mich darüber, dass Frauen<br />

eine Sonderrolle spielen müssen."<br />

Annemarie Renger, die 1953, ein Jahr nach Schumachers Tod, ins Parlament eintrat<br />

verkündete sendungsbewusst. „Aus dieser Zeit schöpfe ich meine Kraft.“ Manche Genossen um<br />

Willy Brandt beobachteten Annemarie Rengers politischen Ehrgeiz vor allem deshalb mit<br />

Unbehagen, weil die Schumacher-Vertraute Vieles über viele Sozialdemokraten weiß - vor allem wo<br />

so manche "Leichen im Keller versteckt worden sind", sagte sie einmal und führte an anderer Stelle<br />

fort, "ich habe da sieben Jahre an der Quelle gesessen." -Renger-Jahre.<br />

Und Helmut Schmidt (Kanzler 1974-1982) sagte einem Ministerkollegen schon vor der<br />

Wahl in seiner direkten Art, warum er die Sportwagenfahrerin und Tennisspielerin lieber nicht im<br />

Kabinett haben möchte: "Die quatscht mir zu viel." Herbert Wehner indes hatte andere,<br />

machtpolitische Gründe, Annemarie Renger zur Nachfolgerin der Bundestagspräsidenten<br />

Hermann Ehlers (19501954; *1904+1954), Eugen Gerstenmeier (1954-1969; *1906+1986), Kai-<br />

Uwe von Hassel (1969-1972; *1913+1997) aufsteigen zu lassen. Im internen Wehner-Zirkel war<br />

auch von Frauen-Aufbruch, Gleichberechtigung, Signalwirkung keine Rede. Machtpolitik war<br />

angesagt - Politik auf den Schachbrettern der Männer, auf denen Frauen <strong>als</strong> Läuferinnen ihre<br />

Rochaden zu parieren haben. Freilich nur durch eine Frau, so Wehners Kalkül, konnte er seinem<br />

Intim-Feind, dem schwergewichtigen Hermann Schmitt-Vockenhausen, HSV genannt (SPD-MdB<br />

1953-1979; *1923+1979) den Weg zum Präsidentenstuhl verbauen, auf den dieser, Vizepräsident<br />

seit 1969, schon ein Anspruch zu haben glaubte.<br />

Aus gutem Grund hatte Herbert Wehner in der Wahlnacht zuerst- vor der Einigung mit<br />

Parteichef Willy Brandt - dem FDP-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick (1978-1982;<br />

*1921+2002) gegenüber bereit erklärt, der SPD-Fraktion die Freidemokratin Lieselotte Funcke<br />

(Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages (1969-1979) für dieses Amt schmackhaft zu machen.<br />

Sie hatte sich <strong>als</strong> Vizepräsident bewährt, und eine Frau sollte es auf jeden Fall sein. Denn jeder<br />

männliche SPD-Kandidat - wie zum Beispiel Ex-Finanzminister Alex Möller (*1903+1985) - hätte<br />

gegen "HSV" einen schweren Stand gehabt. Nachdem Wehners Schachzug geglückt war, konnte<br />

der körperlich schwer-gewichtige Hermann-Schmidt-Vockenhausen seinen Verdruss, seine<br />

Enttäuschung nicht verbergen: "Ich bin maßlos enttäuscht über die Ämter-Schacherei."<br />

64


Enttäuscht über die Hintergründe dieser Wahl sind auch Mitglieder des<br />

Bundesfrauenausschusses der SPD, deren Vorsitzende Annemarie Renger seit 1967 ist. So die<br />

SPD-Abgeordnete Lenelotte von Bothmer, die warnte davor, dass sich Frauen in der Politik wieder<br />

und aberm<strong>als</strong> <strong>als</strong> "Mode-Puppen" vermarkten lassen. Sie hatte damit hinreichende, leidvolle<br />

Erfahrungen machen können. Dam<strong>als</strong> an jenen Vorabenden der Emanzipation, <strong>als</strong> sie im Jahre<br />

1970 wagte, mit einem Hosenanzug ans Rednerpult zu treten. Vizepräsident Richard Jäger polterte,<br />

er werde es keiner Frau erlauben, in Hosen im Plenum zu erscheinen, geschweige sogar eine Rede<br />

zu halten. - Ein Verstoß gegen die Kleiderordnung. Im Saal johlten unisono Männer, fröhliche<br />

Zurufe, Gelächter wie am Schießstand - Ziel: Frau mit Hosenanzug <strong>als</strong> Politik-Ereignis. Immerhin<br />

war diese Mode-Schau zu Bonn der 20-Uhr-Tageschau in Hamburg eine übergeordneter Film-<br />

Bericht wert. Dabei war es gerade Lenelotte von Bothmer, die in ihren Empfindungen,<br />

Wahrnehmungen " frauenfeindliche Gesinnungen aufzuspüren trachtete. Sie sagte: "Diese Art, das<br />

weibliche Geschlecht der Lächerlichkeit preiszugeben, durch die Manege zu jagen und dann eine<br />

andere, eine Männer-Freundin, brav auf einen Posten zu hieven, ist anti-emanzipatorisch. Eine<br />

Frau muss auf Grund ihrer Qualifikation vorgeschlagen werden und nicht, weil sie gut aussieht."<br />

So manche SPD-Genossinnen finden ohnehin, dass sich Annemarie Renger zu wenig für<br />

Frauen - dafür aber viel für ihre Mode verausgabt. Ganz plötzlich, verändert sie mal ihr Aussehen,<br />

Haarfrisur mit Föhnaufsatz samt Schminke und letztlich ihren Boutiquen- Fummel derart häufig,<br />

dass sie selbst von langjährigen Zeitungskorrespondenten in Bonn nicht mehr ohne weiteres<br />

erkannt wird. - Eine Neue in Bonn? "Nein, nein - das ist doch Frau Renger. Wirklich?" Frauen <strong>als</strong><br />

Schönheitssymbol. - Nur beim Streit um die Reform des Abtreibungsparagrafen 218 machte sich<br />

Annemarie Renger erst für die Fristenlösung stark, <strong>als</strong> sie erkannte, dass die Mehrheit dafür war.<br />

Noch 1970 predigte sie auf dem Bundesfrauenausschuss der SPD in Nürnberg "Zurückhaltung in<br />

der Öffentlichkeit." Kurz danach attackierte sie Lenelotte von Bothmer, weil sich die Mutter von<br />

sechs Kindern statt der Frauen-Vorsitzenden Renger in einem Fernsehinterview über die<br />

Fristenregelung profiliert hatte. - Ein Image-Profil, das offenkundig nur ihr zuzustehen scheint.<br />

Frauen-Soldarität.<br />

Dass es der selbstbewussten Parlamentarierin, die seit 1966 mit dem jugoslawischen<br />

Kaufmann Alexander Loncarevic (+1973) verheiratet ist, an der nötigen Energie für ihr Amt fehlen<br />

könnte, ist nicht zu befürchten. Als auf dem gleichen Frauenkongress eine Jungsozialistin gegen die<br />

Beschränkung der Redezeit protestierte, sprang die SPD-Lady auf und entriss ihr einfach das<br />

Mikrofon. Eine Energie, für die die "Süddeutsche Zeitung" die Formulierung fand, dass Frau<br />

Renger "oft mangelnde Schärfe des Arguments mit dem Druck der Ellenbogen kompensierte".<br />

Die Sozialdemokratin von Bothmer hält die Freidemokratin Lieselotte Funcke deshalb<br />

auch für die geeignetere Kandidatin, weil "Annemarie sich zum Beispiel über die Parlamentsreform<br />

noch keine Gedanken gemacht hat". Den Unterschied zwischen Qualifikation und Karriere sieht<br />

Annemarie Renger selber: "Die FDP zieht eben intellektuelle Frauen an, bei der SPD kann man<br />

nur durch Partei die Position erwerben." Das ist die Karriere der "Konzessionsfrauen", gegen die<br />

sich viele engagierte Sozialdemokratinnen energisch wehren - wie die hessische<br />

Landtagsabgeordnete Dorothee Vorbeck: "Wir wollen doch keine Politik auf der Spielwiese<br />

betreiben, die uns die Männer zuweisen."<br />

An diese "Spielwiese" war die bisherige Parlamentarische Staatssekretärin Katharina Focke<br />

(SPD-MdB 1969-1989) , die eine Zeitlang <strong>als</strong> Kandidatin für das Parlamentspräsidenten-Amt im<br />

Gespräch war, nicht interessiert. Sie will auch in der neuen Regierung für Europa-Fragen zuständig<br />

bleiben. Und die Berliner Schulrätin Marie Schlei (*1919+1983), die ebenfalls <strong>als</strong> Anwärterin<br />

65


genannt worden war, hatte schon vor der Bundestagswahl erklärt: "Ich habe Annemarie<br />

versprochen, dass sie zuerst was wird, und ich halte mich daran."<br />

Postscriptum. -Auch wenn ihr die 68er Generation fremd geblieben und der Frauen-<br />

Aufbruch suspekt war, wurde Annemarie Renger nach einhelliger Auffassung zahlreicher<br />

Beobachter mit viel Geschick, Würde und Durchsetzungskraft zu einer bemerkenswert beachteten<br />

Präsidentin des Deutschen Bundestages. Bereits 1973 war sie laut Meinungsforschungsinstitute die<br />

bekannteste Politikerin in der Bundesrepublik. Am Ende ihrer Amtszeit 1976 sagte sie: "Es ist<br />

bewiesen, dass eine Frau das kann." Wenig später fügte Annemarie Renger noch hinzu: "Ich habe<br />

in dieser Zeit erreicht, was ich wollte."<br />

66


1973<br />

Streit der Witwen um die „Frankfurter Rundschau“<br />

High noon in Bonn – Parteiverdruss – Parteiprofil<br />

Deutsche Entwicklungshelfer in Afrika – Sextriebe<br />

SPD-Totengräber von 21 Zeitungen<br />

Politik-Karrieren: Geldgier, Betrug, Bestechung, Spionage<br />

67


STREIT DER WITWEN UM EIN LINKSLIBERALES<br />

QUALITÄTSBLATT IN DEUTSCHEN LANDEN DER<br />

ZEITGESCHICHTE<br />

"Eine Zeitung muss frei von politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten<br />

sein." - Karl Gerold<br />

stern, Hamburg 22. November 1973<br />

Zwei betagte Witwen pokern um die "Frankfurter Rundschau" (FR). Die Schweizer<br />

Pianistin Elsy Gerold-Lang, 74, (*1899+1988) und die ehemalige Sekretärin der Frankfurter KPD,<br />

Friedel Rudert, 70, streiten sich um das Erbe ihrer Ehemänner. Zwar wollen beide die linksliberale<br />

Tageszeitung und das "Druck- und Verlagshaus Frankfurt am Main GmbH" (Jahresumsatz 120<br />

Millionen Mark) in eine gemeinsame Stiftung umwandeln, doch über den Namen dieser Stiftung<br />

herrscht Zwietracht. Während die Witwe des 1973 verstorbenen FR-Herausgebers Karl Gerold auf<br />

einer "Karl-Gerold-Stiftung" besteht, beharrt die Witwe des schon 1954 verschiedenen FR-<br />

Gesellschafters Arno Rudert auf dem Gemeinschaftsnamen "Karl Gerold/Arno-Rudert-Stiftung."<br />

Schließlich war Arno Rudert aus der KPD ausgeschlossen worden, weil er die FR-Lizenz von den<br />

Amerikanern angenommen hatte.<br />

Die im beschaulichen Astano in der Schweiz lebende Pianistin Elsy Gerold-Lang, die sich<br />

bisher nicht um die Zeitung gekümmert hatte, will aber in der kleinkarierten Namens-Rangelei<br />

nicht nachgeben. Der Grund: Die ehemaligen FR-Gesellschafter Karl Gerold und Arno Rudert<br />

haben sich nie gemocht. Als Kompagnon Rudert starb, übertrug Gerold seine Anteile auf dessen<br />

Witwe. Indes: Er verbot der neuen Anteilseignerin das Betreten des Rundschau-Hauses und<br />

überging sie bei allen Entscheidungen, die das Unternehmen betrafen.<br />

Mit dem Plan, seinen Zweidrittelanteil in eine eigene Stiftung einzubringen, wollte der<br />

schon schwerkranke Rundschau-Herausgeber Anfang 1973 die unbequeme Friedel Rudert<br />

endgültig ausbooten. Karl Gerold zu dem auf Harmonie bedachten neuen Chefredakteur Werner<br />

Holzer: "Es sind alle juristischen Schritte für die Gründung einer Stiftung eingeleitet. Es liegt alles<br />

im Panzerschrank."<br />

Doch statt "eines für die Bundesrepublik beispielhaften Modells" (Holzer) kam der große<br />

Krach. Denn Gerolds fünf Testamente und die von ihm entworfene Satzung der geplanten Stiftung<br />

sind nach dem Gesellschaftervertrag nur zu realisieren, wenn die seit dem Tode ihres Mannes mit<br />

einem Drittel am Unternehmen beteiligte Friedel Rudert dem Plan zustimmt. 1951 hatten Karl<br />

Gerold und Arno Rudert nämlich vereinbart, dass keiner ohne die Zustimmung über<br />

Gesellschafteranteile verfügen darf.<br />

Die Gerold-Witwe, die Testamentsvollstreckerin ist, muss jetzt sogar damit rechnen, dass<br />

ihre Gegenspielerin aus dem Gerold-Nachlass einen weiteren Drittelanteil für sich fordert. Denn<br />

nach dem "Rundschau"-Vertrag kann nach dem Tode eines Gesellschafters der überlebende Teil<br />

66,66 Prozent für sich beanspruchen. Die Klausel sollte früher einmal verhindern, dass die FR<br />

durch den Verkauf von Anteilen in die Hände konserativer Verleger fällt. So gingen beim Tode des<br />

50-Prozent-Gesellschafters Arno Rudert 16,66 Prozent auf Karl Gerold über.<br />

Trotz dieser Rechtslage ist Rechtsanwalt Joachim Rieke entschlossen, für die Stiftungsidee<br />

seines Freundes Karl Gerold zu kämpfen. Der Anwalt will <strong>als</strong> "Diener seines verstorbenen Herrn<br />

68


das Vermächtnis wahren". Um sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen, ist der 68jährige Advokat bereit,<br />

bis zum Bundesgerichtshof zu gehen. Denn Joachim Rieke befürchtet, dass die Gesellschafterin<br />

Friedel Rudert ihre Anteile verscherbeln könnte. Rieke: "Am Ende haben wir noch<br />

Geschäftsführer von Springer hier sitzen." Die Gegenseite weist diesen Vorwurf empört zurück.<br />

Rechtsanwalt Carl Hans Barz: "Das ist Brunnenvergiftung." Friedel Rudert aufgebracht: "Der Rieke<br />

sieht nur seine Pfründe gefährdet."<br />

Wegen der wirtschaftlichen Entwicklung der FR möchte Friedel Rudert allerdings einen<br />

Zivilprozess vermeiden: "Anstatt vor Gericht zu gehen, sollten wir lieber einen Kompromiss<br />

schliessen und uns auf die Erhaltung der 'Frankfurter Rundschau' konzentrieren." Tatsächlich<br />

nimmt das Hickhack der Witwe der Redaktion ihren Atem. Existenzgefährdend knabberte der<br />

fortwährende Aderlass oder frühe Tod brillanter, markanter Federn am einst couragierten, mitunter<br />

frechen FR-Gemüt. Hießen sie nun Conrad Ahlers, Karl Hermann Flach, Karl-Heinz Krumm,<br />

Gerhard Ziegler, Horst Köpke, Michael Rathert, Ulrich Mackensen, Volkmar Hoffmann, Anton<br />

Andreas Guha, Martina I. Kischke, Eckart Spoo, Rolf-Dietrich Schwartz oder auch Horst Wolf .<br />

Zwangsläufig wollte es wie ein Naturgesetz scheinen, drückte die überaus harte FAZ-Bild-<br />

Zeitungs-Konkurrenz auf dem Frankfurter Rhein-Main-Markt die Zuversicht des Blattes ausweglos<br />

in den Keller ; rote Zahlen, immer wieder Kleinmut <strong>als</strong> nagender Wegbegleiter. Gruppentherapien.<br />

Gestaltungstherapien.<br />

An der Spitze zeigte sich ein weitgereister Chefredakteur Werner Holzer, der sich<br />

intensivst um den Aufbau des örtlichen Frankfurter Presseclubs verausgabte. Ein weltgewandter<br />

Werner Holzer, der Stund' um Stund' bei Arbeitgeberverbänden samt seinen Rotarier-Clubs<br />

zubrachte - um bürgerlicher Anerkennung heimsuchte. Streicheleinheiten. Im Hessischen<br />

Fernsehen auf HR3 parlierte er <strong>als</strong> gern gesehener Gast mit braungebranntem Teint über Unrecht,<br />

Verzweiflung, Hunger auf dieser Erde - Woche für Woche. Nur vor kritischer Berichterstattung<br />

seiner Zeitung, vor den eigentlichen deutschen Zustandsbeschreibungen (Ihr da oben, wir da<br />

unten) flüchtete er vorsorglich. Wendezeiten. Berührungsängste. Kleider machen eben Leute . Da<br />

gab es keinen "Schreib mal auf Kisch", sondern "guck mal weg, Holzer". (Egon Erwin Kisch,<br />

genannt der "rasende Reporter" *1885+1948). - Sehnsucht nach dem widerspenstigen,<br />

widerborstigen Karl Gerold.<br />

Aber auch keine Zeit für Werner Holzer. Witwen-Zeit. Schon der Krieg der Witwen hätte<br />

dem FR-Verlag eine Erbschaftssteuer in Höhe von 12 bis 15 Millionen Mark abverlangt. Nur durch<br />

die Gründung einer Stiftung, die ihre Gewinne an gemeinnützige Verbände abgeführt, kann das<br />

allmähliche finanzielle Ausbluten verhindert werden. Dabei hat die FR ganz andere Sorgen. In<br />

Neu-Isenburg bei Frankfurt investierte die Zeitungsgesellschaft 20 Millionen Mark in einen<br />

Druckereineubau, in dem auch die BILD-Zeitung von der Rotation lief. Die Lohnerhöhungen und<br />

Papierpreissteigerungen veranschlagt das Management mit sieben Millionen Mark. Schließlich<br />

macht die überegionale Auflage von knapp 50.000 (Gesamtauflage 185.000) Exemplaren monatlich<br />

700.000 Mark minus, weil die Zeitung kein lukratives bundesweites Anzeigenaufkommen hat.<br />

Verleger Karl Gerold scheint das alles vorausgeahnt zu haben. Titel der letzten Verse des Freizeit-<br />

Poeten Gerold: "Obskur. Obskur."<br />

Postscriptum. -Elsy Gerold-Lang starb im Jahre 1988. Sie vermachte der "Karl-Gerold-<br />

Stiftung" ihr gesamtes Vermögen. In der Präambel Stiftungssatzung hatte Karl Gerold verfügt, dass<br />

die "Frankfurter Rundschau" eine unabhängige, links-liberale Tageszeitung ist, Menschenrechten<br />

und der sozialen Gerechtigkeit verpflichtend. Die eigentliche Bewährungsprobe des<br />

wirtschaftlichen Überlebens (Zeitungssterben und -aufkäufe, Medienkrise, Anzeigenverluste,<br />

69


Privatfernsehen, Internet, Personalabbau) konnte die "Frankfurter Rundschau" nur mit Hilfe der<br />

engagierten SPD-Schatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeyer (1991-2007 ) bestehen - überleben. Die<br />

von ihr kontrollierte SPD-eigene Medienholding (DDVG) übernahm 2003 insgesamt 90 Prozent<br />

der Anteile am Druck- und Verlagshaus <strong>als</strong> Herausgeberin der FR. Ohne den finanziellen Zugriff<br />

der SPD wäre die "Frankfurter Rundschau" in Konkurs gegangen. Insgesamt sank in diesem<br />

Zeitraum von drei Jahren die Zahl der FR-Beschäftigten von extakt 1.7oo auf 750 Stellen. Die FR<br />

war wirtschaftlich gerettet. Im Juli 2006 gaben die SPD-eigene DDVG und der Kölner Verlag M.<br />

DuMont Schauberg, in dem der "Kölner Stadt-Anzeiger" erscheint, bekannt, dass er 50 Prozent der<br />

"Frankfurter Rundschau" übernimmt - der SPD bleiben 40 und der Karl-Gerold-Stiftung zehn<br />

Prozent. Um diese Kapital-Konstellation zustande zu bringen, musste Chefredakteur Wolfgang<br />

Storz fristlos entlassen werden. Bauern-Opfer. Storz war es, der die FR "durch die schwierigste Zeit<br />

ihrer Existenz" geführt hatte. Der Gefeuerte bedankte sich in der Redaktion "für die harten und für<br />

mich wunderbaren Jahre der Zusammenarbeit". Die "Karl-Gerold-Stiftung" war gegen die<br />

Entlassung des Chefrekteurs. Keine Mehrheit mehr. Scherbenhaufen. Achselzucken.<br />

70


HIGH NOON IN BONN<br />

Partei-Verdruss - Partei-Profil - Partei-Zerrissenheit . SPD-Macht-Kämpfe in der<br />

deutschen Nachkriegs-Geschichte der siebziger Jahre. Warum die SPD-Rechte Willy<br />

Brandt (*1913+1992) mit Austrittsdrohungen zum Kampf gegen die linken Genossen<br />

treiben. Währenddessen das Duell zwischen Willy Brandt und Herbert Wehner<br />

(*1906+1990) eskaliert, gnadenlos ausgekämpft wird. Reminiszenzen markanter SPD-<br />

Vorgänge der Zeitgeschichte<br />

stern, Hamburg 13. September und 11. Oktober 1973 1<br />

Der Kanzler war beleidigt. Wütend verließ Willy Brandt (Regierungschef 1969-1974)am<br />

vergangenen Wochenende vorzeitig die Sitzung seines Parteivorstandes: "Das ist mir noch nicht<br />

passiert. Jetzt reicht's mir aber."<br />

Die Linken im SPD-Führungsgremium hatten das Zerwürfnis zwischen Willy Brandt und<br />

dem SPD-Fraktionschef Herbert Wehner (1969-1983) benutzt, um ihren bisher unangreifbaren<br />

Parteiführer seine erste Niederlage beizubringen. Auf Antrag des rheinland-pfälzischen<br />

Landesvorsitzenden Wilhelm Dröscher (*1920+1977) sollte der Moskau-Reisende Herbert Wehner<br />

für seinen Ost-Einsatz ausdrücklich vom Parteivorstand gelobt werden. Brandt hingegen versuchte<br />

dieses Pro-Wehner-Votum zu verhindern: "Darüber lasse ich nicht abstimmen!" Doch der linke<br />

Flügel kuschte nicht. Mit einer Stimme Mehrheit - zwölf gegen elf - setzte er sich gegen die Brandt-<br />

Anhänger durch. Zufrieden kommentierte der von Berlin angereiste Senatsdirektor Harry Ristock<br />

(*1928+1992) das Ergebnis: "Genossen, jetzt merkt man doch, dass die Parteibasis im Vorstand<br />

vertreten ist."<br />

In interner Runde wollten die Spitzengenossen dem Regierungschef klarmachen, dass sie<br />

die Kritik teilten, die der Fraktionsvorsitzende in der Sowjetunion an Brandts Führungsschwäche<br />

und der lauen Politik der sozialliberalen Koalition geübt hatten. Wilhelm Dröscher: "Der Wehner<br />

ist ein Mann mit strategischem Weitblick. Was er da in Moskau getan hat, sind doch wichtige<br />

Impulse für uns." Nach außen demonstrierten die Vorstandsmitglieder allerdings noch Einigkeit.<br />

Im offiziellen Kommuniqué verschwiegen sie die Kontroverse mit dem Vorsitzenden, weil sie nach<br />

den Konflikten mit Jungsozialisten und anderen Partei-Linken befürchten, den<br />

Selbstzerstörungsprozess der Sozialdemokratie" (Wohungsbauminister Hans-Jochen Vogel 1972-<br />

1974) zu verstärken.<br />

Doch Willy Brandt ist jetzt nach der Abfuhr im Parteivorstand zur totalen Konfrontation<br />

mit dem Machtstrategen der Bundestagsfraktion entschlossen. Der Bundeskanzler hat sich nach<br />

langem Zaudern wie Zögern dazu aufgerafft, seinem alten Weggefährten Herbert Wehner die<br />

Zusammenarbeit endgültig aufzukündigen.<br />

Die ihm zugetragenen Zitate Wehners aus der Sowjetunion ließen Brandt keine andere<br />

Wahl. Im Hotel "Kiew" in Kiew hatte Herbert Wehner den Kanzler zum Teil unflätig beschimpft,<br />

bis hin zum Fäkal- und Sexualbereich. Die mildesten politischen Abwandlungen: Brandt sei ein<br />

"schlaffer Kanzler", der zwar im Ausland gut ankomme, aber nicht merke, "wie unten alles<br />

zusammenbricht". Und auch Brandts Politik der guten Nachbarschaft zum FDP-Vorsitzenden<br />

1 mit Horst Knape<br />

71


Walter Scheel (1968-1974) mochte Herbert Wehner nicht mitmachen: "Nr 1 und 2, so läuft das<br />

nicht."<br />

Willy Brandt indes will die von Herbert Wehner geforderte Politik der Stärke gegenüber<br />

dem liberalen Partner erst kurz vor der Bundestagswahl 1976 beginnen. Der Kanzler: "Es ist ganz<br />

klar, dass wir uns eines Tages deutlich werden abgrenzen müssen. Aber jetzt ist das viel zu früh.<br />

Das macht die Koalition schon im nächsten Jahr kaputt." Nach Brandts Ansicht wäre Wehners<br />

Konzept für Leute wie den FDP-Taktiker Hans-Dietrich Genscher (Innenminister 1969-1974) nur<br />

ein willkommender Anlass, ihrerseits einen Kurs der Entfremdung von den Sozialdemokraten zu<br />

steuern. Dies könnte die FDP wieder zur CDU/CSU treiben. - Machtgeplänkel.<br />

Beim Duell mit Herbert Wehner rechnet Willy Brandt auf das Opportunitätsdenken der<br />

SPD-Abgeordneten. Vor die Wahl zwischen ihm und dem ruppigen Fraktionschef gestellt, würden<br />

sie sich auf die Seite des Mannes stellen, der ihnen ihr politisches Überleben garantiere.<br />

Kanzleramts-Staatssekretär Horst Grabert (1972-1974): "Ohne Willy verliert die SPD doch die<br />

nächste Wahl."<br />

Doch auch Herbert Wehner hat fürs letzte Gefecht vorgesorgt. Klassenkämpferisch<br />

kritisierte er den Koalitionskanzler, Brandt betreibe mit den Liberalen eine Politik der gebremsten<br />

Reformen auf dem Rücken der Genossen. Die Außenpolitik stagniere, weil sich Walter Scheel<br />

(Außenminister 1969-1974) zum Autogrammsammler unter Verträgen" entwickelt habe. Auf diese<br />

Weise verstand es der Polit-Profi "Onkel Herbert" seine 242-Mann-Fraktion weitgehend für sich zu<br />

solidarisieren. Noch unschlüssige Genossen brachte er auf seine Seite, indem er eine fingierte<br />

Rücktrittsdrohung in Umlauf setzte. Selbst jene Parlamentarier, die sich ständig über den<br />

autoritären Führungsstil Wehners geärgert hatten, entschieden sich daraufhin für ihn. Der<br />

Göttinger Jung-Abgeordnete Günter Wichert, 38, (SPD-MdB 1969-1974): "Politisch, vor allem in<br />

der Ostpolitik, stehe ich voll hinter Onkel Herbert." Und sein linker Kollege Karl-Heinz Hansen<br />

(SPD-MdB 1969-1981, Parteiausschluss) assistiert: "Nach Wehner kommt nichts mehr außer der<br />

zweiten Garnitur."<br />

Seit jener wohl folgenschweren Vorstandssitzung weiß Willy Brandt , dass es zwischen<br />

ihm und dem Fraktionsführer keine Übereinkunft mehr geben wird. Der Machtverfall hat<br />

begonnen. Deshalb ist er zum Kampf, zum Überlebenskampf entschlossen. "Unter den Teppich<br />

wird das nicht gekehrt."<br />

Wie sich derlei Szenarien in dieser Verwirr-Spiel-Zeit der Sozialdemokraten ähneln, wie<br />

ausnahmslos und atemlos aus Parteifreunden unverblümt Feinde wurden. Und fast immer gingen<br />

sie schon direkten Schrittes auf den vermeintlichen Gegner los. Die Getränke - ob in Kaschemmen<br />

zu Bonn-Kessenich oder dem erlauchten Kanzlerbungalow waren noch nicht einmal akkurat auf<br />

den Tisch gestellt. Da polterten, gifteten wutentbrannt -fernab jeder Contenance -Hans-Jochen<br />

Vogel und Helmut Schmidt gegen eine junge SPD-Generation, die sich Jungsozialisten nennt.<br />

Eindringlich beschworen die beiden Minister den SPD-Chef Willy Brandt (1964-1987), die<br />

radikalen Linken in den eigenen Reihen endlich mundtot zu machen. Ihr Hauptvorwurf: Jusos-<br />

Thesen, die "noch links von der DKP angesiedelt sind" (Vogel), würden die SPD-Wähler<br />

vergraulen.<br />

Willy Brandt zauderte und empfahl den Partei-Rechten Geduld und Beharrlichkeit: "Als<br />

Regierungschef und Parteivorsitzender sehe ich die Verantwortung fürs Ganze." Brandts<br />

Beschwichtigungsversuch brachte die hohen Gäste erst recht in Harnisch. Helmut Schmidt<br />

polterte: "Du kümmerst dich nur noch um die Scheiß-Weltpolitik, und ich muss hier schuften. Du<br />

72


musst jetzt endlich was tun, Willy." Und Hans-Jochen Vogel drohte: Wenn "die es so weitertreiben<br />

können wie in der Sommerpause, müsse er sein Ministeramt (Wohnungsbauminister 1972-1974)<br />

zur Verfügung und seine Parteimitgliedschaft in Frage stellen.<br />

Der Ex-Oberbürgermeister von München (1960-1972) und Bonner<br />

Wohnungsbauminister kämpft seit Wochen gemeinsam mit Gesinnungsfreunden gegen den<br />

Vormarsch der bayerischen Jusos und der Linken im Münchner Unterbezirk. Vogel-Freund und<br />

Amtsnachfolger Georg Kronawitter (1972-1978 und 1984-1993): "Die benutzen die SPD nur noch<br />

<strong>als</strong> Vehikel für ihre kommunistische Konfliktstrategie." Juso-Feind Vogel ist sicher: "Wenn wir<br />

nicht unmissverständlich klarmachen, dass die SPD auf dem Boden des Godesberger Programms<br />

(1959-1989) steht, sind wir nicht mehr glaubwürdig." Eine Niederlage der SPD bei den bayerischen<br />

Landtagswahlen 1974 sei dann die Quittung für den Linksdrift.<br />

Für Hans-Jochen Vogel steht fest, dass ein "kleiner, aber aktiver Kreis von Jungsozialisten<br />

das Godesberger Programm von 1959 aus den Angeln hebeln will. Er wirft den Partei-Linken vor,<br />

sie wolle<br />

• im Widerspruch zum Godesberger Programm alle Produktionsmittel<br />

vergesellschaften;<br />

• den Staat <strong>als</strong> "Agentur des Kapitalismus" abqualifizieren und seine<br />

Ordnungsfunktionen negieren;<br />

• die freie Willensentscheidung der Abgeordneten abschaffen und sie zu reinen<br />

Vollzugsorganen der Parteimitglieder umfunktionieren (imperatives Mandat);<br />

• mit der Strategie ständiger Konflikte (zum Beispiel Unterstützung wilder Streiks) jede<br />

Reformpolitik innerhalb der demokratisch-parlamentarischen Spielregeln unmöglich<br />

machen.<br />

Der bayerische Scharfmacher will im Streit mit den Jusos auf keinen Fall einlenken. Vogel<br />

zu Brandt: "Wer solche Thesen vertritt, muss aus der Partei rausgeschmissen werden. Die<br />

schrecken sonst vor nichts zurück." Um Zeit zu gewinnen, lenkte der Kanzler vom brisanten<br />

Thema ab und erzählte -Campari mit Orangensaft schlürfend - von seinem jüngsten Ausflug ins<br />

Volk, der Reise nach Norddeutschland. Willy Brandt: "Ich bin in Salzgitter vor rund 10.000<br />

Walzwerker hingetreten, und ich hatte gemischte Gefühle, weil ich nicht wusste, was mich erwarten<br />

würde. Aber dann spürte ich bald die Solidartät. Von Juso-Theorien redete niemand."<br />

Mit dieser Bemerkung wollte Brandt sein Misstrauen andeuten, Vogel mache nur deshalb<br />

gegen die Jusos Front, um rechtzeitig ein Alibi für eine etwaige Wahlniederlage in Bayern zu haben.<br />

Doch damit hatte der SPD-Rechtsaußen gerechnet. Um seine Attacken gegen die Linken zu<br />

belegen, überreichte Hans-Jochen Vogel dem Parteichef eine Dokumentation, in der das<br />

Sündenregister der Jusos aktenkundig gemacht wird. Vor allem eine Kampfrede des Juso-Ideologen<br />

Johano Strasser (1970-1975 stellvertretender Juso-Chef) hatte Vogels Ärger provoziert. Denn der<br />

34jährige Didaktik-Professor an der Berliner Pädagogischen Hochschule hatte seinen Anhängern<br />

praktische Anweisungen für die "Problematisierung des kapitalistischen Systems" und die<br />

"Umwandlung der Partei" gegeben.<br />

Strassers Vorschlag: Die Jusos sollten nicht "fortwährend Eide auf die Gewaltlosigkeit<br />

leisten", sondern lieber dafür sorgen, dass in Bundeswehr, Bundesgrenzschutz und Polizei Leute<br />

ausgebildet werden, "die möglicherweise Skrupel haben, auf Arbeiter einzuschlagen und zu<br />

73


schießen". Vogel über die ketzerischen Töne: "Dafür sollte in unserer Partei kein Platz sein."<br />

Forsch verlangte der Anführer der Rechts-Riege ein Parteiausschlussverfahren für die "Anhänger<br />

solcher marxistisch-leninistischer Theorien".<br />

Ins Schussfeld des bayerischen SPD-Landeschef ist auch der Juso-Vorsitzende Wolfgang<br />

Roth (1972-1974) geraten. Ihm kreidete Vogel an, Roth habe in seiner Rede bei den Ostberliner<br />

Weltjugendfestspielen (1973) gegen den Parteiratsbeschluss zur Abgrenzung von Kommunisten<br />

verstoßen, für eine Zusammenarbeit mit kommunistischen Parteien plädiert und damit die<br />

Volksfront-Theorie der DKP propagiert. Vogel zu Brandt: "Ich bin nicht bereit, dieser<br />

Entwicklung tatenlos zuzusehen." Falls der Parteichef nicht eingreife, werde er notfalls mit Helmut<br />

Schmidt die Partei-Rechten mobilisieren: "Was dann geschieht, kann noch niemand voraussagen."<br />

Der SPD-Chef war beeindruckt: "Schreckliche Sache." Was auf dem Parteitag in Hannover (1973)<br />

so gut begonnen habe, läuft nicht mehr" (Brandt).<br />

Aufgewiegelt hatten den Kanzler auch schon seine eigenen Berater. Staatssekretär Günter<br />

Gaus (*1929+2004) und Brandts Ghostwriter Klaus Harpprecht (Redenschreiber 1972-1974) rieten<br />

ihm bereits seit Wochen, er solle gegenüber der Partei-Linken Farbe bekennen. Deshalb hatten sie<br />

in das Rede-Manuskript für das Weser-Ems-Treffen der SPD Anfang September 1973 einen<br />

Absatz eingefügt, der einen "energischen Willy" (Gaus) zeigte: "Unsere Wähler haben uns nicht<br />

beauftragt, einen großen Diskutierklub zu schaffen, sondern sie haben uns beauftragt, dieses Land<br />

zu regieren. An dieser Aufgabe wird man sich bewähren oder man wird scheitern."<br />

Eine Möglichkeit, sich vor der Öffentlichkeit zu bewähren und zugleich die Heißsporne<br />

Schmidt und Vogel zufriedenzustellen, sah der Kanzler, <strong>als</strong> ihn das SPD-Präsidium aufforderte,<br />

scharf gegen eine Juso-Presseerklärung zu den spontanen Arbeitsniederlegungen an Rhein und<br />

Ruhr Stellung zu nehmen. Die Jungsozialisten hatten die wilden Streiks <strong>als</strong> "legitime Maßnahmen<br />

der Arbeiter" begrüßt und die SPD-Führung aufgefordert, sich auch in den Fällen, in denen die<br />

Gewerkschaften nicht mitwirken, "mit aller Deutlichkeit auf die Seite der Arbeiter zu stellen". Der<br />

Kanzler nahm die Herausforderung an. Er betrachtete diese Erklärung "<strong>als</strong> abträglich für die SPD<br />

und belastend für die gebotene Solidarität mit den Gewerkschaften".<br />

Der Warnschuss blieb nicht ohne Wirkung. Die Jusos zuckten zusammen. Sie hatten mit<br />

einer so scharfen Reaktion des Kanzlers nicht gerechnet. Zwar versuchte der Juso-Chef nach außen<br />

Fassung zu bewahren (Wolfgang Roth: "Wir gehen der Auseinandersetzung gelassen entgegen"),<br />

doch zugleich mobilisierte er per Telefon aus einem exquisiten Feinschmecker-Lokal im<br />

französischen Colmar seine Gesinnungsfreunde in Partei und Fraktion. Roths Devise: Unter allen<br />

Umständen den Sturm von rechts in der Partei zu überstehen, einfach auszusitzen.<br />

Auch die Linke in der SPD-Bundestagsfraktion und in den Gewerkschaften reagierten<br />

sofort. Angestachelt von den Jung-MdBs Norbert Gansel (1972-1997 ) und Dietrich Sperling<br />

(1969-1998) unterschrieben 30 Parlamentarier und zehn Gewerkschaftsfunktionäre eine Resolution<br />

zur Verteidigung der Juso-Politik. Der SPD-Linksaußen Jochen Steffen (*1922+1987) dagegen sah<br />

bis zuletzt weder die Gefahr für eine Spaltung der Partei noch für eine Ächtung der Linken: "Der<br />

Willy hat sicher die Juso-Texte nicht richtig gelesen oder f<strong>als</strong>ch interpretiert bekommen. Das<br />

werden wir bald haben." Und die "Kassandra"-Rufe der beiden Minister Schmidt und Vogel<br />

wischte Jochen Steffen beiseite: "Die Rechten haben Gottvater Juck-Pulver in den Nacken gestreut,<br />

damit er sich mit uns beschäftigen muss. Wir, mein Freund Peter von Oertzen (*1924+2008) und<br />

ich, wir werden das zu beseitigen wissen."<br />

74


DEUTSCHE MÄNNER IN AFRIKA – ENTWICKLUNGSHILFE<br />

UND SEX-TRIEBE. DIE TEUREN HOBBY DES HERRN<br />

DOKTOR. ALLTAG IN GABUN<br />

stern 6. September 1973<br />

Regierungsdirektor Hans Kirchhof vom Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

(BMZ) war zufrieden: „Diese Art von Entwicklungshilfe in armen Ländern ist wichtiger <strong>als</strong><br />

Fabriken zu bauen.“ Sein Lob galt einem Plan der sozialliberalen Bundesregierung (1969-1982), der<br />

die zahnmedizinische Versorgung im zental-afrikanischen Staat Gabun sicherstellen sollte.<br />

Der Staat Gabun liegt an der westlichen Atlanikküste Zentralafrikas, hat 1.424.906<br />

Millionen Einwohner. In einem Land, in dem immerhin 86 Prozent aller Geburten medizinisch<br />

betreut werden können, galt es nunmehr der brachliegenden Zahnmedizin zum Durchbruch zu<br />

verhelfen – den „Gabunesen in ihre Mäuler zu schauen“ (Kirchhof).<br />

Dabei liess sich Hans Kirchhof mit seinen Mannen am Reißbrett im Ministerium und<br />

Vorort im Busch von keinem anderen Vorbild leiten <strong>als</strong> von dem evangelischen Theologen,<br />

Philosphen und Arzt Albert Schweitzer (*1875+1965). Er hatte bereits im Jahre 1913 an einem<br />

Fluss der afrikanischen Westküste beispielgebend das Urwaldhospital Lambaréne gegründet.<br />

Diesen Ruf, heute neu-deutsch Image genannt, aus den früheren Jahren galt es aufzufrischen,<br />

nachzueifern, für sich politisch einzuspannen – mit dem „Marketing-Produkt“ Albert Schweitzer<br />

(Friedensnobelpreisträger 1952) im Hintergrund.<br />

Dessen ungeachtet ist das ehrgeizige Prestige-Projekt zur bisher größten Pleite der<br />

Entwicklungshilfe von SPD-Minister Erhard Eppler (1968-1974) geworden. In vier Jahren so<br />

genannter „Aufbauarbeit“ sind eine Millionen Mark Spendengelder irgendwo in Gabun versickert,<br />

nicht mehr nachvollziehbar verpulvert worden. Statt der vorgesehenen 20 modernen<br />

Behandlungsstationen gibt es lediglich drei Zahnkliniken, die mit primitiven Mitteln arbeiten<br />

müssen. Die Schuld an dieser Misere trägt der Arzt und Afrika-Exporte Dr. Hans-Günter<br />

Hilgers,dem das Ministerium zu lange vertraut hatte. Jahrelang gaben sich Epplers Beamte mit<br />

frisierten „Erfolgsgeschichten“ aus Gabun zufrieden statt Hilgers Tätigkeit vor Ort zu überprüfen.<br />

Erst <strong>als</strong> Hilgers Kollegen in Gabun, Michael Heinze und Dr. Joachim Gantzer, auspackten, flog<br />

„der Schwindel“ (Heinze) auf. Der Arzt wurde gefeuert.<br />

Projektleiter Hans-Günter Hilgers hatte sich nur wenig um Gabuns Bevölkerung<br />

gekümmert, wo auf 30.000 Menschen nur ein Zahnarzt kommt. In den drei Kliniken wurden<br />

durchschnittlich nur drei bis sieben Patienten am Tag verarztet. Und das nur notdürftig, weil es<br />

schon an den einfachsten zahnmedizinischen Handwerkszeugen fehlte. Entwicklungshelfer Michael<br />

Heintze: „Die Zähne mussten wir bei Taschenlampenlicht ziehen.“ In vier Jahren wurden auf den<br />

drei Stationen lediglich acht Wurzelfüllungen vorgenommen, jedoch 1.236 Zähne gezogen.<br />

Dr. Hans-Günter Hilgers zog seinen ärztlichen Pflichten das süße, exotische Leben unter<br />

Palmen mit vielen schwarzen Frauen vor. Für derlei Lebenswandel schwatzte der passionierte<br />

Sportflieger den Bonner Bürokraten das Geld für den Kauf einer zweimotorigen Sportmaschine<br />

vom Typ „Piper Aztec“ ab. Joachim Gantzer: „Hilgers verschwendet die Steuer- und<br />

Spendengelder, um seine Begierden zu befriedigen, seine Sucht nach Sex. Das Flugzeug ist Luxus,<br />

denn unsere drei Stationen in Libreville (578.000 Einwohner), Lambarène und Mouila sind mit<br />

75


Linienmaschinen gut zu erreichen.“ Inzwischen hat auch Erhard Epplers Ministerium eingesehen,<br />

dass diese Anschaffung nicht sinnvoll war. Seit Dezember 1972 – <strong>als</strong>o über ein Dreiviertel Jahr –<br />

steht das Fleugzeug unbenutzt herum.<br />

Auch für den Erwerb von Fahrzeugen saß das Geld wie selbstverständlich aus dem<br />

Entwicklungs-Etat locker. „Drei Autos und ein Klinomobil stehen auf einem Bauplatz in Libreville<br />

herum, verrotten“, spottet Entwicklungshelfer Heintze empört. Sein Projektleiter Hilgers prahlt<br />

dagegen: „Wir werden am Unabhängigkeitstag (17. August 1960 von Frankreich) mit allen Wagen<br />

vor dem Präsidenten und seinem Frauen-Stab vorbeidefilieren.“ Männer-Stolz in Afrika.<br />

Doch mittlerweile – gerade zu über Nacht passiert – legt Gabuns Regierung auf deutsche<br />

Parademarsch-Begleitung keinen Wert mehr. Sie ist auf den Bonner Entwicklungs-Experten nicht<br />

mehr gut zu sprechen. Hilgers Vorliebe für schwarze Frauen, sie wie „Frischfleisch zu behandeln<br />

und zu vögeln“ (Michael Heintze), hat ihn in Verruf gebracht. Denn drei seiner Lehrmädchen<br />

hatten sich beim deutschen Botschafter Otto Wallner beschwert. Der Zahnarzt habe sie zur Liebe<br />

gezwungen. Beatice Idela Tieko in ihrem Brief an Botschafter Otto Wallner: „Im Dschungel hat er<br />

mich mehrere Male vergewaltigt. Er sagte zu mir: Wenn du nicht willig bist, musst du von der<br />

Klinik weggehen. Hier machen alle Mädchen die Beine breit, wenn ich das will.“ Marie-Odette<br />

Mounanga: „Er behandelt mich wie eine seelenlose Sklavin. Er will immer nur, dass ich in auf die<br />

Knie gehe, damit er mich von hinten heftig stoßen kann. Dabei zieht er nicht einmal seinen weißen<br />

Kittel aus.“ Dazu der beschuldigte Zahnarzt Hans-Günter Hilgers abwehrend: „Alles nur<br />

Verleumdungen, um Geld zu kassieren, weiter nichts.“<br />

Gleichwohl schaltete sich mittlerweile Gabuns Regierung ein; für derlei Sexual-<br />

Vorkommnisse bis dato ein ungewöhnlicher Vorgang - noch. Doch spätestens, <strong>als</strong> sich Hilgers bei<br />

seinen manischen Frauen-Trips auch noch unbedacht <strong>als</strong> Lehrmädchen Augustina <strong>Mb</strong>oumba, eine<br />

Verwandte des Außenministers heranmachen wollte, verlangte Außenminister Georges Rawiri<br />

(*1932+2006) die sofortige Ablösung des Projektleiters. Aufgebracht, beleidigt, in seiner Ehre<br />

gekränkt schleuderte er Bonner Diplomaten entgegen. „Frauen kann man doch in Deutschland<br />

vergewaltigen, hier bei uns in Gabun niem<strong>als</strong>.“ Der Botschafter erwiderte: „Auch in Deutschland<br />

geht das inzwischen nicht mehr ohne weiteres. Da sind bald die Feministinnen an der Macht. Die<br />

schneiden ihm mal kurz den Schwanz ab. Damit hat es sich dann.“ Deutsche Regierungsgespräche<br />

in den siebziger Jahren in Zentral-Afrika.<br />

In Wirklichkeit hatte der Diplomat versucht, durch sein vordergründiges Eingeständnis<br />

die Affäre herunterzuspielen. Entwicklungshelfer Michael Heintze weiß auch warum. Die siebziger<br />

Jahre waren nämlich weltweit noch keine autonomen Frauen-Jahre auf dem Weg zu ihrer Würde,<br />

Gleichberechtigung, Frauen-Wahrnehmung, Männer-Anstand. „Der Botschafter sagte mir<br />

sinngemäß: Ob in Europa oder in Afrika, nun wir sind doch alle Männer. Ich möchte nicht wissen,<br />

welcher Zahnarzt in Deutschland nicht mit seiner Helferin schläft.“<br />

Immerhin: Seit dem Jahre 1998 ist der Tatbestand der Vergewaltigung ein besonders<br />

schwerer Fall der sexuellen Nötigung. Hat der Täter (erniedrigende) sexuelle Handlungen an dem<br />

Opfer vorgenommen … lautet der Urteilstenor auf Verurteilung wegen Vergewaltigung. Der<br />

Strafrahmen sieht (regelmäßig) Freiheitsstrafen von mindestens zwei und höchstens 15 Jahren vor.<br />

– Fortschritt.<br />

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SPD-PRESSE – FREIHEIT, DIE SIE MEINEN<br />

Ausverkauf auf dem Medien-Markt – Totengräber von 21 Zeitungen<br />

stern, Hamburg 01. März 1973/ 28. Juni 1973 / 12. März 2009<br />

Vor 27 Jahren begann in Hannover die steile wie stille Karriere des Parteischatzmeisters<br />

und Konzern-Chef der SPD-eigenen Presseorgane Alfred Nau (*1906+1983). Er war Jahrzehnte<br />

lang eines der wichtigsten Mitglieder, eine Art „graue Eminenz“ der westdeutschen<br />

Sozialdemokratie, unnahbar aber auch seltsam unauffällig. Und nun, ausgerechnet wieder in<br />

Hannover, soll Alfred Nau, der sich zudem mit dem Titel eines Ehrenpräsidenten der<br />

Sozialistischen Internationale schmückt, auf dem Parteitag im April 1973 entmachtet werden.<br />

Der Grund: Die Parteibasis verübelt dem Totengräber von 21 SPD-Zeitungen, dass sein<br />

selbstherrlicher Umgang mit den eigenen Blättern die Forderung der Sozialdemokraten nach mehr<br />

Mitbestimmung für die Journalisten unglaubwürdig macht. SPD-Medien-Experte, der Staatsrechts-<br />

Professor Erich Küchenhoff (*1922+2008) aus Münster konstatierte: „Das Parteivolk ist wütend<br />

auf den Alfred Nau .Das Maß ist voll.“ In einem Antrag fordern die Nau-Kritiker in der SPD die<br />

Parteitagsdelegierten auf, „die Verantwortlichkeit für den in der Partei zugehörigen Medienbereich<br />

vom Amt des Schatzmeistes zu trennen.“ Im Übrigen könne Alfred Nau sich über wichtige<br />

Parteiämter nicht beklagen. Schließlich sei er Ehrenpräsident auf Lebenszeit der Sozialistischen<br />

Internationale (SI). Zudem führe er über in der parteieigenen finanzkräftigen Friedrich-Ebert-<br />

Stiftung maßgeblich Regie. Ämterhäufung, Nau-Jahre.<br />

Nur – der jüngste wirtschaftliche Zusammenschluss der bürgerlich-konservativen<br />

Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ, Auflage 183.000 ) , mit der SPD-eigenen Neuen<br />

Hannoverschen Presse (NHP, Auflage 92.000 ) hat den Zorn der Parteimitglieder auf Alfred Nau<br />

zusätzlich angeheizt. Denn die SPD tritt in ihren medienpolitischen Beschlüssen für die Sicherung<br />

über Meinungsvielfalt – und nicht etwa für Pressekonzentrationen ein.<br />

Was für alle anderen Verleger zutreffen soll, will Alfred Nau für die SPD-Zeitungen nicht<br />

gelten lassen, denn der sozialdemokratische Pressezar glaubt, trotz der wirtschaftlichen<br />

Kooperation der beiden Zeitungen in Hannover „die redaktionelle Unabhängigkeit der NHP“<br />

sichern zu können. Doch Alfred Nau hat seinen Genossen nicht verraten, dass es in Hannover<br />

nicht nur um die wirtschaftliche Zusammenarbeit geht, sondern dass auf dem Vertriebssektor und<br />

dem Anzeigengebiet ein Markt beherrschendes Monopol entstanden ist. Das Schweigen des<br />

Schatzmeisters ist verständlich, denn der Medienbeschluss seiner Partei lautet: „Zusammenschlüsse<br />

von Zeitungs- oder Zeitschriftenverlagen … können untersagt werden, wenn die Informationsund<br />

Meinungsfreiheit durch diese Fusion gefährdet oder beeinträchtigt, der Wettbewerb beschränkt<br />

oder die Entstehung Markt beherrschender Unternehmen begünstigt wird.“<br />

Inzwischen ermittelt die niedersächsische Landeskartellbehörde gegen die neue<br />

Verlagsgesellschaft, weil nach dem Willen der HAZ-Verlegerin Luise Madsack (*1910+2001) die<br />

Anzeigenpreise des Pools um 60 Prozent erhöht werden sollen. Ministerrat Dr. Wehner,<br />

Kartellreferent im niedersächsischen Wirtschaftsministerium: „Wir müssen jetzt überprüfen, ob<br />

hier ein Markt beherrschender Missbrauch vorliegt.“Zwar gestand Alfred Nau vor dem<br />

hannoverschen Bezirksvorstand der SPD: „Kartellrechtlich ist unsere Sache bedenklich.“ Dich der<br />

sozialistisch-orientierte niedersächsische SPD-Chef Peter von Oertzen (*1924+2008) zeigte<br />

Verständnis Gesinnungsfreunden versuchte er das Anzeigen-Monopol <strong>als</strong> „linke“ Politik zu<br />

77


verkaufen. Peter von Oertzen: „Jetzt werden die Geschäftsleute durch höhere Anzeigenpreise<br />

ausgebeutet.“<br />

Herbe Kritik handelt sich Alfred Nau für seine Geschäftspolitik auch bei den Experten<br />

der SPD-Bundestagsfraktion ein. In einer gemeinsamen Resolution bemängelten sie, „dass die<br />

Verantwortlichen für die SPD-Presse offensichtlich nicht bereit sind, sichtbare Zeichen für eine<br />

solide Medienpolitik zu setzen.“ Denn „alle ehrlichen Bemühungen der Medienpolitiker der Partei<br />

müssen unglaubwürdig werden, wenn – wie in Hannover – mit rein wirtschaftlichen Motiven eine<br />

Fusion vollzogen wird.“ Und der Kommunikations-Wissenschaftler, SPD-MdB Peter Glotz<br />

(*1939+2005) kritisiert die mangelnde Zusammenarbeit in der Partei: „Wir beziehen an der Front<br />

Prügel für Unternehmens-Entscheidungen, von denen wir nichts wussten und die wir auch nicht zu<br />

verantworten haben.“ Sein Kollege Björn Engholm (SPD-Chef 1991-1993) fürchtet, dass die<br />

Genossen in der Diskussion um das geplante Presserechts-Rahmengesetz das die<br />

Mitbestimmungsrechte der Redakteure ausweiten soll, keinen leichten Stand haben werden: „Wir<br />

Sozialdemokraten gehen mit einer relativ schweren Hypothek in diese Debatte.“<br />

Die Hypothek wird noch schwerer, wenn erst eine wirtschaftliche Kooperation zwischen<br />

der SPD-eigenen Westfälischen Rundschau und den CDU-nahen Ruhr-Nachrichten in Dortmund<br />

vollzogen ist. Obwohl sich die Westfälische Rundschau vom Partei-Stallgeruch befreien konnte<br />

und mit einer Auflage von rund 250.000 Exemplaren zu den großen deutschen Tageszeitungen<br />

zählt, will Nau-Gehilfe Alois Hüser, Geschäftsführer der SPD-Presseholding auf dem<br />

Vertriebssektor und dem Anzeigengebiet mit dem CDU-Blatt zusammenarbeiten. Ihm geht es<br />

dabei ums Geld. SPD-Chefredakteur Günter Hammer wehrt sich: „Der Hüser denkt nur an den<br />

Profit. Die SPD ist doch kein Konzern, der Margarine verkauft.“ Erbost schimpft Günter Hammer<br />

über Parteifunktionäre: „Die reden uns immer ein, wir sollten eine Zeitung machen, wie der<br />

Vorwärts. Selbst lesen sie aber die BILD-Zeitung. Ich habe dem Nau gesagt, mit solcher<br />

Pressepolitik wollen wir nichts mehr zu tun haben. Denn unsere Zeitung ist gesund.“<br />

Freileich: Noch will sich Alfred Nau zu dem Expansions-Plan einer wirtschaftlichen<br />

Kooperation in Dortmund nicht bekennen. Ihm fehle der Mut, flüstert es in den Vorzimmern der<br />

SPD-Baracke zu Bonn. Erst nach dem Bundesparteitag in Hannover im April 1973 will er die<br />

bereits eingefädelte Zusammenarbeit bekanntgeben. Im Augenblick überlegt der matt wirkende<br />

Nau, ob er überhaupt noch einmal für das Amt des Schatzmeisters kandidieren soll. Denn nach<br />

Hochrechnungen der Partei-Strategen in der Zentrale, würden sich von 435 Delegierten 230 gegen<br />

Alfred Nau aussprechen. Deshalb will der Kassierer eine erneute Kandidatur von dem Votum des<br />

Parteivorsitzenden Willy Brandt (1964-1987) abhängig machen. Ein Nau-Berater:“Er wird nur<br />

noch antreten, wenn Willy Brandt seine volle Autorität einsetzt.“ Die hatte er auch immer bitter<br />

nötig, wenn es um seine Wiederwahl ging. Alfred Nau überlebte jedenfalls noch so manche<br />

Parteitage mit ihrem Anti-Nau-Gebell in seinem Amt.<br />

Letztendlich wollten die Genossen auch kein öffentliches Gezänk, keine öffentlich<br />

ausgetragenen Diadochen-Kämpfe mehr um das mittlerweile leidige Thema im die Presse- und<br />

Meinungsfreiheit inszeniert wissen. Stattdessen wollten sie lieber wieder mehr Zucht wie Ordnung<br />

in den eigenen Reihen. Nach der Devise, „lieber bedeutungslos , aber bequem“ soll selbst das sich<br />

aufsässig mausernde SPD-Organ Vorwärts (1876 von Wilhelm Liebknecht und Wilhelm<br />

Hasenclever gegründet) fest an die Kandare genommen werden. – Pressezensur.<br />

Der für „Pressefragen“ verantwortliche Partei-Vize Heinz Kühn (*1912+1992) wird in<br />

Zukunft den Redakteuren regelmäßig Nachhilfe-Unterricht in der Darstellungsform der SPD-<br />

Politik geben und mahnend den Zeigefinger erheben, wenn die Zeitung von der offiziellen<br />

78


Parteilinie abweicht; Aktion „Schere im Kopf“ – innere Zensur auf Raten. Ausgerechnet der CDU-<br />

Opposition im Düsseldorfer Landtag und nicht etwa der Vorwärts-Redaktion erklärte der<br />

nordrhein-westfälische Ministerpräsident (1966-1978), wie er sich seine Rolle <strong>als</strong> Herausgeber<br />

vorstellt. Heinz Kühn kritisierte einen Vorwärts-Artikel über die Polizeiaktionen gegen die<br />

maoistische KPD. Dabei versicherte er den Volksvertretern, er sei notfalls auch bereit, selber zur<br />

Feder zu greifen, damit „in der gleichen Ausgabe auch gegenteilige Standpunkte publiziert werden.“<br />

Noch vor eineinhalb Jahren war Heinz Kühn ganz anderer Meinung gewesen. Als dam<strong>als</strong><br />

der neue Chefredakteur Gerhard E. Gründler (zuvor Tageszeitung Die Welt und Magazin stern )<br />

das Experiment wagte, die in der Öffentlichkeit kaum beachtete Wochenzeitung mit kritischen<br />

Kommentaren, Reportagen und Analysen aufzupolieren, auch vor Denk-Tabus in der eigenen<br />

Partei nicht zurückschreckte, lobte Heinz Kühn „die Vitalität und interessante Berichterstattung“.<br />

Zwar will der Partei-Vize auch heute kein „Zensor des Blattes“ sein, doch er greift in die<br />

tägliche Redaktionsarbeit ein. Nachdem ihn Genossen alarmiert hatten, der vorwärts wolle<br />

untersuchen, wie sich Hamburgs Innensenator Heinz Ruhnau (1965-1973) auf die Jagd nach Partei-<br />

Pöstchen „Wettbewerbsvorteile“ erschlichen habe, zitierte er den Redakteur Peter Ruthmann in die<br />

Bonner NRW-Landesvertretung. Ruthmann versetzte den Ober-Genossen und erschien nicht zum<br />

Rapport. Verärgert wies Heinz Kühn den amtierenden Chefredakteur Hermann Schüler an, den<br />

Artikel nicht zu veröffentlichen. Vorwärts-Reporter Claus Lutterbeck klagt: „Wir stecken in einem<br />

Dilemma. In der Öffentlichkeit gelten wir <strong>als</strong> Vorstandsjubler, aber parteiintern beziehen wir<br />

laufend Prügel.“<br />

Tatsächlich ist die Vorwärtsmannschaft bei der SPD-Spitze in Ungnade gefallen. So<br />

beklagte sich Parteichef Willy Brandt darüber, dass die Zeitung immer wieder exklusiv über<br />

personelle Rangeleien in der SPD berichte. Und besonders unwirsch reagierte er, <strong>als</strong> ihm das<br />

Parteiorgan auch noch vorhielt, er hätte zum amerikanischen Bombenkrieg in Vietnam (1965-1976)<br />

nicht schweigen dürfen. Der gewichtige Herbert Wehner, (Chef der SPD-Bundestagsfraktion,<br />

1969-1983) will mit der Redaktion überhaupt nichts mehr zu tun haben. Ihm passt der ganze Kurs<br />

nicht. Mehrere Briefe von Chefredakteur Gründler ließ er unbeantwortet. Demonstrativ trat<br />

Wehner nach dem letzten Parteitag im April 1973 in Hannover <strong>als</strong> Herausgeber des Blattes zurück.<br />

Von der Möglichkeit, im Parteiorgan selbst Stellung zu nehmen, macht Onkel Herbert schon seit<br />

Langem keinen Gebrauch mehr. Statt dessen schreibt er in der konservativen Augsburger<br />

Allgemeinen und im Kölner Boulevard-Blatt Express.<br />

Auch Verteidigungsminister Georg Leber (1972-1978) hat mit dem Hausblatt nichts mehr<br />

im Sinn. Als er öffentlich mit den Kriegsdienst-Verweigerern abrechnete, belehrten ihn die<br />

Genossen Redakteure, die Ablehnung des Waffendienstes sei keine Ausnahme, sonder ein<br />

Grundrecht. Leber reagierte erbost: „Ich werde mich an die richtige Stelle wenden. Verlasst euch<br />

drauf. So geht das nicht mehr weiter.“ Auch Bundestags-Vizepräsident Hermann Schmitt-<br />

Vockenhausen (*1923+1979) ereifert sich: „Das ist doch nur ein sozialdemokratischer<br />

Bayernkurier.“ Und der Chef der Kanalarbeiter-Gruppe, den Hinterbänkler im Parlament, Egon<br />

Franke (*1913+1995) fauchte launisch. „Das Blatt ist für die Genossen nicht mehr lesbar“ – Dabei<br />

kramte er die Bild-Zeitung aus seinem Abgeordneten-Pult hervor.<br />

Nur beim Parteivolk hat das Blatt an Boden gewonnen. Die verkaufte Auflage stieg von<br />

30.000 Exemplaren 1971 auf inzwischen 55.000. Doch diese stolze Bilanz muss die Redaktion der<br />

Öffentlichkeit verheimlichen. Denn vorwärts-Verleger und Parteischatzmeister Alfred Nau hat es<br />

bisher beharrlich vermieden, ehrliche Auflagenzahlen zu nennen. So bezifferte er 1966, <strong>als</strong> das Blatt<br />

79


einen Tiefpunkt erreicht hatte, die Auflage auf 64.000. Tatsächlich werden nur 13.000 Exemplare<br />

verkauft.<br />

Nunmehr berechnet der Verlag die Anzeigenpreise nach einer um rund 16.000 Exemplare<br />

überhöhten Auflagenzahl von 71.500 Exemplaren. Verlagsprokurist Oswald Röhnelt verharmlost<br />

Naus Zahlenspiele: „Das kann sein. Vielleicht hat sich irgendein Sachbearbeiter bei der Berechnung<br />

versehen.“ Und der Neu-Verleger Heinz Kühn stellt sich unwissend. „Ich kann das weder<br />

bestätigen noch dementieren.“ Kühns mangelhafter Informationsstand ist sogar nachvollziehbar,<br />

Denn selbst Willy Brandt gewährt Alfred Nau nur flüchtigen Einblick in die Buchführung.<br />

Verständlich, dass der wöchentlich erscheinende vorwärts <strong>als</strong> Zensur-Objekt der Partei-<br />

Oberen 1989 eingestellt wurde, zu langweilig, zu unappetitlich daher kam. Kritischer Journalismus<br />

in der SPD war seit jeher unerwünscht, immer schon hinter vorgehaltener Hand verpönt.<br />

Verständlich auch, dass ausgerechnet ein Herrenreiter namens Uwe-Karsten Heye („Ich liebe nun<br />

mal Pferde und erzähle euch Geschichten vom Peerd“) im Jahr 2006 dem neuen vorwärts <strong>als</strong><br />

monatliche Mitglieder-Zeitung einen modernen „Life-Style“-Charakter verordnete. Schick in der<br />

Aufmachung, todschick in der Tiefdruck-Vierfarb-Fotografie – eben neureich auf Glanzpapier,<br />

dem manierlichen Zeitgeist-Attitüden der Berliner Republik eingepasst. Verständlich auch, dass der<br />

„rédacteur en chef“ im feinsten Zwirn mit Anstecknadel überall dabei ist, eben ein gern gesehener<br />

Aperitif-Gast bei so manchen Berliner Vernissagen. Uwe-Karsten Heye (1998-2002<br />

Regierungssprecher von Bundeskanzler Gerhard Schröder) hat sich halt vorgenommen, überall<br />

sein telegenes, braun gebranntes Gesicht vorzuzeigen – und das nicht nur, wenn es um Ausländer-<br />

Hass in diesem Lande geht. Sein Gesicht zeigt Heye gern in Hamburgs Edelherberge Hotel<br />

Atlantik (Einzelzimmer 200 Euro pro Nacht) mit Blick auf die Außen-Alster inklusive. Genau,<br />

genau dort im Foyer, soll es schon, so wird berichtet, vorgekommen sein, dass Heye sich mit<br />

Hotel-Gästen „en passant“ über Armut in Deutschland unterhalten hat. – Die vorwärts-Gründer<br />

Wilhelm Liebknecht und Wilhelm Hasenclecer – verfolgt, verraten, verarmt , unbeugsam – würden<br />

sich im Grabe umdrehen, wenn sie es denn könnten.<br />

80


DIE POLITIK-KARRIERE DES SPD-GENOSSEN KARL<br />

WIENAND: GELDGIER PFLASTERT SEINEN WEG -<br />

BETRUG, BESTECHUNG, SPIONAGE<br />

Ein "vaterlandsloser Geselle" zu Bonn - Karl Wienand (SPD-MdB 1953-1974) war<br />

<strong>als</strong> parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion der Vertraute von<br />

Bundeskanzler Helmut Schmidt und Fraktionschef Herbert Wehner in den siebziger<br />

Jahren; eine Art Schaltzentrale im Machtapparat am Rhein. Er war überall dabei, wenn es<br />

um hochbrisante Entscheidungen ging, zog verschmitzt die Fäden. Dabei steckte sich<br />

Wienand Millionen-Beträge aus dunklen Kanälen zunächst unbemerkt in eigene Taschen.<br />

Allein von der DDR-Staatssicherheit kassierte er für seine Spionage-Tätigkeit einen<br />

Agentenlohn von 1,5 Millionen Mark. - Partei-Karrieren<br />

stern, Hamburg 25. Januar 1973<br />

Der Arbeitersohn Karl Wienand aus den einfachsten Verhältnissen kommend wurde im<br />

Jahr 1926 in Lindenpütz im Westerwald geboren. Nach dem Studium von Jura und Volkswirtschaft<br />

begann Wienands berufliche Laufbahn beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Mit 26 Jahren saß er<br />

<strong>als</strong> jüngster Abgeordneter für die Sozialdemokraten bereits im Deutschen Bundestag. Von März<br />

1967 bis Ende August 1974 war Karl Wienand einflussreicher Parlamentarischer Geschäftsführer<br />

der SPD-Bundestagsfraktion, Herbert Wehners (*1906+1990 ) Vertrauens-"Mann für heikle Fälle".<br />

Nach Ansicht des Historikers Arnulf Baring zählte Wienand zum Kernbereich der SPD/FDP-<br />

Koalition (1969-1982), zur Handvoll ihrer wichtigsten Figuren" in der Republik.<br />

Im Jahre 1971 wies der stern dem SPD-Fraktionsgeschäftsführer Karl Wienand nach, <strong>als</strong><br />

Lobbyist der inzwischen pleite gegangenen Charterfluggesellschaft Paninternational hohe<br />

Geldsummen eingeheimst zu haben. Doch erst jetzt - mit 15 monatiger Verspätung - beginnen die<br />

Sozialdemokraten allmählich Konsequenzen aus dem peinlichen Fehlverhalten ihres Spitzen-<br />

Genossen zu ziehen.<br />

Noch während sich Karl Wienand auf dem Pariser Treffen der Sozialistischen<br />

Internationale <strong>als</strong> Abgesandter Willy Brandts (Präsident 1976-1992) im Kreise der Parteiführer<br />

wichtig vorkam, ging es ihm an der politischen Heimat an die Substanz. Auf dem Landesparteitag<br />

der nordrhein-westfälischen SPD in Essen sprachen ihn Dreiviertel der Delegierten das Misstrauen<br />

aus und wählten ihn <strong>als</strong> Mitglied im Landesvorstand ab - zum Abschuss freigegeben. Wienand-<br />

Freund und SPD-Bundestagsabgeordneter Bernhard Bussmann (1969-1980): "Die<br />

Paninternational-Affäre hat ihre Spuren hinterlassen. Für Karl ist es schwer, in der Partei wieder<br />

Fuß zu fassen."<br />

Bussmann wird recht bald behalten. Schon im März 1973 will die vom Düsseldorfer<br />

Ministerpräsidenten Heinz Kühn (1966-1978; *1912+1992) angeführte Anti-Wienand-Fronde zum<br />

nächsten Schlag ausholen und den ins Zwielicht geratenen treuen Gehilfen des SPD-Fraktionschefs<br />

Herbert Wehner (1969-1983) <strong>als</strong> Vorsitzenden des mitgliederstarken Parteibezirks Mittelrhein<br />

ablösen. Sein Nachfolger soll der Bonner Parteifunktionär Rudi Maerker (Stasi-Informant aus dem<br />

SPD-Apprate 1968-1987 *1927+1987) werden. - Auch dieser Journalist genoss das besondere<br />

Vertrauen der SPD-Spitze um Willy Brandt und Herbert Wehner.<br />

81


Einen Monat später auf dem Bundesparteitag der Sozialdemokraten in Hannover (10.-14.<br />

April 1973) , soll Karl Wienand auch seinen Sitz im Parteivorstand verlieren. Als Gegenkandidat<br />

steht der profilierte Parteilinke und niedersächsische Kultusminister Peter von Oertzen (*1924<br />

+2008) bereits fest. Der Juso-Vorsitzende Wolfgang Roth (1972-1974) ist siegessicher: "Wenn<br />

Wienand in Hannover kandidiert, gibt es Krach. Außer einigen hartgesottenen Opportunisten<br />

stimmt in der Partei keiner mehr für ihn."<br />

Aber nicht nur in der Partei , auch in der Bundestagsfraktion muss Karl Wienand um<br />

seine politische Existenz arg kämpfen. Die Hinterbänkler mit dem einflussreichen Minister für<br />

innerdeutsche Beziehungen Egon Franke (1969-1982: *1913 +1995) an der Spitze haben ihn <strong>als</strong><br />

Verbündeten fallen gelassen und ihm ihre Unterstützung für eine neue Kandidatur <strong>als</strong><br />

Fraktionsgeschäftsführer aufgekündigt. Sein schärfster Rivale in der Fraktion ist der bayerische<br />

Landgerichtsrat und Abgeordnete Hans de With (1969-1994). Als Vize-Vorsitzender des<br />

Parlamentarischen Untersuchungsausschusses "Pan International" (1972-1974) zählte de With zu<br />

jenen unbeirrbaren Volksvertretern, vor denen sich Wienand mit seinen Machenschaften,<br />

Absprachen und Berater-Verträgen zu verantworten hatte. Hans de With: "Ich kann Wienands<br />

Akten sehr genau."<br />

Obwohl Karl Wienand mit dem Rücken zur Wand steht, will er nicht aufgeben. Er baut<br />

auf seinen Schutzpatron Herbert Wehner, mit dessen Hilfe er bis zur Abfuhr in der NRW-<br />

Metropole Essen alle parteiinternen Versuche, ihn um Amt und Einfluss zu bringen, überstanden<br />

hat. So verdankt Karl Wienand seine Rückkehr in den Deutschen Bundestag allein dem SPD-<br />

Fraktionschef, der ihm gegen den Willen von Heinz Kühn ("Ich bin gegen Wienands Kandidatur")<br />

noch den sicheren 12. Platz auf der nordrhein-westfälischen Landesliste der SPD verschaffen<br />

konnte. - Parteikarrieren.<br />

Unterstützung erhofft sich der gebeultete Wienand auch von Bundeskanzler Willy Brandt<br />

und Finanzminister Helmut Schmidt. "Brandt und Schmidt haben volles Vertrauen zu mir. Sonst<br />

hätte ich bei der Regierungsbildung nicht ein paar Staatssekretärsposten angeboten bekommen."<br />

Postscriptum oder Etappen des SPD-Kriminellen Karl W.<br />

• 1971 Verstrickung in die Affäre um die Charterfluggesellschaft Paninternational. Bei<br />

einer Notlandung eines Flugzeuges auf<br />

• der Autobahn nach Hamburg starben 22 Menschen. Karl Wienand, der<br />

Beraterhonorare erhielt, wurde vorgeworfen, die Fluggesellschaft vor einer Prüfung<br />

durch die Luftfahrtbehörde geschützt zu haben. Ein Bundestags-<br />

Untersuchungsausschuss befasste sich mit diesem Sachverhalt. Er kam jedoch im<br />

Parteienstreit zu keiner abschließenden Bewertung. Der Verdacht von Zahlungen an<br />

Wienand in Höhe von 162.500 Mark konnte nicht ausgeräumt werden.<br />

82<br />

• 1972 -Steiner-Wienand-Affäre: Beim Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy<br />

Brandt soll Karl Wienand dem CDU-Bundestagsabgeordneten Julius Steiner<br />

insgesamt 50.000 Mark dafür gezahlt haben, sich der Stimme zu enthalten. So erklärte<br />

es im Jahre 1973 der zwischenzeitlich aus dem Bundestag ausgeschiedene Steiner auf<br />

einer Pressekonferenz. Später kam heraus, dass Steiner 50.000 Mark vom DDR-<br />

Geheimdienst erhalten hatte. Ob er sich doppelt bezahlen ließ, konnte allerdings<br />

nicht geklärt werden.


• 1973 hob der Deutsche Bundestag die Immunität des Abgeordneten Karl Wienand<br />

wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung auf.<br />

• 1975 wurde Karl Wienand wegen Steuerhinterziehung - auch für die finanziellen<br />

Zuwendungen von Paninternational - zu einer Geldstrafe in Höhe von 102.000<br />

rechtskräftig verurteilt.<br />

• 1990 wegen Autofahrens im angetrunkenen Zustand zu einer Bewährungsstrafe<br />

verurteilt.<br />

• 26. Juni 1996 Verurteilung wegen Spionage zugunsten der DDR zu zweieinhalb<br />

Jahren Haft und einer Millionen Mark Geldstrafe. Karl Wienand bestreitet bis dato<br />

die Agenten-Vorwürfe. Nach Auskünften des ehemaligen DDR-Geheimdienstchefs<br />

Markus Wolf (*1923+2006) stand Wienand seit Ende der sechziger Jahre in Kontakt<br />

zur DDR-Auslandsspionage.<br />

• 1997 - mit Urteil vom 28. November verwarf der Bundesgerichtshof die von Karl<br />

Wienand eingelegte Revision (AZ 3 StR 114/97), womit das Urteil des<br />

Oberlandesgerichts Düsseldorf rechtskräftig wurde.<br />

• 1999 Begnadigung durch Bundespräsident Roman Herzog (1994-1999). Grund:<br />

Wienands Herzerkrankung. Die Haftstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.<br />

• 2002 aberm<strong>als</strong> dreimonatige Untersuchungshaft. Karl Wienand soll in den neunziger<br />

Jahren bei der Planung und Bau der Kölner Müllverbrennungsanlage (MVA)<br />

Schmiergelder in Millionenhöhe angenommen haben. Ihm wird neben Beihilfe zur<br />

Bestechlichkeit auch Bestechung und Steuerhinterziehung vorgeworfen.<br />

•<br />

Haftverschonung gegen Auflagen (Reisepass und Personalausweis abgeben, darüber<br />

hinaus dreimal wöchentlich bei der örtlichen Polizeidienststelle melden), wegen des<br />

angegriffenen Gesundheitszustands durch das Oberlandesgericht Köln (Az: 2Ws<br />

409/02).<br />

2003 Die Auflagen zur Haftverschonung werden im August vom Landgericht Köln<br />

aufgehoben. Der Prozess konnte, wegen des Gesundheitszustandes von Karl<br />

Wienand, einen langen Zeitraum nicht eröffnet werden.<br />

• Mit Urteil von 14. Dezember 2004 verurteilt das Kölner Landgericht Karl Wienand<br />

zu einer Haftstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Das Gericht<br />

sieht es <strong>als</strong> erwiesen an, dass der 77jährige sich der Beihilfe zur Untreue schuldig<br />

gemacht hat. Wienands Rechtsvertreter hatte am ersten Verhandlungstag eingeräumt,<br />

dieser habe eine Schwarzgeldzahlung in Höhe von nur einer Millionen Euro im<br />

Zusammenhang mit der Kölner Müllverbrennungsanlage angenommen und nicht in<br />

Höhe von 2,1 Millionen Euro, wie von der Staatsanwaltschaft behauptet. (Quelle:<br />

Wikipedia 10/2008)<br />

83


1974<br />

Lehrlinge in Deutschland: billig und ausgebeutet<br />

Nach den APO-Jahren – nun büffeln sie wieder an den Unis<br />

Bundeswehr – Bargeld, Ehre und Karriere<br />

Axel Springer: nun ade du schöne Welt<br />

Bonner Polit-Affären: „Nur Weiber im Kopf“<br />

Sturmfest und erdverwachsen – so sind die Niedersachsen<br />

Malawi – weiße Herrenmenschen oder Gelder, die im Busch verschwinden<br />

85


AUSBEUTUNG - "BRAUCHST DU EINEN BILLIGEN<br />

ARBEITSMANN, SCHAFF DIR ‘NEN LEHRLING AN" - DEN<br />

JÜNGSTEN BEIßEN DIE HUNDE.<br />

Bundesrepublik Deutschland in diesen Jahren. In vielen Unternehmen werden<br />

Auszubildende von autoritären Lehrherren quasi <strong>als</strong> Leibeigene misshandelt, <strong>als</strong> billige<br />

Arbeitskräfte missbraucht. Auf der Strecke bleibt die berufliche Bildung mit ihrem<br />

fragwürdigen "Dualen System". Dabei fehlt es überall an qualifizierten Fachkräften in<br />

diesem Land. Arbeitslos - ohne je gearbeitet oder immer nur den Boden geschrubbt, ohne<br />

je ein Schulbuch gelesen zu haben. Schon im Jahre 2015 fehlt es an 45.000 Pädagogen.<br />

Rückblicke auf eine eklatante Fehlentwicklung.<br />

stern, Hamburg 29. März 1973 / 05. Dezember 1974<br />

Lehrlings-Alltag in den siebziger Jahren. Der 18jährige Berliner Uwe Moldenhauer, der<br />

Einzelhandels-Kaufmann werden möchte, lernt bei der renommierten Feinkostfirma Gebrüder<br />

Manns. Doch statt in Betriebs- und Warenkunde ausgebildet zu werden, muss der nur 1,50 Meter<br />

große Lehrling Tag für Tag Lastwagen abladen, Warenkartons aufstellen und Bierflaschen<br />

sortieren. Moldenhauer: "Bei uns im Geschäft muss ich <strong>als</strong> Kleinster immer die schweren Kisten<br />

schleppen."<br />

Seine Kollegin Sabine Chudzinski ist nicht besser dran. Sie will Verkäuferin werden, aber<br />

mit den Kunden von Manns Ladenkette hat sie keinen Kontakt. Ihre Hauptbeschäftigungen sind<br />

Putzen ("ich muss immer unsere Teeküche sauber halten") und Lagerarbeiten. Die 17jährige erbost:<br />

"Ich bin kein Lehrling, sondern eine billige Arbeitskraft."<br />

Astrid Steckow ist Stift bei der Hamburger Conz GmbH, einer Fabrik für<br />

Elektromotoren. Ihr Berufsziel: technische Zeichnerin. Doch die 19jährige lernte nicht nur fleißig<br />

am Reißbrett. Sie kämpfte außerdem <strong>als</strong> gewählte Jugendvertreterin von 100 Lehrlingen hartnäckig<br />

für eine bessere praktische Ausbildung im Betrieb und brachte dadurch die Firmenchefs gegen sich<br />

auf. Astrid Steckow: "Die Geschäftsleitung ist ungeheuer sauer auf mich, weil ich mich für die<br />

Interessen und Probleme meiner Kollegen einsetze." Während der dreijährigen Lehrzeit hat sich die<br />

engagierte Jugendvertreterin deshalb bei ihren Lehrherren drei Verwarnungen eingehandelt. Und<br />

auf eine Weiterbeschäftigung nach Abschluss der Lehre im April 1975 kann sie nicht hoffen.<br />

Elke Kempken musste während ihrer Lehrzeit <strong>als</strong> Industriekauffrau sogar die Firma<br />

wechseln, um die Ausbildung erfolgreich abschließen zu können. Denn bei ihrem ersten Lehrherrn,<br />

der Wäschefabrik Rietz GmbH in Rheinhausen, war sie Mädchen für alles. Fast ein Jahr lang saß sie<br />

in der Telefonzentrale und erfuhr nichts über Werbung, Absatzmarkt, Verkauf, Einkauf,<br />

Werkstoffe, Bilanzen, Kosten-Kalkulationen oder Finanzbuchhaltung. Auch über das Lohnwesen<br />

und die Akkorde hörte sie nichts. Stattdessen musste sie häufig an der Bügelpresse aushelfen und<br />

die Fußböden in den Büros wischen. Die 19jährige über ihre Ausbildung: "Meinem Chef war egal,<br />

ob wir etwas lernten. Nach zwei Jahren hatte ich es satt, immer nur Hilfsarbeiterin zu sein."<br />

Auf Anraten der Industrie- und Handelskammer kündigten die Eltern das Lehrverhältnis.<br />

Bei der Thyssen Niederrhein AG in Duisburg setzte Elke Kempken die Lehre fort. Wegen<br />

mangelnder Kenntnisse musste sie allerdings das zweite Lehrjahr wiederholen. Für diesen<br />

Zeitverlust machten die Eltern die Rietz GmbH vor dem Duisburger Arbeitsgericht verantwortlich.<br />

86


Die Richter gaben Elkes Eltern recht und verurteilten die Textilfirma zur Zahlung von 8.000 Mark<br />

Schadensersatz.<br />

Doch die Auszubildenden, einst Stifte genannt, haben nur selten den Mut, die<br />

Ausbeutungsmethoden der Arbeitgeber vor Gericht zur Sprache zu bringen. Der Berliner<br />

Gewerkschaftsfunktionär Bernhard Klein: "Die Lehrlinge haben vor ihren Chefs Angst, weil ihnen<br />

Repressalien angedroht werden. Außerdem finden die wenigsten bei ihren Eltern die notwendige<br />

Unterstützung, um Konflikte im Betrieb durchstehen zu können." Die Quittung für das Stillhalten<br />

kommt am Ende der Ausbildung. So bestanden im Januar 1973 in Gütersloh im Elektrohandwerk<br />

41 Prozent der Lehrlinge die Gesellenprüfung nicht. In der Bundesrepublik fallen jährlich rund<br />

60.000 Lehrlinge durch die Abschlussprüfung.<br />

Lehrlinge sind billiger <strong>als</strong> ungelernte Arbeitskräfte. Sie verdienen zwischen 150 und 280<br />

Mark - das ist ein Drittel des Hilfsarbeiterlohns. Wie positiv das Geschäft mit den Lehrlingen für<br />

die Firmen zu Buche schlägt, ermittelte jetzt eine Sachverständigenkommission unter der Leitung<br />

des Berliner Professors und Bildungsökonomen Friedrich Edding (*1909+2002). Den<br />

Durchschnittsverdienst im Kraftfahrzeug-Handwerk und im Gaststätten-Gewerbe, bezifferte die<br />

Kommission auf 13.000 Mark während der gesamten dreijährigen Ausbildungszeit.<br />

Zwar gibt es auch Großunternehmen, die in den siebziger Jahren bis zu 25.000 Mark in<br />

die Ausbildung investieren (2002: pro Jahr 8.269 Euro), aber sie bitten dann die Verbraucher zur<br />

Kasse. Die Edding-Kommission: "Auf die Konsumenten werden die Kosten der beruflichen<br />

Bildung bei den Preisen für Güter und Dienstleistungen abgewälzt." Doch nur rund 150.000<br />

Jugendliche finden einen Platz in den Lehrwehrstätten der Großindustrie, die über moderne<br />

Maschinen und fachlich sowie pädagogisch geschulte Ausbilder verfügen.<br />

Die große Masse von insgesamt 1,3 Millionen jungen Menschen wird in Klein- und<br />

Mittelbetrieben ausgebildet, wo der Lehrlingsalltag düster aussieht. Dietrich Winterhager vom Max-<br />

Planck-Institut für Bildungsforschung in Westberlin: "Die meisten Jugendlichen werden nach<br />

Regeln ausgebildet, die zum Teil noch aus dem Zunftwesen des Mittelalters herrühren." Drei<br />

voneinander unabhängig durchgeführte wissenschaftliche Untersuchungen in verschiedenen Teilen<br />

der Bundesrepublik erhärten Winterhagers These. In der vom damaligen Mainzer CDU-<br />

Ministerpräsidenten Helmut Kohl (1969-1976) geförderten Analyse "Lehrlingausbildungs-<br />

Erwartung und Wirklichkeit" wird nachgewiesen, dass in Rheinland-Pfalz "in den handwerklichen<br />

und kaufmännischen, aber zum Teil auch in den industriellen Ausbildungsbetrieben eine den<br />

gegenwärtigen und zukünftigen Anforderungen entsprechende Ausbildung nicht gewährleistet<br />

wird."<br />

Die Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik ermittelte bei einer<br />

Meinungsumfrage bei 35.000 Lehrlingen der Hansestadt:<br />

• Nur 36 Prozent der Lehrlinge werden von einem Ausbilder betreut, die restlichen 64<br />

Prozent werden von Gesellen, Lehrlingen und Hilfsarbeitern angeleitet, oder sie<br />

bleiben sich selbst überlassen.<br />

• Nur 31 Prozent der gewerblichen Lehrlinge haben im Betrieb einen Ausbildungsplan.<br />

• 73 Prozent der Lehrlinge werden im alltäglichen Produktionsprozess beschäftigt.<br />

87


• 30 Prozent der Lehrlinge, die in Akkordabteilungen tätig sind, arbeiten selber im<br />

Akkord. Und das Kölner Institut für Sozialökonomische Strukturforschung stellte bei<br />

einer Überprüfung der Verhältnisse in Nordrhein-Westfalen und Hessen fest:<br />

• Die wöchentliche Arbeitszeit liegt bei 40 Prozent der Lehrlinge über 40 Stunden,<br />

davon bei jedem vierten sogar über 43 Stunden.<br />

• 63 Prozent der Auszubildenden werden von ihren Lehrherren <strong>als</strong> Boten, Putzhilfen,<br />

Lastträger und Kaffeeköche missbraucht.<br />

• 56 Prozent der Stifte hatten im dritten Lehrjahr noch keine Zwischenprüfung<br />

abgelegt.<br />

Bisher hat der Staat dem Missbrauch, der mit den Lehrlingen getrieben wird, tatenlos<br />

zugesehen. Zwar dürfen nach dem Jugendarbeitschutz-Gesetz Stifte zwischen 14 und 16 Jahren<br />

nicht mehr <strong>als</strong> 40 Stunden, über 16 Jahren nicht mehr <strong>als</strong> 44 Stunden in der Woche arbeiten, doch<br />

die Vorschriften werden von den Firmenchefs nur selten eingehalten. In den vergangenen fünf<br />

Jahren wurden über 300.000 Verstöße gegen das Jugendarbeitschutz-Gesetz registriert. Aber schon<br />

die Missachtung des Gesetzes ist weitestgehend ungefährlich. Im gesamten Bundesgebiet stehen<br />

lediglich 500 Beamte zur Verfügung, um Vergehen zu ahnden. Die Folge: Nur 4,1 Prozent der<br />

Gesetzesverstöße können aufgeklärt werden. Die restlichen 95,5 Prozent bleiben folgenlos.<br />

Im Jahre 1969 versuchte der Gesetzgeber zum ersten Mal, die betriebliche Ausbildung<br />

durch das Berufsbildungsgesetz zu bessern. Nach dem Reformmodell mussten die Ausbilder<br />

persönlich und fachlich für ihre Lehraufgaben geeignet sein, die Betriebe einen zeitlich gegliederten<br />

Ausbildungsplan haben und die Lehrlinge über ihr Berufsbild eingehend informiert werden. Vier<br />

Jahre später gibt Bundeswissenschaftsminister Klaus von Dohnanyi (1972-1974) offen zu: "Das<br />

Berufsbildungsgesetz ist in zahlreichen Fällen nicht oder nicht seinem Sinn und Zweck<br />

entsprechend angewendet worden."<br />

Neben der betrieblichen Ausbildung ist der Unterricht an den deutschen Berufsschulen<br />

ins Feuer der Kritik geraten. Der Hochschullehrer Wolfgang Lempert (Projektleiter am Berliner<br />

Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung 1964-1995): "Die Berufsschule ist ein Feigenblatt, mit<br />

dem die pädagogische Benachteiligung der meisten Lehrlinge nur notdürftig verdeckt wird." Das<br />

Hauptübel ist der erdrückende Lehrermangel. In der Bundesrepublik sind 15.000 Planstellen<br />

unbesetzt. Und die Personal-Prognosen sehen alles andere <strong>als</strong> optimistisch aus.<br />

Anno 1998 unterrichteten in Deutschland 110.000 Berufsschullehrer. Weit über 4.000<br />

Planstellen blieben unbesetzt. Für das Jahr 2015 klafft die Ausbildungslücke noch bedrohlicher<br />

auseinander. Da dürften nach zuverlässigen Hochrechnungen <strong>als</strong>bald 45.000 Pädagogen an Berufs-,<br />

Real- und Hauptschulen fehlen. Groteskes aus Deutschland. - Es ist vornehmlich ein vielerorts<br />

grassierender Personalmangel, der der wirtschaftlichen Leistungskraft dieser Export-Nation auf<br />

hintere Plätze verweisen könnte. Vom Maschinenbau über die Informationstechnik bis hin zur<br />

Autoindustrie - überall fehlt es an Ingenieuren, Naturwissenschaftler, Technikern. In klassischen<br />

Berufsfeldern wie etwa Dreher, Flugzeugtechniker oder auch Schweißer weist die<br />

Arbeitsmarktstatistik oft doppelt so viele freie Stellen aus wie Bewerber. Insbesondere bei den<br />

Ausbildungsplätzen übersteigt neuerdings die Zahl der offenen Stellen wieder die der<br />

Schulabgänger. Nach Erhebungen des Instituts verursacht der Personal-Mangel jährlich<br />

Wertschöpfungsdefizite von 28 Milliarden Euro. Konsequenzen? Im Gegenteil.<br />

88


So sind die dringend erforderlichen Bildungsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt<br />

innerhalb eines Jahrzehnts von 5.4 auf 5.1 Prozent gesunken. Und auch dies: In kaum einer<br />

anderen Nation diktiert die Herkunft eines Kindes so prägend seinen künftigen Lebensweg wie in<br />

Deutschland. Dieses Land leistet sich - noch - den "Luxus", jedes Jahr acht Prozent seiner<br />

Jugendlichen ohne Abschluss, ohne Perspektive sich orientierungslos selbst zu überlassen -<br />

irgendwo bei irgendwem mal "einzuparken". - "Deutschland verliert an Boden", befand die OECD<br />

(Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Sitz Paris).<br />

Zur mittlerweile Jahrzehnte alten Berufsschulmisere gehörte außerdem, dass sorgsam<br />

aufbewahrte Lehrbücher mittlerweile veralten - die Pädagogen überaltert sind. In den Schulfibeln<br />

wurde das Berufsleben der 50er Jahre beschrieben - technologische Neuerungen oder gar<br />

gesellschaftspolitische Probleme wie etwa die Mitbestimmung am Arbeitsplatz blieben über<br />

langanhaltende Epochen einfach unerwähnt. Die Kenntnisse der zumeist über 45jährigen<br />

Pädagogen sind weit über 20 Jahre alt. Sie stammen aus der Ära, <strong>als</strong> die Lehrer die eigene<br />

Ausbildung beendeten. Fortbildung, Weiterbildung: Fehlanzeige. Zudem glauben fast 60 Prozent<br />

der Jugendlichen, dass sie mit dem in der Berufsschule erworbenen Wissensstand in der modernen<br />

Berufspraxis nicht bestehen können. Sie fordern deshalb eine stärkere Berufsbezogenheit der<br />

Unterrichtsfächer, mehr Mathematik, Fremdsprachen und politische Bildung.<br />

Nachdem die Berufsausbildung zwei Jahrzehnte vernachlässigt worden ist, will die<br />

sozialliberale Bundesregierung (1969-1982) die Reform jetzt vorantreiben. Als Erstes muss dabei<br />

die Monopolstellung der 81 Industrie- und Handelskammern sowie der 45 Handwerkskammern bei<br />

der Lehrlings-Ausbildung abgebaut werden. Denn noch bestellen und kontrollieren allein die<br />

Wirtschaftsverbände die Ausbilder. Und diese Machtposition wollen die Arbeitgeber nicht räumen.<br />

Das Berufsbildungs-Kuratorium der deutschen Wirtschaft: Die Unternehmer werden "alle<br />

Reformen und Verbesserungen der beruflichen Bildung unterstützen, solange ihre Verantwortung<br />

nicht angetastet wird."<br />

Auch die Oppositionsparteien CDU und CSU wollen den Einfluss der Arbeitgeber-<br />

Organisationen auf ein Mindestmaß reduzieren und den Industrie- und Handwerkskammern die<br />

Kontrollfunktion über die Ausbildung in den Betrieben entziehen, Für die Union fordert der<br />

stellvertretende Fraktionsvorsitzende Hans Katzer (1969-1979; *1919 +1996): "Bis 1975 müssen<br />

75.000 öffentlich kontrollierte Lehrwerkplätze geschaffen werden, so dass jeder Lehrling ein<br />

Vierteljahr in einer überbetrieblichen Institution ausgebildet werden kann." Kosten des Katzer-<br />

Plans: 2,25 Milliarden Mark.<br />

Fred Zander, Parlamentarischer Staatssekretär (1972-1974) im zuständigen<br />

Wissenschaftsministerium, will noch einen Schritt weiter gehen. Nach seiner Meinung kann in<br />

Zukunft allein der Staat die Ausbildungsinhalte und die Lehrziele bestimmen. Ihm allein soll es<br />

vorbehalten bleiben, die Verwirklichung dieser Qualifikationsziele in den Betrieben zu überwachen.<br />

Fred Zander, der vor 20 Jahren bei der Kölner Filiale des Volkswagenwerks eine Lehre <strong>als</strong><br />

Kraftfahrzeugschlosser absolviert hat: "Wenn die Wirtschaft das <strong>als</strong> eine Machtfrage ansieht, dann<br />

ist das ihr Problem. So geht es jedenfalls nicht weiter."<br />

Ein ausgeklügeltes Reformkonzept hat der Staatssekretär noch nicht, aber er will bei der<br />

geplanten Reform Vorschläge des Deutschen Bildungsrates aufgreifen, in denen gefordert wird:<br />

• eine berufspädagogische Ausbildung (mindestens 200 Unterrichtsstunden) für<br />

hauptberufliche Ausbilder;<br />

89


• eine mindestens sechsmonatige Grundausbildung für alle Lehrlinge;<br />

• wöchentlich nicht weniger <strong>als</strong> zwölf Stunden Berufsschul-Unterricht;<br />

• individuelle Förderung für über- und unterdurchschnittlich begabte Jugendliche; eine<br />

verstärkte Überprüfung der Einhaltung gesetzlicher Ausbildungsvorschriften.<br />

Sicher ist außerdem: Das Schwergewicht der Berufsausbildung soll von den Betrieben auf<br />

die Schulen übergehen. Zanders Motto: "Mehr Kopfarbeit und weniger Handwerk." Die<br />

angestrebte Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung in den Gesamtschulen kostet<br />

allerdings 30 Milliarden Mark und verlangt rund 280.000 Fachlehrer. Doch die Staatskassen sind<br />

leer. Und bisher gibt es nur 39.000 Berufsschul-Pädagogen im gesamten Bundesgebiet.<br />

Einen Ausweg aus der Sackgasse hat der Deutsche Bildungsrat schon 1969 gewiesen. Er<br />

will die Betriebe zur Kasse bitten. Sie sollen "Ausbildungsabgaben" in einen gemeinsamen Fonds<br />

einzahlen, aus dem dann Firmen, "die Lehrlinge in entsprechender Qualität ausbilden", Zuschüsse<br />

erhalten würden. Die Wirtschaftsverbände lehnen diesen Plan ab. Sie wollen nur Geld locker<br />

machen, wenn sie auch den Ausbildungsablauf bestimmen können. Hermann F. Sack, Lehrlings-<br />

Experte beim Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT): "Die meisten haben sonst keine Lust<br />

mehr, Lehrlinge auszubilden. Denn dann würden die Ho-Chi-Minh-Schreier (*1890+1969;<br />

Präsident der Demokratischen Republik Vietnam 1955-1969) Oberwasser bekommen."<br />

Trotz des massiven Widerstandes aus dem Untenehmerlager will Fred Zander den Kampf<br />

um eine bessere Lehrlingsausbildung nicht aufgeben. Der Staatssekretär: "Erst wenn ich gar keine<br />

Chance zur Reform mehr sehe, würde ich mein Amt niederlegen." - Keine 14 Monate später wurde<br />

Zander von seinen Aufgaben entbunden.<br />

Kinder dieser Zeit zu sein bedeutet: die Jugendlichen leben in einer scheinbar perfekt<br />

organisierten Gesellschaft, die durch technokratische Wirtschafts- und Verwaltungsabläufe den<br />

Menschen total in Griff nimmt. Kinder dieser Zeit zu sein heißt aber auch: Die einst <strong>als</strong><br />

unumstößlich angesehenen Fundamente der bundesdeutschen Nachkriegs-Gesellschaft sind<br />

brüchig geworden. Brüchig deshalb, weil die Normen und Werte nicht mehr stimmen. Die<br />

Jahrzehnte lang vorherrschende Formel: Leistung bringt Wachstum und garantiert Wohlstand, wird<br />

von immer mehr Menschen radikal in Frage gestellt. Die Norm Leistungsbereitschaft, durch<br />

Elternhaus und Schule den Jugendlichen vermittelt, ist schon seit lange instabil geworden. Ein<br />

großer Teil der jungen Generation übernimmt die traditionellen Werte nicht mehr. Das<br />

Leistungsprinzip, mit dem jeder bisher künftige Erfolge und künftige Gratifikationen verknüpfte,<br />

stellt sich zunehmend stärker <strong>als</strong> Sackgasse heraus. Die vor allem in Mittelschichten vertretene<br />

Ansicht, Wohlverhalten, Disziplin und Verzicht werden sich später auszahlen, hat sich <strong>als</strong> nicht<br />

mehr stichhaltig erwiesen.<br />

Das Institut für Demoskopie Allensbach ermittelte im Jahre 1979, wovor sich die<br />

Jugendlichen am meisten fürchten.<br />

• Dass sie nicht den Beruf ergreifen können, den sie möchten (73 Prozent).<br />

• Dass viele von ihnen arbeitslos sein werden (70 Prozent).<br />

• Dass man oft keinen Sinn im Leben findet (40 Prozent).<br />

• Dass man nicht so leben kann, wie man gerne möchte (40 Prozent).<br />

90


• Dass oft mehr von einem erwartet wird, <strong>als</strong> man leisten kann (39 Prozent).<br />

• Dass viele durch Drogen gefährdet sind (37 Prozent).<br />

Eben - die Erosion dieser Jahre: Ein Hauptschulabschluss ist keine Garantie mehr für eine<br />

Lehre, ein Abitur nicht mehr für ein Studium, ein akademisches Examen bedeutet schon lange<br />

nicht mehr Tantieme und Vorstandsposten. Die traditionellen Werte, wonach auf Leistung und<br />

Tüchtigkeit eine Prämie stünde, haben heute keine reale Grundlage mehr. Das merken am stärksten<br />

die Jugendlichen, weil sie immer noch mit althergebrachten Erziehungsidealen konfrontiert werden.<br />

Die Maxime "Ruhe, Ordnung, Sauberkeit, Befehl und Gehorsam" garantiere Leistung und Erfolg,<br />

hat in Wirklichkeit zu einem schleichenden Selbstwertverlust geführt - und zwar nicht nur bei den<br />

Jugendlichen, sondern auch unter den Erwachsenen.<br />

Szenenwechsel - Schauplätze des schleichenden Selbstwert-Verlustes ist beispielsweise die<br />

Dortmunder Gewerbliche Berufsschule III, genauer gesagt, die so genannten "Jungarbeiter-<br />

Klassen", in denen Hilfsarbeiter und Arbeitslose zusammengefasst werden. Dabei schien für den<br />

Volksschüler Detlef Sorga eigentlich alles klar: Er wollte Fernmeldetechniker werden. Mit seinem<br />

qualifizierten Hauptschulabschluss nach dem freiwilligen 10. Schuljahr glaubte der Dortmunder<br />

Bergmannssohn sich einer Lehrstelle sicher zu sein.<br />

Detlef täuschte sich. Nach der Schule fand der 16jährige weder eine Ausbildungsstelle<br />

noch einen Hilfsarbeiterjob. Alltag in Deutschland.<br />

Sein Klassenkamerad Wolfgang Weber, 16, will technischer Zeichner werden. Der<br />

Kranführersohn fand keine Lehrstelle und ist seit vier Monaten arbeitslos. Ulrich Schotte, 16, will<br />

Schlosser werden. Auch er hat keine Lehrstelle. Er ist schon vor einem Jahr nach der 9. Klasse von<br />

der Volksschule abgegangen und ist seit sechs Monaten arbeitslos. Der Sohn eines Hoesch-<br />

Arbeiters bekommt 24,50 Mark Arbeitslosengeld die Woche, weil er inzwischen knapp ein Jahr <strong>als</strong><br />

Hilfsarbeiter auf der Zeche gearbeitet hat.<br />

Drei von den vielen Arbeitslosen Dortmunder fünfzehn- bis sechszehnjährigen<br />

Jugendlichen dürfen nur alle zwei Wochen in der Gewerblichen Berufsschule III die Schulbank<br />

drücken. In den "Jungarbeiterklassen", in denen Hilfsarbeiter und Arbeitslose zusammengefasst<br />

sind. Alle vierzehn Tage sechs Stunden: Deutsch, Rechnen, Religion. Vielen ist die Berufsschule<br />

gleichgültig. Oft sind die Klassen nur halb besetzt. Manche Schüler hat Studiendirektor Major<br />

überhaupt noch nicht gesehen. "Was will ich denn machen", fragt er, "Jobs habe ich auch keine.<br />

Dass die Jungs da keine Lust haben und aggressiv werden, kann ich verstehen."<br />

Die meisten von ihnen sind arbeitslos, ohne jem<strong>als</strong> gearbeitet zu haben. Wie Detlef Sorga.<br />

Seit vier Monaten ist er auf Stellensuche. Jeden Morgen blättert der Junge in den Anzeigenteilen der<br />

Lokalzeitungen oder fragt beim Arbeitsamt nach Gelegenheitsbeschäftigungen. Niemand weiß,<br />

wann für den Brillenträger Sorga mit dem Nichtstun Schluss ist, in einem Monat oder auch in<br />

einem Jahr. So lungert er tagsüber auf der Straße herum, spielt Fußball, flippert in Spielhallen. Von<br />

den Eltern kriegt er zehn Mark Taschengeld die Woche. Arbeitslosengeld bekommt er nicht.<br />

Darauf hat nur Anspruch, wer mindestens sechs Monate ununterbrochen gearbeitet hat. Manche<br />

seiner Leidensgenossen warten schon am frühen Nachmittag auf Einlass ins "Island", eine<br />

Diskothek in der Dortmunder Bahnhofsgegend, wo Nutten und Zuhälter den Ton angeben.<br />

Mit der Jugendarbeitslosigkeit im Ruhrgebiet ist für Gerhard Ahl, Chef des Dortmunder<br />

Arbeitsamtes, "eine Lage entstanden, die es noch nie gegeben hat". Allein in Nordrhein-Westfalen<br />

bemühten sich im Jahr 1974 insgesamt 74.000 Jugendliche vergebens um eine Lehrstelle. Doch<br />

91


nicht nur im Kohlenpott, sondern im ganzen Bundesgebiet sind Ausbildungsplätze rar geworden.<br />

Gab es in Industrie und Handwerk noch 1969 rund 640.000 Lehrstellen, so sank die Zahl bis 1972<br />

auf 340.00. Und seit 1985 bis ins Jahr 2.000 stieg die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen in<br />

Deutschland von 6,1 Prozent konstant auf 8,0 Prozent.<br />

Und das in einer Republik, in der es spätestens ab dem Jahr 2010 überall an Facharbeitern<br />

mangelt. Sinkende Geburtenraten, steigende Lebenserwartungen werden <strong>als</strong> Gründe dafür genannt.<br />

Diese Entwicklung wird sich überdeutlich bei den Jugendlichen bemerkbar machen. In der<br />

Tendenz dieser Jahre werden Jüngere immer weniger, die Älteren zunehmend mehr. Trotz<br />

fortwährender Arbeitslosigkeit ist ein Fachkräftemangel bereits absehbar. Dort, wo Bildungsplan<br />

und Schüler-Bedarfsberechnungen künftiger Generationen zwingend erforderlich sind, überlassen<br />

in Deutschland der Bund mit seinen 16 Ländern in letzter Konsequenz die Befähigung junger<br />

Menschen dem freien Spiel der Kräfte, Angebot und Nachfrage, Konjunktur oder Rezession<br />

entscheiden über Bildungsniveau wie auch berufliche Qualifikation. Das Grundrecht auf Bildung,<br />

auf Ausbildung ist längst ausgedünnt worden - wird zunehmend zur Makulatur früherer Jahre.<br />

Hinzu kommt, dass sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in manchen Branchen<br />

gravierende Strukturkrisen klassischer volkswirtschaftlicher Kernbereiche offenbarten. Das hat<br />

viele Gründe, die da wären:<br />

• Strukturkrisen und Anpassungszwänge wie in der Bauwirtschaft, in der Automobil-,<br />

Textil- und Schuhindustrie;<br />

• Rationalisierungen in Industrie und Handel. Seit 1965 verringerten sich die<br />

Arbeitsplätze für Verkäuferinnen bereits um 80.000, weil immer mehr<br />

Selbstbedienungsläden eingerichtet wurden;<br />

• außerdem haben Industrie, Handel und Handwerk, die jahrelang über<br />

Nachwuchssorgen klagten, wegen der geplanten Berufsbildungsreform der<br />

sozialliberalen Koalition von sich aus das Lehrstellenangebot reduziert. Otto Wolff<br />

von Amerongen (*1918 +2007), Präsident des Deutschen Industrie- und<br />

Handelstages (1969-1988): "Wenn die Berufsausbildung total verschult und der<br />

Betrieb zu einem Restfaktor der Ausbildung degradiert wird, übernehmen wir keine<br />

Verantwortung mehr."<br />

Die Folgen: In der Bundesrepublik hatten 1974 rund 200.000 Jugendliche zwischen 15<br />

und 21 Jahren weder Lehrstelle noch Aushilfsjob. Mittlerweile sind mehr <strong>als</strong> drei Jahrzehnte<br />

vergangen: nur die Situation Jugendlicher auf dem deutschen Arbeitsmarkt, ihre berufliche<br />

Ausbildungschancen, die haben sich nicht verbessert, sondern verschlechtert. Die Zahlen für das<br />

Jahr 2008: Von den insgesamt 620.000 gemeldeten BewerberInnen fanden nur 292.130 direkt einen<br />

Ausbildungsplatz. Etwa weniger <strong>als</strong> die Hälfte eines Jahrgangs (241.750) suchten sich<br />

notgedrungenerweise eine andere Alternative, etwa Jobben, Grundwehr- oder Zivildienst, Praktika.<br />

Zudem wurden 81.500 junge Menschen in spezielle ausbildungsvorbereitende Maßnahmen<br />

"geparkt". Bilanz dieses Jahres in einer Ära des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland:<br />

Nach offizieller Lesart der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit hingegen blieben lediglich 14.500<br />

Jugendliche chancenlos draußen vor der Tür, ohne einen Ausbildungsplatz, ohne die Möglichkeit<br />

einer noch so kleinen Qualifikation auf der Strecke. Arbeitslos ist demnach nur jener, der nach<br />

einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachsucht. Die Mehrheit von über Hunderttausenden<br />

Jugendlicher hingegen wird von derlei beschönigten Statistiken gar nicht mehr erfasst - fällt durchs<br />

Raster.<br />

92


Denn in der allgemeinen Wirtschaftsflaute haben die Schulabgänger nicht einmal <strong>als</strong><br />

Hilfsarbeiter eine Chance. Nach dem Prinzip. "Den Jüngsten beißen die Hunde" feuern<br />

Unternehmer zunächst ihre Jungarbeiter. Waren sie noch nicht länger <strong>als</strong> sechs Monate im Betrieb,<br />

haben sie nicht einmal Kündigungsschutz. Am schwersten haben es die körperlich noch etwa<br />

Zurückgebliebenen und vor allem die Sonderschüler und Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss.<br />

Um wenigstens einen Teil der arbeitslosen Jungen und Mädchen von der Straße runterzuholen,<br />

organisierten das Arbeitsamt und die Dortmunder Bergbau AG eine Beschäftigungstherapie. Am<br />

Stadtrand von Dortmund, in der stillgelegten Zeche Zollern II, dürfen sie acht Stunden am Tag<br />

hämmern, meißeln, feilen, malen, backen und kochen - eben Arbeit "spielen",<br />

notgedrungenerweise.<br />

Die Teilnehmer an diesem "Gemeinschaftslehrgang zur Erlangung der Berufsreife"<br />

bekommen monatlich 300 Mark Ausbildungsbeihilfe. Sie tragen gelbe Schutzhelme mit roten<br />

Mittelstreifen. Für den Lehrgangsleiter Fritz Greifenstein ist der rote Streifen das<br />

Erkennungszeichen "der Jugendlichen vom Arbeitsamt". Die Lehrlinge und Praktikanten der<br />

Bergbau AG auf demselben Gelände haben gelbe und grüne Helme. Nach einem Jahr sollen die<br />

Lehrgangsteilnehmer einen Job bekommen. Fritz Greifenstein fürchtet jedoch, dass für mindestens<br />

fünfzig Prozent jedes Lehrgangs (150 Teilnehmer) die verrußte Zeche für lange Zeit die einzige<br />

"Arbeitsstelle" bleiben wird. weil die Wirtschaft für sie keine Verwendung hat.<br />

Die Berufsberaterin Katharina Torbeck konstatiert mit realistisch Blick: "Unsere Kurse<br />

sind natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein, zumal die Jugendarbeitslosigkeit in diesen<br />

Jahren so stark aufgetreten ist." Die Lage wird nämlich noch dadurch erschwert, dass jetzt auch die<br />

Gymnasiasten mit den Haupt- und Re<strong>als</strong>chülern um die wenigen Lehrstellen konkurrieren. Durch<br />

den Numerus clausus an den Universitäten kommen 1974 rund 43.000 Abiturienten nicht zum<br />

Studieren. Zwar ist die Bereitschaft, ein Studium zu beginnen, noch wie vor hoch. Gleichwohl geht<br />

die Studierneigung schon seit einigen Jahren stetig zurück. Von 100 Abiturienten entschieden sich<br />

2002 noch 73 für den Hörsaal. Zwei Jahre später waren es nur noch 71 - und 2006 wollten gar nur<br />

noch 65 Prozent der Abiturienten an die Uni.<br />

Vielen Jugendlichen ist die Wartezeit auf einen Studienplatz zu lang und zu riskant.<br />

Deshalb drängen sie in attraktive Lehrberufe im Bankgewerbe und in der kaufmännischen Branche;<br />

den Re<strong>als</strong>chülern und den guten Hauptschülern nehmen sie die Plätze weg. Eberhard Mann,<br />

Pressesprecher der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg: "Dieser Trend lässt sich nicht aufhalten.<br />

Jeder Betrieb sucht sich natürlich die qualifiziertesten Leute aus." Damit wollte der einstige, lang<br />

vergessene Bundeswissenschaftsminister Helmut Rohde Schluss machen mit der Bevorzugung der<br />

Universitäten und die Stiefkinder der Bildungspolitik aus dem Keller holen. Seinerzeit verkündete<br />

Helmut Rohde lauth<strong>als</strong>: "Für mich hat die berufliche Bildung absoluten Vorrang."<br />

Zukunftsvisionen wurden diskutiert. Sie blieben papierene Skizzen, die nicht einmal den<br />

Hauch einer Chance auf Verwirklichung hatten. Bis 1978 wollte der Sozialdemokrat für die<br />

berufliche Bildung seiner Lehrling 400 Millionen Mark mobilisieren. Weil aber weder die Länder<br />

noch der Bund diese Mittel aufbringen können, sollen die Betriebe zur Kasse gebeten werden und<br />

Pflichtbeiträge in einen gemeinsamen Fonds für überbetriebliche Ausbildungsplätze einzahlen. Die<br />

Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung will bis 1978 angeblich mindestens 50.000<br />

überbetrieblich Ausbildungsplätze schaffen. -Ehrgeizige Pläne.<br />

Doch schon nach sieben Monaten Amtszeit droht Helmut Rohde (1974-1978) wie sein<br />

Vorgänger Klaus von Dohnanyi (1972-1974) <strong>als</strong> Wissenschaftsminister zu scheitern. Die<br />

Spitzenorganisationen der deutschen Wirtschaft, allen voran der Deutsche Industrie- und<br />

93


Handelstag und FDP-Wirtschaftsminister Hans Friderichs (1972-1977) , kündigten bockigen<br />

Widerstand gegen Rohdes Projekt an. Die Unternehmer wollen keine "Ausbildungssteuer" zahlen.<br />

Und der wirtschaftsliberale Friderichs möchte vor den nächsten Wahlen keinen Streit mit der<br />

Industrie riskieren. Zudem hält Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-1982), Reformen, die die<br />

Industrie belasten, ohnehin für nicht mehr realisierbar.<br />

Bildungsplaner in Bonn und in den Länderministerien fürchten aus gutem Grund, dass die<br />

Jugendarbeitslosigkeit eher zu- <strong>als</strong> abnimmt. In den folgenden Jahren drängen die<br />

geburtenstärksten Jahrgänge seit 1945 in den Beruf. Dann müssen bis zu 70.000 Jugendliche<br />

jährlich mehr <strong>als</strong> heute untergebracht werden. Nur - die Bundesanstalt für Arbeit, die sich nunmehr<br />

mit dem Beinamen einer Agentur schmückt, will diesen über Jahrzehnte pochenden Notstand nicht<br />

wahrhaben. Ihr Pressesprecher Eberhard Mann beschwichtigend: "Jugendarbeitslosigkeit gibt es in<br />

der Bundesrepublik nicht."<br />

94


NACH DEN APO-JAHREN - NUN BÜFFELN SIE WIEDER -<br />

DER EINZELNE KANN HIER KAPUTT GEHEN<br />

Kampf um Reformen, Kampf für eine neue Gesellschaft, für Gerechtigkeit und<br />

Chancengleichheit - das war gestern. Studieren in den siebziger Jahren an den deutschen<br />

Universitäten, das heißt: Kampf um den Platz im Hörsaal, Geldverdienen, weil die<br />

Studienbeihilfe - BAföG genannt -nicht reicht, Zittern um Zensuren, Angst vor Examen,<br />

vor den schlechten Berufsaussichten vielerorts. Denn es gibt zu viele Studenten.<br />

stern, Hamburg 05. Dezember 1974<br />

Seit drei Jahren lebt der Psychologiestudent Jochen Hahne in Zimmer 2223 des Gustav-<br />

Radbruch-Hauses, dem Hamburger Studentenheim der Arbeiterwohlfahrt. Wenn der 26jährige<br />

Beamtensohn aus Dortmund sich mitten in seine Bude hockt, kann er mit den Armen Bett,<br />

Schreibtisch und Bücherbord erreichen. Will Jochen Hahne vom Flur aus telefonieren, meldet er<br />

sich bei der Zentrale nicht mit Namen. Er sagt seine Nummer 2223. Jeder im Gustav-Radbruch-<br />

Haus hat seine Identifikationszahl. Er ist eine Nummer. Wenn ein Kommilitone Hahne besuchen<br />

will und beim Empfang nach Hahne fragt, zuckt der Pförtner nur die Achsel. Erst wer nach<br />

Nummer 2223 fragt, erhält die Antwort: "Dritter Stock, vierte Tür links."<br />

Fast jede Woche bekommt Jochen Hahne in Zimmer 2223 den berüchtigten<br />

"Heimkoller". Dann will er seine Bücher in die Ecke knallen, das Studium abbrechen und sich<br />

einen Job suchen. Doch immer fügt er sich: Als Examenskandidat im 14. Semester muss er noch<br />

ein Jahr für die Diplomarbeit pauken. Er bleibt an seine 10 Quadratmeter kleine Bude gekettet, in<br />

die er keine Ordnung bringt. Dicke Schwarten liegen kreuz und quer herum, Zigarettenkippen<br />

quellen aus den Aschenbechern, klebrige Teetassen stehen auf dem Tisch. Wenn Nummer 2223<br />

über die Türschwelle tritt, steht er auf einem vierzig Meter langen und 1,20 Meter breiten Flur. Die<br />

Wände sind blau oder weiß getüncht. 36 Buden sind auf jedem Flur aneinandergereiht. Das Haus<br />

ist zwölf Etagen hoch. - Lernfabrik.<br />

"Der Einzelne", sagt Hahne, "kann hier kaputtgehen, ohne dass irgendjemand es<br />

registriert. Hier kümmert sich keiner um den anderen." In solch einem Klima dieser Jahre entstand<br />

der studentische Sponti-Spruch: "Ich gehe kaputt, gehst du mit?" Die 23jährige Politikstudentin<br />

Christiane Berndt vom selben Stockwerk berichtet: "Diese Isolation ist unerträglich. Es ist die<br />

gemeinsam erlebte Einsamkeit. Viele fangen an zu saufen oder nehmen Tabletten. Immer wieder<br />

gibt's nachts Schlägereien. Manchmal sind die Leute so aggressiv, dass sie mit Flaschen aufeinander<br />

einschlagen."<br />

In der Uni heißt das Gustav-Radbruch-Haus "Studenten-Silo". Wie viele Hochschüler in<br />

der größten Studentenherberge der Bundesrepublik wohnen, weiß niemand genau. "Für 503 ist ein<br />

Zimmer da. Aber es können 700 oder 800 Leute hier leben. Niemand kann das kontrollieren", sagt<br />

Hausverwalter Söhnke Hansen. Krawalle im Heim steht Hansen ratlos gegenüber. "Was soll ich<br />

machen? Ich habe bisher kaum die Polizei geholt. Sie kann die Konflikte auch nicht lösen. Das<br />

Problem ist die Vermassung der Uni. Kaum jemand kennt den anderen. Das schafft Aggressionen."<br />

Im Wintersemester 1974/75 sind an Hochschulen der Bundesrepublik 780.000 Studenten<br />

immatrikuliert - 50 Prozent mehr <strong>als</strong> 1970 und 170 Prozent mehr <strong>als</strong> 1960. "Der Andrang und die<br />

Zulassungsbeschränkungen", berichtet die Hamburger Studenten-Beraterin Ursula Lindig, "haben<br />

die Einstellung der 18jährigen zum Studium und das Klima an den Hochschulen total verändert."<br />

95


Die einst rebellierende akademische Jugend, die sich noch Ende der sechziger Jahre in<br />

Berlin, Frankfurt, München, Hannover, Heidelberg mit der Polizei Straßenschlachten lieferte - mal<br />

wegen Nulltarif, mal wegen Vietnam, mal wegen Springer - hat heute keine Nachfolger. Aus den<br />

früheren Hochburgen der "Gesellschaftserneuerung" sind Lernfabriken geworden. Statt<br />

revolutionärer Theorien wird Mathematik gepaukt. Doch auch der romantische Studententyp mit<br />

Wichs, Paukboden und Saufgelagen stirbt aus. Die Traditionsstädte Heidelberg oder Tübingen<br />

unterscheiden sich kaum noch von den in Beton gegossenen Neugründungen in Bochum oder<br />

Bremen.<br />

Ursula Lindig nennt den Grund dieser Entwicklung: "Die Jugendlichen sind nicht mehr so<br />

selbstbewusst wie vor acht Jahren. Der Numerus clausus hat sie mit einem Schlag diszipliniert und<br />

zu Strebern gemacht." Konnte noch Ende der sechziger Jahre jeder Abiturient studieren, was und<br />

wo er wollte, so entscheidet heute allein die Durchschnittsnote des Abiturzeugnisses, ob der<br />

Jugendliche zur Hochschule zugelassen wird. Im Wintersemester 1975/75 reicht der Grenzwert<br />

von 1,6 (Medizin) über 2,3 (Architektur) bis zu 3,4 Punkten für das Studienfach<br />

Lebensmittelkunde. Stärker <strong>als</strong> früher sind heute die Gymnasiasten von den Zensuren ihrer Lehrer<br />

abhängig. Schon eine Notendifferenz von 0,1 kann darüber entscheiden, ob der Pennäler zum<br />

Beispiel Elektronik studieren darf oder zum Arbeitsamt laufen muss. Dann muss er drei, manchmal<br />

fünf Jahre warten, bis ihm ein Studienplatz zugewiesen wird.<br />

Da der soziale Aufstieg in Deutschland fast nur über ein Universitätsstudium möglich ist,<br />

wird schon jeder Abiturient zum Einzelkämpfer, der sich von den Klassenkameraden isoliert. Die<br />

Konsequenz : Unter den Primanern ist Gruppenarbeit, wie sie die Oberstufenreform anstrebt,<br />

nicht gefragt; es zählen Einzelleistungen, die für den Lehrer ersichtlich sind. In den<br />

Wahlpflichtfächern suchen sich die Schüler nicht die Sachgebiete aus, die sie interessieren, sondern<br />

wegen der alles entscheidenden Durchschnittsnote die einfachsten oder jene, in denen sie sich der<br />

Sympathie des Pädagogen gewiss sind.<br />

Die totale Anpassung der Jugendlichen an ihre Lehrer wertet die FDP-Bildungsexpertin<br />

Hildegard Hamm-Brücher (Staatssekretärin in Wiesbaden und im Bundesministerium für Bildung<br />

und Wissenschaft 1967-1972) <strong>als</strong> einen kapitalen Rückschlag in der Schulpolitik: "Innerhalb<br />

weniger Jahre können damit auch die bescheidensten Ansätze für ein chancengerechtes<br />

Bildungssystem zunichte gemacht werden." Zum Wintersemester 1974/75 wurden 43.300<br />

Abiturienten von der Zentr<strong>als</strong>telle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) in Dortmund<br />

abgewiesen. Lediglich 21.700 schaffen den direkt Sprung zur Uni.<br />

Nach dem Motto: "Ich muss hier durch, ich muss meine Scheine machen", übertragen die<br />

meisten ihren gedrillten schulischen Ehrgeiz auf die Universität. Wahllos belegen die künftigen<br />

Akademiker Fächer-Kombinationen. Kaum einer weiß genau, ob das ausgesuchte Sachgebiet für<br />

den späteren Beruf wichtig ist. Eine Umfrage zeigt : 66 Prozent erklärten, in der Schule nicht<br />

ausreichend über Studienmöglichkeiten und -bedingungen informiert worden zu sein. Und 33<br />

Prozent der Erstsemestler hatten sich erst nach dem Abitur für ein Studienfach entschieden. So<br />

irren die 18jährigen Uni-Neulinge "wie aufgescheuchte Kaninchen zwischen Studentenheim und<br />

Hörsaal hin und her", beobachtete der Hamburger Romanistik-Student im 10. Semester Kurt<br />

Edler.<br />

Die Psychologen an der Hochschule, die in solchen Fällen Hilfestellung leisten sollen, sind<br />

völlig überfordert. Für 30.000 Hamburger Studenten stehen beispielsweise nur acht Psychologen<br />

zur Verfügung. Ursula Lindig : "Die meisten Abiturienten haben im fremden sozialen Umfeld<br />

Hochschule die Orientierung verloren. Wie sollen sich die Leute auch in diesen Massen<br />

96


zurechtfinden, wenn sie in der Schule nicht einmal gelernt haben, in Gruppen zu arbeiten?" Der<br />

Hamburger Universitätspräsident Peter Fischer-Appelt (1970-1991) klagt darüber, dass die<br />

Studenten aus ihrer Unsicherheit heraus zu viele Vorlesungen belegen: "Die Krise für den<br />

Einzelnen ist dann unvermeidlich. Er überanstrengt sich und bricht zusammen. Danach finden die<br />

Jugendlichen nur schwer den roten Faden des Studiums."<br />

Für manche gibt es kein Danach mehr. In Hamburg ist die Selbstmordquote unter<br />

Studenten ein Drittel höher <strong>als</strong> bei berufstätigen Jugendlichen. Der Göttinger Psychologie-<br />

Professor Eckard Sperling (*1925+2007) - (an seiner Universität kommt es "nur" 1,8-mal häufiger<br />

zum Freitod <strong>als</strong> bei anderen Gleichaltrigen in Niedersachsen) ermittelte <strong>als</strong> Familientherapeut<br />

außerdem: 30 Prozent der Studenten in Göttingen sind psychisch gestört.<br />

Kontakt-Schwierigkeiten lagen mit 24 Prozent an der Spitze der Krankheitsskala. 17,5<br />

Prozent klagten über Leistungsabfall oder Versagen, 14,8 Prozent über depressive Verstimmungen,<br />

13,1 Prozent über Sexu<strong>als</strong>törungen und 12, 8 Prozent über mangelndes Selbstwertgefühl. Jeder<br />

fünfte Studienanfänger gibt auf oder verlässt die Universität ohne Examen. Sie sind dem<br />

Leistungsdruck nicht gewachsen. Wie stark inzwischen Vorlesungen, Übungen und Klausuren<br />

verschult sind, zeigen Beispiele an der Universität Hamburg :<br />

• Bei den Betriebs- und Volkswirten gibt es kein Seminar mehr, in dem das zuvor<br />

eingetrichterte Wissen zum Schluss nicht abgehört wird.<br />

• In der Steuerlehre bei Professor Lutz Fischer müssen die Studenten zu<br />

Semesterbeginn eine Eingangsklausur schreiben. Diejenigen, deren Ergebnisse unter<br />

dem Durchschnitt liegen, werden von dem Hochschullehrer von den Vorlesungen<br />

ausgeschlossen.<br />

• Im romanischen Seminar lesen Studenten wie in der Schule den Dozenten<br />

Sprachtexte vor, Vokabeln werden gebüffelt und abgefragt.<br />

Nach vier Semestern gibt es Zwischenprüfungen. Studenten, die vom Staat Gelder über<br />

das Bundesausbildungsförderungsgesetz BAföG) bekommen, erhalten keine Mark mehr, wenn sie<br />

ihr Klassenziel nicht vorschriftsmäßig erreicht haben. Der Romanistik-Student Kurt Edler: "Eine<br />

eigenständige Fächerauswahl ist fast nicht mehr möglich, weil wir mit Lernarbeiten eingedeckt<br />

sind." Sein Kommilitone Peter Villrock stöhnt: "Zensiert wird hier wie auf der Penne und gesiebt<br />

ohne Rücksicht auf Verluste.<br />

Trotzdem steigt die Studienzeit ständig, von durchschnittlich 5,7 Jahre (1970) auf 6,3<br />

Jahre (1972). Der Grund : Gut die Hälfte der 780.000 Hochschüler muss nebenher arbeiten, um<br />

das nötige Geld zum Lebensunterhalt zu verdienen. Nach einer Berechnung des Deutschen<br />

Studentenwerks betragen die effektiven Studienkosten monatlich 660 Mark. Ein Hochschüler<br />

verbraucht heute : Für Verpflegung 250 Mark, für Miete 150 Mark, für Kleidung 50 und für<br />

Bücher, Fahrgeld sowie Utensilien 150 Mark. Die Bundesregierung aber erhöhte die Stipendien nur<br />

von 420 auf 500 Mark. Die Folge: 312.000 Studenten arbeiten während der Vorlesungszeit. Jede<br />

Stunde, die gejobbt wird, muss hinten ans Studium drangehängt werden. Dazu Psychologiestudent<br />

Jochen Hahne: "Wenn sich unsere soziale Lage nicht erheblich verbessert, werden wir bald noch<br />

länger studieren.<br />

Der doppelte Stress - Leistungsdruck im Hörsaal und Finanznot auf der Bude -<br />

entwickelte bei der Mehrheit der Studenten eine "Arbeitnehmermentalität", so das Münchner<br />

Sozialforschungsinstitut Infratest. Beispiele: In Marburg, Köln und Hamburg übernahmen<br />

97


Studenten typisch gewerkschaftliche Kampfformen, um ihre Forderungen durchzusetzen. Sie<br />

streikten, <strong>als</strong> in ihren Wohnheimen die Mieten bis zu 37 Prozent herausgesetzt wurden. In Köln<br />

und Marburg hatten sie Erfolg. Im Hamburger Gustav-Radbruch-Haus weigern sich die<br />

Heimbewohner seit einem Jahr, die von 95 auf 130 Mark erhöhte Miete zu bezahlen. Die<br />

Arbeiterwohlfahrt erwägt eine Klage auf Nachzahlung.<br />

Infratest widerlegt auch die landläufige Meinung, Studenten seien mehrheitlich radikal,<br />

extremistisch und kommunistisch gesteuert. Zwar billigen 57 Prozent der Studenten der DKPnahen<br />

Hochschulgruppe Spartakus zu, sie trete "am entschiedensten für grundlegende Reformen<br />

der bestehenden Verhältnisse an den Universitäten " ein. Doch der Grund für die DKP-<br />

Sympathien rührt aus dem Versagen der Hochschulverwaltung. Im Wirrwarr extremistischer<br />

Gruppierungen übernahm der Spartakus eine Ordnungsfunktion. Für die Neulinge organisierte er<br />

an den Hochschulen eine Studienberatung, bekämpfte die Chaoten und forderte praktische<br />

Verbesserungen, die auch von bürgerlichen Parteien stammen könnten, so die Abschaffung des<br />

Numerus clausus oder den Ausbau von Laborplätzen.<br />

Auf die Infratest-Frage "Welche Partei steht politisch Ihren Vorstellungen am nächsten?"<br />

entschied sich der akademische Nachwuchs dieser Jahre mit noch 45 Prozent für die SPD, 18<br />

Prozent für die FDP, 14 Prozent für die CDU/CSU, 5 Prozent für die DKP. Nahezu 18 Prozent<br />

würden keine dieser Parteien wählen. Radikale Aktionen, wie die Störung von Lehrveranstaltungen,<br />

werden von der Mehrheit der Studenten strikt abgelehnt.<br />

Vielmehr beschäftigen sich die Studenten mit ihrer beruflichen Zukunft, seit sie<br />

befürchten, nach ihrem Examen beim Arbeitsamt vorsprechen zu müssen. In diesem Jahr (1974)<br />

fanden 14.000 Absolventen keine Arbeit. Das sind 40 Prozent mehr <strong>als</strong> 1973. Vielleicht muss die<br />

Bundesrepublik bald das schwedische Modell nachahmen: Dort wurde 10.000 Neuexaminierten<br />

eine Umschulung auf Handwerksarbeiten nahegelegt.<br />

Der Westberliner Bildungsökonom Professor Hajo Riese sagt für die Bundesrepublik<br />

schon in den nächsten fünf Jahren ein akademisches Proletariat voraus, wenn die Universitäten in<br />

ihren Ausbildungsgängen nicht vielseitiger würden und den Absolventen damit eine größere<br />

Berufswahl ermöglichten. Riese: "Wir wissen seit Ende der sechziger Jahre, dass zu viele<br />

Akademiker traditioneller Art ausgebildet werden. Man hat die Hochschule frei nach Schnauze<br />

ausgebaut und Kapazitäten geschaffen, ohne zu fragen, welche Berufe die Absolventen später<br />

ergreifen sollen."<br />

Schon längst hält der Universitätsausbau mit dem Massenandrang nicht Schritt. In den<br />

nächsten fünf Jahren werden sich 130.000 Gymnasiasten vergebens um einen Studienplatz<br />

bemühen. Nach einem Geheimpapier der zentralen Vergabestelle für Studienplätze in Dortmund<br />

soll sogar 266.300 Pennälern der Weg zur Hochschule verbaut werden. Dabei werden die<br />

vorhandenen Studienkapazitäten nicht einmal voll genutzt. Landesrechnungshöfe deckten auf, dass<br />

die Hochschulbürokratien der Dortmunder Vergabestelle f<strong>als</strong>che Platzberechnungen angegeben<br />

haben. Beispiele: In Hamburg sind die Nummer-clausus-Fächer Medizin, Mathematik, Biologie und<br />

Chemie zu rund 20 Prozent sowie Physik zu 36 Prozent unterbelegt. Die Universitätskliniken<br />

Nürnberg und Erlangen reduzieren ihre Ausbildungsplätze für Mediziner sogar innerhalb von vier<br />

Jahren um 50 Prozent. Der Verdacht drängt sich auf, dass die Mediziner ihren Berufsstand bewusst<br />

gegen zu zahlreichen Nachwuchs abschirmen.<br />

Wurden die Eltern in den sechziger Jahren noch ermuntert, ihre Kinder aufs Gymnasium<br />

zu schicken ("Bildung ist Bürgerrecht"), so fürchtet sich der Staat heute vor einem Akademiker-<br />

98


Boom. Selbst die Sozialdemokraten befinden sich jetzt auf dem Rückzug. Der Numerus clausus<br />

wird von ihnen jetzt nicht mehr bekämpft, sondern ins politische Kalkül eingeplant.<br />

Wissenschaftsminister Helmut Rohde (1974- 1978) will die Akademikerzahl dem Arbeitsmarkt<br />

anpassen. "Der Tankwart mit Hochschulabschluss wird vom Betroffenen nicht <strong>als</strong> vernünftiges<br />

bildungspolitisches Ziel, sondern <strong>als</strong> eine schlichte Katastrophe im Berufsleben empfunden."<br />

Bildungsökonomen wie der Berliner Friedrich Edding (*1909+2002) und der<br />

Heidelberger Georg Picht (*1913+1982) wollen das Abitur <strong>als</strong> Zulassungsvoraussetzung für das<br />

Hochschulstudium abschaffen. Ihre These: Studieren soll nur noch, wer einen Beruf erlernt hat.<br />

Friedrich Edding: "Der Arbeitnehmer sieht dann viel eher, ob die Qualifikation, die er erwerben<br />

will, gerade gefragt ist."<br />

99


BUNDESWEHR IM GLEICHSCHRITT MARSCH - BARGELD,<br />

EHRE UND KARRIERE<br />

Auf dem Truppenübungsplatz Münsingen lässt ein Schäfer seine Herde weiden.<br />

Doch die friedliche Idylle täuscht. Denn im Manöver wird hier scharf geschossen und hart<br />

gedrillt. Die Bundeswehr, vor Jahren noch <strong>als</strong> lascher Haufen, hat sich zur schlagkräftigen<br />

Truppe entwickelt. Nach Ansicht des Wehrbeauftragten des Bundestages ist dabei<br />

allerdings die Innere Führung unter die Räder geraten. Dabei sollte die Bundeswehr eine<br />

demokratische Armee werden. Doch zum Vorbild wird immer die alte deutsche<br />

Wehrmacht. Nur eine Sorge ist er los: Die Armee ist keine Hammelherde mehr. In<br />

Wirklichkeit bildet sie eine Elite aus.<br />

stern, Hamburg 26. September 1974<br />

Sie sind Anfang zwanzig und etwa 1.80 Meter groß. Die Haare sind kurz geschoren,<br />

Schulbildung: Abitur. Die Gefreiten der Luftwaffen-Offiziersschule in Neubiberg bei München<br />

rechnen mit einer steilen Berufskarriere - in Uniform.<br />

In der 'Kaderschmiede' der Luftwaffe werden sie geschult, gedrillt, geschliffen. Die lasche<br />

Gangart früherer Jahre ist vergessen. Elektronische Kameras verfolgen die Kadetten beim<br />

theoretischen Unterricht. Über der Wandtafel ist eine automatisch gesteuerte, im Klassenraum sind<br />

zwei handbetriebene Kameras installiert. Im Nebenzimmer beobachten die Ausbilder, zumeist<br />

Obristen, ihre Zöglinge auf vier Monitoren. Auf Bewertungsbögen werden in jeweils elf Rubriken<br />

Pluspunkte verteilt, zum Beispiel nach "sprachlichem und nicht sprachlichem Verhalten, nach<br />

Fragestellungen, Denkanstößen und der Wirkung auf die Adressatengruppe".<br />

Die totale Kontrolle der Luftwaffenschüler rechtfertigt Oberstleutnant Gantzer: "Ein<br />

Offizier muss sich jederzeit beherrschen können. Ein Offizier muss deutlich sprechen. Ein Offizier<br />

muss spontan auf andere Menschen eingehen können. Ein Offizier muss sich ständig<br />

konzentrieren können." - Die angehenden Offiziere der westdeutschen Armee müssen nicht nur<br />

die Theorie (zum Beispiel: Wechselbeziehung zwischen Wirtschaft und Streitkräften) beherrschen,<br />

sondern auch im Nahkampf ihren Mann stehen. Deshalb werden sie <strong>als</strong> Einzelkämpfer in einer<br />

harten "Überlebensausbildung" bis an die Grenzen der körperlichen Belastbarkeit getrimmt.<br />

Im Rahmen dieses Ranger-Programms müssen Offiziersanwärter über dem Mittelmeer<br />

aus Hubschraubern springen. Und im Bayerischen Wald üben sie das blitzschnelle Anseilen von 15<br />

Meter hohen Bäumen. Nachts steht ein 35 Kilometer langer Orientierungsmarsch in kleinen<br />

Gruppen auf dem Programm. Zwei Tage müssen 20 Mann mit zwei Broten und selbst<br />

geschlachteten Hähnchen auskommen.<br />

Nach der Rückkehr von den Übungen wird ihnen in der Kaserne ein Film über die brutale<br />

Kadettenausbildung der amerikanischen Luftwaffe in Colorado Springs vorgeführt. Die Wirkung<br />

dieser Show ist perfekt. Gefreiter Gerd Grunewald: "Da geht es bei uns ja noch ziemlich liberal<br />

zu." Der schulische Leistungsdruck und die Kasernen-Isolation machen die jüngeren Soldaten<br />

anfällig für den schon totgesagten militärischen Korpsgeist. Für die Offiziersanwärter gehört der<br />

Walzertanz in Uniform ebenso zur Etikette wie der "Messer-und-Gabellehrgang" im Kasino.<br />

Zu den Vorbildern der Luftwaffe gehören Soldaten wie der Phantom-Pilot Gerd John.<br />

Mit 36 Jahren war er der jüngste Oberst der Luftwaffe. In Leck bei Flensburg ist er Commodore<br />

100


des Aufklärungsgeschwaders 52. Der elitebewusste John hat 2500 Jet-Flugstunden auf dem Buckel.<br />

Major Bodo Bernadi ist sicher: "Unser Chef wird bestimmt noch General."<br />

Karriere machen wie Oberst John - das ist nicht nur das Ziel der Neubiberger<br />

Luftwaffenschüler, sondern aller Zwanzigjährigen, die sich auf zwölf Jahre für den Kasernendienst<br />

verpflichten. Denn die Bundeswehr-Abiturienten haben die "linke Masche und die "Sozialismus-<br />

Diskussionen" satt. Sie lehnen Streiks und Vorlesungsstörungen an Universitäten ab. Luftwaffen-<br />

Oberst Hans Meyer: "Die jungen Leute von heute suchen soziale Sicherheit und eine ordnende<br />

Hand." Beides garantiert ihnen das Militär.<br />

Denn nach der Offiziersausbildung studieren die Leutnante an den Bundeswehr-<br />

Universitäten in Hamburg und München und kassieren dabei weiterhin ihr Gehalt von monatlich<br />

1300 bis 1800 Mark. Sie beenden das Studium mit einem staatlich anerkannten Diplom (Ingenieure,<br />

Volks- und Betriebswirte) und werden außerdem automatisch zum Oberleutnant befördert. Nach<br />

zwölf Jahren Kaserne kann der akademisch geschulte Bundeswehr-Nachwuchs den Dienst<br />

quittieren. Wer ausscheidet, erhält <strong>als</strong> Abschiedsgeschenk etwa 100.000 Mark. Oberstleutnant<br />

Twrsnick von der Luftwaffenschule in Neubiberg ist sicher, dass die Elite-Soldaten sofort einen<br />

lukrativen Arbeitsplatz finden. Twrsnick: "Die Industrie wartet doch nur auf unsere Leute."<br />

Mit Hilfe ihres großzügigen Bildungsangebots und sozialer Vergünstigungen ist die<br />

Bundeswehr innerhalb eines Jahres wieder für Abiturienten attraktiv geworden. Von<br />

Personalmangel ist nicht mehr die Rede. Denn die Zahl der Jugendlichen, die den Soldatenrock<br />

anziehen wollen, steigt steil an:<br />

• Von 1972 bis 1973 registrierte das Verteidigungsministerium bei Berufs- und<br />

Zeitoffizieren, die sich mindestens auf 12 Jahre verpflichteten, einen<br />

Abiturientenzuwachs von 543 auf 1062 (95 Prozent).<br />

• 1968 gingen von den 43.048 Abiturienten lediglich 37 Prozent zur Bundeswehr. Im<br />

Jahre 1974 werden es von den 54.000 Abiturienten 43.000 sein (Zuwachs: 81<br />

Prozent).<br />

• Auch die Zahl der Freiwilligen ohne Abitur steigt: Im Jahre 1969 stellte die<br />

Bundeswehr 16.000 Jugendliche ein. Drei Jahre später waren es bereits 30.000<br />

(Zuwachs: 87, 5 Prozent)<br />

Unter dem Eindruck dieses starken Zulaufs ist jetzt sogar Verteidigungsminister Georg<br />

Leber (1972-1978; SPD-MdB 1957-1983) überzeugt, dass selbst Pazifisten die Armee nicht<br />

schwächen können. Seinen linken Fraktionskollegen deutete der konservative Alt-Genosse bereits<br />

an, dass er sich der Abschaffung des Prüfungsverfahrens für Kriegsdienstverweigerer nicht<br />

widersetzen wolle. Leber zum Autor: "Ich würde mich nicht sperren. Ich bin gegen keine Regelung,<br />

die vernünftiger ist. Ich suche nach Wegen, dass das jetzige Anerkennungsverfahren überflüssig<br />

und entbehrlich wird."<br />

Doch nicht nur bei der Jugend verzeichnet die Bundeswehr Sympathiegewinne. Auch bei<br />

der älteren Bevölkerung stehen die Soldaten wieder hoch im Kurs. Nach einer vertraulichen Studie<br />

des Bielefelder Meinungsforschungsinstituts Emnid hatten 58 Prozent der Bundesbürger die<br />

Streitkräfte für "wichtig" oder "sehr wichtig". 1973 waren nur 50 Prozent dieser Ansicht. Lediglich<br />

23 Prozent sind der Ansicht, die Armee sei "nicht so wichtig", (1973: ebenfalls 23 Prozent. Und nur<br />

zehn Prozent (1973: 14 Prozent) halten die Bundeswehr für "unwichtig und überflüssig".<br />

101


Mit dem gewachsenen Ansehen der Streitkräfte in der Öffentlichkeit ist auch das<br />

konservative Selbstbewusstsein der Offiziere gestiegen. Der demokratische Führungsstil ist in der<br />

Truppe weithin verpönt. Oberstleutnant Kammermayr: "Wir sprechen zwar offiziell von Innerer<br />

Führung, aber in Wirklichkeit bilden wir eine Elite aus." Achtzehn Jahre nach ihrer Gründung ist<br />

die westdeutsche Streitmacht dem selbst gesteckten Ziel, eine Bürgerarmee für den Frieden zu sein,<br />

kaum einen Schritt näher gekommen. Dam<strong>als</strong> hatte Generalleutnant Wolf Graf Baudissin<br />

(*1907+1993), seines Zeichens Militärtheoretiker und Friedensforscher, versucht, in dem Modell<br />

der Inneren Führung militärische und demokratische Prinzipien zu versöhnen. Baudissin über sein<br />

Konzept: "Die organische Integration der Armee in den demokratischen Staat; die Verpflichtung<br />

ihrer Führungsspitze auf diesen Staat und seine Verfassung: gleiche Werte für die Armee und den<br />

zivilen Bereich des Staates."<br />

Der Versuch, die Bundeswehr vor den unheilvollen Traditionen der ehemaligen deutschen<br />

Wehrmacht zu bewahren, droht zu scheitern. Noch immer gehören schwerwiegende Verletzungen<br />

der Soldaten-Grundrechte zum Bundeswehr-Alltag. In seinen Jahresberichten hat der<br />

Wehrbeauftragte des Bundestages, Fritz-Rudolf Schultz (1970-1975; *1917+2002), drei besonders<br />

schwere Fälle aufgezählt.<br />

So befahl der Kompaniechef Hillner dem Oberfeldwebel Stein, den Soldaten Hinze<br />

strafexerzieren zu lassen. Der Rekrut war bei seinen Vorgesetzten in Ungnade gefallen, weil er sich<br />

einen Tag zuvor einen "Irokesen-Haarschnitt" (dabei wird der Kopf bis auf einen schmalen<br />

Haarstreifen in der Mitte kahl geschoren) hatte schneiden lassen. Stein ließ Hintze mehrere Male<br />

durch Pfützen und Wassergräben robben und mit einer ABC-Schutzmaske in Stellung gehen.<br />

Obwohl ein Sanitäter den Spieß gewarnt hatte, die Schleifermethoden könnten bei dem Rekruten<br />

zu schweren Gesundheitsschäden führen, blieb Stein uneinsichtig. Erst nachdem der Soldat völlig<br />

erschöpft zusammengebrochen war, hörte der Unteroffizier mit den Schikanen auf.<br />

Einige Tage später hatte Stein eine neue Schikanen-Idee. Er ließ ein Holzgewehr<br />

anfertigen und verschmierte es mit einem nicht trocknenden Anstrich. Dann befahl er Hintze, mit<br />

dem Holzgewehr Haltung anzunehmen und herumzulaufen. Mit einer völlig verschmutzten<br />

Uniform machte Hintze sich zum Gespött der Kameraden. Kompaniechef Hillner war zufrieden<br />

und drohte seiner Einheit weitere Schleifaktionen an, falls sie sich nicht diszipliniert verhalte.<br />

Soldat Heinrichs verlor bei einer Übung ein winziges Geräteteil im Wert von 1,50 Mark.<br />

Zur Strafe schickte ihn Unteroffizier Richartz mitten in der Nacht vom Standort zum zwanzig<br />

Kilometer entfernt gelegenen Truppenübungsplatz zurück - per Fahrrad. Die Suche nach dem<br />

Materialteilchen verlief in dem hügeligen Gelände ergebnislos. Und der Oberfeldwebel Schirner<br />

war über das schlechte Ergebnis eines Übungsschießens seiner Fallschirmjägereinheit (Motto: Der<br />

erste Schuss muss tödlich sein) verärgert. Deshalb befahl er den Soldaten Liegestützen über offene<br />

Klappmesser zu üben.<br />

In seinen Unterlagen hat der Wehrbeauftragte noch weitere Beweise für die Missachtung<br />

der Inneren Führung gesammelt. Der Träger des Eichenlaubes zum Ritterkreuz und Oberst a. D.<br />

Fritz-Rudolf Schultz wirft den Militärs vor, dass sie im Umgang mit ihren Soldaten ständig "alte<br />

Fehler" wiederholen. Immerhin rügen zwanzig Prozent aller Beschwerden, die Schultz erreichen,<br />

Tyrannei. Macht-Missbrauch und Schikanen der Dienstvorgesetzten.<br />

Die Ursachen für die groben Übergriffe liegen nach Ansicht des Wehrbeauftragten im<br />

Verteidigungsministerium auf der Bonner Hardthöhe. Schultz meint, dass die<br />

Verteidigungsbürokraten "Scharfmacher" in der Truppe tolerieren. Wehrexperte Schultz: "Die<br />

102


Personalentscheidungen haben mit der Inneren Führung nichts mehr zu tun. Da kann ich nur<br />

Bauklötze staunen. Wie sollen denn die Leute in den Kasernen Innere Führung richtig praktizieren,<br />

wenn sie die Ministerialbeamten selbst nicht verstanden haben?" Und resigniert fügt er hinzu: "Weil<br />

ich Missstände offen ausspreche, bin ich in Verschiss geraten." Deshalb will der Freidemokrat im<br />

nächsten Jahr (1975) den Hut nehmen und sich ins Privatleben zurückziehen.<br />

Fritz-Rudolf Schultz ist der vierte Wehrbeauftragte, dem Unterstützung durch Parlament<br />

und Ministerium versagt blieb. Wie seine Vorgänger blieb auch er <strong>als</strong> Kontrollinstanz gegenüber<br />

der Bundeswehr glücklos. Der erste Wehrbeauftragte Generalleutnant a. D. Helmuth von<br />

Grolmann (*1898+1977) wurde vom damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (1956-<br />

1962; *1915+1988) ins Abseits manövriert. Strauß hatte mit von Grolmann, der in privaten Affären<br />

(Homosexualität) verstrickt war, leichtes Spiel. Auch der Vize-Admiral a. D. Helmuth Heye (1961-<br />

1964; *1895+1970) scheiterte. Weil ihm nicht erlaubt war, den Jahresbericht im Bundestag<br />

persönlich vorzutragen, trat Heye die Flucht in die Öffentlichkeit an. In Interviews kritisierte er die<br />

Reformfeindlichkeit der Armeeführung und die Gefahr einer sozialen und politischen Isolation der<br />

Truppe.<br />

Ministerium und Parteien reagierten verärgert auf die Heye-Plaudereien und ließen den<br />

Wehrbeauftragten fallen. Heye musste seinen Sessel für den CDU-Abgeordneten Matthias Hoogen<br />

(1964-1970; *1904+1985) räumen. Der Christdemokrat wusste über die Bundeswehr nur Nettes zu<br />

erzählen. Seine Berichte wurden deshalb im Bundestag erst mit jahrelanger Verspätung und nur<br />

oberflächlich beraten. Über die Rüstungsskandale (Schmiergeld-Zahlungen) um den<br />

Schützenpanzer HS 30 (1967) und den Starfighter F-104 (zwischen 1960 bis 1991 verunglückten<br />

116 Bundeswehr-Piloten tödlich ) hatte Hoogen so gar nichts notiert.<br />

Sein Nachfolger, der liberale Fritz-Rudolf Schultz, unterschied sich zwar durch<br />

umfassende Sachkenntnisse deutlich von seinem Vorgänger, konnte sich aber trotzdem nicht gegen<br />

das übermächtige Ministerium durchsetzen. Und <strong>als</strong> er mehr Kompetenzen forderte (Zuständigkeit<br />

auch für Reservisten und Wehrpflichtige vor der Einberufung), pfiffen ihn sogar die<br />

Bundestagsfraktionen zurück, die ihn im Jahre 1970 gewählt hatten. Der enttäuschte Schultz: "Das<br />

Parlament nutzt die Kontrollinstanz nicht so, wie es notwendig wäre. Die Politiker befürchten<br />

nämlich, ich könnte ihnen die Butter vom Brot nehmen und die Schau stehlen."<br />

Der Dozent an der Hamburger Heeresoffiziersschule II, Wolfgang R. Vogt, wird noch<br />

deutlicher. Vogt über die Ohnmacht der Wehrbeauftragten: "Tendenziell erwartet die politische<br />

und militärische Führung vom Wehrbeauftragten, dass dieser den Streitkräften im jährlichen<br />

Gesamtbericht jeweils allgemeines Wohlverhalten offiziell bescheinigt und einen Beitrag zur Image-<br />

Pflege der Bundeswehr leistet."<br />

Doch wie notwendig ein kritischer Wehrbeauftragter ist, zeigen Erfahrungen mit der<br />

Truppe. Ob in der Unterwasserwaffen-Schule der Marine in Eckernförde, bei der Panzerbrigade 10<br />

auf dem Truppenübungsplatz in Münsingen oder bei dem Aufklärungsgeschwader 52 in Leck bei<br />

Flensburg -die Innere Führung wird bei jeder Einheit anders verstanden. Luftwaffen-Oberst Gerd<br />

John: "Nach 15 Jahren Bundeswehr habe ich immer noch nicht begriffen, was das sein soll. Das<br />

verwirrt die Soldaten nur." Oberstleutnant Günter Noseck von den Panzerjägern: "Damit kann<br />

meine Truppe wenig anfangen. Die Jäger hier sind bodenständig, kommen aus der Landwirtschaft<br />

und gehen sonntags in die Kirche. Ich bin froh, dass die Soldaten moralisch noch so gefestigt<br />

sind."<br />

103


Und der Kapitän zur See Egon Kruse versteht die Innere Führung so: "Bei uns ist das wie<br />

beim Preußenkönig. Erst wenn der letzte Soldat sein Strohlager gefunden hat, geht der Offizier<br />

schlafen. Ein Offizier muss mal autoritär führen können und auch mal wie ein Vater zu den Jungs<br />

sein. Das war schon immer so: bei der Reichswehr, bei der Wehrmacht. Innere Führung ist nur<br />

eine neue Umschreibung für alte Soldatenpflichten." Da der Marineoffizier seine Ansichten gern<br />

mit Beispielen erläutert, erzählt er von einem Matrosen: "Seine Freundin bekam ein Kind. Für den<br />

Kerl war natürlich guter Rat teuer. Ich habe mir das Mädchen an Bord kommen lassen und ihr tief<br />

in die Pupille geschaut. Anschließend nahm ich mir den Jungen noch mal vor. Junge, sagte ich, die<br />

kannste heiraten. Heute leben die immer noch glücklich zusammen."<br />

Diese Offiziersweisheiten zeigen, dass das alte eingegerbte konservative Weltbild der<br />

Soldaten in emsiger Kleinarbeit wiederbelebt worden ist. Militärische Traditionen und Korpsgeist<br />

prägen immer stärker den Kasernen-Alltag - von einer kritischen Öffentlichkeit nahezu unbemerkt.<br />

Meinungsumfragen bestätigen diesen Trend. Besonders deutlich wird das beim Für und Wider<br />

einer Heiratsordnung für Offiziere. Insgesamt 38 Prozent der Kommandeure sind überzeugt, die<br />

Erteilung einer Heiratsgenehmigung müsse vom Ruf der Braut und ihrer Familie abhängig gemacht<br />

werden. Ganze 66 Prozent der Truppenführer fordern, es müsse vor einer Heirat der Nachweis<br />

geführt werden, dass die materiellen Voraussetzungen für eine Eheschließung gegeben seien. Nur<br />

14 Prozent der Führungsoffiziere lehnen Beschränkungen und Auflagen bei Eheschließungen von<br />

Offizieren ab - eine kleine Minderheit.<br />

Das "Bürger-in-Uniform-Modell" des Grafen Baudissin war von den meisten<br />

Bundeswehr-Offizieren nie akzeptiert worden. Der Reformer Baudissin war bald krasser<br />

Außenseiter. Das große Wort führten die Traditionalisten. Ihre Phrasen fesselten die Offiziere bei<br />

Kasinogesprächen.<br />

Der ultra-rechte Publizist Hans-Georg von Studnitz (*1907+1993), der das Buch "Rettet<br />

die Bundeswehr" schrieb, spottete über Baudissins Reform-Ideen: "Wer sich der Philologie des<br />

Grafen anvertraut, gerät in den Vormärz (biedermeierliche Lebensform vor der März-Revolution<br />

1948), der den Scherenschnitt liebte und Schokolade im Schatten von Barrikaden genoss."<br />

Den Traditionalisten war das Konzept der Inneren Führung von vornherein suspekt.<br />

Stattdessen gaben sie schon in den fünfziger Jahren die Parole aus: "Die Traditionsverbände der<br />

Wehrmacht, der Reichswehr und der Armeen des kaiserlichen Deutschlands müssen an die<br />

Bundeswehr herangeführt werden." Denn "eine Armee, die von der Leben spendenden<br />

Nabelschnur der Tradition getrennt ist, gleicht einer Frau, die verurteilt ist, ein Dasein ohne Liebe<br />

zu fristen" (von Studnitz).<br />

Zum großen Gegenspieler Baudissins wurde der damalige Brigadegeneral Heinz Karst von<br />

der Panzergrenadierbrigade 32 (1963-1967) im niedersächsischen Schwanewede. Er zeichnete nach<br />

seinem Truppendienst im Bonner Verteidigungsministerium sinnigerweise für das Erziehungs- und<br />

Bildungswesen des Heeres verantwortlich. Kommisskopf Heinz Karst riet den Soldaten, sich in<br />

ihren Lebenstugenden von den Bürgern abzusetzen. "Je mehr sich die Soldaten <strong>als</strong> Zivilisten<br />

geben", verkündete er da, "desto weniger Ansehen genießen sie." Der General forderte seine<br />

Soldaten unverhüllt auf, sich <strong>als</strong> Staat im Staate zu verstehen. Begründung: Hält man Ausblick nach<br />

dem, was noch niet- und nagelfest, in unseren öffentlichen Einrichtungen ist - dann ist es das Heer,<br />

auf welches das Auge des besseren, nach Kräftigung des Autoritätsprinzips ringenden Teils unserer<br />

Volkspsyche in gläubiger Zuversicht schaut."<br />

104


Zwar konnte sich Karst mit seinen extremen Forderungen nicht durchsetzen, weil ihn der<br />

damalige Verteidigungsminister Helmut Schmidt (1969-1972) ein Jahr nach Bildung der<br />

sozialliberalen Koalition in Pension schickte. Doch auf die Truppe hatten die ketzerischen Karst-<br />

Thesen Eindruck gemacht. Georg Lebers Pressereferent Oberst Peter Kommer: "Die geistige<br />

Wirkung des Herrn Karst war das größte Übel für die Bundeswehr". Und sein Kollege Major Dirk<br />

Sommer fügt hinzu: "Im Offizierskorps hat der Karst nach wie vor eine große Anhängerschaft. In<br />

Süddeutschland hätte es beinahe einen Aufstand gegeben, weil zum ersten Mal ein SPD-Genosse<br />

General geworden ist."<br />

Karst war nicht der einzige Wortführer einer konservativen Erneuerung der Bundeswehr.<br />

So forderte Generalleutnant Albert Schnez (Inspekteur des Heeres 1968-1971; *1911+2007) die<br />

Soldaten auf, wieder Orden und Ehrenabzeichen zu tragen, den Gefechtsdrill zu steigern und den<br />

"Kontakt" zur Bevölkerung durch demonstrative Feldparaden zu verbessern. Schnez: "Nur eine<br />

Reform an Haupt und Gliedern an der Bundeswehr und an der Gesellschaft kann die Kampfkraft<br />

des Heeres entscheidend heben."<br />

Verteidigungsminister Georg Leber will sich in den Streit um die Innere Führung nicht<br />

einmischen. Er ist damit zufrieden, dass die Streitkräfte wieder an Bedeutung gewonnen haben.<br />

Leber: "Wir sollten uns abgewöhnen, die Treue und Loyalität der Soldaten zu diesem Staat in<br />

Zweifel zu ziehen. Ich lasse mich auch nicht durch Ungeduld zur Übereile treiben. Das ist ein<br />

Prozess, der wachsen muss und den ich verantworte. Die Bundeswehr zählt zu den guten<br />

Streitkräften der Welt." Zum Beweis veröffentlichte das Leber-Ministerium eine Statistik über das<br />

Abschneiden der Bundeswehr bei NATO-Übungen. Die westdeutschen Soldaten belegten danach<br />

• beim Schießwettkampf um die "Canadian Army Trophy" den ersten Platz;<br />

• beim internationalen Infanteriewettkampf von Afnorth den dritten Platz;<br />

• beim Zactical Weapons Meeting, einem Schieß- und Tiefflugnaviagations-<br />

Wettbewerb, den ersten, dritten und vierten Platz;<br />

• beim Royal Flush, dem alljährlichen Aufklärungswettbewerb der NATO, den zweiten<br />

Platz.<br />

Und Luftwaffen-Oberst Gerd John, das große Vorbild vieler Offiziersanwärter, siegte mit<br />

seinen Phantom-Piloten des Aufklärungsgeschwaders 52 beim siebten NATO-<br />

Aufklärerwettbewerb "Big Click 74" über die Bündnispartner.<br />

105


AXEL SPRINGER: NUN ADE DU SCHÖNE WELT - DIE<br />

FETTEN JAHRE SIND VORBEI<br />

Axel Cäsar Springer (*2. Mai 1912 in Hamburg-Altona; + 22. September 1985 in<br />

Berlin) ist die umstrittenste, angefeindeste und auch verehrteste Verleger-Persönlichkeit in<br />

der deutschen Nachkriegsgeschichte.<br />

stern, Hamburg 14. August 1974 / 27. Februar 1975 / 11. März 2009<br />

Ende der sechziger Jahre forderten revoltierende Studenten der Außerparlamentarischen<br />

Opposition (APO): "Enteignet Springer". Auslöser war die Erschießung des Berliner Studenten<br />

Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967. Dieser Tod galt <strong>als</strong> Höhepunkt einer einseitigen, verhetzenden<br />

Berichterstattung der Springer-Presse, vornehmlich dem Boulevard-Blatt BILD, gegen eine<br />

vorwiegend linksgerichtete Studentenschaft. (BILD -Zeitung hat in Deutschland eine Reichweite<br />

von täglich 11,49 Millionen Leser am Tag, 2007). Der Verleger Axel Cäsar Springer verstand sich<br />

<strong>als</strong> Speerspitze gegen sozialistische Ideen aus dem Osten und <strong>als</strong> Bollwerk gegen die studentische<br />

APO unter Rudi Dutschke (*1940+1979). Feindbilder.<br />

Sechs Jahre später - nach den APO-Springer-Krawallen - will sich Deutschlands<br />

umstrittenster Großverleger Axel Cäsar Springer freiwillig enteignen - gegen bar. Einen Käufer<br />

freilich hat er bislang noch nicht gefunden. Deshalb macht sich Springer jetzt daran, sein<br />

Pressehaus zu renovieren: Die preisdrückenden Verlustobjekte, in erster Linie Springers<br />

ideologische, ultra-konservativ eingefärbte Parade-Zeitung Die Welt , sollen ausgeforstet werden.<br />

Auflagen-Verluste, Verluste-Geschäfte begleiteten das bürgerlich-nationale Weltbild dieses Blattes<br />

seit seiner Gründung im Jahre 1946.<br />

Seit Wochen bemüht sich der Hamburger Multi-Millionär, mindestens ein Viertel seines<br />

Imperiums an zahlungskräftige Banken zu verkaufen. Auch für den Springer Verlag (Bild-Zeitung,<br />

Die Welt, HörZu, Hamburger Abendblatt, Berliner Morgenpost etc. usf.) sind die einträglich fetten<br />

Jahre in der Zeitungsbranche vorbei. Der Gesamtwert des einstigen Milliarden-Unternehmens<br />

rutscht auf dem freien Markt zunehmend tiefer in den Keller. Schon erkannte die München<br />

erscheinende Süddeutsche Zeitung einen neuen heimatlosen Rechten : "Ein Teil der Beobachter<br />

meint, Axel Springer wolle wie vordem Helmut Horten schlicht Kasse machen und von einem<br />

ausländischen Domizil aus am Drücken bleiben." - Bekanntlich hatte Helmut Horten<br />

(*1909+1987) in den Jahren 1969 auf 1970 seinen Kaufhaus-Konzern in eine Aktiengesellschaft<br />

umgewandelt. So konnte er seinen Anteil verkaufen, sich aus dem Warenhaus-Geschäft mit seinem<br />

Bar-Vermögen ganz in die Schweiz zurückziehen.<br />

Aber bisher waren aber weder die Bayerische Landesbank noch die Bayerische<br />

Hypotheken- und Wechselbank bereit, für einen 25prozentigen Anteil am Hamburger Konzern 200<br />

Millionen Mark auf den Tisch zu legen. Sie boten lediglich 175 Millionen. Ein prominenter Bankier,<br />

der natürlich nicht genannt werden will, mutmaßte: "Wenn Herr Springer nicht schnell macht,<br />

sackt der Preis noch weiter ab." –Atemnot. Zugzwang.<br />

Deshalb will Axel Springer jetzt sein Objekt für Finanzmärkte wieder attraktiver machen.<br />

Beizeiten gab er die Devise aus: "Wenn er schon verkauft wird, muss der Laden von innen her in<br />

Ordnung sein. Denn wer kauft schon Verluste." Springer-Verluste auch aus geschlagenen<br />

Schlachten gegen die APO-Generation vergangener Jahre. Reputationsverluste. Und verlustreich ist<br />

vor allem Springers durch Krisen und reaktionären Durchhalteparolen der Ausgrenzung wie<br />

106


Stigmatisierung Andersdenkender - eben sein Flaggschiff "Die Welt". Sie ist schon das Springers<br />

Herzstück, verschlingt aber zugleich Unsummen an Zuschüssen; allein im Jahre 1973 über 26<br />

Millionen Mark. Eine überregionale Tageszeitung, die noch ein weiteres Viertelhundert Jahr für<br />

Jahr Millionenverluste einfahren sollte - erst im Jahr 2007 so genannte "schwarze Zahlen" notierte.<br />

Dam<strong>als</strong>, in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, rangierte die rechtskonservative<br />

Zeitung noch an dritter Stelle unter den größten deutschen Tageszeitungen. Sie ist<br />

mittlerweile mit 231.153 verkauften Exemplaren (1973) auf Platz zwölf abgefallen. Seit jenem<br />

Einbruch haben sich die Gesinnungsschreiber aus der rechten Ecke kaum neuen Leser-Schichten<br />

gewinnen, sich wirtschaftlich nicht mehr merklich erholen können; verzeichnete die Auflage nach<br />

24 Jahren ein geringfügiges Plus von nahezu 49.000 Zeitungen.<br />

Verständlich, dass die innere Beschaffenheit dieses Blattes bei relativ kleiner Auflage mit<br />

überaus hohem Sendungs-Bewusstsein, keinem der Chefredakteure Atem ließ, aus der Kontinuität<br />

heraus Erneuerung, Aufgeschlossenheit zu entwickeln - Tabu-Zonen zu kippen. Bei Springers Welt<br />

galt nun einmal die Losung - alle drei Jahre wieder steht ein neuer Chefredakteur im Vorzimmer.<br />

Fünfzehn Männer gaben sich seit Kriegsende im Durchschnitt nach 36 Monaten aberm<strong>als</strong> die<br />

Klinke in die Hand; von einigen Ausnahmen einmal abgesehen. Springer Welt - ein Taubenschlag.<br />

Aber auch das unentwegte Auswechseln, Einwechseln, an der Seitenlinie warm laufen vieler Chef-<br />

Kandidaten - vom ultrarechten Gesundbeter Herbert Kremp bis hin zum distinguiert<br />

auftretenden Pragmatiker Wolf Schneider („Wörter machen Leute", 1986) - das "ramponierte<br />

Ansehen" der Welt ("Süddeutsche Zeitung") konnte kaum verbessert werden. In nur einem Jahr<br />

etwa gewann Die Welt nur 1.084 Leser hinzu, während beispielsweise die Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung immerhin 10.531 neue Abonnenten fand. Springers Allein-Vorstand Peter Tamm (1968--<br />

1991) gesteht: "Die Welt ist eines unserer Hauptthemen. Sie könnte besser sein." Und Springers<br />

Büro-Chef Claus-Dieter Nagel räumt ein, dass Die Welt und Welt am Sonntag auf der für<br />

Anzeigenkunden wichtigen offiziellen Auflagen-Skala der IVW-Liste, "schwache Kunden" sind.<br />

Dazu plagen den Großverleger Gewinneinbußen der kapitalkräftigen Fernsehzeitschrift HörZu<br />

von zehn Millionen Mark im vergangenen Jahr 1973.<br />

Wenn einer derlei Einblicke ins Eingemachte hatte, dann war es eben Claus-Dieter Nagel.<br />

Fünfzehn Jahre hatte dieser Springer Adlatus gemeinsam mit dem seinem Herrn aus seinem<br />

Verlagshaus auf Stacheldraht wie Todesstreifen der Berliner Mauer geschaut. Fünfzehn Jahre lang<br />

verband ihn eine tief empfundene Religiosität und vornehmlich der Glaube an die deutsche<br />

Einheit mit Axel Cäsar Springer; sie beteten gelegentlich miteinander. Und schließlich fünfzehn<br />

Jahre waren beide zutiefst davon überzeugt, dass immer noch "Männer Geschichte machen,<br />

Geschichte schreiben" - dass ihre lädierte Tageszeitung Die Welt auch nur von einer starken<br />

Männer-Hand aus der Misere geführt werden könne. Männer-Pranken.<br />

Folglich steht wieder ein möglicher neuer Schriftleiter für Springers Führungscrew schon<br />

in Reserve. Der von der Wirtschaftswoche abgesprungene Chefredakteur Claus Jacobi ( Spiegel,<br />

Welt am Sonntag, Wirtschaftswoche, Bild-Zeitung) unterschrieb einen Fünf-Jahres-Vertrag. Wie<br />

auf dem üppigen Transfer-Markt für Bundesliga-Fußballer hatte der Hanseat Jacobi seine<br />

"Ablösesumme" in die Höhe getrieben, einen Chefposten in München abgelehnt. An der Isar sollte<br />

er die mit abgebildeten Frauenbrüsten in die Jahre gekommene Illustrierte Quick (1948-1992) mit<br />

frischen Sex-Geschichten ("Lass jucken Kumpel") liften. - Personen-Geschachere, Postillen-<br />

Rochaden in Sachen Pressefreiheit.<br />

Dessen ungeachtet tickt im Hause des Großverlegers eine ganz andere Zeitbombe. Für<br />

den explosiven Zündstoff sorgte der Konzernherr diesmal persönlich. Im Sommer 1974 kam der<br />

107


Pressezar mit einem Herrn Specht in Verbindung, der sich andiente, eine Millionenbeteiligung des<br />

Schahs von Persien (Mohammad Reza Schah Pahlavi *1919+1980) am Springer-Verlag zu<br />

vermitteln. Mit der Beziehung Springers zu Dr. Alfred Specht muss sich jetzt eine Kammer für<br />

Handelssachen beim Berliner Landgericht (Aktenzeichen: 90.0.18/75) beschäftigen. Der Grund:<br />

Der Kaufmann und Antiquitätenhändler Alfred Specht,44, fordert für seine<br />

Vermittlungsbemühungen rund 600.000 Mark.<br />

Specht, der dem Verleger schon Jugendstil-Antiquitäten im Wert von 80.000 Mark<br />

verkauft hatte, behauptet, am 19. August 1974 von Axel Cäsar Springer in dessen Berliner<br />

Privathaus in der Bernadottenstraße 7 beauftragt worden zu sein, "alles zu unternehmen, was er für<br />

die Realisierung einer direkten oder indirekten Beteiligung Persiens an der Springer Verlags AG für<br />

erforderlich halte".<br />

So steht es in Spechts Klageschrift an das Gericht. Und dies : Bei der vertraulichen<br />

Besprechung im Kaminzimmer soll Axel Cäsar Springer sogar Verständnis dafür gezeigt haben,<br />

dass Specht seinen Verbindungsleuten "Schmiergelder" zahlen müsse, denn er "wisse von Berthold<br />

Beitz (Ehrenvorsitzender des Aufsichtsrates der ThyssenKrupp AG, 1990) was für enorme Beträge<br />

dort für solche Zwecke hätten fließen müssen", um die Beteiligung Persiens bei Krupp perfekt zu<br />

machen (1974).<br />

Auch Porschefahrer Alfred Specht wollte ganz hoch hinaus. Er kaufte am 23. August<br />

1974 die Genfer Briefkastenfirma "Real-Treuhand-AG" für 59.600 Schweizer Franken. Über dieses<br />

Tarn-Unternehmen sollte Persien seine Anteile bei der Axel-Springer AG in Berlin einbringen. Am<br />

selben Tag - so die Anklageschrift Spechts - habe er "mit der zwischengeschalteten PR-<br />

Interessengemeinschaft, der deutsche, schweizerische und persische Journalisten angehörten und<br />

die über entsprechende Verbindungen zum persischen Staat verfügten ... die Zahlung einer<br />

einmaligen Summe von 500.000 Mark" vereinbart. Für diesen Betrag habe er dem Münchner<br />

Journalisten Siegfried Dinser einen Wechsel gegeben.<br />

Nach seinen Angaben flog Antiquitätenhändler Alfred Specht am 27. August 1974 mit<br />

Axel Cäsar Springer von Berlin nach Düsseldorf. In der Suite 900/901 des Hotels<br />

"Intercontinental" trug Specht nun auch dem früheren Springer-Berater und heutigen Flick-<br />

Manager Eberhard von Brauchitsch (1973-1982) seine Persien-Pläne vor. Noch am selben Abend,<br />

so versprach Specht, könne Axel Cäsar Springer mit dem Schah in Zürich zusammentreffen. Doch<br />

daraus wurde nichts. "Innenpolitische Gründe", so erklärte der Kaufmann dem Presseherrn<br />

bedauernd, hielten den Kaiser in seinem Land zurück.<br />

Da fiel bei Springer endgültig der Groschen, zumal Eberhard von Brauchitsch seinen<br />

einstigen Chef vor Specht und dessen Geschäftspartners gewarnt hatte. Dem Manager war<br />

aufgefallen, dass Specht dem Iran-Botschafter in Washington <strong>als</strong> "Schlüsselfigur" bei dem Geschäft<br />

bezeichnete, aber noch nicht einmal dessen Namen korrekt wiedergeben konnte. Außerdem<br />

fürchtete Brauchitsch, Spechts "iranische Freunde" existierten überhaupt nicht.<br />

Obwohl danach "die Angelegenheit für Axel Cäsar Springer erledigt" war, wie es in der<br />

Erwiderung auf die Specht-Klage heißt, brach der Pressezar die Kontakt zu dem zwielichtigen<br />

Antiquitätenhändler nicht ab. Der inzwischen eingeschaltete Vorstand der Axel Springer AG hatte<br />

gegenüber dem Verleger die Befürchtung geäußert, Specht könne "Absichten verfolgen, die hinter<br />

dem Eisernen Vorhang beheimatet sind". Springer - wie weiland Willy Brandt mit dem Spion<br />

Günter Guillaume (1974) sollte mit Alfred Specht noch eine Zeitlang Kontakt halten, um ihn <strong>als</strong><br />

108


möglichen Ost-Agenten zu enttarnen. In seinem Schriftsatz beklagt Springer-Rechtsanwalt Hans-<br />

Joachim Rust, dass Specht "dies zum Anlass nahm, hinter seinem Rücken weiter zu operieren".<br />

So habe Alfred Specht am 8. Oktober 1974 dem Verleger erklärt, "er habe die iranische<br />

Angelegenheit dadurch weiter gefördert, dass er den iranischen Botschafter in Washington mit<br />

500.000 Mark bestochen und diesen Betrag auch schon überwiesen habe. Specht hingegen<br />

bestreitet das, bleibt aber dabei, dem Journalisten Dinser einen 500.000 Mark-Wechsel gegeben zu<br />

haben. Wie auch immer - Axel Cäsar Springer ist nicht bereit dafür aufzukommen. Nun hofft<br />

Specht auf das Gericht, denn das Wasser steht ihm bis zum H<strong>als</strong>. "Ich habe kein Geld mehr." -<br />

Deutsches Sittengemälde - Springer-Jahre, Springer-Geschichten aus den Siebzigern.<br />

109


BONNER POLIT-AFFÄREN : « NUR WEIBER IM KOPF »<br />

Sie hatten ein stillschweigendes Abkommen, der SPD-Politiker Ludwig<br />

Fellermaier (*1930+1996) und der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CDU-<br />

Bundestagsfraktion Leo Wagner (*1919+2006). Sie wollten sich wegen ihrer Zecherlebnisse<br />

und unendlichen Weiber-Affären nicht anschwärzen. Stillschweigen. Männer-Bünde. Die<br />

Bayern in Bonn. Warum die Staatsanwaltschaft dennoch wegen einer Bettgeschichte gegen<br />

den Genossen Fellermaier ermittelte, und sein CSU-Kollege Leo Wagner wegen<br />

"Verschwendungssucht" in Bars und Puffs rechtskräftig verurteilt wurde. Jagdszenen aus<br />

den siebziger Jahren. Einmal muss es ins Auge gehen.<br />

stern, Hamburg 08. August 1974<br />

Einst machte sich der Genosse Ludwig Fellermaier in der bayerischen Unterwelt <strong>als</strong><br />

Rausschmeißer und Geschäftsführer der Neu-Ulmer "Insel-Bar" einen Namen. Dann verschreckte<br />

er die Bürger <strong>als</strong> Gebrauchtwagenhändler. Jetzt ist der SPD-Bundestagsabgeordnete (1965-1980)<br />

und Chef der Sozialistischen Fraktion im Europa-Parlament (1975-1979) in eine pikante<br />

Scheidungsaffäre verstrickt.<br />

Seit zwei Monaten ist die Bonner Staatsanwaltschaft Fellermaier auf der Spur. Ein<br />

Ermittlungsverfahren (Aktenzeichen 8 Js 288/74) ist inzwischen eingeleitet worden:<br />

Bundestagspräsidentin Annemarie Renger (1972-1976: *1919+2008) wurde informiert. Der Grund<br />

für die Strafverfolgung: Weil Fellermaiers Intimfreund, der Münchner SPD-Landtagsabgeordnete<br />

Edi Hartmann (1970-1986) seine Frau Uta loswerden wollte, aber keinen Scheidungsgrund hatte,<br />

behauptete der Europa-Politiker Fellermaier vor dem Bonner Amtsgericht, mit Uta Hartmann in<br />

seiner Bonner Abgeordneten-Absteige am Rhein ein amüsantes Betterlebnis gehabt zu haben.<br />

Fellermaier: "Vor einer Fahrt nach Luxemburg fand zwischen mir und Uta Hartmann einmal<br />

Geschlechtsverkehr statt." - Gezeichnet Ludwig Fellermaier, Abgeordneter des Deutschen<br />

Bundestages.<br />

Die Mutter von zwei Kindern ließ diese Unterstellung nicht auf sich sitzen: "Das sind die<br />

Wunschvorstellungen von Herrn Fellermaier." Und ihr Rechtsanwalt Heinrich Borst beschuldigt<br />

den rechten Sozialdemokraten der F<strong>als</strong>chaussage, üblen Nachrede und der Beihilfe zum<br />

Prozessbetrug. Der erboste Advokat, früher einmal Staatsanwalt, gibt sich zuversichtlich: "Ich stelle<br />

nur Strafanträge, die Erfolg haben."<br />

Der Rechtsbeistand glaubt belegen zu können, dass Fellermaiers Aussagen vor Gericht<br />

dem Steuerbevollmächtigten Edi Hartmann aus der Patsche helfen sollte. Männer-Solidarität. Denn<br />

Fellermaier (Spitzname in der Partei: „der schwitzende Lu“) trat in dem Scheidungsprozess erst <strong>als</strong><br />

Zeuge auf, nachdem sich die Gerichtsverhandlungen schon über 18 Monate hingeschleppt hatten<br />

und zwölf Zeugen vernommen warten. Anwalt Borst: "Alle Zeugen konnten keinen Beweis für Uta<br />

Hartmanns Untreue liefern." Die attraktive 29jährige über Fellermaiers Aussage: "Mein Mann hat<br />

ihn sicherlich unter Druck gesetzt." An Druckmitteln ist kein Mangel, bis hin zu Fellermaiers<br />

Familienleben.<br />

Fellermaier und Hartmann, die man "in ihrer moralischen Wirkung nicht unterschätzen<br />

darf", so die Stuttgarter Zeitung ironisch, sind nicht nur die politischen Aushängeschilder der Neu-<br />

Ulmer SPD in dieser idealistisch vorgetragenen Reform-Ära. Sie sind daneben auch sehr<br />

erfolgreich, wenn es um Geld und Mädchen geht. Jurist Heinrich Borst sarkastisch : "Wenn man all<br />

110


diese Akten so liest, kann man den Eindruck haben, <strong>als</strong> hätten diese Politiker nur Weiber im Kopf<br />

und sonst nicht mehr viel."<br />

Ihr geheimer Treffpunkt war jedenfalls der "Bärringer Hof" im abgelegenen Provinzdorf<br />

Ettenbeuren. Ihre Spielwiese ein verstecktes Etablissement in Reutin, einem Stadtteil von Lindau<br />

am Bodensee. Altgenosse Herbert Fleischer, Gastwirt im "Bärringer Hof", erinnert sich an die<br />

nächtlichen Barbesuche der Neu-Ulmer SPD-Prominenz: "Bei mir waren sie oft mit Weibern.<br />

Danach sind sie dann in das Appartement in Reutin gefahren." Der "schwitzende Lu" Fellermaier<br />

zu diesen Vorwürfen: "Das ist alles lächerlich."<br />

Doch Neu-Ulms Justitiar, der FDP Landtagsabgeordnete Hans Willi Syring (1970-1974)<br />

lässt dieses Dementi nicht gelten : "Ich bin dam<strong>als</strong> wegen der Machenschaften von Hartmann und<br />

Fellermaier aus der SPD ausgetreten." So hatte sich Edi Hartmann 1972 in München einen<br />

besonderen miesen Trick einfallen lassen, um seine Frau loszuwerden.<br />

Auf der Suche nach Beweisen für Seitensprünge seiner Frau alarmierte er unter Hinweis<br />

auf sein Abgeordnetenmandat die Polizei, <strong>als</strong> er Uta Hartmann mit dem Kaufmann und<br />

Hausfreund Erich Hupp im "Hotel an der Oper" vermutete.<br />

Den Münchner Uniformierten machte Hartmann die Notwendigkeit des Einsatzes mit<br />

„staatspolitischen“ Argumenten schmackhaft. Seine Frau habe “geheime Notizen“ über die<br />

Ostpapiere (Grundlagen-Vertrag mit der DDR) und 2.000 Mark gestohlen und treffe sich gerade<br />

mit dem Ostspion Hupp im besagten "Hotel an der Oper". Hartmanns Plan freilich ging nur<br />

teilweise auf. Sechs Polizisten erwischten Frau Uta und Erich Hupp nur bei einem harmlosen Flirt,<br />

der <strong>als</strong> Scheidungsgrund aber nicht ausreichte. Und Geheimpapiere sowie 2.000 Mark fanden die<br />

Fahnder auch nicht. Denn Edi Hartmann hatte zu keiner Zeit Zugang zu vertraulichen<br />

Ostpapieren. Trotz Strafanzeige und Aufhebung der Immunität des SPD-Genossen durch den<br />

Bayerischen Landtag musste sich Politiker Hartmann vor keinem Gericht verantworten. Die Justiz<br />

schickte nur einen Strafbefehl.<br />

Ganz so harmlos wird sein Freund Fellermaier dagegen nicht davonkommen. Er muss<br />

befürchten, dass der Bundestag seine Abgeordneten-Immunität schon bald aufheben und die<br />

Staatsanwaltschaft dann Anklage wegen f<strong>als</strong>cher Aussage und übler Nachrede erheben wird.<br />

Kronzeuge der Anklage ist der Münchner CSU-Bundestagsabgeordnete Günther Müller<br />

(*1934+1997; von der SPD zur CSU gewechselter Münchner Parlamentarier 1965-1994). Er will<br />

unter Eid aussagen, dass Uta Hartmann mit Fellermaier keinen Seitensprung begangen hat, weil sie<br />

an dem fraglichen Abend mit dem Sozialdemokraten nicht allein war.<br />

Vielmehr habe Uta Hartmann zunächst mit Fellermaier, dem Kaufmann Hupp und ihm<br />

im Bonner Prominentenlokal "Maternus" in Bad Godesberg diniert und dann in der "Rheinlust" in<br />

Bonn-Kessenich, der ehemaligen Stammkneipe der SPD-Hinterbänkler um Bundesminister Egon<br />

Franke (*1913+1995) , mit den legendären "Kanalarbeitern" gezecht. Nach einem weiteren<br />

Lokalwechsel sei sie dann gegen 2 Uhr mit einem Taxi ins Hotel gefahren.<br />

Fellermaier kann nur noch hoffen, dass der CDU/CSU-Fraktionsgeschäftsführer und<br />

Neu-Ulmer Kollege und Direktkandidat Leo Wagner (*1919+2006; CSU-MdB 1961-1976) seinen<br />

Parteifreund Müller zurückpfeift. Denn bisher galt zwischen Wagner und seinem<br />

sozialdemokratischen Konkurrenten in Neu-Ulm das stillschweigende Abkommen, sich wegen<br />

Zecherlebnisse inklusiv Weiberaffären nicht anzuschwärzen. Augenzwinkern. Denn meist abends,<br />

wenn im Plenarsaal die Liveberichte für " die da draußen im Lande" zu Ende waren, vertauschte<br />

gleichsam der staatstragende CSU-Politiker Leo Wagner seine Rolle in die des schlüpfrigen<br />

111


Lebemanns. In Bordellen und Bars um Bonn und Köln gab der bayerische Biedermann pro Abend<br />

zwischen zwei- und viertausend Mark für Champagner, Kaviar und Mädchen aus. Gerade deshalb<br />

baut der SPD-Genosse darauf, dass sich "Night-Club Leo" wegen dieser Übereinkunft "unter uns<br />

Männern" auch verpflichtet fühlt, seine Gesinnungsfreunde von Attacken auf Fellermaiers<br />

Lebenswandel abzuhalten. Bislang allerdings hat CSU-Politiker Leo Wagner nichts getan, um die<br />

gefährliche Aussage seines Kollegen Günther Müller zu verhindern. Rätselraten.<br />

Verständlich. Leo Wagner plagte eine düstere Vorahnung. Schon wenige Monate nach<br />

dem Fellermaier-Sumpf musste er wegen seines eigenen nächtlichen Doppellebens das<br />

herausragende Amt eines parlamentarischen Geschäftsführers niederlegen. Absturz in die<br />

Bedeutungslosigkeit. Der Grund war sein Finanzdebakel, Schulden über Schulden. Er wurde fünf<br />

Jahre später (1980) von der 3. Großen Strafkammer des Landgerichts Bonn wegen Betrugs zu einer<br />

Freiheitsstrafe von 18 Monaten mit Bewährung und 168.000 Mark Geldbuße verurteilt. Der frühere<br />

Pädagoge Wagner hat, so die Richter, seit Ende der sechziger Jahre über seine Verhältnisse gelebt<br />

und sich -bei einem Monatseinkommen von über 11.000 Mark - in "zunehmender<br />

Verschwendungssucht" in undurchsichtige Kreditgeschäfte verstrickt. Betrug deshalb, weil er längst<br />

verpfändete Bezüge oder auch Bundestagsdiäten hinterhälterisch nochm<strong>als</strong> <strong>als</strong> neue Sicherheit für<br />

die horrenden Geldforderungen anbot; eben wissentlich abtrat, obwohl längst nichts mehr zu holen<br />

war - gar nichts.<br />

Ludwig Fellermaier kannte Wagners Milieus, Puffs, Pornos, Bars und Busen nur zu genau.<br />

Er, der Mann aus kleinen Verhältnissen, ahnte beizeiten, dass er der Rolle eines Lebemanns mit<br />

erfundenen Bettgeschichten nicht gewachsen war. Sie waren ihm längst entglitten. Kleinlaut<br />

gestand er im kleinsten Kreis: "Ich würde heute die Behauptung über Frau Hartmann nicht noch<br />

einmal machen. Wenn man aus dem Rathaus kommt, ist man eben klüger." Und seine Frau Martha<br />

fügt enttäuscht hinzu : "Ich verstehe überhaupt nicht, warum er sich auf so etwas einlässt. Uns geht<br />

es doch gut. Aber wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis."<br />

112


Stark und mächtig möchten die Niedersachsen schon sein. Bis heute haben sie sich von<br />

ihrem Preußenschock nicht erholt: dass sich der blinde Welfenkönig Georg V. von Hannover 1866<br />

gegen die Preußen bei Langensalza kampflos geschlagen gab und sein Land von Preußen<br />

einkassieren ließ. Erst <strong>als</strong> die Alliierten im Jahre 1946 Niedersachsen zu einem Bundesland<br />

machten, "kamen wir wieder an den Drücker" (Rehwinkel).<br />

Wer in Niedersachsen nach dem Krieg auch das Sagen hatte, ob der Bauernführer, der<br />

konservative Sozialdemokrat Kopf, die ehemaligen Bundesminister Hans-Christoph Seebohm<br />

(1949-1966; *1903+1967) und Heinrich Hellwege (1949-1955; *1908+1991), erst in der stramm<br />

nationalen "Deutschen Partei", dann in der CDU, ob in Hannover eine Große Koalition herrschte<br />

oder die Christdemokraten in der Opposition standen: Alle fühlten sich zuerst <strong>als</strong> Welfen, dann <strong>als</strong><br />

Parteipolitiker, Nach harten Redeschlachten im Provinz-Parlament hockten die "Kopf und<br />

Hellweges" einträchtig in hannoverschen Altstadt-Kneipen zusammen, spielen Skat oder<br />

Doppelkopf und machten sich lustig über den Spektakel, den sie gerade im Landtag für die<br />

Öffentlichkeit veranstaltet hatten.<br />

Es waren auch die Zeitläufte, Jahrzehnte eines noch erkennbaren niedersächsischen<br />

Urgesteins im deutschen Journalismus. Unverwechselbar hat er seine Nachrichten-Geschichten<br />

und Reportagen oft mit hintergründiger Ironie und Beobachtungsgabe formuliert. Der Spiegel-<br />

Korrespondent zu Hannover, Wolfgang Becker (*1922+2008), wurde schon zu Beginn der<br />

sechziger Jahre zur Legende. Mit Vorliebe traf er meist seine Informanten an Bier-Tresen oder in<br />

Eckzimmern stadtbekannter Pinten. Zwischendurch verschwand Spiegel-Becker immer wieder mal<br />

aufs Klo, um Zitate seiner Gesprächspartner auf Bierdeckel oder Quittungen zu notieren.<br />

Wolfgang Becker war mit seinem vorgelebten Leben ein Lehrer, er wurde in seinen<br />

journalistischen Jahrzehnten zu einer unbestechlichen Instanz - kritisch und frei, journalistisch<br />

brillant - im Niedersachsen-Land. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit gewinnt erst bei näherer<br />

Betrachtungsweise an Tiefenschärfe, ihr Gewicht - gemeint ist die allseits um sich greifende,<br />

unauffällige, alltägliche journalistischer Käuflichkeit ; Gefälligkeitsberichte genannt. Es blieb dem<br />

Verfassungsschutz-Chef Joachim Bautsch in Hannover vorbehalten, darauf hinzuweisen, dass<br />

zwölf Korrespondenten namhafter Zeitungen auf der Gehaltsliste seiner Schnüffel-Behörde stehen;<br />

jedenfalls <strong>als</strong> "besonders gute Gelegenheitsinformanten" ihr Handwerk verstehen. Deshalb<br />

wünsche er sich, dass noch mehr spürsinnige Redakteure mit dem Inlands-Geheimdienst<br />

zusammenarbeiteten.<br />

Zumindest in der Politik fand die ehrbare Welfen-Kumpanei erst ein jähes Ende, <strong>als</strong> die<br />

Große Koalition im niedersächsischen Landtag 1970 zerbrach. Mit dubiosen FDP- und<br />

rechtsradikalen NPD-Überläufern wollten die Christdemokraten den SPD-Ministerpräsidenten<br />

Georg Diederichs (*1900+1983) stürzen und ihren Vorsitzenden Wilfried Hasselmann<br />

(*1924+2003) auf den Stuhl Landesvater-Stuhl hieven. Sie wähnten sich zu besagter Zeit schon <strong>als</strong><br />

gestählte Sieger des Machtwechsels. Im Fraktionssaal stimmten die CDU-Männer bereits ihr<br />

"Niedersachsen-Lied" an. "Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen ... Heil,<br />

Herzog, Widukinds Stamm." Doch der CDU- Coup scheiterte. In den Landeswahlen 1970 bekam<br />

die FDP mit ihren 4,4 Prozent nicht einen einzigen Abgeordneten ins Parlament, und SPD-<br />

Ministerpräsident Alfred Kubel (1970-1976; *1909+1999) musste seitdem mit einer Stimme<br />

Mehrheit (SPD : 75, CDU : 74) im hannoverschen Leineschloss regieren.<br />

Jetzt schimpfen beide Seiten nur noch übereinander: "Mit diesem Lumpenpack diskutiere<br />

ich nicht mehr" (Kultusminister Peter von Oertzen, SPD (*1924+2008) zur CDU. - "Sie sind ein<br />

Menschenverächter" (CDU-MdL Edzard Blanke zu Ministerpräsident Alfred Kubel) - "Hier wird<br />

114


Sozialismus auf dem kalten Wege eingeführt" (Niedersachsen CDU-Gener<strong>als</strong>ekretär Dieter<br />

Haaßengier zur SPD. Wenn die CDU am 9. Juni 1974 die absolute Mehrheit gewinnen sollte, will<br />

Oppositionsführer Wilfried Hasselmann, ein Neffe Rehwinkels, deshalb auch gleich alle "linken<br />

Sozialdemokraten" aus den Ministerien feuern.<br />

Er, der Hasselmann, ist der Motor einer wie auch immer lancierten "geistig-moralischen<br />

Wende", die es von langer Hand vorzubereiten gilt. Hemdsärmelig zieht der gelernte Bauer durch<br />

Rathäuser und über Schützenplätze; schulterklopfend bei Bier und Korn mit frauenfeindlichen<br />

Witzchen im Repertoire. ("Ach, gnädige Frau, wie fühlen wir uns denn, wenn wir unsere Tage<br />

haben"). Die SPD schaut bei derlei Volkstümelei hilflos drein. Artig wirft sie den Konservativen<br />

lediglich vor, sie hätten keine politischen Alternativen anzubieten und schürten nur Angst und<br />

Verdrossenheit im Lande. Und der 1970 geschlagene FDP-Chef Rötger Groß (Innenminister 1974-<br />

1978, *1933+2004), passionierter Nicht-Reiter, setzt sich für den Wahlkampf sogar auf ein Pferd,<br />

um das "Niedersachsen-Ross wieder auf Trab zu bringen". Groß : "Das ist doch ein müder Gaul<br />

geworden."<br />

Doch die Menschen auf dem Lande lassen sich nicht durch Reiterkunststücke und auch<br />

nicht durch die CDU-Parole "Ran mit Hasselmann" oder den SPD-Slogan "Niedersachsen in fester<br />

Hand" aus der Ruhe bringen. Hier zählen das Schützenfest und der Dorfschwof am Sonnabend,<br />

der Ammerländer Schinken und der hochprozentige "Bullenschluck" mehr <strong>als</strong> schwarz-rote<br />

Konfrontationspolitik. Und bei der Lokalpolitik machen heimatliche Matadoren das Rennen. Ein<br />

Beispiel : Obwohl SPD und FDP bei den letzten Gemeinde-Wahlen in Bad Zwischenahn die<br />

absolute Mehrheit im Gemeinderat gewannen, blieb CDU-Landtagsabgeordneter Diedrich Osmers<br />

Bürgermeister.<br />

Osmers erzählt, wie er es wieder hingekriegt hat : Eine CDU-gesteuerte "Bürgerinitiative"<br />

sammelte am Sonntag nach der Wahl 4.800 Unterschriften für ihn, und die Siegerparteien mussten<br />

sich dem "öffentlichen Meinungsdruck" beugen. Seine Freunde sind von Kneipe zu Kneipe<br />

gezogen. "Als die Leute besoffen waren, wurden die Listen eingesammelt und wieder woanders<br />

hingelegt" (Osmers).<br />

Als Hüter von Anstand und Tradition treten überall im Lande die Herren vom<br />

Kleinkaliber auf. Mit 250.000 Mitgliedern ("Üb' Aug' und Hand fürs Vaterland") hat Niedersachsen<br />

die stärksten Schützenverbände in der Bundesrepublik. Die Schützen fühlen sich aufgerufen, die<br />

"bedrohte Gesellschaftsordnung" zu verteidigen. Ehrenpräsident Gerd Müller im April 1974 auf<br />

dem nordwestdeutschen Schützentag : "Wenn wir keinen Durchbruch schaffen, hat die Menschheit<br />

keine Existenzberechtigung mehr. Der Schützenverein ist die einzige unpolitische Organisation, die<br />

wieder aus Menschen richtige Menschen machen will."<br />

Im südoldenburgischen Vechta, wo es kaum Industrie gibt, haben CDU und katholische<br />

Kirche das Monopol. Jeder Zweite geht regelmäßig zum Gottesdienst und zur Beichte. Etwa 70<br />

Prozent wählen christdemokratisch. Hier verdient die Bevölkerung am wenigsten, ist die<br />

Arbeitslosigkeit am höchsten, sind die kinderreichsten Familien der Bundesrepublik zu Hause.<br />

Weniger verdient wird auch im Emsland : Der Durchschnittslohn eines Arbeiters in Aschendorf-<br />

Hümmling ist 930 Mark im Monat (Bundesdurchschnitt 1170 Mark). Der Geburtenüberschuss<br />

beträgt in Vechta dafür 8.8 Prozent (Bund : minus vier).<br />

In dem 25.000-Einwohner-Städtchen, wo Weihbischof Freiherr Max Georg von Twickel<br />

über Gut und Böse befindet, sind Sex-Filme ("Ohne Pariser nach Paris") zwar Kassenmagnete in<br />

den Kinos. Aber Antibabypillen müssen sich Studentinnen der Pädagogischen Hochschule im<br />

115


schwarzen Vechta für 9.50 Mark auf dem grauen Markt beschaffen (Ladenpreis : 7,25 Mark).<br />

Apotheker und bekennender Katholik Hermann Bockstiegel prüft mit Argwohn, ob Kundinnen,<br />

die ein Pillenrezept vorlegen, auch verheiratet sind. Frauenarzt Holger Wirmer will Studentinnen<br />

sowieso am liebsten überhaupt kein Rezept ausstellen: "Gerade die Intelligenz muss sich<br />

vermehren."<br />

Im Südosten Niedersachsens, in Braunschweig und seinem Umland, tritt "kleinbürgerliche<br />

Radikalität an die Stelle des ländlichen Konservativismus", erklärt Oberlandesgerichtspräsident<br />

Rudolf Wassermann (*1925+2008). Die Braunschweiger ließen sich schon oft von extremen<br />

Bewegungen mitreißen. In der Stadt Heinrich des Löwen zwangen 1918 die Bürger den Welfen-<br />

Herzog Ernst August (*1897 +1953) zum Thronverzicht. Und dort, wo dann der<br />

sozialdemokratische Krankenkassen-Angestellte und spätere DDR-Ministerpräsident Otto<br />

Grotewohl (*1894+1964) zum Justizminister ernannt wurde, marschierten 1931 riesige SA-<br />

Kolonnen stundenlang durch das Stadt-Zentrum. 1932 wurde Adolf Hitler vom Braunschweiger<br />

Innenminister zum Regierungsrat ernannt, damit er deutscher Staatsbürger wurde und für die<br />

Reichstagswahl kandidieren konnte.<br />

Zu jener Zeit versammelte sich die "Kleinstadt-Elite", etwa des Städtchens Schöningen<br />

am Elm, all abendlich zum Fanfaren-Stoß vor dem stattlichen SA-Uniformgeschäft auf dem Markt;<br />

ein Fanfaren-Stoß <strong>als</strong> Genugtuung, ein Fanfaren-Stoß auf das "Tausendjährige Reich" - "Nun lasset<br />

die Fahnen fliegen", schallte es in diesen düsteren Jahren in die Gassen hinein. Und zum Tanzen<br />

gingen Hitlers Deutsche natürlich in den legendenumwobenen "Schwarzen Adler" mit seinem<br />

prächtig ausstaffierten Parkettsaal - abends. Denn tagsüber schlugen, folterten SA-Schergen in<br />

seinen Kellerräumen jüdische Mitbürger zum KZ-Abtransport in Viehwagen windelweich.<br />

Barometer politischer Strömungen ist Braunschweig samt seinem Umland spätestens seit<br />

Kriegsende nicht mehr. Die nahe "Zonengrenze" hat die Stadt von ihrem wirtschaftlichen<br />

Hinterland abgeschnitten. Zwar fließen seit Jahren Steuergelder in Millionenhöhe in den 560<br />

Kilometer langen Grenzlandstreifen. "Jedoch ohne großen Erfolg", klagt Schöppenstedts SPD-<br />

Landrat Helmut Bosse. Von der Zonenrandförderung profitieren wenige Großunternehmen wie<br />

das VW-Werk in Wolfsburg. Doch in den Grenzkreisen Gifhorn, Helmstedt oder Wolfenbüttel<br />

investierte kein kapitalkräftiger Wirtschaftsbetrieb. Das Helmstedter Kohlenkraftwerk musste in<br />

den vergangenen Jahren sogar 4.000 Arbeiter entlassen. Braunkohle war nicht mehr gefragt. - Tote<br />

Hose vielerorts, fast überall; viele Landeulen, wenig Menschen.<br />

Die Gegend, in der einst Till Eulenspiegel (*1300+1350) den Bürger seinen nackten<br />

Hintern präsentierte, ist ausgeblutet. Die Kleinstädte Schöningen oder Schöppenstedt sind<br />

vergreist. Zwei Drittel der Bevölkerung im Zonenrand ist älter <strong>als</strong> 60 Jahre. Nach dem<br />

Schulabschluss verlässt die Jugend fluchtartig ihre triste Heimat. Zurück bleiben Krämerläden,<br />

verfallene Häuser, Kleingärten, Braunkohlegeruch.<br />

116


Dagegen ist das Volkswagenwerk in Wolfsburg trotz mancherlei Absatzkrisen und<br />

Einbrüchen ein Lichtblick an der DDR-Grenze. Ohne das Wirtschaftswunder VW wäre die<br />

Industrialisierung des Agrarlandes noch langsamer vorangekommen. Dafür sind jetzt<br />

Hunderttausende Existenzen von dem größten europäischen Automobilproduzenten abhängig :<br />

6.500 Zuliefererbetriebe in der Bundesrepublik und jeder vierte Arbeitsplatz in Niedersachsen.<br />

Kriselt es bei VW, dann schlittert das ganze Land in die Flaute. Arbeitslosigkeit und Steuerausfall<br />

sind die Folgen. 470.000 unverkaufte Autos auf der Halde und geschätzte Jahresverluste von 250<br />

Millionen Mark lösten im hannoverschen Wirtschaftsministerium Unruhe, Panik aus. Doch<br />

Minister Helmut Greulich (*1923+1993) ist optimistisch : "Mit den drei neuen Kleinwagen, die<br />

VW im Herbst auf den Markt bringt, werden wir die T<strong>als</strong>ohle sicherlich überwinden."<br />

Ohne VW geht, läuft nichts in diesem Land. Und das wird auch in Zukunft so bleiben.<br />

Und das trotz Continental-Reifen und Bahlsen-Kekse aus Hannover, Stahl aus Peine-Salzgitter,<br />

Olympia-Schreibmaschinen aus Wilhelmshaven, Nino-Textilien aus Nordhorn und Doornkaat aus<br />

Norden. Immerhin hat Niedersachsen seine Industrie-Produktion seit 1950 auf rund 30 Milliarden<br />

Mark jährlich verzehnfachen können.<br />

Neuerdings wollen auch die Ostfriesen ins Milliardengeschäft einsteigen. Südlich des<br />

Fischerdorfes Greetsiel, wo noch Milchkühe hinter dem Deich grasen, der alte Krabbenfischer Jan<br />

Müller mit seinem Schlickrutscher durchs Watt zieht und Aale aus den Reusen holt und der<br />

Gesangsverein "Seeschwalbe" das Lied der österreichischen Schlagersängerin Lolita (Ditta<br />

Einzinger)"Seemann, deine Heimat ist das Meer" schmettert, soll im Dollart der größte<br />

Schiffsanlegeplatz der Nordsee gebaut werden. - Fantasien von einem besseren Leben. "Ohne<br />

diesen ostfriesischen Hammer", so SPD-Landtagsabgeordneter Johann Bruns (MdL 1970-1994)<br />

"haben wir keine Zukunft. Denn die Tage des Emder Hafens <strong>als</strong> Umschlagplatz für Massengüter<br />

sind gezählt," Im Lauf der nächsten zehn Jahre wollen die Ostfriesen sogar den Welthäfen<br />

Hamburg und Rotterdam Konkurrenz machen. « Größenwahn, oder was ? », weiß Komiker Otto<br />

Walkes seinen Landsleuten hinterher zu rufen.<br />

Emden und sein Hinterland, die Krummhörn, ist eine traditionelle Hochburg der<br />

Sozialdemokratie. Hier engagierte sich im 16. Jahrhundert der rechtsgelehrte Bürgermeister<br />

Johannes Althusius schon 150 Jahre vor Jean Jacques Rousseau (*1712+1778) für die<br />

Volksdemokratie, hier organisierten Deicharbeiter im 18. Jahrhundert die ersten Streiks in<br />

Deutschland.<br />

Beim konstruktiven Misstrauensvotum gegen Willy Brandt (1969-1974) im Sommer 1972<br />

demonstrierten 8.000 Arbeiter der Nordsee-Werke und der VW-Niederlassung in Emdens<br />

Innenstadt. "Wäre Brandt abgewählt worden", sagt der Betriebsratsvorsitzende Walter Gehlfuß,<br />

"hätten wir eine Revolution gemacht. Verständlich, dass in einer solchen auf die SPD<br />

eingestimmten Atmosphäre an der Nordsee-Küste, auch nur kleinste Verrenkungen ihrer SPD-<br />

Prominenz wohlwollend registriert werden.<br />

Aufgeregt und üppig eingeschenkt wusste jedenfalls die Emder Zeitung im Jahre 2005<br />

davon zu berichten, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder (1998-2005) sich gern für die<br />

heimatliche Presse aufmerksam seiner fünf Schwiegermütter erinnert. Im speziellen Anliegen der<br />

Anneliese Taschenmacher, Frau Schröder die Zweite ( 1972-1984).<br />

117


Dort im Vorort Larrelt einsilbiger Kinkerbauten, in einem der kleinen Reihensiedlungen,<br />

verbrachte Schröders zweite Schwiegermutter Alma mit 82 Jahren ihren Lebensabend.<br />

Naheliegend, dass Emdens Oberbürgermeister Alwin Bringmann Liebesgrüße mit Berliner Blumen<br />

- und das direkt aus dem Kanzleramt - überbrachte. Schließlich habe Gerhard in den siebziger<br />

Jahren bei dem Taschenmacher Nächte durch Ostfriesen-Skat gespielt und ist morgens gleich "mit<br />

unserer Anne" an den Deich gegangen. "Da sollen sie immer stur in Richtung Holland geglotzt<br />

haben. Ja, ja", schmunzelte Ex-Schwiegermutter Alma ein wenig Gedanken verloren, das sei aber<br />

nicht der erste Schröder-Gruß gewesen. Einmal, erzählte sie plötzlich, habe sie einen ganz langen<br />

Brief aus privatem Anlass (Scheidung?) auch schon mal von Schröder bekommen - der kam<br />

allerdings nicht aus Berlin, sondern noch aus Hannover. Denn da war "der Gerhard mal<br />

niedersächsischer Ministerpräsident" (1990-1998). Schneller Abgesang. Verstecktes Ende.<br />

Ebenso schnell schießen die Genossen im Arbeiterviertel Hannover-Linden ihre<br />

Landesminister ab, wenn sie sich nicht an der Basis "bewähren". Der Maschinenschlosser Bruno<br />

Orzykowski (MdL 1970-1978), Betriebsratsvorsitzender der Vereinigten Aluminium-Werke siegte<br />

1970 bei der Kandidatenaufstellung über seinen Konkurrenten, Innenminister Richard Lehners<br />

(*1918+2000), und erzielte das zweitbeste Wahlergebnis der SPD. 1974 schlug er bei der<br />

Kandidatenaufstellung Sozialminister Kurt Partzsch (*1910+1990). Dazu Orzykowski: "Die<br />

Genossen wollen keine Parteidenkmäler mit Heiligenschein, sondern Politiker, die in ihrem<br />

Wahlkreis arbeiten."<br />

Jahressprünge - "Tempora mutantur,nos et mutamur in illis" (Die Zeiten ändern sich, und<br />

wir ändern uns mit ihnen). Es ist Freitagabend 2o Uhr am 17. April 2004. Schröder-Zeit, Schröder-<br />

Fest der merklich Angekommenen - Ausnahmezustand am Aegi zu Hannover. Sicherheitsstufe<br />

eins, der Friedrichswall halbseitig gesperrt. Gerhard Schröder gedenkt mit 450 erlesenen Gästen im<br />

Theater am Aegi seines 60. Geburtstages. Schulterklopfen. Im Minutentakt kurven gepanzerte<br />

Limousinen vor: Staatsmänner von fern, Politiker von nebenan, Schauspieler, Literaten,<br />

Hofschreiberlinge Wirtschaftsbosse. Medienrummel gibt's nur draußen vor der Tür, drinnen wird's<br />

"gemütlich". Alles ist im warmen Rot gehalten.<br />

Rote Nelken, rote Sitzkissen, rote Bändchen um die Blumenbestecke. Wenigstens die<br />

Dekoration soll noch daran dezent erinnern, dass es früher in Sachen Rot mit seiner roten Wut<br />

einmal ganz anders war. Nunmehr zeigt der Stoff dieser Jahre viel Brioni, viel Satin in einem<br />

erkalteten deutschen Interieur neureicher Auffälligkeiten. Schröder-Jahre, Zeit der<br />

Angekommenen. Aus den Lautsprechern scheppern die "Capri-Fischer" fürs Ohr und Gemüt,<br />

gegessen wird niedersächsisch: Fischhäppchen und natürlich Nienburger Spargel. Viel hat sich<br />

getan, Aufstieg, Klamotten, Nippes, Kosmetik, prendre goût - Frauen-Geschmack, ja ganz gewiss –<br />

auch der.<br />

Ganz am Rande des Parvenu-Geschehens lauert ein untersetztes Männchen, dessen<br />

Pausbäckchen sich vor Lachen gar nicht beruhigen mögen. Genugtuung ist angesagt: still,<br />

unauffällig. Reinhard Scheibe, einst linker Rebell, ärmlicher Flüchtling, Lehrer über den zweiten<br />

Bildungsweg , - ist vor allem eines - Gerhard Schröders Freund; eine Art Lebensversicherung. Er<br />

durfte sich zeitweilig gar sein Staatssekretär (1990-1991) nennen. Nunmehr fungiert Genosse<br />

Reinhard in seiner Eigenschaft <strong>als</strong> Toto-Lotto-Chef Niedersachsens, mausert sich zum Mäzen für<br />

Festiv<strong>als</strong>, Ausstellungen, Konzerte. Millionen werden da in "linken" Händen hin und her<br />

geschoben. "Lotto-Spieler wollen immer etwas gewinnen", sagt Scheibe; eine Art<br />

Regierungserklärung dieser Jahre - Schröder-Jahre. Das war es dann auch schon. Wenn man einmal<br />

vom feinen Stoff des Jubilars absieht. Er trägt immerhin ein Anzug für 3.000 bis 5.000 Mark. Da<br />

darf es an der Seidenkrawatte (150 Mark) natürlich nicht fehlen. - Brioni-Leben.<br />

118


Nur in Hannover-Linden mit seinen 32.000 Einwohnern ist in den vergangenen 20 Jahren<br />

für die Lebensqualität wenig getan worden. Armut wird zusehends größer. Alte Menschen<br />

vegetieren irgendwie vergessen, kaum beachtet in abseits gelegenen Hinterhöfen. Gastarbeiter<br />

hausen zusammengepfercht in brüchigen Altbau-Wohnungen, die Krankenhäuser sind überfüllt.<br />

Die 720 Ganztagsschüler der integrierten Gesamtschule müssen schichtweise unterrichtet werden,<br />

in Schichten essen und manchmal sogar auf der Straße Schularbeiten machen. 87 Prozent der<br />

Wohnungen haben kein Bad und keine eigene Toilette. Noch immer gibt es das Plumpsklo auf dem<br />

Hinterhof und die Wasserstelle im Keller. Modell Deutschland? Soziale Wirklichkeit in<br />

Niedersachsen.<br />

"Ich bin im Landtag der Buhmann, weil ich über den sozialen Wohnungsbau schimpfe",<br />

sagt Bruno Orzykowski. "In Hannover stehen immerhin 3.000 Komfort-Wohnungen leer, und<br />

warum werden für den Ausbau des Niedersachsen-Stadions 26 Millionen und für ein Sprengel-<br />

Museum 60 Millionen Mark verschleudert, wenn für die Altstadtsanierung nur fünf Millionen Mark<br />

übrigbleiben? Nur wenn hier in unserem Arbeiterviertel wirklich was besser wird, können wir die<br />

Wähler auf unsere Seite ziehen."<br />

Nicht mit Landespolitik, sondern mit einer totalen Mobilmachung aller Bundespolitiker<br />

wollen die Parteien auf dem Nebenkriegsschauplatz Niedersachsen die Vorentscheidung über das<br />

Schicksal der Bonner SPD/FDP-Koalition (1969-1982) erzwingen. Gewinnt die CDU die absolute<br />

Mehrheit, könnten die Unionsparteien noch mehr <strong>als</strong> bisher die sozialliberale Regierungspolitik im<br />

Bundesrat blockieren. Sie hätten dann in der Länderkammer eine 26:15 Mehrheit (bisher 21:20).<br />

Und im entscheidenden Vermittlungsausschuss aus Mitgliedern des Bundestages und des<br />

Bundesrates wäre der Vorsprung der Regierungskoalition weggeschmolzen.<br />

CDU-Chef Helmut Kohl (1973-1998) und sein Provinz-Fürst Wilfried Hasselmann (1968-<br />

1990) haben ihre Wahlkampfstrategie auch deshalb auf bundespolitische Themen abgestellt, weil es<br />

der Union schwerfällt, die Erfolge der sozialdemokratischen Regierung zu leugnen. So finster es in<br />

Hannover-Linden auch aussieht, in den vergangenen Jahren wurden in Niedersachsen immerhin:<br />

120.000 Arbeitsplätze geschaffen,<br />

30.000 Kindergartenplätze eingerichtet,<br />

53.000 Wohnungen gebaut,<br />

400 Industriebetriebe neu angesiedelt,<br />

500 Kilometer Straßen gebaut,<br />

zwei neue Universitäten gegründet (Osnabrück und Oldenburg); die Zahl der<br />

Studenten stieg von 38.900 auf 57.000,<br />

14.300 neue Lehrer eingestellt,<br />

für 10.000 Kinder Vorschulunterricht eingeführt.<br />

119


Ein Leistungskatalog, den sogar die konservative "Hannoversche Allgemeine" <strong>als</strong> "solide<br />

Bilanz" bezeichnet. Der gegenüber hat es die CDU mit der Angstmache vor dem roten Gegner<br />

schwer. Der hannoversche CDU-Gener<strong>als</strong>ekretär Dieter Haaßengier fordert die Niedersachsen auf,<br />

christdemokratisch zu wählen, damit "Deutschland nicht unabwendbar dem Sozialismus entgegen<br />

rutscht". Und der CDU-Abgeordnete Helmut Tietje warnte in Cuxhaven gar vor einem "roten<br />

1933", der am 9. Juni 1974 Realität werden könnte.<br />

Am 9. Juni 1974 kann sich aber kein "roter" und noch nicht einmal ein<br />

sozialdemokratischer Alleinsieg verwirklichen. Auch wenn die zerstrittene SPD-Spitze mit<br />

Vorsitzer Willy Brandt, Kanzler Helmut Schmidt mit Herbert Wehner in den letzten<br />

Wahlkampfwochen unwartete Einigkeit demonstriert - die absolute Mehrheit in Niedersachsen ist<br />

nach den Niederlagen in Hamburg, Schleswig-Holstein und im Saarland unrealistische denn je.<br />

Talfahrten. Schon vor vier Jahren, <strong>als</strong> der Genosse Trend noch aufwärts marschierte, hatten die<br />

Sozialdemokraten in ihren einstigen Stammland nur 20.000 Stimmen mehr errungen <strong>als</strong> die CDU.<br />

Dafür sagen die Meinungsforscher der niedersächsischen FDP, die 1970 an der Fünf-<br />

Prozent-Klausel scheiterte, die Rückkehr in den Landtag voraus. Und FDP-Chef Rötger Groß<br />

(*1933+2004) hat sich bereits seit Monaten auf eine Koalition mit der SPD festgelegt, "wenn auch<br />

nur eine hauchdünne Mehrheit für eine sozialliberale Regierung für eine sozialliberale Regierung<br />

vorhanden ist."<br />

120


MALAWI - WEIßE HERRENMENSCHEN ODER GELDER,<br />

DIE IM BUSCH VERSCHWINDEN<br />

Malawi ist ein Staat in Südost-Afrika. Mit seinen 13 Millionen Einwohnern zählt er<br />

zu den Ärmsten der Armen; die Mehrheit der Bevölkerung lebt von weniger <strong>als</strong> einem US-<br />

Dollar pro Tag. Die Lebenserwartung ist auf 32,5 Jahre gesunken. 30 bis 55 Prozent der<br />

Bevölkerung leiden an AIDS. Zur Tilgung seiner Schulden gibt das Land mehr Geld aus<br />

<strong>als</strong> zur medizinischen Versorgung. Ob in Malawi oder auch in anderen Ländern auf<br />

diesem Kontinent - allzu oft scheitert sinnvolle Entwicklungshilfe an deutschen Experten.<br />

Sie leben in Luxus, verschwenden Millionen und sehnen sich nach alten Kolonialzeiten -<br />

deutsche Herrenreiter. - Wiederholungszwänge. Rückblende auf ein geschundenes Land<br />

und keine durchgreifende Besserung in Sicht. Menschen kommen und gehen, Strukturen<br />

bleiben - und das seit Jahrzehnten. Verquere Zeiten.<br />

stern, Hamburg 28. März 1974<br />

Der 19 jährige Francis, Sohn eines Kleinbauern, trommelt und rasselt mit seiner Vier-<br />

Mann-Band. Nancy, eine 17jährige Prostituierte, tanzt. Unterernährte Jugendliche, in Lumpen<br />

gekleidete Landarbeiter, Frauen mit Kindern auf dem Rücken singen und klatschen im Takt. Auf<br />

dem staubigen Sandplatz neben der abbruchreifen Senga-Bay-Bar treffen sich an jedem Samstag<br />

die ärmsten der Malawier. Einen Großteil ihres Sechs-Tage-Lohns von 70 bis 90 Tambala (2,10 bis<br />

2,70 Mark) geben sie für Alkohol aus, der sie etwas fröhlich macht.<br />

Doch diesen Sonnabend hocken die Afrikaner verängstigt neben der Bruchbude. Nicht<br />

einmal der sonst so beliebte Song "Ice cream, you scream" reißt sie hoch. Francis spielt jetzt das<br />

melancholische Volkslied von der Cholera. In dem Dorf Salima, ein paar Autominuten von hier,<br />

starben innerhalb von acht Stunden ein Dutzend Menschen an dieser heimtückischen Krankheit.<br />

Die Gefahr einer Epidemie ist groß. Das Medikament Tetracyclin ist für die Schwarzen zu teuer.<br />

Es kostet 23 Mark.<br />

Nur knapp eine Meile von der Senga-Bay-Bar liegt Little Germany. So nennen die<br />

Einheimischen das exklusive Luxusviertel bundesdeutscher Spitzenverdiener. Isoliert von den<br />

Schwarzen und abgeschirmt von der Cholera leben hier 22 Entwicklungshelfer mit<br />

Monatsgehältern zwischen 4.000 und 8.000 Mark netto.<br />

Es sind Angestellte der "Garantieabwicklungsgesellschaft" [GAWI] mit Sitz im hessischen<br />

Eschborn, die für Deutschland den Einsatz der Entwicklungshilfe-Fachleute organisiert. Seit 1975<br />

ist GAWI in die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) aufgegangen. Die -in Malawi<br />

allerdings nicht eingesetzten - Entwicklungshelfer des "Deutschen Entwicklungsdienstes" [DED]<br />

bekommen nur ein Einsatzgeld von monatlich 500 Mark.<br />

Weiß getünchte Villen (Kosten für die Bundesregierung: Vier Millionen Mark) stehen<br />

unter schattigen Bäumen. Riesige Wasserfontänen, die in der Trockenheit von Regenspeichern<br />

versorgt werden, haben einen gepflegten Rasen wachsen lassen, der bis zum Strand des Malawi-<br />

Sees reicht, Motorboote ziehen Wasserskis über den See. Abends erhellt Flutlicht den Tennisplatz.<br />

Aus der angrenzenden Erfrischungsbar ertönt der Evergreen, "rain and tears, it's all the same"<br />

(Regen und Tränen ist alles dasselbe). - So behaglich schön kann das Leben sein -und das inmitten<br />

eines Landes bitterster Armut; auf Tuchfühlung sozusagen.<br />

121


Schwarzes Personal besorgt den Haushalt, putzt Schuhe, macht Betten, kocht deutsche<br />

Küche, pflegt den Rasen und fährt die blonden Kinder aus. Den "Herrschaften" ergeben ist es<br />

außerdem. Landwirtschaftsfachmann Herbert Pils: "Wenn wir heute einen rausschmeißen, stehen<br />

morgen zwanzig Neue vor der Tür." Selbst vor den reinrassigen Schäferhunden Roli und Bingo<br />

haben die Dienstboten zu kuschen. Arnold von Rümker, Projekt-Vizechef: "Keine Angst vor dem<br />

Hund. Er beißt nur Schwarze."<br />

Dieses Kolonial-Herrenleben wird im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu<br />

Zeiten des linksorientierten SPD-Politikers Erhard Eppler (1968-1974) "sinnvolle<br />

Entwicklungshilfe für den Staat Malawi" genannt und <strong>als</strong> "größtes deutsches landwirtschaftliches<br />

Programm in dieser Region Afrikas" bezeichnet.<br />

Malawi ist mit 118.485 qkm fast halb so groß wie die Bundesrepublik. Im Norden grenzt<br />

es an das einst sozialistische Tansania, im Westen liegt Sambia, im Osten und Süden ist das frühere<br />

Nyassaland vom ehemaligen portugiesischen Kolonialgebiet, dem Mozambique umgeben. Die<br />

dam<strong>als</strong> 4,6 Millionen (im Jahre 2006 insgesamt 13 Millionen) Einwohner zählen zu den Ärmsten<br />

der Welt. Der Jahresverdienst liegt im Durchschnitt bei 200 Mark. Die Mehrheit der Bevölkerung<br />

lebt von einem US-Dollar pro Tag. Nahezu 90 Prozent der Menschen ernähren sich von der auf<br />

primitive Weise betriebene Landwirtschaft. Satt werden die meisten davon ohnehin nicht.<br />

Seit Malawi im Jahr 1964 selbstständig wurde, investierte die einstige Kolonialmacht<br />

England 60 Millionen Pfund Sterling in dem keiner Linksexperimente verdächtigen<br />

Entwicklungsland. Ohne dieses Geld könnte es in Malawi überhaupt keine Verwaltung, keinen<br />

Verkehr geben. Kamuzu Hastings Banda (*1896+1997) war der erste Präsident des<br />

Einparteienstaates - ein gefürchteter Diktator auf Lebenszeit. Er trat nach den ersten freien Wahlen<br />

im Jahre 1993 ab. Banda verfügte über Bankkonten in der Schweiz, England, war Eigentümer von<br />

Baumwoll-und Tabakpflanzen und einer Tankstellen-Kette. Sein Privatvermögen belief sich auf<br />

320 Millionen US-Dollar. Sein Leitmotiv: "Notfalls erbettele ich mir das Geld vom Teufel, um<br />

mein Land voranzubringen."<br />

Solcher Aufforderung, Entwicklungshilfe zu leisten, hatte es bei der deutschen Regierung<br />

zu Zeiten des "Kalten Krieges" zwischen Ost und West gar nicht bedurft.<br />

Bandas rigoroser Antikommunismus passte dem CDU-Kanzler Konrad Adenauer<br />

(*1876+1967) genau ins politische Konzept. Der frühere Arzt Banda, nannten ihn seine Anhänger,<br />

machte im Jahre 1993 eine Bitt-Reise nach Bonn an den Rhein und warf einen entrüsteten Blick<br />

über die Berliner Mauer. Seitdem ist die Bundesrepublik in Malawi engagiert. Konrad Adenauer<br />

gewährte 50 Millionen Mark Kapitalhilfe für Straßenbau und eine Rundfunkstation. Die Minister<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit Walter Scheel (1961-1966), Hans-Jürgen Wischnewski (1966 -<br />

1968) und Erhard Eppler pumpten weitere 49 Millionen Mark in das deutsche Landwirtschaftsprojekt<br />

Salima, vier Stunden nordöstlich von der Metropole Blantyre. Salima ist eine Stadt in der<br />

Zentralregion von Malawi. In ihr leben Schätzungen aus dem Jahre 2006 insgesamt 32.000<br />

Menschen; davon 80 Prozent unterhalb der inländischen Armutsgrenze.<br />

In dieser Region, die so groß wie das Saarland ist, bearbeiten 90.000 Kleinbauern bisher<br />

ihre Felder mit primitiven Hacken. Die Erträge an Baumwolle, Reis und Erdnuss waren so kläglich,<br />

dass sie einer achtköpfigen Familie nur ein Jahreseinkommen von gleichweise 123 Mark<br />

einbrachten. - Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig.<br />

Im Jahre 1968 kamen dann die deutschen Experten ins Land. Ihre Aufgabe: eine<br />

exportfähige und Devisen bringende Baumwollproduktion in Gang zu setzen. Ihr erster Schritt<br />

122


war, bei den Kleinbauern, von denen die meisten noch nicht einmal ein Ochsengespann zum<br />

Pflügen kannten, mit komplizierten Finanzierungsprogrammen kapitalistischen Ehrgeiz zu wecken.<br />

Dazu teilten sie die ursprünglich gleichberechtigten Bauern in Besitz- und Leístungsklassen ein. Die<br />

Qualität des Bodens und die Bereitschaft der Farmer, den Acker nach deutscher Anweisung zu<br />

bestellen, entschied über die Einstufung. Agrarexperte Joachim Johannes erklärt das System: "Nur<br />

wer etwas leistet, bekommt - je nach Gruppe gestaffelt -von uns Kredit. Die Bauern haben die<br />

Chance, von der ersten bis zur sechsten Stufe aufzusteigen."<br />

Doch Chancen für soziale Aufsteiger gibt es in Salima praktisch nicht. Denn um das von<br />

Präsident Banda verordnete Devisensoll zu erfüllen, begünstigen die Entwicklungshelfer nur<br />

Bauern mit schon relativ guten Baumwollerträgen. Die zwanzig Farmer der Gruppe 6 bekommen<br />

Darlehen in Höhe von je 480 Mark im Jahr, die 250 Bauern der Gruppe 5 je 180 Mark, Gruppe 4<br />

(300 Bauern) je 135 Mark, Gruppe 3 (4200 Bauern) je 90 und Gruppe 2 (8.000) Bauern je 39 Mark.<br />

Die 20.000 ärmsten Bauern mit den schlechtesten Böden erhalten gar keine Kredite ( Gruppe 1).<br />

Die Folge: In sechs Jahren deutscher Entwicklungshilfe kristallisierte sich aus den Salima-Bauern<br />

eine Gruppe von 570 Privilegierten heraus, deren Jahreseinkommen bis auf 1.040 Mark kletterte.,<br />

während die Kleinbauern der Gruppe 1 im Projektgebiet immer noch um 123 Mark verdienen -<br />

und Not und Neid immer stärker in Eigentumsdelikten und Schlägereien explodieren. Salima-<br />

Landwirtschaftsberater Karl Feldner hält das Kreditsystem für gescheitert. "Wir können nicht ohne<br />

weiteres den Kapitalismus auf die Afrikaner übertragen. Damit zerstören wir nur eine noch intakte<br />

soziale Verbundenheit und schüren Neid und Habgier."<br />

Projekt-Vizechef Arnold von Rümker hingegen ist stolz auf seine Bilanz: "Wir haben den<br />

Baumwollertrag je Acres (=0,4 Hektar) von 450 auf 850 Mark steigern können." Doch gleichzeitig<br />

gibt er zu: "Die Erfolge sind natürlich nicht so hervorragend, dass es den einfachen Leuten heute<br />

besser geh <strong>als</strong> anderswo im Land."<br />

Die Baumwollproduktion, die Devise bringt, rangiert in Salima selbst vor der Schulpflicht.<br />

Nur ein Fünftel der Kinder kann die Schule besuchen. Denn dafür müssen die Eltern 20 Mark im<br />

Jahr bezahlen. Staatspräsident Banda wollte die Analphabetenquote in den nächsten fünf Jahren<br />

nicht senken. Er befürchtete, mehr Bildung könnte die Jugend zur Landflucht verführen und so<br />

seine Agrarpolitik gefährden. Arnold von Rümker gibt es: "Offiziell dürfen wir im Projektgebiet<br />

keine Schulen bauen. Das hat politische Gründe."<br />

Stattdessen durften die deutschen Entwicklungshelfer aber auf Anordnung des<br />

Präsidenten dessen Parteijugend die "Malawi Young Pioneers" (MYP), ausbilden. Die Devise der<br />

nach Hitler-Jugend-Modell organisierten MYP: "Disziplin, Gehorsamkeit, lange lebe der<br />

Präsident." Nach einem zweijährigem Drill durch israelische Militärberater sollten die Deutschen in<br />

Salima Siedler und Handwerker aus ihnen machen.<br />

Obwohl das Regierungsabkommen zwischen Deutschland und Malawi die Schulung der<br />

Kaderjugend nicht vorsieht, erzwang Banda die MYP-Ausbildung in der deutschen<br />

Handwerkerschule und in einem Siedlergebiet. Damit MYP-Mitlglieder aus ganz Malawi<br />

ausgebildet werden konnten, mussten Einheimische aus dem Projektgebiet abgewiesen werden.<br />

Ein vertrauliches Gutachten des Malawi-Referenten Dr. Fischer hatte Minister Erhard<br />

Eppler vor dieser "verhängnisvollen Entwicklung" gewarnt: "Das zuvor in Lagern vermittelte Elite-<br />

Bewusstsein und die hinter der Organisation stehende politische Macht tun ein übriges, um soziale<br />

und politische Spannungen im Projektgebiet entstehen zu lassen."<br />

123


Aber selbst der in seinen Theoriebeiträgen stets versierte deutsche Sozialdemokrat Erhard<br />

Eppler (Buchtitel: "Das Schwierigste ist Glaubwürdigkeit") tat nichts dagegen, dass seine<br />

Entwicklungshelfer für eine rechtsradikale Staatsjugend arbeiten mussten. Die<br />

Landwirtschaftshelfer erschlossen Siedlergebäude für 300 "Malawi Young Pioneers". Sie bauten<br />

Straßen und Häuser, bohrten Brunnen und vergaben zur Feldbestellung Spitzendarlehen von 2.000<br />

Mark pro Person. Doch die aus anderen Landesteilen kommenden MYPs wollten gar nicht in<br />

Salima sesshaft werden. Sie bestellten die Felder nicht, zahlten die Kredite nicht zurück und ließen<br />

die deutschen Entwicklungshelfer bald nicht mehr in das Siedlergebiet. Mitglieder, die den<br />

deutschen Anweisungen folgten, wurden verprügelt. Und <strong>als</strong> drei "Malawi Young Pioneers" wegen<br />

Schlägereien ins Gefängnis kamen, stürmten 200 ihrer Kameraden in einer nächtlichen Aktion das<br />

Polizeipräsidium und erzwangen die Freilassung.<br />

Da die MYPs unter dem besonderen Schutz des Präsidenten standen, wagte kein<br />

Deutscher, gegen Bandas Zöglinge vorzugehen. Immer, wenn die MYP's grölten, wurde es unter<br />

den deutschen Entwicklungshelfer und ihren Familien ganz plötzlich Mucks Mäuschen still. Arnold<br />

von Rümker: "Dem Alten sind seine MYPs heilig. Hätten wir ihm gesagt, wie unrentabel das<br />

Siedlerprojekt verläuft, wären wir aus dem Land geflogen."<br />

Nach zwei Jahren zogen 240 "Malawi Young Pioneers" wieder in ihre Heimatdörfer.<br />

Mittlerweile steht die Hälfte der einst kostspielig aufgebauten Häuser in Salima leer, die Felder<br />

liegen brach. Fehlinvestitionen: eine Million Mark.<br />

Nach der ursprünglichen Planung sollten die deutschen Experten 1974 durch malawische<br />

Fachkräfte ersetzt werden. Doch von den wenigen Malawiern mit abgeschlossener Fachausbildung<br />

saßen viele seit Jahren in KZ-ähnlichen Lagern. Fast jede Nacht ließ Diktator Banda eine<br />

Menschenhatz gegen Oppositionelle und kritische Intelligenz veranstalten. So gegen Tausende<br />

Zeugen Jehovas, die sich geweigert hatten, Zwangsabgaben für die Einheitspartei zu zahlen (fünf<br />

Tambala = 15 Pfennig pro Marktbesuch). Kein Entwicklungshelfer durfte den Verfolgten helfen.<br />

Banda befahl, einen Teil der auf europäischen Universitäten ausgebildeten Malawier in die Camps<br />

einzusperren, weil er den Akademikern eine kommunistische Unterwanderung zutraute.<br />

Ein Dutzend Minister und Staatssekretäre saßen in Gefängnissen, weil sie eine<br />

Generalamnestie der Inhaftierten gefordert hatten. Auf dem Parteitag der "Malawi Congress Party",<br />

rechtfertigte Banda 1972 sein Vorgehen: "In anderen Ländern werden die Systemfeinde sofort<br />

ermordet. Bei mir können sie in den Camps überleben." Viele Tausende überlebten nicht. Zu jener<br />

Zeit saßen mindestens 25.000 Malawier in KZs.<br />

Deshalb blieb Banda, der wegen seiner Innenpolitik und seiner Sympathien für das<br />

damalige Apartheits-Regime Südafrika von den Nachbarstaaten boykottiert wurde, auf weitere<br />

ausländische Experten angewiesen. Minister Eppler, der über die Zustände in der Banda-Diktatur<br />

informiert war, verlängerte trotzdem das Salima-Projekt. Kostenpunkt: weitere 3,5 Millionen Mark<br />

pro Jahr. Da scheint es verständlich, dass deutsche Diplomatenjahrgänge aus der Nazi-Zeit, die den<br />

Zweiten Weltkrieg in Afrika unbeschadet in Deckung "überwinterten", vorauseilenden Gehorsam<br />

bekunden. Vornehmlich Max Schubert, seines Zeichens Erster Sekretär der deutschen Botschaft in<br />

Blantyre, bekundete vielerorts seine Sympathie , wenn die Rede auf Diktator Banda kam. "Was<br />

heißt hier schon alles Lager oder KZ. Wir fühlen uns mit den Malawiern jedenfalls sehr verbunden.<br />

Sie haben uns in der UNO immer geholfen, <strong>als</strong> wir noch kein Mitglied waren."<br />

Jürgen Möhling, ehedem Malawi-Experte im Entwicklungshilfe-Ministerium, fragt sich<br />

dagegen, "ob die deutsche Entwicklungshilfe in diesem Land überhaupt einen Sinn" macht. Sein in<br />

124


den siebziger Jahren verantwortlicher Minister, dem der Bundesrechnungshof erst vor kurzem<br />

wieder Misswirtschaft und Fehlplanung vorwarf, hat alle Einladungen zu Inspektionsreisen nach<br />

Salima abgelehnt. Erhard Eppler wollte am liebsten gar nichts von Malawi hören.<br />

P.S. Es war noch im Jahre 1974 , <strong>als</strong> die Lufthansa mit einer speziellen Ladung für die<br />

deutschen Entwicklungshilfe-Experten an Lilongwe Kamuzu International Airport anflog.<br />

Behutsam galt es, weit über 36 Flaschen "Mumm"-Sekt in sechs Kisten verpackt zu entladen. Vor<br />

den weiß getünchten Villen unter schattigen Bäumen mit dem anmutenden Panorama-<br />

Weitwinkelblick auf den Malawi-See galt es Abschied zu nehmen an einem der kommenden lauen<br />

Sommerabende. Vize-Projektleiter Dr. Arnold von Rümker hatte durch die "Gesellschaft für<br />

technische Zusammenarbeit" einen Ruf nach Washington D. C. zur Weltbank erhalten. -<br />

Meilenstein, Karriere-Sprung über Kontinente.<br />

Zum Abschied aus Malawi versammelten sich Deutschlands Spezialisten auf dem penibel<br />

gepflegten englischen Rasen vor ihren Villen. Sie standen feierlich mit ihren Schampus-Gläsern<br />

im Halbrund, steif, unnahbar. An diesem Abend prosteten sich nach Monaten des Alkoholverbots<br />

mit Bedacht wieder zu. Auch das war anlässlich des von-Rümker-Adieu eine Premiere, ohne<br />

großen Aufhebens: Der schwarze Room-Service in weißen Handschuhen durfte den sattgrünen<br />

Rasen betreten, Schampus nachgießen – ausnahmsweise. Wo doch sonst der Rasen eine<br />

besondere Obhut genießt. Aus einem uralten Uher-Tonband-Gerät schepperte Nino Rossos 'Il<br />

Silenzio" bei Sonnenuntergang. Vom dürftigen Malawi zur Weltbank nach in die US-Hauptstadt<br />

Washington. Ja, ja, nichts ist erfolgreicher <strong>als</strong> Erfolg. Das Leben des Dr. Arnold von Rümker war<br />

und blieb eine Erfolgsgeschichte.<br />

Nach fünfzehn Jahren in Steppen und an weiläufigen Stränden rund um und in Malawi<br />

durfte sich der Agrarökonom „Ehrenritter in die Provinzial-Sächsische Genossenschaft des<br />

Johanniterordens" nennen. Zum ehrwürdigen "Rechtsritter" gar wurde der Entwicklungshelfer im<br />

Jahre 1998 ernannt. - Malawi hingegen, diese flüchtige, hin gepustete Region Salima aus<br />

Papphütten, Pappbecher und Pappnasen, diesen Landstrich ausgemergelter, von AIDS<br />

verseuchten, hungernden Kindern - die hat Arnold von Rümker mit seinen Schäferhunden Roli<br />

und Bingo nicht mehr wieder gesehen.<br />

125


126


1975<br />

Deutsche Spätaussieder – Heim ins Reich<br />

Polen – Aufruhr gegen Genossen Gierek<br />

Nazi-Vergangenheit ist Gegenwart – Karrieren<br />

Kriegsdienstverweigerer: Schieß oder du kommst in den Knast<br />

Sittengemälde – Professoren bitten zur Kasse<br />

Zeitgeschichte (1) – Wenn DDR-Bürger schwimmen gehen<br />

Zeitgeschichte (2) - Ende einer Utopie – rote Uni Bremen geht baden<br />

Zeitgeschichte (3) – Heidelberg im Bürgerkrieg. Unwohlsein in Wohlstands-<br />

Idyllen<br />

Rechtsradikale in Deutschland – vom Staat finanziert<br />

127


POLNISCHE SPÄT-AUSSIEDLER - "HEIM INS REICH"<br />

Zwischen 1950 und 1998 kamen etwa 1,44 Millionen Aussiedler un Aussiedlerinnen<br />

von Polen nach Deutschland. Als Folge des Warschauer Vertrags von 1970 über die<br />

Grundlagen der Normalisierung der Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik<br />

Deutschland, wurde erneut eine Vereinbarung über die Möglichkeit der<br />

Familienzusammenführung von Deutschen aus Polen getroffen. Die Volksrepublik Polen<br />

erkannte damit indirekt die Existenz von Deutschen im Lande an. Während Polen von<br />

einigen Zehntausenden von Ausreisewilligen ausging, lagen dem Deutschen Roten Kreuz<br />

zu Beginn des Jahres 1970 etwa 250.000 Anträge vor. Die zurückhaltende<br />

Genehmigungspraxis der polnischen Behörden veranlasste Bundeskanzler Helmut<br />

Schmidt (1974-1982) bei Gesprächen mit Polens Staatschef Edward Gierek (*1913+2001)<br />

am Rande der KSZE-Konferenz in Helsinki 1975 auf die Unterzeichnung eines<br />

Ausreiseprotokolls zu drängen. Danach sollten innerhalb von vier Jahren weitere 125.000<br />

Personen eine Ausreiseerlaubnis erhalten. Der Zuzug aus Polen nach Deutschland ist erst<br />

zu Beginn der neunziger Jahren durch die Neufassung des Aussiedleraufnahmegesetzes<br />

gestoppt worden. Rückblick. Zeitgeschichte.<br />

stern, Hamburg 18. Dezember 1975<br />

Die Kiste steht mitten in der Küche. Dem 78jährigen Josef Mainka dauert die Packerei<br />

viel zu lange. "Wir haben nicht mehr viel Zeit", treibt er seine Schwiegertochter Monika Mainka,<br />

37, an, die gerade Röcke und Pullover ihrer Töchter Veronika,13, und Christa, 10, verstaut. Zwei<br />

Frachtkisten stehen schon gepackt auf dem Hof.<br />

Die Adresse, in großen schwarzen Lettern auf der Frontseite eingebrannt, ist nicht zu<br />

übersehen: "Durchgangslager Friedland - BRD." Damit die Ausreise aus dem oberschlesischen<br />

Dorf Kozuby (früher Dammrode) klappt, fährt Mainkas Sohn Jan, 42, noch einmal zum Passport-<br />

Büro nach Opole (Oppeln). "Das Frachtgewicht in den Papieren muss ganz genau stimmen, damit<br />

wir auch wirklich rüberkommen", sagt Jan. Danach will er <strong>als</strong> Weihnachtmitbringsel für die<br />

Verwandtschaft fünf Gänse schlachten, die noch lauth<strong>als</strong> auf dem Hof herumschnattern. Land (12<br />

Hektar) und Gebäude sind schon dem polnischen Staat übereignet.<br />

Maurer Mainka muss sich noch von seinen Arbeitskollegen verabschieden, mit denen er<br />

20 Jahre im Akkord Häuser baute. Wohl ist ihm dabei nicht. Immerhin brachte er jeden Monat<br />

5.000 Zloty (416 Mark) nach Hause, und die kleine Landwirtschaft, die seine Frau besorgte, warf<br />

2.000 Zloty ab. Jan Mainka frohgemut: "Bei euch soll es sehr schön sein. Aber wie die Verhältnisse<br />

tatsächlich sind, wie soll ich das wissen. Wer sagt mir, ob ich einen Arbeitsplatz finde?" Opa<br />

Mainka fährt dazwischen: "Wer hart arbeitet, der bringt es auch zu was. Und im ersten Jahr kannst<br />

du doch stempeln gehen."<br />

Der Alte ist verbittert. Im Ersten Weltkrieg lag er für den Kaiser vor Verdun, in der Nazi-<br />

Zeit war er städtischer Angestellter in Breslau (jetzt:Wroclaw). Aber eine Rente bekommt er bis<br />

heute nicht, obwohl die Familie 1951 die polnische Nationalität annehmen musste. 1958 hatte<br />

Mainka zum ersten Mal die Ausreise beantragt, wollte dann aber doch lieber in der Heimat bleiben.<br />

Er glaubte an die von Konrad Adenauer (Bundeskanzler 1949-1963) versprochene<br />

Wiedervereinigung Deutschlands in den Grenzen von 1937 und wollte mit dabeisein, wenn die<br />

"deutschen Kolonnen" in Schlesien einziehen.<br />

128


Erst <strong>als</strong> die SPD/FDP-Koalition vor fünf Jahren den Vertrag mit Warschau (1970)<br />

schloss, erkannte Mainka , dass dieses Deutschland ein Traum war. Seitdem will er in die<br />

Bundesrepublik, weil "die Mainkas Deutsche bleiben sollen". Deshalb stellte die Familie<br />

(Schwiegertochter Monika: "Wir können Opa doch nicht allein fahren lassen") seit 1970 jedes Jahr<br />

einen Ausreiseantrag, dann die Genehmigung. Josef Mainka: "Jetzt fahren wir endlich heim ins<br />

Reich" - dorthin, wo Opa eine Rente kriegt.<br />

Fahrkarten für den Ost-West-Express von Warschau nach Hoek van Holland haben auch<br />

der Elektro-Schweißer Werner Frewer, 37, seine Frau Maria, 36, und seine Schwiegermutter Maria<br />

Wiora aus Czarnowasy (Klosterbrück). "Mir brauchen Sie nichts zu erzählen", sagt die 64jährige.<br />

"Wenn wir im Zug sitzen, sind wir keine Pollaken mehr. Dann denke ich nur noch an<br />

Deutschland." - "Gucken Sie sich doch mal den Dreck hier an", fährt Maria Wiora fort. "Bloß raus<br />

hier. In der Bundesrepublik liegen bestimmt keine Zigarettenkippen auf der Straße, da krakeelen<br />

nachts auch die Besoffenen nicht so rum."<br />

In Czarnowasy bei Opole gehörten die Frewers zu denen, die es zu etwas gebracht hatten.<br />

Als hochqualifizierter Industriearbeiter verdiente Werner Frewer einen Spitzenlohn: 6.000 Zloty<br />

im Monat. Die Großmutter bekam 1.500 Zloty Rente und die Drei-Zimmer-Wohnung kostete nur<br />

460 Zloty Miete. Frewer: "Eigentlich kann ich mich nicht beklagen."<br />

Doch seit andere ausreisen durften, ist es den Frewers hier zu eng. Die Schwester hat ein<br />

Eigenheim bei Düsseldorf, "einen funkelnagelneuen Wagen mit zwei Garagen" (Schwiegermutter<br />

Maria). In Czarnowasy aber schauen sie immer noch in die Röhre des Uralt-Fernsehers (Baujahr:<br />

1963). Über der durchgesessenen Couch hängt eine Postkarte der Verwandten aus der<br />

Bundeshauptstadt Bonn: ein blauer Rhein, das Poppelsdorfer Schloss im Frühling. Im<br />

verschrammten Wohnzimmerschrank steht neben Sammeltassen und bunten Ostereiern ein kleiner<br />

Nikolaus.<br />

"Weihnachten", freut sich Frau Maria, "feiern wir schon im Westen." Sie hoffen, bald eine<br />

neue Wohnung beziehen und möglichst bald ein Auto kaufen zu können. Werner Frewer fragt uns,<br />

welcher Typ am preisgünstigsten ist. - Aber erst kommt das Ausnahmelager Friedland. Die<br />

Aufschrift auf der Frachtkiste, die schon im Wohnzimmer steht, erinnert daran. "Doch nur für vier<br />

Tage", beschwichtigt die Schwiegermutter. Und die eine Million Arbeitslose? Schweißer Frewer hat<br />

keine Angst: "Ihr habt zwei Millionen Gastarbeiter. Die müsst ihr nach Hause schicken."<br />

Ob im schlesischen Industrie-Revier oder in den weiten Ebenen von Masuren - für alle<br />

Deutschen, die 1945 die Flüchtlingstrecks verpassten, für jene, die erst Polen werden und dann<br />

doch Deutsche bleiben wollten, und für die, denen über Jahre die Ausreise verweigert wurde, ist<br />

Bundesdeutschland eine paradiesische Fata Morgana.<br />

So für die 77jährige Bäuerin Johanna Krankowski aus Kopanki, die letztes Jahr zu Besuch<br />

"im Reich" war, wie sie es nennt. Stolz zeigt sie die Fotos ihrer Kinder, die in der Bundesrepublik<br />

leben: Farbfernseher, Kühltruhe, Teppichboden. Und sagt: "Die haben mehr Apfelsinen <strong>als</strong> wir<br />

Kartoffeln."<br />

Wenn es nach ihr ginge, würde Johanna Krankowski lieber heute <strong>als</strong> morgen das Ermland<br />

verlassen. Aber ihre Tochter ("Heimat ist Heimat") will auf dem neun Hektar kleinen Hof bleiben.<br />

Weil die Altbäuerin ihrer Tochter nicht zutraut, allein den Haushalt zu führen ("Als sie heiratete,<br />

konnte sie noch nicht einmal Brot backen"), entschied sie sich dafür, ihren Lebensabend doch in<br />

Kopanki zu verbringen.<br />

129


Aber abends, wenn sie unter den Heiligenbildern auf dem Plüschsofa sitzt und für den<br />

vierjährigen Enkel Jaschek Strümpfe strickt, dann erzählt sie dem Besuch aus der Nachbarschaft<br />

immer, wie schön es im Westen ist. Die Folge: Von den 20 Familien in Kopanki möchten jetzt<br />

fünfzehn ihre Koffer packen. Im 20 Kilometer entfernten Purda, früher Groß Purden, wollen von<br />

den 1.600 Einwohnern sogar 1.400 in die Bundesrepublik auswandern. Seit bekannt wurde, dass -<br />

dank der Einigung von KP-Chef Edward Gierek mit Bundeskanzler Helmut Schmidt in Helsinki -<br />

Polen in den nächsten vier Jahren 125.000 Deutsche ausreisen lassen will, ist "im Dorf eine<br />

Epidemie ausgebrochen" (Pfarrer Theodor Zuroi).<br />

Wenn eine Familie einen Antrag stellt, fahren auch gleich die Nachbarn mit dem 7-Uhr-<br />

Bus zum Passport-Büro in Olsztyn (früher Allenstein) und stehen dann Schlange vor dem<br />

Verwaltungsgebäude, um - manche zum 15. Male - ihren Antrag loszuwerden. Chancen<br />

rauszukommen, haben nicht so viele. Pfarrer Zuroi deutet bitter an, warum: "Nur die reicheren<br />

Bauern haben es bisher geschafft." Gerhard P. aus Olsztyn sagt es deutlicher. Er glaubt, die<br />

Praktiken der Passport-Beamten durchschaut zu haben: "Bestechungen ziehen am besten. Deshalb<br />

musste die Partei in diesem Jahr schon mehrere Male die Beamten auswechseln." Der<br />

Abteilungsleiter eines Industrie-Unternehmens versucht es mit einem anderen Trick. Seinem<br />

Stellvertreter, dem Verwandten eines einflussreichen Bezirksfunktionärs, machte er klar, dass er mit<br />

einer Beförderung zu rechnen habe, wenn er ihm über seinen direkten Draht nach 17 Ablehnungen<br />

endlich die Ausreise verschafft.<br />

Eine solche Möglichkeit gibt es freilich nicht für Pfarrer Zuroi, der schon einmal<br />

vorgefühlt hatte, ob es für ihn eine Pfarrei im Westen gebe, wenn er "<strong>als</strong> letzter" das Dorf verlasse.<br />

Doch so weit ist es noch lange nicht, und der katholische Priester versucht weiter, sich und seine<br />

Gemeinde zu trösten, mit Sprüchen wie: "Weil ihr gute Bauern seid, kommt ihr nicht raus." - "Wer<br />

das Vaterland liebt, wird auch hier seine Pflicht erfüllen."<br />

Das hilft Anton Skrzypski ,46, und seiner Frau Hildegard, 43, wenig, die jeden Abend vor<br />

dem Transistor-Radio sitzen - elektrisches Licht und fließendes Wasser gibt es auf ihrem kleinen<br />

Hof nicht -, um im Deutschland-Funk die steigenden Aussiedler-Zahlen zu verfolgen (Oktober:<br />

2500, November: 2800). Immerhin konnten seit dem Jahr 1950 exakt 465.000 Deutsche aus Polen<br />

in die Bundesrepublik ausreisen. Obwohl Hildegard Skrzypski gar nicht zu den Polen-Deutschen<br />

gehört, sondern aus der thüringischen Kreisstadt Rudolfstadt stammt, wird der Familie seit 1958<br />

Jahr für Jahr die Ausreise verweigert. Die letzte Absage erhielt sie am 25. Oktober 1975. Bauer<br />

Skrzypski resigniert: "Ich glaube nicht mehr an eine Wende." Er weiß den Grund: Seine Söhne,<br />

Tischler Gerhard, 22, und Maurer Clemens, 19, werden <strong>als</strong> Facharbeiter in Polen dringend<br />

gebraucht.<br />

Großzügiger sind die Behörden, wenn sie selbst zur Kasse gebeten werden können.<br />

Zweimal hatte sich Waldarbeiter Bruno Check vergebens um die Ausreise bemüht. Kurz nachdem<br />

der 42jährige Anfang des Jahres an einem Herzinfarkt gestorben war, bekam die Witwe Ursula, 39,<br />

die Auswanderungspapiere für sich und ihre Kinder Anton, 20, Christel, 19, Leo, 17, Rita, 15,<br />

Andreas, 13, Brigitte, 12, und Waldemar, eineinhalb. Der Staat hatte der Witwe und den jüngsten<br />

Kindern Rente zahlen müssen. Weil Ursula Checzka mit 1.750 Zloty Rente nicht auskam,<br />

übereignete sie ihre neun Hektar Land dem Staat, verkaufte die beiden Kühe und reist nun in eine<br />

ungewisse Zukunft in die Bundesrepublik Deutschland. Ursula Czeczka kann nur gebrochenes<br />

Deutsch, ihre sieben Kinder sprechen fast kein Wort.<br />

Für Frau Hildegard Brosch, 54, die den staatlichen Lebensmittelladen im Dorfe Braswald<br />

(Braunswalde) bei Olsztyn führt, kommt dieser "wagh<strong>als</strong>ige Schritt" nicht mehr in Frage. Vor<br />

130


einigen Jahren war sie bei einem Besuch in der Bundesrepublik noch wie geblendet. Sie zog von<br />

Geschäft zu Geschäft, bestaunte das Warenangebot ("Warum habe ich bei mir im Laden nur keine<br />

grüne Götterspeise?"), kaufte für die 20 deutschen Familien in Braunswalde dutzendweise<br />

Groschenromane ein. Ihrer Tochter Irene, heute 21, wollte Hildegard Brosch ein Paar Stiefel<br />

mitbringen. Im Kaufhaus fragte sie nach Schuhgröße 37. Es waren jedoch nur wenige Paare eine<br />

halbe Nummer kleiner zu haben. Die Verkäuferin riet ihr, die kleineren Lederstiefel zu kaufen und<br />

notfalls wieder umzutauschen. Hildegard Brosch: "Das geht aber nicht, denn ich komme aus<br />

Polen." Darauf die Verkäuferin: "Für die Polacken ist das doch gut genug. Die Schuhe werden Sie<br />

dort immer wieder los."<br />

Hildegard Brosch war völlig durcheinander. Beim Schwager, der mit ihrer Schwester erst<br />

ein paar Jahre zuvor von Braunswalde nach Hamburg übersiedelt war, suchte sie Beistand. Doch<br />

der Schwager verstärkte ihre Unsicherheit noch: "Wenn du hier einkaufen gehst, sag' am besten<br />

nicht, dass du aus Polen kommst. Das hören die Leute nicht so gern. Ostpreußen klingt viel<br />

besser." - Hildegard Brosch kam nun mal aus Polen. Dort hatte sie sich 30 Jahre <strong>als</strong> Deutsche<br />

gefühlt und verhalten. Sollte sie nun in der Bundesrepublik wieder <strong>als</strong> Außenseiterin abgestempelt<br />

werden? "Nein", sagt die 54jährige Kriegerwitwe, "dann bleibe ich lieber dort, in meinem kleinen<br />

Laden in der Dorfmitte von Braswald und bei meinen Kühen und zwei Schweinen auf dem Hof."<br />

Nein sagte auch die 60jährige Krankenpflegerin Helene Zappa - aber erst nach 12 Jahren<br />

Aufenthalt in der von ihr früher so ersehnten Bundesrepublik: "Ich fühlte mich dort isoliert und<br />

überflüssig." Als sie 1974 zur polnischen Botschaft nach Köln fuhr, um wieder in die "Heimat<br />

zurückzukehren", ahnte sie nicht, dass sie sich damit <strong>als</strong> Rückwanderer zwischen die deutschpolnischen<br />

Stühle setzen würde. 1951 hatte die Reichsdeutsche die polnische Nationalität<br />

annehmen müssen, 1962 durfte sie in den Westen ausreisen, wurde von Polen ausgebürgert und<br />

war vorübergehend staatenlos. Dann bekam sie den bundesdeutschen Personalausweis. Um in die<br />

Heimat zurückzukehren, musste Helene Zappa 1974 auf die deutsche Nationalität verzichten und<br />

wiederum die polnische beantragen. Bis die anerkannt ist, muss Frau Zappa fünf Jahre warten.<br />

Solange ist sie staatenlos und deshalb nur ein halber Mensch. Sie darf in keine<br />

Organisation eintreten, sie darf nicht wählen, sie darf nicht einmal ein Sparkonto bei der Staatsbank<br />

"PKO" einrichten. Immerhin bekommt sie 1.000 Zloty Sozialrente. In Jellow (Illnau) bei Opole,<br />

dem Heimatdorf, in das Helene Zappa zurückgekehrt ist, meidet sie die deutschstämmige<br />

Bevölkerung die künftige Polin, "Vaterlandsverräterin", riefen ihr die Bauern über die Straße zu, die<br />

1962 ihren Weggang erlebt hatten, aber bis heute vergebens auf die eigene Fahrkarte warten.<br />

Nur ein knappes Jahr blieb der katholische Pfarrer Edmund Kwapis, 44, im<br />

Hochsauerland. In seiner 1.000-Einwohner-Gemeinde wollte niemand etwas mit dem fremden<br />

Priester zu tun haben. Bei den Einheimischen hieß Kwapis "der Pole im Talar", die Kollegen<br />

sprachen von dem "Schlesier mit dem harten Akzent". Ältere Gemeindemitglieder ließen<br />

gegenüber dem Herrn Pfarrer durchblicken, er sei ja ganz nett, aber es wäre ihnen doch lieber,<br />

wenn ein Deutscher käme.<br />

Zwischen Kirche und Schule riefen ihm Kinder nach: "Der kommt aus Polen und Polen<br />

stinken", erzählt und Kwapis nachdenklich. "Ich hielt mich Jahrzehnte für einen richtigen<br />

Deutschen, habe hart für meine Ausreise kämpfen müssen und wollte mir in der Bundesrepublik<br />

eine neue Gemeinde aufbauen. Erst die Deutschen haben mich vom Deutschtum geheilt." In drei<br />

Monaten ist Pfarrer Edmund Kwapis mit Sondergenehmigung wieder polnischer Staatsbürger.<br />

131


AUFRUHR IN POLEN - GENOSSEN GEGEN GIEREK:<br />

PREISE, WARENKNAPPHEIT, FREIHEIT,<br />

MEINUNGSFREIHEIT<br />

Polen kommt nicht zur Ruhe. Erosionen - Momente etwa eines Bürgerkriegs in<br />

dem zwischen Ost und West zerriebenen Land. Rasante Preissteigerungen,<br />

Warenknappheit, geplünderte Sparbücher, jäher Absturz des Lebensstandards. Mittendrin<br />

blockt eine moskauhörige Beton-Fraktion noch so zaghafte Reformpolitik des polnischen<br />

KP-Chefs Edward Gierek (1970-1980; *1913+2001) ab. Er scheiterte mit der Modernisierung<br />

der Wirtschaft, konnte die horrende Auslands-Verschuldung nicht annähernd tilgen. Der<br />

Arbeiter Edward Gierek wurde nach Gründung der Solidarnosc-Gewerkschaft (1980)<br />

gestürzt und nach Verhängung des Kriegsrechts durch General Wojciech Jaruzelski im<br />

Jahre 1981 – noch im selben Jahr Ministerpräsident - kurzzeitig inhaftiert.<br />

stern, Hamburg 4. Dezember 1975<br />

Der Machtkampf in der polnischen Parteispitze wurde von Flammenzeichen begleitet.<br />

Am 21. September 1975 brannte die Warschauer Wislostrada (Weichselautostraße) lichterloh. Die<br />

Asphaltstraße war mit flüssigem Napalm überschüttet. Wenig später schlugen Flammen aus den<br />

Fenstern des Warenhauses "Cedet" in der Warschauer Innenstadt. Das beliebte Einkaufszentrum<br />

brannte völlig aus. Im Königsschloss glomm das Gebälk. In Wroclaw, früher Breslau, loderten<br />

mehrere Brandherde in der größten Kirche der Stadt.<br />

Zwei Wochen vor dem VII. Parteitag der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, der am 8.<br />

Dezember 1975 in Warschau beginnt, drohen die bislang unbekannten Brandstifter sogar: Wenn<br />

jetzt die Preise erhöht werden, dann wird bald die ganze Hauptstadt brennen. Preise und<br />

Warenknappheit beunruhigen viele Polen. Vor den Sparkassen stehen Schlangen. Ein Warschauer<br />

Bank-Angestellter: "Jahrelang haben uns die Leute ihr Geld gebracht. Jetzt heben sie auf einmal<br />

alles von den Konten ab." - Und kaufbesessen drängen die nervös gewordenen Menschen sich in<br />

die teuersten Textilläden der Nowy-Swiat-Straße. Sowjetische Pelzmäntel, die zwischen 12.000 und<br />

20.000 Zloty kosten (durchschnittliches Monatseinkommen: 3.200 Zloty), werden bar bezahlt.<br />

Trotz der bisher erfolgreichen Wirtschaftspolitik des Parteichefs Edward Gierek - Polen<br />

verdrängte die DDR vom zweiten Platz der Industrienationen in der Ostblock-Gemeinschaft<br />

COMECON (gegründet 1949 <strong>als</strong> Gegengewicht zum Marschall-Plan des Westens); außerdem geht<br />

es den meisten Polen heute besser denn je - steht die größte Krise in der 30jährigen<br />

Nachkriegsgeschichte Polens bevor. Trotzdem muss Gierek im nächsten Jahr stufenweise die<br />

Preise heraufsetzen, um wenigstens halbwegs den Staatshaushalt vor dem Bankrott zu bewahren.<br />

• Lebensmittel (Preise seit 1970 nicht erhöht) zwischen 40 und 50 Prozent;<br />

• Textilien bis zu 40 Prozent;<br />

• Elektrogeräte 35 Prozent;<br />

• Baumaterial 20 bis 30 Prozent;<br />

• Bahntarife bis zu 40 Prozent.<br />

132


Aber für solche Preissteigerungen braucht Edward Gierek, 62, die Zustimmung des<br />

Zentralkomitees, das auf dem Parteitag neu gewählt wird; und vor allem benötigt er Ruhe im<br />

Lande. Deshalb wirbt der Parteichef seit vielen Wochen auf Veranstaltungen in allen Provinzen<br />

nach dem Motto: "Arbeiter fragen den Genossen 1. Sekretär" um Verständnis für die<br />

wirtschaftliche Lage. Das Fernsehen, das ursprünglich einige Auftritte live übertragen sollte, durfte<br />

erst hinterher kurze Ausschnitte senden. Der Grund: Applaus gab es nur am Anfang und am<br />

Schluss, sonst schrille Proteste und Pfiffe.<br />

Die blutig niedergeschlagenen Arbeiteraufstände in Posen 1956 und in Stettin und Danzig<br />

1970 - nach denen Edward Gierek an die Macht kam -sind im Lande unvergessen. Die<br />

zunehmende Unruhe unter den Arbeitern hat schon wieder alte Gierek-Gegner auf den Plan<br />

gerufen. Angeführt von Ministerpräsident Piotr Jaroszewicz, 66 (Ministerpräsident 1970-1980,<br />

*1909+1992; wurde unter nicht geklärten Umständen ermordet), der einst <strong>als</strong> Polit-Offizier der I.<br />

Polnischen Armee aufseiten der Sowjets Polen befreien half, wollen die moskautreuen Falken die<br />

Wirtschaftsreformer und Technokraten um Gierek zu einer einschneidenden Kursänderung<br />

zwingen.<br />

Ihr Argument: Polen habe sich auf Kosten der "internationalen Solidarität" zu weit nach<br />

Westen geöffnet. Statt der versprochenen 10 Milliarden Mark <strong>als</strong> Entschädigung für KZ-Häftlinge<br />

und Rentner habe Gierek nur 2,3 Milliarden Mark von der Bundesrepublik Deutschland<br />

bekommen. Die Staatsbesuche des französischen und des amerikanischen Präsidenten in Warschau<br />

hätten im Moskauer Zentralkomitee schon die Befürchtung aufkommen lassen, ob Polen noch ein<br />

verlässlicher Bündnispartner sei. Vor allem bringe die hohe Verschuldung im kapitalistischen<br />

Ausland - 5 Milliarden Dollar - Polen in eine langfristige Abhängigkeit gegenüber dem Westen,<br />

denn das Land könne erst jetzt mit der Rückzahlung eines amerikanischen Kredits von 1938<br />

beginnen. Und der Import arabischen Erdöls habe nicht nur die Sowjetunion verärgert, sondern<br />

vor allem die Inflation (9 bis 15 Prozent) angeheizt.<br />

Unterstützt wird die Moskau-Fraktion im ZK von siebzehn Regierungspräsidenten, die<br />

durch die Gebietsreform im Juni dieses Jahres an Einfluss verloren, <strong>als</strong> die bisher 17 Bezirke in 49<br />

aufgeteilt wurden. Zu ihnen gehören zwei Provinzchefs, die dam<strong>als</strong>, im Dezember 1970, für den<br />

Panzereinsatz gegen die Arbeiter verantwortlich waren. Auch die alten Partisanen, die schon 1971<br />

in Olsztyn (früher Allenstein) ein konspiratives Treffen gegen den Reformpolitiker Edward Gierek<br />

organisierten, wollen auf dem Parteitag die KPdSU-Fraktion unterstützen.<br />

Der einstige Arbeiter in nordfranzösischen Fabriken, Edward Gierek, will sich in seinem<br />

politischen Überlebenskampf auf dem Parteitag vor allem auf jüngere Kandidaten stützen. Er<br />

sorgte dafür, dass von den 218 ZK-Mitgliedern 63 nicht wieder <strong>als</strong> Kandidaten aufgestellt wurden.<br />

Von den Neuen aber hören mindestens 40 auf die moskautreuen Gierek-Gegner. - Ein Pokerspiel<br />

auf Messers Schneide um die Macht in Polen in diesen Jahren. Ein hoher Parteifunktionär, der<br />

natürlich nicht genannt sein will, verdeutlicht hinter vorgehaltener Hand: "Auf dem Parteitag wird<br />

sich Giereks Zukunft entscheiden. Wenn er keine breite Mehrheit im ZK bekommt, kann er die<br />

Preiserhöhungen und ideologischen Flügelkämpfe nicht durchstehen."<br />

133


NAZI-VERGANGENHEIT IST GEGENWART: GRAUE<br />

EMINENZ MIT SCHMISSEN AN DEN HEBELN DER<br />

MACHT<br />

Diese Artikel sind der lückenlose Beleg, wie ein NS-Reichsleiter nach dem Krieg seinen<br />

Namen wechselte und dann <strong>als</strong> Berater eines Zeitungskonzerns Karriere machte.<br />

Der Frankfurter Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (*1908+1982)<br />

charakterisierte in seinem Buch "Die Unfähigkeit zu trauern", das 1963 erschien, den<br />

bundesdeutschen Verdrängungs-Zustand und die Spurenverwischung alter Nazis im<br />

Deutschland des "Neubeginns" am markantesten: "Statt einer politischen Durcharbeitung<br />

der Vergangenheit <strong>als</strong> dem geringsten Versuch der Wiedergutmachung, vollzog sich eine<br />

explosive Entwicklung der deutschen Industrie. Wertigkeit und Erfolg verdeckten bald die<br />

Wunden, die aus der Vergangenheit geblieben waren. Wo aufgebaut und ausgebaut wurde,<br />

geschah es fast buchstäblich auf den Fundamenten. . . .".<br />

Rechtsanwalt Josef Augstein (*1909+1984) drohte massiv. Am 11. April 1975 schrieb<br />

er dem stern: "Ich habe erfahren, dass Sie sich mit Herrn Rechtsanwalt Dr. Schmidt-Rux,<br />

den ich vertrete, in einem Artikel befassen wollen. Das ist Ihr gutes Recht, soweit Sie sich<br />

dabei an die Wahrheit halten. Sollten Sie aber Unwahres veröffentlichen, werde ich für<br />

meinen Mandanten alle möglichen Schritte in die Wege leiten."Der Hannoversche Anwalt<br />

und Bruder des 'Spiegel'-Herausgebers unterstellte dem stern sogar, dass er eine<br />

kriminelle Handlung begehen könne: "Nehmen Sie bitte heute schon zur Kenntnis: Mein<br />

Mandat kann nicht erpresst werden."Der stern auch nicht.<br />

stern, Hamburg 30. April 1975 / 20. November 1975<br />

Der SPD-Schatzmeister Alfred Nau (*1906+1983) ließ Champagner Marke Dom<br />

Pérignon (Flasche 120 Mark) auffahren. Mit der konservativen Verlegerin Luise Madsack<br />

(*1910+2001) und ihrem Rechtsanwalt Karl Schmidt-Rux, 70, feierte der Totengräber von 36<br />

sozialdemokratischen Zeitungen den "historischen Augenblick". In letzter Minute war es dem<br />

Sozialdemokraten gelungen, sich mit 23 Millionen Mark bei der notleidenden CDU-nahen<br />

"Hannoversche Allgemeine Zeitung (Auflage 180.000) einzukaufen.<br />

SPD-Präsidiumsmitglied Wilhelm Dröscher (*1920+1977) euphorisch: "Dass nicht Axel<br />

Springer oder der Heinrich Bauer Verlag, sondern wir das Geschäft mit Frau Madsack gemacht<br />

haben, kommt geradezu vom lieben Gott." - Was für Dröscher der liebe Gott, ist für<br />

Großverlegerin Luise Madsack ihr Intimus Karl Schmidt-Rux, der seit über 20 Jahren die<br />

Zeitungsdame berät. Allein im Jahre 1974 bei vier großen Transaktionen:<br />

• Als die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" im vergangenen Jahr durch den 115-<br />

Millionen-Neubau eines Druck- und Verlagsgebäudes in Konkursgefahr geriet,<br />

verhandelte Karl Schmidt-Rux mit der Westdeutschen Landesbank sowie den<br />

Verlegern Springer, Holtzbrinck und Bauer über Finanzspritzen.<br />

134<br />

• Als die "Stuttgarter Zeitung" (Auflage: 185.000) und die "Stuttgarter Nachrichten"<br />

(Auflage: 155.000) einen Kooperationsvertrag schlossen, vertrag Anwalt Karl


Schmidt-Rux die Interessen der Pressezarin. Denn Luise Madsack ist mit 29.06<br />

Prozent an der "Stuttgarter Zeitung" beteiligt.<br />

• Als in München die "Süddeutsche Zeitung" (Auflage: 314.300) und der "Münchner<br />

Merkur" (Auflage: 192.500) eine Vertriebsgemeinschaft eingingen, rückte Schmidt-<br />

Rux für die Anteilseignerin Luise Madsack in den Aufsichtsrat des "Münchner<br />

Merkur" ein.<br />

• Als das "Göttinger Tageblatt" (Auflage: 53.000) kurz vor dem Zusammenbruch<br />

stand, kaufte Schmidt-Rux die Provinzzeitung für seine Verlegerin.<br />

• Und <strong>als</strong> Alfred Nau (*1906+1983) die SPD-eigene "Neue Hannoversche Presse" <strong>als</strong><br />

selbständiges Blatt eingehen ließ, verschaffte Schmidt-Rux den Sozialdemokraten 30<br />

Prozent Anteile am Madsack-Konzern und damit maßgeblichen Einfluss in der<br />

viertgrößten Regionalzeitung der Bundesrepublik.<br />

Seitdem sitzen für die SPD Dietrich Oppenberg (*1907+2000), Herausgeber der "Neuen<br />

Ruhr-Zeitung" in Essen (Auflage: 281.000), und für Frau Luise Madsack ihr Vertrauter Karl<br />

Schmidt-Rux (Branchen-Spitzname: "Die graue Eminenz mit Schmissen") an einem<br />

Verhandlungstisch zusammen. Vor rund 30 Jahren saßen sie in völlig getrennten Lagern:<br />

Sozialdemokrat Dietrich Oppenberg <strong>als</strong> Hochverräter und Staatsfeind der Nazis im Zuchthaus -<br />

und Karl Schmidt-Rux <strong>als</strong> Reichsamtsleiter in der Partei-Kanzlei der allmächtigen NSDAP. Jurist<br />

Schmidt-R., der sich dam<strong>als</strong> allerdings nach dem Mädchennamen seiner Frau Schmidt-Römer<br />

nannte, war bei Parteisekretär Martin Bormann (*1900+1945) "Berater für staatsrechtliche Fragen."<br />

Bormanns Adjutant Heinrich Heim erinnert sich: "Schmidt-Römer war ein wendiger und<br />

versierter Mann, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Sonst wäre er nie Berater des<br />

Reichsleiters geworden." Bormanns Staatssekretär Gerhard Klopfer erklärt: "Zuletzt war Schmidt-<br />

Römer genauso wie ich fast täglich bei Bormann."<br />

Als der 'Spiegel' kürzlich in einer Personalie zahm auf die braune Vergangenheit des<br />

einflussreichen Pressejuristen hinwies, dementierte dessen Anwalt Josef Augstein in einem<br />

Leserbrief: "Herr Dr. Schmidt-Rux blieb bis zum Kriegsende Oberregierungsrat der<br />

Finanzverwaltung und bekleidete nie ein Amt in der Parteihierarchie. Er war einfacher PG."<br />

Schmidt-R. war tatsächlich Oberregierungsrat in der Finanzverwaltung seiner Heimatstadt Danzig,<br />

aber alles andere <strong>als</strong> ein einfacher PG. Anwalt Augstein verschweigt, wie die erhaltenen Partei-<br />

Akten über die NS-Karriere seines Mandanten aussahen.<br />

Karl Schmidt-R., Parteimitglied seit dem 1. April 1933 (Mitglieds-Nummer: 1821616) war<br />

bereits in Danzig Sachbearbeiter für Finanzangelegenheiten in der Gauamtsleitung der NSV<br />

(Nation<strong>als</strong>ozialistische Volkswohlfahrt und seit 21.2. 1942 <strong>als</strong> Reichsamtsleiter in die Parteikanzlei<br />

abkommandiert. In der braunen Parteiarmee, der SA, brachte er es bis zum Obersturmführer "zur<br />

besonderen Verfügung des OSAF" (Obersten SA-Führers).<br />

Wie eng Reichsamtsleiter Schmidt-R. mit dem mächtigsten Mann im Hitler-Reich<br />

zusammenarbeitete, beweist das persönliche Notizbuch des Reichsleiters Martin Bormann, in dem<br />

alles auf den wenigen erhaltenen Seiten vom 18. Februar bis 12. April 1945 fünfmal verzeichnet ist:<br />

"Besprechung mit Schmidt-Römer ... Dr. Schmidt-Römer wegen Nachrichtenwesen ... ...<br />

Rücksprache mit Schmidt-R. ...".<br />

135


Nach dem Zusammenbruch des NS-Reiches und dem Tod seines Chefs ging der<br />

"Oberregierungsrat" erst mal auf Tauchstation. Als Handlanger mit dem unauffälligen Namen Karl<br />

Schmidt arbeitete er in einem niedersächsischen Steinbruch. Im Jahre 1950 legte er sich mit<br />

behördlicher Genehmigung (Namensänderungsurkunde des Regierungspräsidenten Hannover vom<br />

29. 4. 1950) einen neuen Namen zu. Schmidt hatte sich inzwischen scheiden lassen, nannte sich<br />

jetzt nach dem Geburtsnamen seiner Großmutter Schmidt-Rux und begann eine neue Karriere <strong>als</strong><br />

Helfer in Steuersachen.<br />

Einer seiner Kunden war die "Wunstorfer Zeitung", ein hannoversches Provinzblättchen.<br />

Dort lernte ihn die junge Verlegerin Luise Madsack kennen. Nach dem Tod ihres Mannes (1953)<br />

machte sie ihren Freund zum Chefjuristen und Unterhändler. So auch für die Verhandlungen mit<br />

den Sozialdemokraten, die erst durch die stern-Recherchen von der braunen Vergangenheit ihres<br />

Gesprächspartners erfahren haben wollen. SPD-Schatzmeister Wilhelm Dröscher: "Als ich dem<br />

Alfred Nau das alles erzählt habe, ist der fast vom Stuhl gefallen." - Und nicht nur er.<br />

Karl Schmidt-Römer alias Schmidt-Rux und die Folgen. Sechs Monate danach. Wie<br />

niedersächsische Rechtsanwälte einem NS-Reichsamtsleiter bei der Bewältigung seiner<br />

Vergangenheit helfen.<br />

Ein Reichsamtsleiter aus Hitlers Parteikanzlei ist würdig, im demokratischen Rechtsstaat<br />

das Recht zu wahren. Das befand anno 1975, dreißig Jahre nach Hitler, die Rechtsanwaltskammer<br />

im niedersächsischen Celle. Und wenn ein Anwaltskollege gar dagegen aufmuckt, droht ihm gleich<br />

ein Ehrengerichtsverfahren. So geschah es dem Kammermitglied Werner Holtfort (*1920+1992).<br />

Ankläger ist Rechtsanwalt Dr. Karl Schmidt-Rux ,70, der es in Hitlers Parteiarmee, der<br />

SA, auf "Persönliche Verfügung des OSAF" (Obersten SA-Führers) bis zum Obersturmführer<br />

gebracht hatte; der von 1940 bis zum Zusammenbruch 1945 in der obersten Parteiführung unter<br />

Martin Bormann gearbeitet hatte, dem mächtigsten Mann im Hitler-Reich, der nach dem Krieg<br />

seinen Namen Schmidt-Römer in Schmidt-Rux verwandelt und beim Antrag auf Zulassung <strong>als</strong><br />

Rechtsanwalt diese Position im Nazi-Staat verschwiegen hatte.<br />

Im Frühjahr enthüllte der stern die braune Vergangenheit des einflussreichen<br />

hannoverschen Pressejuristen Karl Schmidt-Rux alias Schmidt-Römer. Nachdem Landgericht und<br />

Oberlandesgericht in Hamburg (Aktenzeichen: 3 W 74/75-74 0 230/75) dessen Anträge gegen den<br />

stern <strong>als</strong> "irreführende und unrichtige Tatsachenbehauptungen abgelehnt hatten, wollte das<br />

Anwaltskammermitglied Holtfort durch die Standesorganisation klären lassen, ob sein Kollege<br />

Schmidt-Rux sich nicht unter "f<strong>als</strong>chen Voraussetzungen" die Anwaltszulassung erschlichen habe.<br />

Paragraph 14 der Bundesrechtsanwaltsordnung sieht vor, dass die Zulassung<br />

zurückgenommen werden muss, wenn zur Zeit ihrer Erteilung "nicht bekannt war, dass Umstände<br />

vorlagen, aus denen sie hätte versagt werden müssen." So wurde noch 1950 einem Juristen die<br />

Zulassung zum Rechtsanwalt entzogen Band II. der Ehrengerichtsentscheidungen, S. 67), weil er<br />

seinen Rang <strong>als</strong> SS-Untersturmführer verschwiegen hatte. Begründung: Im öffentlichen Leben<br />

sollten nicht wieder "diejenigen bestimmend werden, die zum Nachteil des deutschen Volkes der<br />

unheilvollen Innen- und Außenpolitik des Nation<strong>als</strong>ozialismus das Gepräge gegeben ... haben".<br />

Doch vor der ehrwürdigen Anwaltskammer am für Hannover zuständigen<br />

Oberlandesgericht Celle geriet nicht der Ex-Nazi Karl Schmidt-Rux in Schwierigkeiten, sondern<br />

dessen Kollege Werner Holtfort, 55, der in Hannover mehrfach erfolgreich junge Lehrer in<br />

Berufsverfahren vertreten hatte. Holtfort resümiert: "Von der Vergangenheit des Kollegen<br />

Schmidt-Rux wollte niemand etwas wissen. Statt dessen versuchten sie, gleich eine Affäre Holtfort<br />

136


daraus zu machen." So wurde Holtfort vom Lüneburger Anwalt Hansdieter Steindel attackiert:<br />

"Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Sie haben keine Achtung vor dem anderen." Anwalt Graf<br />

von Hardenberg: "Das ist doch Profilierungssucht." Und von seinem Kollegen Herbert Behrens.<br />

"Sie wollen doch nur Trouble hervorrufen."<br />

Immerhin gab es bei der Endabstimmung, ob gegen Schmidt-Rux ein<br />

Ehrengerichtsverfahren eingeleitet werden soll, mit acht zu acht Stimmen ein Patt. Das half Werner<br />

Holtfort wenig, weil bei Stimmengleichheit das Votum des Vorsitzenden entscheidet. Und der,<br />

Anwalt Herbert Behrens, stand auf der Seite von Schmidt-Rux. Zu Hitlers Zeiten war der Advokat<br />

Behrens NSDAP-Ortsgruppenleiter in Celle. - Unterdessen hatte sich der Angeklagte Schmidt-Rux<br />

schon selbst zum Kläger gemacht und seinerseits gegen Holtfort wegen dessen Fragen nach der<br />

politischen Vergangenheit ein Ehrengerichtsverfahren beantragt. Das Verfahren läuft. Mögliche<br />

Folgen: Verweis, hohe Geldstrafe oder Berufsverbot.<br />

Der Sozialdemokrat Werner Holtfort, Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft<br />

sozialdemokratischer Juristen im Bezirk Hannover, findet keine Unterstützung bei seinen<br />

Genossen. Justizminister Hans Schäfer (*1913+1989), verantwortlich für die Rechtsaufsicht, kneift:<br />

"Ich will mich dazu nicht äußern." Die Zurückhaltung der niedersächsischen Sozialdemokraten ist<br />

verständlich. Sie können keinen Streit mit dem einflussreichen Justitiar des hannoverschen<br />

Großverlages Madsack & Co. gebrauchen, in dem die "Hannoversche Allgemeine Zeitung"<br />

(Auflage: 180.000 Auflage erscheint. Denn erst im vorigen Jahr (1974) verschaffte Schmidt-Rux<br />

ihnen eine 23-Millionen-Beteiligung an dem Bürgerblatt - so wie er anderen Klienten bei der SPD-<br />

Landesregierung die Spielbank-Lizenz in Bad Pyrmont, Hannover und Hittfeld besorgte. - Eine<br />

Hand wäscht eben die andere. Da mag man sich bei derlei Millionengeschäften durch penetrante<br />

Winkeladvokaten aus der "Berufsverbots-Ecke" nicht stören lassen.<br />

Die "Hannoversche Allgemeine", mit ihren Kopfblättern die fünftgrößte Tageszeitung der<br />

Bundesrepublik schweigt über Vergangenheit und Gegenwart des Karl-Schmidt-Rux alias Römer.<br />

Darüber ausführlich zu berichten überlässt sie ausländischen Blättern wie der Pariser "Le Monde"<br />

und der Londoner "Daily Mail". Das britische Blatt: "Der Skandal ist charakteristisch für einen<br />

Berufsstand, der in Westdeutschland noch immer mit alten Nazis durchsetzt ist." - Deutsche<br />

Verhältnisse.<br />

137


AUS DEUTSCHEN LANDEN DER ARMEE - SCHIEß ODER<br />

DU KOMMST IN DEN KNAST<br />

Bis ins Jahr 1976 musste in der Bundesrepublik jeder Kriegsdienstverweigerer<br />

entwürdigende Gewissensprüfungen in Kreiswehr-Ersatzämtern der Bundeswehr durchlaufen.<br />

Dam<strong>als</strong> kamen junge Männer aus der Kaserne in den Knast, weil sie es ablehnten, eine Waffe in die<br />

Hand zu nehmen - sich zum Töten ausbilden zu lassen. Andere Jugendliche zerbrachen an<br />

erbarmungslosen Verhörmethoden - wie der dam<strong>als</strong> erst 19jährige Dieter Feser. "Die über sein<br />

Gewissen zu Gericht saßen, haben ihn auf dem Gewissen." Alltag in Deutschland. Randnotizen.<br />

Zeitgeschichte<br />

Als der 19jährige Selbstmörder Dieter Feser zu Grabe getragen wurde, drängten sich<br />

Einheimische und Zugereiste auf den Dorffriedhof von Oerlenbach bei Schweinfurt. Die einen<br />

waren im Trauerzug gemessenen Schrittes durch die 2.000-Seelen-Gemeinde gekommen: der<br />

Bäcker, der Gastwirt - die alten Leute. Allen voran der katholische Priester Rützel.<br />

Die anderen kamen in gemieteten Kleinbussen, mit Mopeds und klapprigen Autos aus<br />

allen Teilen der Bundesrepublik: Studenten, Schüler, Lehrlinge, langhaarig, in Jeans, Zigaretten<br />

rauchend. An ihrer Spitze der evangelische Pfarrer Ludwig Wild aus Schweinfurt.<br />

Für die Oerlenbacher war Dieter Fesers Tod ein Schock. Ein Junge aus ihrem Dorf, der<br />

jahrelang Messdiener und <strong>als</strong> Kaufmannsgehilfe im Warenlager stets hilfsbereit gewesen war -<br />

ausgerechnet der ein Kriegsdienstverweigerer und Selbstmörder. Das hat es im bayerischen<br />

Oerlenbach seit Menschengedenken nicht gegeben.<br />

"Trauer und Schande ist über uns", klagte der Seelsorger Rützel und grübelte sechs Tage<br />

mit seinen Kirchenvorstehern, ob er Dieter Feser überhaupt beerdigen dürfe. Erst des Bischofs<br />

Segen aus Würzburg beendete das Dorfgemurmel. Auf dem Friedhof zwischen<br />

Bundesgrenzschutz-Kaserne und Autowerk-statt standen Einheimische und Zugereiste dicht an<br />

dicht. Pfarrer Rützel predigte für die einen, Pfarrer Wild für die anderen. Rützel mahnt: "Sehet,<br />

soweit kann es kommen, wenn man Gott nicht vertraut." Wild klagte an: "Dieser Feser ist das<br />

Opfer eines unmenschlichen Verfahrens; er ist innerlich zerbrochen worden. Die über sein<br />

Gewissen zu Gericht saßen, haben ihn selbst auf dem Gewissen."<br />

Der Herr über Gewissen und Gewehr in der Region Unterfranken heißt Walter Bendrien,<br />

Regierungsrat und Vorsitzender des Prüfungsausschusses des Kreis-Wehrersatzamtes in Würzburg,<br />

einer der über 100 Prüfungsausschüsse in der Bundesrepublik.<br />

Bendrien behandelt Jugendliche, die den Dienst im Krankenhaus oder Altenheim der<br />

Bundeswehr vorziehen so, <strong>als</strong> seien sie Drückeberger, Feiglinge oder vaterlandslose Gesellen. Nur<br />

Zeugen Jehovas haben bei ihm eine echte Chance, <strong>als</strong> Pazifisten die Inquisition von Moral und<br />

Glaubwürdigkeit zu überstehen. Walter Bendrien: "Und wenn bei mir Tag und Nacht verhandelt<br />

wird. Ich gehe der Sache auf den Grund. Schließlich sind wir hier nicht in einem Mädchen-<br />

Pensionat."<br />

Mit der Tonart eines Feldwebels, den Anklagen eines Staatsanwalts, mit den<br />

Vernehmungstricks eines Kriminalkommissars – so knöpft sich Jurist Bendrien die Jugendlichen<br />

vor, die nichts anderes wollen, <strong>als</strong> das in Artikel 4, Absatz 3 Grundgesetz verbriefte Grundrecht:<br />

"Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffen gezwungen werden." - An<br />

138


das Grundrecht glaubte auch der Arbeitersohn Dieter Feser. Doch seine Gewissensgründe<br />

interessieren den Vorsitzenden Bendrien nicht. Fesers Verhandlung begann am 27. Februar 1975<br />

morgens um 11 Uhr. Gegen 13 Uhr war er durchgefallen, Um 14 Uhr saß "der Versager" zu Hause<br />

an Mutters Küchentisch und schrieb aus dem Gedächtnis nieder, wie ihn Bendrien traktiert hatte.<br />

Hier die wichtigsten Auszüge aus dem Verhör:<br />

Frage: Warum sind Sie in der Schule eigentlich sitzen geblieben?<br />

Antwort: Keine<br />

Frage: Können Sie denn dazu nichts sagen? Waren Sie denn immer ein schlechter Schüler?<br />

Antwort: Keine<br />

Frage: Hören Sie, Herr Feser, in Ihrem Beruf müssen Sie doch auch Intelligenz mitbringen<br />

und reden können.<br />

Antwort: Ja, das stimmt. - Ich habe einmal dieselbe Klasse wiederholt. Und das mit 13/14<br />

Jahren. Aber das ist doch schon lange her. Was hat das mit heute zu tun?(... )<br />

Frage: Aus Ihren Unterlagen geht davor, dass Sie der Kirche gegenüber negativ eingestellt<br />

sind. Hängt Ihre, sagen wir mal, kritische Haltung zur Kirche nicht damit zusammen, dass Sie in<br />

Wirklichkeit unsere Staatsform ablehnen?<br />

Antwort: Nein, ich wollte damit ja nur sagen, dass ...<br />

Frage: ... Herr Feser , ist Ihnen denn nicht bekannt, dass zum Beispiel Willy Brandt gesagt<br />

hat: "Wer für den Frieden ist, muss auch Verteidigung haben"?<br />

Antwort: Ja, aber ich wollte doch nur sagen, dass ich in Oerlenbach <strong>als</strong> Messdiener gesehen<br />

habe, wie die Geistlichen sich in der Sakristei benahmen, und dann, wie sie sich im Gottesdienst<br />

verhielten. Da zog ich so meine immer meine Vergleiche. Es waren meine ersten Denkanstöße<br />

über den Glauben. Uns hat man doch immer gesagt, wir sollen den Nächsten lieben. Dann fragte<br />

ich meine Eltern über Glaubensfragen aus. Sie antworteten, wie ich so etwas überhaupt fragen<br />

könne in einer Dorfgemeinschaft, wo viele am Sonntag in die Kirche gehen, frägt man nicht nach<br />

Dingen, die die festen Grundsätze überschreiten. (...)<br />

Frage: Sie redeten von einer Schlägerei, die Sie in einem Tanzlokal aus nächster Nähe<br />

miterlebt haben. Ist Ihnen denn nicht spätestens dort klar geworden, dass man sich verteidigen<br />

muss?<br />

Antwort: Ja, ich bin es doch gewesen, der Hilfe holte. Wir legten dann den<br />

Zusammengeschlagenen auf eine Decke und riefen die Polizei und Krankenwagen. Selbst hier noch<br />

schimpften die Leute. Wir sollten ihn einfach liegen lassen. Und, wieso wir einfach dazu kämen, die<br />

Polizei anzurufen. Ich wollte dann mit den Leuten reden, wie man nur so brutal sein kann. Aber da<br />

drohten sie mir auch Prügel an. (... )<br />

Frage: Und wenn Sie nun tatsächlich angegriffen worden wären? Hätten Sie sich dann<br />

nicht gewehrt? Es wäre doch Notwehr gewesen.<br />

Antwort: Ich habe doch niemandem etwas getan ... Für mich sind Schlägereien undenkbar.<br />

Ich könnte nie auf Menschen schießen oder auch nur auf einen Papp-Kameraden zielen. Das kann<br />

ich nicht ... Das Gewissen sagt, das ist nicht gut, es ist Unrecht. (... )<br />

139


Frage: Die Mehrheit der Bevölkerung hat sich eindeutig für die Bundeswehr<br />

ausgesprochen. Das haben doch die Bundestagswahlen klar gezeigt.<br />

Antwort: Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen.<br />

Frage: Wir wollen Ihnen damit nur sagen, dass Sie sich gegen die Mehrheit der<br />

Bevölkerung in der Bundesrepublik stellen.<br />

Antwort: Ja, aber, das ist doch meine persönliche Entscheidung. Mein Vater war im Krieg<br />

Unteroffizier und in russischer Kriegsgefangenschaft. Er kam verwundet zurück. Als ich ihn mal<br />

fragte, Vati, warum bist du eigentlich in den Krieg gezogen und hast fremde Menschen getötet? Da<br />

hat er mir gesagt, das haben doch alle gemacht. Vor einiger Zeit habe ich bei uns in Oerlenbach mit<br />

Leuten vom Bundesgrenzschutz gesprochen, warum sie da eigentlich hingegangen sind. Die sagten<br />

mir, sie wollten ihren Dienst abreißen, Mäuse kassieren und 'nen feinen Lenz machen. Übers<br />

Schießen haben die überhaupt nicht nachgedacht. Ich kann das jedenfalls nicht (... ).<br />

Beschluss der Prüfungskommission: "Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass beim<br />

Antragssteller keine echten Gewissensgründe vorliegen. Der Wehrpflichtige Feser ist deshalb nicht<br />

berechtigt, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern." So der Schriftsatz. Mündlich<br />

begründete Regierungsrat Walter Bendrien die Entscheidung damit, dass Fesers Abneigung, den<br />

Wehrdienst abzuleisten, in seinem antikapitalistischen Denken zu sehen sei.<br />

Als letzten Absatz schrieb Dieter Feser am Küchentisch in Oerlenbach in das alte<br />

Schulheft: "Ich habe Angst davor, dass auch in mir Aggressionen geweckt werden können. Ich<br />

weiß, dass sie ausgenutzt werden können. Ich bin gegen Gewalt, es gibt nur Gott, keine Gewalt,<br />

nur Angst."<br />

Kurz nach 16 Uhr benachrichtigte ein Bauer das Mord-dezernat in Schweinfurt. - Er hatte<br />

den 19jährigen am Waldrand von Oerlenbach tot aufgefunden, erhängt mit einem Abschleppseil.<br />

Der Tod Dieter Fesers alarmierte Pädagogen, Pastoren, Rechtsanwälte und Politiker, die Bendriens<br />

Rücktritt forderten. Der Würzburger Professor Franz Rauhut (*1898 +1988), seit fünfzehn Jahren<br />

gerichtlich ermächtigter Berater der Kriegsdienstverweigerer: "Ich kenne den Vorsitzenden<br />

Bendrien nur zu gut. Der hat den jungen Mann fertig-gemacht. Daran besteht kein Zweifel." Die<br />

Rechtsanwältin Roswitha Wolff : "Solche Behandlung ist grundgesetzwidrig." Und der frühere<br />

SPD-Bundestagsabgeordnete Uwe Lambinus(1972-1994): "Bendrien muss zurücktreten, er hat in<br />

unverantwortlicher Weise sein Amt missbraucht."<br />

Doch Bendrien blieb einstweilen in Amt und Würden, obwohl dem<br />

Verteidigungsministerium bereits acht Beschwerden wegen dessen umstrittener<br />

Verhandlungsführung vorlagen. - Alltag in Deutschland. Die Bonner Ministerialen von der<br />

Hardthöhe standen vor der peinlichen Situation, kein einziges Verhör rekonstruieren zu können.<br />

Sitzungsprotokolle existieren nicht.<br />

Dessen ungeachtet machte Bendrien weiter so wie bisher. "Was in meinen Sitzungen<br />

passiert, geht niemanden etwas an. Das ist ein Dienstgeheimnis." Genauso wie die<br />

Selbstmordquoten der nichtanerkannten Kriegsdienstverweigerer, die vom<br />

Verteidigungsministerium unter Verschluss gehalten werden. Sie liegen nach Angaben des<br />

Beauftragten für den Zivildienst, Hans Iven (*1928+1997; Bundesbeauftrager 1970-1983),<br />

"erheblich über dem Durchschnitt der Gleichaltrigen". An der Gewissensprüfung Gescheiterte<br />

sträuben sich in der Kaserne, die Waffe in die Hand zu nehmen. Viele kommen in den<br />

Arrestbunker, etliche ergreifen die Dienstpistole nur, um sich zu erschießen. Andere hauen ab. Im<br />

140


Petitions- und Verteidigungsausschuss des Parlaments stapeln sich die Beschwerdebriefe. Amnestie<br />

international kümmert sich um Kriegsdienstverweigerer, die im Knast gelandet sind.<br />

So in der baden-württembergischen Jugendstrafanstalt Oberndorf zwischen Freudenstadt<br />

und Rottweil, die Vollzugsdirektor Rasenack <strong>als</strong> "zukunftsweisendes Modell" lobt; aber oft ist in<br />

dem 25-Zellen-Knast die Hölle los. In einer Nacht, es war die "Oktoberrevolution in Oberndorf"<br />

(Rasenack), zertrümmerten seine "Knakkis" alles, was nicht niet- und nagelfest war. Vier Monate<br />

glich die Jugendvollzugsanstalt einer Baustelle - Rodeo im Schwarzwald und kaum jemand nahm<br />

Notiz davon.<br />

Für Rasenack sind solche Aggressionsausbrüche ganz normal: "Wir haben hier ja alles.<br />

Vom Mord über Raub, schwere Diebstähle, Vergewaltigungen, Rauschgift-Deal bis hin zu den<br />

Kriegsdienstverweigerern." Einer von dieser Sorte Mensch ist Peter Stärk in der Zelle 7, seit über<br />

fünf Monaten in Haft. 20 Jahre alt, Arbeiter, katholisch. Vorstrafen: keine<br />

Kaum eingezogen verweigerte er im Ausbildungs-Bataillon 3/2/95 in Immendingen den<br />

Gehorsam. Stärk wollte nicht schießen, nicht mit einer "Gasmaske aufgesetzt" singen, nicht durch<br />

Pfützen robben. - Im Arrestbunker fand er sich wieder. Vier kahle weißgetünchte Wände, ein<br />

Guckloch, keine Toilette, kein Wasser, ohne Schnürsenkel, keine Zigaretten, kein Sprechkontakt.<br />

Aber eine Bibel.<br />

Zermürbt kehrt Peter Stärk zur Truppe zurück. Jetzt geht er in den Schießstand und reißt<br />

auch die Nachtmärsche runter. Doch wenige Tage später ist der Wehrpflichtige spurlos<br />

verschwunden. Tagelang versteckt er sich in den nahegelegenen Wäldern. Erst der Hunger treibt<br />

ihn den Feldjägern in die Arme. Kompaniechef Thoma schiebt ihn ab in den Knast nach<br />

Oberndorf. Auf dem Hofgang trifft er auf Claus Grieshaber, der sechs Monate Bau hinter sich hat,<br />

und die Kameraden Bernd Lizareck und Uwe Mösinger. Beide inhaftiert wegen<br />

Befehlsverweigerung und Fahnenflucht.<br />

Im "modernen Vollzug" von Oberndorf begegnen Stärk nur Hohn und Verachtung. Der<br />

Grund: Auch in der Haft bekommt er weiter seinen Wehrsold. Das ärgert Gefängnis-Boss<br />

Rasenack: "Die hauen von der Truppe ab, hören hier den ganzen Tag Musik und kassieren dazu<br />

noch Mäuse." Manchmal lässt Jurist Rasenack seine "Knackis", wie er sie nennt, aus der Zelle<br />

raustreten. Geht hinein und reißt die Pornos von der Wand. Automatenknacker Sepp und der<br />

drahtige Egon, er hat seine Oma umgebracht, weil sie ihm nicht den Hunderter "rüberschieben<br />

wollte", haben einen "todsicheren Riecher" dafür, "dass der Chef mit Kriegsdienstverweigerern<br />

nichts im Sinn hat".<br />

Sepp: "Die sind doch bescheuert; beim Bund lernen sie doch wenigstens ordentlich<br />

schießen."<br />

Egon: " Wie kann man nur so dumm sein und wegen solcher Kleinigkeiten einsitzen.<br />

Wenn ich in den Bau gehe, muss es sich schon lohnen."<br />

Die Kriegsdienstverweigerer sind von der Anstaltsleitung und den anderen Häftlingen<br />

isoliert. Wenn "Resozialisierungs"-Veranstaltungen auf dem Programm stehen (Vortrag:<br />

"Überlebenschance in der Wüste"), sind sie nicht dabei. Höchstens dann, wenn es Krach gibt,<br />

wenn mit heißer Brühe um sich geworfen wird und Schlägereien provoziert werden. Peter Stärk<br />

stellt aus der Zelle den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung. Als die Prüfungskommission per<br />

Bundeswehr-Bus in Oberndorf vorfährt, um Stärks Gewissen auszuleuchten, ist der Zwanzigjährige<br />

141


schon rechtskräftig wegen Befehlsverweigerung und Fahnenflucht zu sechs Monaten Haft mit<br />

Bewährung verurteilt.<br />

Der katholische Seelsorger Egon Spiegel war Zeuge des Verhörs:<br />

Stärk: Was man beim Militär lernt, verstößt gegen alles, was ich gelernt und geliebt habe ...<br />

Lieber würde ich sterben, <strong>als</strong> auf einen anderen Menschen zu schießen ...Eher verreck' ich hier im<br />

Knast, <strong>als</strong> noch einmal zur Bundeswehr zu gehen.<br />

Vorsitender Gauger: Herr Stärk, wenn Sie aus religiösen Gründen verweigern wollen, dann<br />

kennen Sie doch sicherlich die Zehn Gebotes. Sagen Sie sie doch einmal auf.<br />

Stärk: Das erste Gebot heißt: Du sollst nicht töten. Das zweite heißt: Du sollst deinen<br />

Nächsten lieben wie dich selbst. Menschen will ich helfen ...<br />

Gauger: F<strong>als</strong>ch, Herr Stärk, "Du sollst nicht töten", ist das sechste Gebot. So können wir<br />

Sie nicht anerkennen.<br />

Seelsorger Spiegel: Herr Vorsitzender, Sie kennen die Zehn Gebote ja selbst nicht. Es ist das<br />

fünfte Gebot, was Sie meinen ...<br />

Gauger: Wer will denn hier verweigern. Wir doch nicht. Stärk rasselte durch die<br />

Gewissensprüfung, wurde aus der Haft entlassen und zurück zur Truppe geschickt. Er verweigerte<br />

erneut. Nach einem Tag hatten ihn die Oberndorfer Knackis wieder. Jetzt muss er mit einer<br />

Haftstrafe von über einem Jahr rechnen. Diesmal ohne Bewährung. Peter Stärk resigniert: "Mir<br />

kann jetzt nur noch ein Psychiater helfen. Hoffentlich werde ich bald zur Untersuchung geschickt."<br />

Dann ist er Patient. Dabei hätte Peter Stärk in München-Haar, der zweitgrößten<br />

psychiatrischen Anstalt der Bundesrepublik mit 2.900 Patienten, "gern <strong>als</strong> Pfleger gearbeitet". In<br />

dem Krankenhaus sind 30 Zivildienstleistende eingesetzt. Im Haus 3, der Sterbestation, sind es der<br />

Diplomkaufmann Willy Kistler, 26, der Schreinergeselle Hermann Lux, 21.<br />

Anfangs hatten Hermann und Willy eine "wahnsinnige Abneigung", die alten Leute<br />

anzufassen. Hermann Lux: "Als ich das erste Mal hier hinschaute, dachte ich, das packst du nie."<br />

Morgens um sieben Uhr beginnt der Dienst; Frühstück zubereiten, die Patienten waschen,<br />

umbetten oder anziehen. Bettenmachen. Spucknäpfe und Nachttöpfe reinigen.<br />

Medikamentenausgabe. Räume saubermachen, Mittagsessen. Am Abend das Gleiche.<br />

Dazu die täglichen Zwischenfälle: Einer der Alten bricht plötzlich zusammen, ein anderer<br />

stirbt. Im Bett 5 macht ein Opa ins Bett. Im Bett 8 weint ein 78jähriger vor sich hin, weil keiner<br />

seine Lebensgeschichte mehr hören will.<br />

Für Willy und Hermann Tag für Tag dasselbe. Sechzehn Monate lang, für 450 Mark im<br />

Monat. Noch einmal vor die Entscheidung gestellt, Bundeswehr oder Pflege psychisch kranker<br />

Greise, würden Willy Kister und Hermann Lux jedoch keine Sekunde zögern. "Wir würden's noch<br />

mal machen."<br />

Chefarzt Christof Schulz ist mit den Zivildienst-leistenden "außerordentlich zufrieden".<br />

Wenn es nach dem CSU-Mitglied ginge, könnten noch weitere 100 Kriegsdienstverweigerer in der<br />

Anstalt arbeiten: "Für solche schwere Fälle ist doch heute sonst kaum jemand zu bekommen." Der<br />

CSU-Bezirkstagsabgeordnete Günther Schuppler fordert deshalb: "Das Prüfungsverfahren sollte<br />

man abschaffen."<br />

142


Doch in Bonn pfeift die CDU/CSU auf die Ratschläge ihrer Lokalpolitiker. Wenn jetzt<br />

endlich die sozial-liberale Koalition die entwürdigende Gewissens-Inquisition abschaffen oder auch<br />

nur auf Zeit aussetzen sollte, will die Christlich Soziale Union das Bundes-Verfassungsgericht<br />

dagegen mobilisieren.<br />

Der Bundesbeauftragte für den Zivildienst hält die Prüfungskommission ohnehin für total<br />

überfordert. Hans Iven: "Die Parteien schicken doch meistens nur solche Leute in diese Gremien,<br />

die in der Kommunalpolitik nichts geworden sind, <strong>als</strong> Trostpflaster. In den Parteiversammlungen<br />

heißt es immer: Mensch, mach du das doch mal, du warst im Krieg doch auch in Russland."<br />

Diese Leute haben dafür gesorgt, dass die Anerkennungsquote der<br />

Kriegsdienstverweigerer (1974: 35.000) von früher 80 auf 66 Prozent gesunken ist. Dabei sind von<br />

den 20.000 Zivildienstplätzen in Krankenhäusern und Altenheimen 8.000 unbesetzt.<br />

Trotzdem sträubt sich die CDU/CSU-Opposition gegen den Plan der SPD/ FDP-<br />

Regierungskoalition, die Zivildienstplätze um 16.000 auf insgesamt 40.000 zu erhöhen, damit sich<br />

die Wehrpflichtigen künftig schon bei der Musterung entscheiden können, ob sie mit der Waffe<br />

oder in der Sozialpflege dienen wollen. CDU-Politiker Konrad Kraske (Bundestagsabgeordneter<br />

1965-1980): "Der zivile Ersatzdienst in Ehren, aber ein potenzieller Angreifer wird sich nicht<br />

abschrecken lassen, wenn unser soziales Engagement groß, unsere Verteidigungsbereitschaft aber<br />

gleich null ist."<br />

Dabei ist das Gegenteil der Fall: Der Verteidigungsminister kann sich schon heute vor<br />

dem Ansturm wehrwilliger Jugendlicher kaum retten. Die Zahl der verfügbaren Wehrpflichtigen<br />

steigt bald auf 475.000, während die Armee höchstens 250.000 Jugendliche einziehen kann.<br />

Paradoxien dieser Zeit. Georg Leber (Minister der Verteidigung 1972-1978): "Bis in die Mitte der<br />

achtziger Jahre rollen die geburtenstarken Jahrgänge auf uns zu. Das geht weit über das hinaus, was<br />

die Bundeswehr verkraften kann."<br />

143


SITTENGEMÄLDE: PROFESSOREN BITTEN ZUR KASSE -<br />

WAS SICH NEBENBEI NOCH ALLES SO VERDIENEN LÄSST<br />

Aus deutschen Landen der Zeitgeschichte - die öffentlichen Haushalte bluten aus,<br />

verschulden sich Jahr für Jahr. Nur Institutsdirektoren und Klinikchefs in der<br />

Bundesrepublik verdienen mal so ganz nebenbei Unsummen dazu - mit Hilfe ihrer meist<br />

schlecht bezahlten Mitarbeiter und mit Hilfe des Staates<br />

stern, Hamburg 20. September 1975<br />

Die Sparkommissare von Bund und Ländern kratzen Geld in den letzten Ecken<br />

zusammen, damit die Kasse stimmt. Aber eine Ecke lassen sie dabei aus: die Direktoren der<br />

Universitätsinstitute. Sie beziehen <strong>als</strong> Beamte mit Pensionsanspruch Monatsgehälter bis zu 7.400<br />

Mark und scheffeln gleichzeitig mithilfe des Staates oft ein Vielfaches davon <strong>als</strong> "Nebeneinkünfte".<br />

Beispiel eins: Professor Friedhelm Wilhelm Brauss , Chef des Heidelberger Hygiene-<br />

Instituts, kassierte 1974 mit privaten Rechnungen 581.000 Mark. Die offiziellen Einnahmen des<br />

Instituts hingegen beliefen sich im ganzen Jahr nur auf 663.000 Mark. Beispiel zwei: Professor<br />

Richard Haas, Direktor des Hygiene-Instituts an der Freiburger Universität, das letzte Jahr (1973)<br />

1.988.000 Mark einnahm, konnte auf seinem Konto Privatvermögen 645.000 Mark <strong>als</strong><br />

"Nebeneinkünfte" verbuchen. Beispiel drei: Professor Adalbert Bohle, Direktor des Pathologischen<br />

Instituts der Tübinger Universität, liquidierte 1974 privat 804.000 Mark, fast das Fünffache der<br />

Institutseinkünfte (168.000 Mark).<br />

Bauss, Haas und Bohle sind - so der baden-württembergische SPD-Landtagsabgeordnete<br />

Kurt Bantle, der im Stuttgarter Untersuchungsausschuss den "Geldsegen auf Staatskosten"<br />

aufdeckte -keine Einzelfälle. Bantle konstatiert: "Keine Frage, ob Bildungsnotstand,<br />

Zulassungsbeschränkungen oder nicht, Einkommens-Millionäre gibt es an jeder Universität in der<br />

Bundesrepublik." Diese Zustände bestätigte auch der Stuttgarter Kultusstaatssekretär Gerhard<br />

Weng (*1916+1988). Der Christdemokrat sagte vor dem Untersuchungsausschuss aus, die<br />

Einnahmen deutscher Klinikdirektoren hätten sich "zwischen 600.000 Mark und 1,2 Millionen<br />

Mark bewegt. Es sei auch möglich, dass im Ausnahmefall auch einmal 1,8 Millionen Mark erreicht<br />

worden sei".<br />

Die Professoren haben es verstanden, "die vom Staat gestellte und finanzierte personelle<br />

und apparative Ausstattung der Institute zu einem erheblichen, vereinzelt sogar weit<br />

überwiegenden Teil zur Erzielung privater Nebeneinnahmen der Institutsleiter einzusetzen", so der<br />

vertrauliche Abschlussbericht. - Der Spitzenverdiener Brauss beschäftigte von seinen 60<br />

Institutsmitarbeiter rund 15 ständig mit Privataufträgen. Nach der geltenden Regelung muss er von<br />

seinen "Nebeneinnahmen" (581.000 Mark) nur 18 Prozent abführen. Aber damit kann der Staat<br />

gerade die Jahresgehälter von vier Angestellten bezahlen, von denen noch dazu einer, István<br />

Stefko, während der Dienstzeit dem Professor beim Bau seines Reitstalls helfen und dessen<br />

Reitpferde versorgen musste.<br />

Millionär Haas kassierte sogar in Abwesenheit. Er hatte sich beispielsweise vom 1.<br />

Oktober 1973 bis zum 30. September 1974 offiziell "ohne Bezüge" beurlauben lassen. Trotzdem<br />

nahm er in der gleichen Zeit für "Privatliquidationen 521.000 Mark ein. Die Arbeit machten seine<br />

Mitarbeiter im Institut.<br />

144


Viele Professoren (es gibt in der Bundesrepublik über 500 Institutsdirektoren), die<br />

Staatseinrichtungen für Privatgewinn nutzen, vernachlässigen dabei auch ihren eigentlichen Auftrag<br />

in Lehre und Forschung. Der Untersuchungsbericht: "Die Nebentätigkeit der Klinikdirektoren<br />

kann einen negativen Einfluss auf die Erfüllung der eigentlichen Funktion der Kliniken nehmen."<br />

Der Ausschussbericht nennt Beispiele: 0 In einer Heidelberger Universitätsklinik wurden im Jahr<br />

1972 Patienten der 1. Klasse durchschnittlich 23,5 Tage, die der zweiten 22,3 und die der dritten<br />

nur 16,7 Tage stationär behandelt. 0 Krankenzimmer der allgemeinen Pflegeklasse wurden mit<br />

Privatpatienten der Chefärzte belegt. Die Folge: Kassenpatienten mussten "unerträglich lange" auf<br />

freie Betten warten. Für Medizinstudenten ist die so erweiterte gewinnträchtige Privatstation des<br />

"Chefs" in den meisten Fällen tabu. Die Folge: In den Krankenhäusern werden weniger Studenten<br />

ausgebildet, <strong>als</strong> möglich wäre.<br />

Das Gewinnstreben der Institutsdirektoren trug auch dazu bei, dass die Krankenhäuser<br />

immer teurer, die Kassenbeiträge immer höher und die Ausbildungsplätze nicht entsprechend mehr<br />

wurden. An den Universitätskliniken Erlangen-Nürnberg, so ermittelte der bayerische<br />

Rechnungshof, stiegen in den letzten acht Jahren die Sachausgaben um 140 Prozent, und das<br />

Personal - vor allem die Wissenschaftler - nahm um 32 Prozent zu, doch die Zahl der Studienplätze<br />

ging um 50 Prozent zurück. Im Universitäts-Krankenhaus Hamburg-Eppendorf erhöhte sich die<br />

Zahl der Ärzte seit 1970 von 510 auf 800, aber nach den Feststellungen des hanseatischen<br />

Rechnungshofes wurden 1974 zwanzig Prozent weniger Studenten ausgebildet <strong>als</strong> möglich.<br />

Die Einrichtung eines medizinischen Instituts kostet den Steuerzahler zwischen 10 und 20<br />

Millionen Mark. Und die Angestellten-Gehälter plus Sachausgaben verschlingen jährlich<br />

durchschnittlich weitere zwei Millionen Mark. - Dennoch empfinden es die meisten Direktoren <strong>als</strong><br />

ungerecht, dass sie für ihre Privateinkünfte in den Kliniken ein "bescheidenes Nutzungsentgelt"<br />

zahlen müssen. Je Betten-Tag (Brutto-Gesamteinnahme für den Chefarzt 160 bis 180 Mark pro<br />

Patient) sollen sie in<br />

• Nordrhein-Westfalen: 18.46 Mark 0 Baden-Württemberg: 11 bis 12 Mark,<br />

• Bayern: 5 bis 9 Mark,<br />

• Hessen: 4 Mark<br />

• Berlin 2,20 bis 2,75 Mark abführen.<br />

Aber auch diese Betten-Pauschale , vor zehn Jahren von den Professoren selbst<br />

vorgeschlagen, um die Offenlegung der tatsächlichen Einkünfte zu umgehen, wird dem Fiskus<br />

größtenteils entzogen. Die Hamburger Kliniken haben 1974 immerhin rund 15 Millionen Mark<br />

abgeliefert. Aber in Berlin mahnt der Rechnungshof die Abgaben seit 1963 an. Und in Baden-<br />

Württemberg weigern sich 60 Chefärzte, die fälligen 6,5 Millionen Mark "Bettengeld" zu bezahlen.<br />

Der Tübinger Internist Professor Kurt Kochsiek gibt <strong>als</strong> Begründung an: "Wir arbeiten 70 bis 80<br />

Stunden in der Woche und haben jahrelang nicht mehr <strong>als</strong> zweitausend Mark verdient. Dann steht<br />

uns das Geld jetzt wohl auch zu."<br />

Um die Millionen zu behalten, sind die Professoren sogar vor den badenwürttembergischen<br />

Staatsgerichtshof gegangen. Dort wollen sie sich in einem<br />

Normenkontrollverfahren bescheinigen lassen, das die Bettenpauschale zu hoch ist. Für den Fall<br />

einer Niederlage droht der Tübinger Chirurg-Professor Leo Koslowski (Jahres-Nebenverdienst:<br />

600.000 Mark) mit seinen Kollegen das CDU-Musterländle zu verlassen. Koslowski drohend: "In<br />

145


anderen Bundesländern müssen unsere Kollegen weniger abführen. Dann kann man nur die<br />

Konsequenzen ziehen und gehen."<br />

Die Chefärzte rechnen aber mit einem günstigen Vergleich, weil sie schon heute wissen,<br />

dass der zuständige CDU-Kultusminister Professor Wilhelm Hahn (1964-1978; *1908+1996) harte<br />

Schritte scheut. (Hahns Ministerium zahlte noch 54.000 Mark "Unterrichtsgeldabfindung" an den<br />

Heidelberger Physiker Heinz Filthuth, <strong>als</strong> der Professor schon wegen Millionenbetrügereien im<br />

Gefängnis saß). Theologie-Professor Hahn glaubt: "Professoren sind doch heute beinahe das, was<br />

früher die Juden und in den sechziger Jahren die Studenten waren."<br />

Der Stuttgarter Untersuchungsausschuss hat für die "verfolgten Professoren" kein Mitleid.<br />

Die Politiker von CDU, SPD und FDP kritisierten nämlich nicht nur die Privatgeschäfte der<br />

Professoren. Sie deckten auch auf, dass in den Instituten ihres Landes "Schwarzarbeit" bereits<br />

selbstverständlich und zur Gewohnheit geworden war dass Diebstähle sich häuften und Finanz-<br />

Manipulationen zur Tagesordnung gehörten. Der stellvertretende Ausschussvorsitzende Kurt<br />

Bäntle (SPD) vermutet: "Der Kultusminister ist doch nur deshalb nicht eingeschritten, weil er<br />

selber bei einem Klinikchef Privatpatient ist." - Klassen-Gesellschaften.<br />

POSTSCRIPTUM. -Es brauchte 27 Jahre, ehe das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe<br />

in seiner Rechtssprechung höchstrichterlich urteilte: Der Gesetzgeber - Bundestag und Landtage -<br />

darf Nebeneinkünften von Beamten Grenzen setzen. Geklagt hatte ein Professor für Steuerrecht<br />

an der Fachhochschule Worms. Er hatte von 1997 an mit Referaten bis zu 45.000 Mark im Jahr<br />

dazu verdient. Nun muss er dem Land Rheinland-Pfalz im Jahre 2007 umgerechnet 17.000 Euro<br />

erstatten. Nach Landesrecht - und das ist hier jeweils für die Bundesländer entscheidend - darf er<br />

bei seiner Tätigkeit für öffentlich rechtliche Stellen höchsten 6.000 Euro im Jahr behalten.<br />

Entscheidend für die Richter war das so genannte "Anrechnungsprinzip" im Beamtenrecht. Eine<br />

Doppelbesoldung aus öffentlichen Mitteln widerspreche dem Gedanken der "Einheit des<br />

öffentlichen Dienstes". Auch das etwaige Argument, das Honorar werde aus der Privatwirtschaft<br />

beglichen, wiesen die Verfassungsrichter zurück.<br />

Eine parlamentarische Anfrage der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus aus dem Jahre<br />

2007 förderte zu Tage, was gemeinhin nicht mehr für möglich gehalten wurde : allein in Berlin<br />

beziehen elf Medizin-Professoren jährliche Nebeneinkünfte von mehr <strong>als</strong> einer Millionen Euro.<br />

Spitzenverdiener war ein Radiologe mit 2,5 Millionen Euro. Durchschnittlich beträgt das Honorar<br />

erwähnter Wissenschaftler pro Tag um die 2.000 Euro – Tag für Tag ganz nebennbei –<br />

Nebenverdienst genannt. Trotz aller stillschweigend eingesteckter "Gewinnsteigerungen" - ein<br />

Erfahrungswert ist gleich geblieben: Im Schnitt delegieren Professoren laut einer Studie zwei<br />

Drittel ihrer Lehrverpflichtung und vier Fünftel ihrer Forschung an ihre aus öffentlichen Mitteln<br />

entlohnten Mitarbeiter. "Dabei werden sie vom Staat, <strong>als</strong>o von uns allen, dafür bezahlt, dass sie mit<br />

ganzer Kraft forschen und lehren." (manager magazin Ausgabe 3/2007).<br />

146


AUS DEUTSCHEN LANDEN DER ZEITGESCHICHTE (1) -<br />

WENN DDR-BÜRGER SCHWIMMEN GEHEN ... ...<br />

Anfang der siebziger Jahre war auch die DDR im Zeichen der<br />

Massenmotorisierung zu einem Land des Massentourismus geworden. An der<br />

sozialistischen Ostsee, den beliebtesten Urlaubsorten der DDR, lief selbst die Erholung<br />

nach Plan. Die Gewerkschaft bestimmte, wer, wann, wo und wie Ferien machen konnte.<br />

Nahezu drei Viertel aller Erholungsplätze wurden durch den Staat und seinen Betrieben<br />

vergeben. Die Ostsee-Woche (1958-1975) war ein jährlich veranstaltetes internationales<br />

Festival. Urlaubs-Szenarien aus einer verschollenen Ära.<br />

stern, Hamburg 24. Juli 1975<br />

Am Badestrand von Warnemünde scheppern aus Transistor-Lautsprecher Erfolgsschlager<br />

der fünfziger Jahre. Für die Ostsee-Urlauber sendet Radio Rostock ein leichtes Sommerprogramm.<br />

Lale Andersen (*1905+1972) prophezeit dem größten Überseehafen der DDR immer noch: "Ein<br />

Schiff wird kommen." In der Kurmuschel auf der Strandpromenade von Ahlbeck an der<br />

polnischen Grenze erntet der Geiger - mit Toupet, Fliege und schwarzem Anzug - Applaus für<br />

Evergreens längst verschütteter Jahre ("Ich hab' das Fräulein Helen, baden seh'n, das war schön").<br />

Im Küstenstädtchen Boltenhagen - 40 Kilometer östlich von Lübeck - ist die<br />

Eisverkäufer-Brigade schon am frühen Nachmittag arbeitslos. In wenigen Stunden waren 700 Kilo<br />

Tagesration ausverkauft. Aus dem Radio die Melodie: "Das ist der Umba, Umba, Schokoladen-<br />

Eisverkäufer."<br />

In der Aula der Universität Rostock stellt sich die SED-Führung den "bohrenden Fragen"<br />

der internationalen Presse; allen voran der mit obligat knalligem Blauhemd ausgestattete<br />

Gener<strong>als</strong>ekretär des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend, FDJ-Chef Egon Krenz (1967--<br />

1974). Seine Neuigkeit ist so alt wie die Ostsee-Woche, 22 Jahre. "Die Ostsee muss ein Meer des<br />

Friedens sein", verhallt es da lapidar. Auf dem Uni-Campus hat sich derweil eine kleine Mädchen-<br />

Traube ausgewiesener FDJlerinnen gebildet. Heiter ist die Stimmung, erwartungsvoll das Erleben.<br />

Eine Genossin stimmt plötzlich den Ohrwurm an, der da die Gemüter schwingen lässt. "Eeeeegon,<br />

ich hab ja nur aus Liebe zu dir, ja nur aus lauter Liebe zu dir, ein Glas zu viel getrunken, ach Egon,<br />

Egon, Egon." (Komponist Friedel Hensch, 1952). Stund' um Stund' wird nach dem berühmten<br />

Egon geträllert - bis endlich, ja endlich der einstige FDJ-Sekretär der Rostocker Bezirksleitung in<br />

ganz jungen Jahren (1960) zu einem Tänzchen ("aber, Genossin nur unseren Foxtrott, nichts vom<br />

Beat") auf dem staubigen Sandboden überredet wird. Ihre Antwort: "Yes Sir, I can Boogie". Krenz<br />

-Heimspiel. Swinging DDR anno '75.<br />

Für die DDR-Bevölkerung ist das Meer des Friedens mit seinem 470 Kilometer langen<br />

Küstenstreifen vor allem ein begehrter Badestrand, der einzige in der Republik, an dem sich die<br />

meisten tummeln möchten. Spätestens seit den siebziger Jahren ist auch der zweite deutsche Staat<br />

zu einem Land des Massentourismus geworden. So schieben sich täglich die Autoschlangen mit<br />

Wartburgs und graumäusigen Trabanten (Volksmund: Trabbis) auf den Fernstraße nach Norden.<br />

Vor Tankstellen bilden sich über 100 Meter lange Pkw-Schlangen, Restaurants sind überfüllt.<br />

"Massentourismus" lautet jener allseits faszinierende Begriff dieser Jahre. Ein Stückchen Freiheit,<br />

ein bisschen Beweglichkeit, wobei Reisen allerdings fast nur im Bereich der "sozialistischen<br />

Bruderstaaten" möglich sind; aber immerhin, wenigstens das.<br />

147


Und wenn um 16.30 Uhr im mecklenburgischen Kühlungsborn die Dampf-Eisenbahn mit<br />

urlaubsreifen Werktätigen einläuft, herrscht im kleinen Bahnhof nicht nur Vorfreude auf den<br />

Badestrand. Dies ist auch die Stunde des Genossen Günther Witt vom Freien Deutschen<br />

Gewerkschaftsbund (FDGB), der nichts dem Zufall überlassen darf. Freizeit und Urlaub sind<br />

nämlich eingebunden in die anspruchsvolle DDR-Zielsetzung, eine sozialistische<br />

Kulturgesesellschaft zu bauen. Folglich obliegt es der Einheitsgewerkschaft, <strong>als</strong> Reisebüro und<br />

Quartiermacher zu fungieren.<br />

FDGB-Bezirksleiter Günther Witt, der während der Nazi-Zeit in dem renommierten<br />

Badeort kellnerte, inzwischen den Dr. oec. (Thema: Tourismus) erwarb, ist stolz darauf, Familien<br />

der Arbeitsbrigaden in historischen Villen nächtigen und neuerbauten Heimen unterbringen zu<br />

können. Heute erholen sich 2,4 Millionen DDR-Bürger und Bürgerinnen an der roten Ostsee. 1938<br />

gab es hier nur 400.000 Urlauber - meist betuchte Privilegierte. Damit wurden praktisch drei Viertel<br />

aller Erholungsplätze durch den Staat und seine Betriebe vergeben. Mitte der achtziger Jahre sollte<br />

die DDR mit insgesamt 137.000 Betten und 1,9 Millionen Feriengästen ihre Höchstzahl erreichen.<br />

Den Platz an der Sonne bestimmt dafür jetzt der FDGB, der für den Ferienservice 300<br />

Millionen Mark jährlich aus dem Staatshaushalt zubuttert. Mit dem staatlichen Urlaubsgeld wird<br />

zum Beispiel dem Arbeiter Harald Engelhartt vom Ernst-Grube-Werk in Werdau der Ostsee-<br />

Urlaub erst möglich gemacht. In Kühlungsborn bewohnt der 35jährige Anlageführer mit Frau<br />

Hannelore, den Kindern Jens, 7, Silke , 6 , und Hanka, 5, zwei Zimmer im Ernst-Grube-Heim,<br />

einem komfortablen Neubau.<br />

Den Ferienscheck - Gutscheine für Reise, Haus und Verpflegung, nur der Strandkorb<br />

kostet extra 15,20 Mark für 13 Tage - bekam Vater Engelhartt bereits sechs Monate vor<br />

Urlaubsantritt. Vorausgegangen waren Diskussionen im FDGB-Werkskolletiv, das letztlich darüber<br />

entscheidet, welcher Genosse wo seine Ferien verbringen darf. "Wir müssen <strong>als</strong> Arbeiterklasse die<br />

attraktiven Plätze nach sozialen Gesichtspunkten vergeben", erklärt umsichtig Funktionär Günther<br />

Witt. Dieser Meinung schließt sich FDGB-Mitglied Engelhartt an. Seit seiner Heirat vor acht<br />

Jahren macht die Familie zum ersten Mal Ferien am Meer. Ohne FDGB-Mitgliedsbuch bliebe für<br />

die Engelhartts Urlaub an der Küste weiterhin Illusion. So ist Engelhartt recht "froh, in der<br />

Gewerkschaft organisiert zu sein." Denn dem FDGB gehören außer den Interhotels fast sämtliche<br />

Quartiere an der Ostsee (986.000 Betten).<br />

Aber irgendwie kann Vater Engelhartt seine Ernüchterung kaum verbergen. Vielleicht<br />

haben sich in all den Jahren des Ausharrens auf einen lang ersehnten Ferienplatz zusehends die<br />

Erwartungen nach oben geschraubt. Auffallend leise gesteht er, "das Essen ist mies, die Zimmer<br />

bescheiden, Bad auf dem Flur, nur ein Fernseher im Aufenthaltsraum. Bohnenkaffee dürfen wir<br />

nur zum Frühstück schlürfen gegen Aufpreis natürlich. Der Muckefuck schmeckt plürrig, drei<br />

Scheiben fettklumpige Wurst gibt's zum Abendessen auf Zuteilung; Sülzwurst, Griebenwurst und<br />

so 'ne dunkle, fettige, fast ohne Fleisch." Immer, wenn die Kellnerin laut krachend die Pendeltür<br />

mit einem Fußtritt aufstößt und neue Aufschnittplatten in den Saal hineinträgt, stürzt sich die<br />

gesamte Urlauberschaft wie eine Meute aufs Tablett. Die Jagd nach dem besonderen Häppchen<br />

hatte begonnen. Und das Tag für Tag, Abend für Abend. "Aber", bedeutet Harald Engelharrt, " wir<br />

sind doch glücklich, einen so günstigen FDGB-Ferienplatz ergattert zu haben. "<br />

Die wenigen verbliebenen Privatpensionen sollen künftig noch gezielter <strong>als</strong> bisher ihre<br />

Plätze dem FDGB überlassen. Schon heute vermittelt die Gewerkschaft von den 17 Millionen<br />

DDR-Bürgern jeden Dritten zu relativ günstigen Preisen in die Erholung. - Die Gewerkschaft <strong>als</strong><br />

Reisebüro mit obligaten Gesinnungs-TÜV. Familie Engelhartt - die Eheleute verdienen monatlich<br />

148


1.200 Mark brutto - zahlt für 13 Tage Ostsee mit Vollverpflegung 570 Mark. Je 30 Mark für die<br />

Kinder und je 240 Mark für sich. Für diesen Preis brauchen sich die Werktätigen ,aber auch um<br />

nichts zu kümmern. Das Kollektiv des Erholungsheimes ist den "wehrten Gästen" allgegenwärtig.<br />

Das beginnt mit dem Wecken zwischen sechs und sieben, der Bettruhe möglichst gegen 22 Uhr.<br />

Das reichhaltige Angebot auf der Speisekarte berücksichtigt die "Grundsätze der<br />

gesundheitsfördernden Ernährung". Auf Seite eins steht: "Ihr Kalorienbedarf im Tagesablauf<br />

beträgt: für Facharbeiter ohne wesentliche körperliche Anstrengung (Zeichner, Optiker, Chemiker<br />

oder leitende Angestellte) 2.700 Kalorien. Für mittelschwer arbeitende Werktätige (Tischler,<br />

Schumacher, Schlosser oder Druckformhersteller) 3.500. Für Schwerstarbeiter (Dachdecker,<br />

Schmied, Walzwerker, Bergmann oder Gleisbauarbeiter) 4.400. Für Kinder 2.100 Kalorien."<br />

Doch nicht nur am Büfett wacht der FDGB darüber, dass die in der DDR ausgebrochene<br />

Fresswelle eingedämmt wird (Programm: "Jeder ist, was er isst"). Nach dem Motto "wer rastet, der<br />

rostet" steht der "sozialistische Mensch" auch in den Ferien im organisierten Wettbewerb: im<br />

sportlichen, modischen und auch ideologischen. Morgens neun Uhr: Konditionstest oder Lauf<br />

der Freundschaftsmeile. Gymnastik, Tischtennis- oder Volleyballturniere, Schwimmwettbewerbe<br />

über 70 Meter und "volkstümliche Dreikämpfe" -bestehend aus Lauf, Sprung und Stoß" - schließen<br />

sich an.<br />

Nachmittags ist für Kinder "Lachen die beste Medizin" eine heitere Sprechstunde bei Frau<br />

Puppendoktor Pille, Eintritt 0,50 Mark. Oder am Strand gibt's "Korbballzielwerfen für die<br />

Familie". Für die Mütter gastiert im Konzertgarten Ost "der Modezeichnerverband für<br />

spezialveredelte Erzeugnisse der DDR". Über 100 Modelle zeigen Charme, Schick und in HO-<br />

Läden nicht erhältliche Entwürfe.<br />

Am Abend tanzen die Urlauber entweder an "allen Verpflegungsstellen" (Programm) -<br />

wer sich einen Platz im Kurhaus ergattert, vergnügt sich bei der Wolfgang-Gißmann-Combo - oder<br />

es geht ins Kino "Aber das Blut ist rot" oder zu Victor Hugos (*1802+1885) "Elenden". Zum<br />

guten Ton gehört es auch, mindestens einmal in den Ferien etwas fürs "sozialistische Bewusstein"<br />

(Funktionär Witt) zu tun. Zahlreiche Veranstaltungen sind darauf abgestellt. Strandbühne 15 Uhr:<br />

"30 Jahre danach - der antifaschistische Widerstandskampf und die Erfüllung seines<br />

Vermächtnisses in der DDR." FDGB-Heim 19.30 Uhr: "Zwischen zwei Parteitagen: Entwicklung<br />

und Politik der DDR." Waldkrone 20 Uhr: "Dia-Ton-Vortrag über den Revolutionär und<br />

Theologen Thomas Müntzer (*1489+1525) - die historischen Beweggrunde der Bauernaufstände."<br />

Trotz Polit-Programm, Massenverpflegung und Heimunterkunft ist für DDR-Bürger die<br />

Ostsee das beliebteste Urlaubsziel. Jährlich warten 300.000 Familien vergebens auf eine FDGB-<br />

Zuweisung. Denn auch die sechzig Campingplätze zwischen Boltenhagen und Ahlbeck sind<br />

überfüllt. Selbst Zeltplätze werden in der DDR zentral vom Computer vergeben. Kühlungsborn<br />

Bürgermeister Walter Vörgaard :"Wir müssen im Sozialismus schließlich gerecht vergeben."<br />

Wie gerecht die sozialistische Wirklichkeit aussieht, verraten auf der Landzunge zum Darß<br />

die pittoresken Badeorte Ahrenshoop und Wustrow. Entlang der Strandböschung entstand eine<br />

Art sozialistisches Kampen; irgendwie schon vergleichbar mit diesem Ort auf der Schicki-Mikki-<br />

Insel Sylt. Weißgetünchte Villen und Bungalows mit reetgedeckten Dächern reihen sich weiträumig<br />

aneinander. Wassersprüher ziehen auf den riesigen Rasenflächen und üppigen Rosenbeeten ihre<br />

Kreise. Der sowjetische Moskwitsch oder der tschechische Skoda - Klassen besser <strong>als</strong> der<br />

Zweitakter Trabant - parken in den Garagen. Zwischen Ahrenshoop und Wustrow entspannt sich<br />

weit entfernt, unnahbar die Elite vom "klassenlosen" Alltag. SED-Funktionäre, Ärzte, Ingenieure,<br />

149


Werksdirektoren. Ihre Luxushäuser, meist von Feierabendkolonnen und in Schwarzarbeit<br />

hochgezogen, kosten zwischen 75.000 und 100.000 Mark. Der Boden wird vom Staat für 99 Jahre<br />

verpachtet. Die Verträge müssen jedoch Jahr für Jahr bestätigt werden. Mit dieser Klausel sichert<br />

sich der SED-Staat die Loyalität seiner Intelligenz.<br />

Wie der FDGB für die erwachsenen Urlauber, organisiert die "Freie Deutschen Jugend"<br />

(FDJ) für die Heranwachsenden die Ferien. In vierzehntägigen Sommerlagern wird "Erholung und<br />

Arbeit" geboten. FDJ-Funktionär Christian Molzen: "Schulen und Universitäten gehen in die<br />

Lager, um das Kollektiv zu festigen." Der Altkommunist und Landwirtschaftsdirektor Erich Tack<br />

ergänzt: "Die müssen begreifen, dass der Schweiß salzig schmeckt." Nach dem Prinzip "Hohe<br />

Leistungen im sozialistischen Wettbewerb" arbeiten die Blauhemden m FDJ-Camp Gallentin<br />

täglich sechs Stunden (Lohn pro Tag: 15 Mark) auf Gemüsefelder und in Tierställen. Im Ostseebad<br />

Bansin legen FDJ-Brigaden Gräben für eine neue Kanalisation. In Str<strong>als</strong>und bauen<br />

Feierabendgruppen den ausrangierten Wasserturm zu einer Jugendherberge um.<br />

Politische Kampf-Appelle zu Portugal und Chile, alte Partisanen-Filme ("Pankow schlägt<br />

sich durch") prägen im Camp die Freizeit. Beat- und Rockveranstaltungen gibt es, so Lagerleiter<br />

Horst Grunwald - "nur dann, wenn Disziplin, Sauberkeit und Ordnung herrscht. Dann dürften<br />

unsere Genossen auch mal 'ne Stunde länger tanzen." Auslandsreisen sind nur <strong>als</strong> Lohn für<br />

Übererfüllung des Plans gedacht. So sollen die Leistungen der Kollektive in den Betrieben und der<br />

Fleiß der DDR-Schüler angestachelt werden. Der Urlaub jenseits der Grenzen ist freilich auf<br />

sozialistische Bruderländer beschränkt: So verlebt die Hälfte aller DDR-Einwohner (8,5 Millionen)<br />

ihre Ferien zu Hause. Die Zahl der Kleingärtner und Geflügelzüchter überstieg jedenfalls Mitte der<br />

siebziger Jahre die Millionengrenze.<br />

150


AUS DEUTSCHEN LANDEN DER ZEITGESCHICHTE (2) :<br />

DAS ENDE EINER UTOPIE -EINE ROTE UNI GEHT BADEN<br />

stern, Hamburg 26. Juni 1975<br />

Augenblicke aus einem recht entfernten Universitäts-Milieu des revolutionären Vormärz<br />

der siebziger Jahre. Nachts darf Professor habil. Dr. rer. nat. Jens Scheer, 40 (*1935+1994) nur<br />

noch sechs Stunden schlafen. Tagsüber hat er sein Studienzimmer in der Universität Bremen für<br />

jedweden Publikumsverkehr offenzuhalten. Und am Monatsende werden von seinem Gehaltskonto<br />

(brutto 4.800 Mark) fünfzig Prozent für den Kommunistischen Studenenverband (KSV)<br />

abgebucht. So haben es seine Studenten beschlossen.<br />

Seit sich der renommierte Atomphysiker und Atomkraftgegner mit Haut und Haar den<br />

Maoisten ver-schrieben hat (Scheer: "Die Revolution steht nicht irgendwann auf der Tagesordnung,<br />

sondern jetzt"), muss er dem strengen Parteikader gehorchen: nächtliche Plakat-Klebe-Aktionen<br />

für die KPD und Polit-Agitationen in der Universität am Tag. Scheers Ziel: "Kampf gegen die<br />

kapitalistische Ausbildung und für eine Ausbildung im Dienste des Volkes." Seine Forderungen:<br />

"Patenschaft der Uni Bremen mit der Universität Hanoi; Ersetzung der Polizei und der<br />

Bundeswehr durch allgemeine Volksbewaffnung." Seine Tat: Sprengung einer CDU-Veranstaltung<br />

auf dem Campus der Bremer Universität - die ihm eine Disziplinarstrafe von 600 Mark einbrachte.<br />

Jetzt droht Scheer <strong>als</strong> Hochschullehrer der Rausschmiss aus dem Staatsdienst, weil er beim Kleben<br />

von Plakaten für die KPD erwischt wurde. - Berufsverbote in Deutschland.<br />

Professor Jens Scheer ist in Bremen gewiss kein verirrter Einzelkämpfer. Die Hochschule<br />

des kleinsten Bundeslandes, im Jahre 1971 verheißungsvoll <strong>als</strong> Reformmodell gegen die<br />

hinreichend antiquierten Ordinarien-Universitäten ("Unter den Talaren - Muff von tausend<br />

Jahren") aus der Taufe gehoben, ist unversehens zum Mekka westdeutscher Maoisten, DKP-<br />

Kommunisten und Marxisten geworden. Aus den linken Uni-Hochburgen West-Berlin, Göttingen,<br />

Marburg und Heidelberg pilgerten fast tausend Studenten an die erste "Arbeiter-Hochschule" der<br />

Bundesrepublik. (Gesamtstudentenzahl: 3.500).<br />

Die sonst <strong>als</strong> "Bürgerschreck verschrienen Jungsozialisten gelten in Bremen <strong>als</strong><br />

"reaktionär und rechts". Bei den letzten Wahlen zum Universitätsparlament (Konvent) Ende Mai<br />

1975 ging ihr Stimmenanteil von 21,2 auf 14,2 Prozent zurück. Sieger wurden die Maoisten des<br />

Kommunistischen Studentenbundes KSB mit 37,7 Prozent, die maoistische Splittergruppe KSV<br />

erhielt 5,7 Prozent.<br />

Der Moskau-treue und von der DKP organisierte Marxistische Studentenbund (MSB<br />

Spartakus) steigerte seine Prozente um 7.8 auf 24.1 und der wegen seiner Volksfrontpolitik von der<br />

SPD verstoßene Sozialistische Hochschulbund (SHB) von 20,5 auf 22,8 Prozent. Die christlichen<br />

und liberalen Studentengruppen, die an fast allen anderen Universitäten stark zunehmen, stellten<br />

sich in Bremen erst überhaupt nicht zur Wahl.<br />

Nach der Stimmenschlacht warfen sich Mao-Anhänger und Moskau-Treue im Hörsaal<br />

gegenseitig vor, die f<strong>als</strong>chen Erben von Marx und Lenin zu sein. Für die Maoisten hat die DKP<br />

"den revolutionären Kampf der Arbeitermassen verraten". Für die DKP sind die Mao-Jünger<br />

"Chaoten und Links-Opportunisten".<br />

151


Während an den meisten anderen deutschen Universitäten die Professoren und Studenten<br />

politisch noch in verschiedenen Lagern stehen, reihen sich Bremens Hochschullehrer beinahe<br />

nahtlos in die Aktionen der Studentengruppen ein. Für den Historiker Immanuel Geiss ("An der<br />

Uni in Hamburg war ich <strong>als</strong> Linkssozialist verschrien, hier bin ich Rechtsaußen") wird durch die<br />

offene Verbrüderung von Hochschullehrern und Studenten die wissenschaftliche Ausbildung<br />

ideologisch überfrachtet.<br />

Geiss weiter: "Die politische Linie der Hochschullehrer ist für viele Studenten wichtiger<br />

<strong>als</strong> deren Qualifikation." In Bremen weiß denn auch jeder, wo er den anderen politisch hinzustellen<br />

hat. Für Geiss ist sein Kollege, das DKP-Mitglied Jörg Huffschmid (Professor für Politische<br />

Ökonomie) ein "verkappter Stalinist". Für den zum Stamokap-Flügel (linke Sozialdemokraten und<br />

DKP-Anhänger, die den Staat <strong>als</strong> Handlanger des Monopol-Kapitalismus ) gehörenden Uni-<br />

Pressesprecher Wolfgang Schmitz ist Geiss "ein verhinderter Ordinarius, der den alten Privilegien<br />

nachtrauert". Für den Sozialdemokraten Reinhard Hoffmann (Professor für öffentliches Recht) ist<br />

sein Kollege Gert Marte (Professor für Elektrotechnik) "ein kleiner E-Techniker), der <strong>als</strong> SPD-<br />

Mitglied das Geschäft der CDU besorgt".<br />

So zerfleischen sich die Leute gegenseitig, die mit dem "Bremer Modell" eine "Universität<br />

der Unter-privilegierten" (Bürgermeister Hans Koschnik, 1967-1985) schaffen wollten. In Bremen<br />

sind 15 Prozent der Studenten Arbeiterkinder - doppelt soviel wie an den anderen Universitäten.<br />

Eine Hochschule mit "demokratischer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Solidarität", in der es<br />

die totale Abhängigkeit der Studenten und der jungen Wissenschaftler von den allmächtigen<br />

Ordinarien nicht mehr gibt. Eine Universität, "die sagt, was sie weiß und was sie denkt, und sich<br />

bemüht, ihr Wissen auch an den Mann zu bringen" (Ex-Rektor Thomas von der Vring; 1970-1974).<br />

Die Reform-Universität sollte nach dem Konzept der SPD:<br />

• Lehrer ausbilden, die "dazu beitragen, dass alle Kinder auch wirklich die gleichen<br />

Bildungschancen erhalten, dass vor allem auch Arbeiterkinder ihre Begabung voll<br />

entfalten können";<br />

• Ingenieure heranbilden, die in "gesellschaflicher Verantwortung daran denken, welche<br />

möglichen Umweltschäden neue Techniken mit sich bringen";<br />

• Juristen hervorbringen, die "sich damit auseinandersetzen, dass heute ein Reicher<br />

immer noch leichter zu seinem Recht kommt, weil er den besseren Anwalt bezahlen<br />

kann und sich vor den Prozesskosten nicht zu fürchten braucht".<br />

Für diese Ziele wurden in Bremen Hochschullehrer in fachübergreifenden<br />

(interdisziplinären) Projekten zusammengefasst. Im Fachbereich Sozialwissenschaften sollen<br />

Juristen, Volkswirte, Politologen, Soziologen und Historiker dafür sorgen, dass Studenten nicht nur<br />

für ein spezielles Gebiet wie zum Beispiel der Jurisprudenz pauken, sonder in Gruppenarbeiten (die<br />

Massenvorlesungen sind abgeschafft) lernen, das Spezialwissen in den gesellschaftlichen<br />

Zusammenhang einzuordnen.<br />

Bei der CDU stieß das Reformmodell sofort auf erbitterten Widerstand. Die<br />

Christdemokraten ließen seit Gründung 1971 keine Gelegenheit aus, die neue Uni und ihre<br />

Professoren in der Bevölkerung madig zu machen (stern Nr. 42/1971: "Die Buhmänner von<br />

Bremen"). Selbst die solidesten Reformpläne, zum Beispiel in der Lehrer- und Juristenausbildung,<br />

wurden von den Christdemokraten mit einem kategorischen Nein abgeschmettert.<br />

152


Für die war die Universität immer nur eine "marxistische-leninistische Kaderschmiede"<br />

(CDU-MdB Ernst Müller-Hermann; *1914+1994). Die Folge: Wegen der CDU-Propaganda<br />

schreckte die Industrie davor zurück, Forschungsaufträge nach Bremen zu vergeben.<br />

Hauptärgernis war den CDU-Politikern die an der Uni Bremen eingeführte<br />

Mitbestimmung für Studenten und nichtwissenschaftliches Personal. Neben den Hochschullehrern<br />

haben diese beiden Gruppen im Parlament (Konvent) und im Akademischen Senat (dem obersten<br />

Selbstverwaltungsorgan) zu gleichen Teilen Stimmrecht (Drittelparität). So können zum Beispiel<br />

Sekretärinnen oder Laboranten bei der Berufung von Professoren gleichberechtigt mitwirken,<br />

allerdings dürfen sie kein Votum zu deren wissenschaftliche Qualifikationen abgeben. Doch die<br />

Mitbestimmung stürzte die Universität jetzt in eine schwere Krise: Kaum hatten sich die Gremien<br />

konstituiert, kündigte der Kommunistische Studentenbund an: "Wir werden das ideologisch<br />

nutzen." Dazu Immanuel Geiss: "Die totale Politisierung ging so weit, dass im<br />

sozialwissenschaftlichen Eingangsstudium auf nicht-sozialistische Studenten Druck ausgeübt<br />

wurde, Karl Marx und Stalin nachzubeten."<br />

Im Bereich Kunst/Ästhetik untersagte der paritätisch aus Hochschullehrern und<br />

Studenten zusammengesetzte Studienbereichsrat Professor Gert Duwe eine Exkursion in den<br />

Nordsee-Ort Neuharlingersiel. Duwe wollte ab der Küste mit seinen Studenten Kontrast-Malerei<br />

üben. Die Maoisten behaupteten, dass "Professor Duwe sich auf Uni-Kosten einen schönen Urlaub<br />

machen wollte", und rieten dem 47jährigen Hochschullehrer, er solle doch lieber einmal in den<br />

Bremer Hafen ziehen und seine Studenten die ausgebeuteten Arbeiter der AG Weser malen lassen.<br />

In den Arbeitsbereich Politik, Soziologie und Lehrerausbildung wurde monatelang<br />

darüber diskutiert, welcher "gesellschfatspolitischer Ansatz" für das Studium der Richtige sei. Der<br />

Grund für die Misere: Ursprünglich sollte die Hochschule erst im Winter-Semester 1972/74 ihre<br />

Pforten aufmachen. Darauf war die gesamte Planung ausgerichtet. Doch Studienplatz-mangel und<br />

politisches Prestige trieben Bremens SPD-Politiker zu einer überstürzten Universitäts-Eröffnung<br />

im Jahre 1971.<br />

Die Folge: Weder Hochschullehrer noch Studenten wussten genau, an welche Lehr- und<br />

Lerninhalte sie sich zu halten haben und welches Wissen für die Abschlussdiplome entscheidend<br />

ist. Denn Studien- und Prüfungsordnungen mussten erst noch erarbeitet werden. 1973 gestand<br />

Uni-Kanzler (Verwaltungschef) Hans Heinrich Maaß: "Das gesamte Wintersemester ist in die Hose<br />

gegangen."<br />

Einig waren sich Hochschullehrer und Studenten von Anfang an darin, dass<br />

Prüfungsarbeiten nicht mit den "spalterischen Zensuren des kapitalistischen Leistungssystems"<br />

beurteilt werden dürfen. In Bremen sollte es deshalb ursprünglich nur zwei Noten geben:<br />

bestanden oder nicht bestanden. Als Bildungssenator Moritz Thape ("Die Universität ist auf dem<br />

besten Weg, ihre Reputation zu verspielen") die Hochschullehrer dennoch dazu zwang, Zensuren<br />

zu geben, wurden beispielsweise im Promotionsausschuss für den Doktor der Philosophie (Dr.<br />

phil.) einfach 80 Prozent der Dissertationen mit den sonst höchst seltenen Spitzennoten "summa<br />

cum laude" (ausgezeichnet mit höchstem Lob) und "maga cum laude" (sehr gut mit großem Lob)<br />

benotet und so der Erlass des Senators geschickt unterlaufen.<br />

Auch die Zulassungspraxis von Nicht-Abiturienten zum Hochschulstudium brachte das<br />

"Bremer Modell" unnötig in Verruf. Prüfungsthemen wurden den Bewerbern vorher zugespielt,<br />

sodass viele die Klippe mit Bravour meisterten. Senator Moritz Thape (1965-1985): "Ich musste<br />

mehrfach die Themen wechseln, weil sie schon bekannt waren." Deshalb wurde das<br />

153


Aufnahmeverfahren der Universität jetzt praktisch entzogen. Wie zu alten Zeiten bestimmt nun<br />

wieder eine Staatsbehörde, wer zum Studium zugelassen wird.<br />

Der SPD-Bildungssenator liegt schon seit den Anfängen der Uni mit den politischen<br />

Hochschulgruppen und den Berufungskommissionen im Clinch. Der Grund: Von den ersten 100<br />

von der Hochschule erwünschten Ernennungen zum Professor lehnte der Senator 32 ab. Bei<br />

manchen Kandidaten witterte er Seilschaften, andere waren ihm zu links. Thape: "Nicht im CSU-<br />

Land Bayern, sondern im sozialdemokratisch regierten Bremen ist die erste Berufung eines<br />

kommunistischen Hochschullehrern verhindert worden"; der kompetente Medienwissenschaftler<br />

und eingeschriebenes DKP-Mitglied Horst Holzer (*1925+2000). Angesichts der nach-gewiesenen<br />

Holzer-Qualifikation ein recht eilfertiges Hauruck-Verfahren. - Berufsverbote in Deutschland.<br />

Dessen ungeachtet - Moritz Thapes fragwürdiger Stolz, "gegenüber Kommunisten hart zu<br />

sein", bringt gerade die sozialdemokratischen Reformer des "Bremer Modell" ins arge Bedrängnis.<br />

Um die maoistischen Gruppen in Schach zu halten (von der Vring: "Die Chaoten produzieren<br />

Chaos"), sind die SPD-Genossen gezwungen, mit dem DKP-Spartakus, dem von Kommunisten<br />

unterwanderten Sozialistischen Hochschulbund und der Stamokap-Fraktion eine Art<br />

"Regierungsbündnis" einzugehen.<br />

Die vier Gruppen haben sich das mächtige Universitätsrektorat, das durch das Parlament<br />

(Konvent) gewählt wird, nach einem feinsinnigen Proporzsystem aufgeteilt. Der seit einen Jahr<br />

amtierende Rektor Hans-Josef Steinberg (*1935+2003), Professor für Geschichte, hat <strong>als</strong> linker<br />

SPD-Mann mit diplomatischem Geschick die Aufgabe, bei internen Streitereien zu schlichten und<br />

die Hochschule gegenüber der Landesregierung und den Parteien zu vertreten. Konrektor Stefan<br />

Aufschnaiter soll <strong>als</strong> rechter SPD-Flügelmann die eher konservativen Professoren bei der Stange<br />

halten. Sein Kollege, Kon-rektor Gerhard Stuby (Professor für öffentliches Recht), vertritt <strong>als</strong><br />

Anhänger der Stamokap-Theorie die Interessen von MSB-Spartakus und SHB.<br />

Als Liberaler fungiert Universitäts-Kanzler Hans Heinrich Maß. Der ehemalige<br />

Vorstandsassistenz einer Bank ("Ich bin parteilos") und heutige Manager der Universität soll vor<br />

allem das hanseatische Bürgertum beruhigen. Tatsächlich aber sind die Kommunisten ein<br />

mächtiger Faktor in diesem Volksfront-Bündnis. Der ASTA-Vize (Allgemeine Studentenausschuss)<br />

und DKP-Genosse Wolf Leschmann: "Ohne uns kann hier keine Politik gemacht werden."<br />

Sozialdemokrat Geiss teilt diese Einschätzung: "Wir sollten nichts mehr beschönigen. Von<br />

den 300 Hochschullehrern sind 50 Prozent dogmatische Marxisten von der KPD bis Stamokap."<br />

Geiss' Behauptung stößt zwar in der Universität auf harten Widerstand (Steinberg: "Verleumder<br />

werde ich verklagen"), doch Rektor und Kanzler sind längst entschlossen, dem "massiven Druck<br />

der Linken entgegenzutreten" (Hans Heinrich Maaß.)<br />

Ihr Hauptverbündeter ist dabei die Gewerkschaft. Denn in Bremens Uni hat Heinz<br />

Klunkers (*1925+2005, ÖTV-Chef 1964-1982) mehr Macht <strong>als</strong> in irgendeiner anderen westdeutschen<br />

Hochschule. Der Grund: Fast das gesamte nicht-wissenschaftliche Personal ist<br />

(Sekretärinnen, Sachbearbeiter, Laboranten, EDV und Haus-meister) - in den wichtigsten<br />

Mitbestimmungsorganen mit einem Drittel der Stimmen vertreten - ist in der ÖTV organisiert.<br />

Rektor Hans-Josef Steinberg: "Die Dienstleister sind der stabilste Faktor in der<br />

Universität." Im Universitätsparlament sind die ÖTV-Leute, die die Resolutionspolitik" (Ex-Rektor<br />

von der Vring) der politischen Gruppen zu Vietnam, Portugal und den Berufsverboten zu bremsen<br />

versuchen.<br />

154


Und im Akademischen Senat stellen ÖTV-Leute die peinliche Frage, wo die<br />

Forschungsergebnisse bleiben. Zum Beispiel über die Lärm- und Schadstoffbelastung für Arbeiter<br />

im Bremer Hafen. Der Ordnungsfaktor Gewerkschaft muss jetzt um seinen Einfluss bangen. Denn<br />

das Bundesverfassungsgericht hat das Mitbestimmungsrecht des nichtwissenschaftlichen Person<strong>als</strong><br />

drastisch eingegrenzt. Nach Ansicht der Richter müssen die Professoren im Bereich von Forschung<br />

und Lehre die Mehrheit in den Gremien haben. Deshalb will Bildungssenator Moritz Thape gleich<br />

nach den Bremer Bürgerschaftswahlen im September 1975 per Gesetz die Gewerkschaftler aus<br />

wichtigsten Gremien hinauskatapultieren. Thape: "Für mich besteht kein Zweifel. Das Bremer<br />

Mitbestimmungsmodell ist nicht mehr haltbar." Rektor Hans-Josef Steinberg: "Wenn die<br />

Mitbestimmung fällt, ist das Bremer Modell kaputt. Dann bin ich die längste Zeit Rektor dieser<br />

Universität gewesen."<br />

155


"UNWOHLSEIN" IN WOHLSTANDS-IDYLLEN. MIT MAO<br />

FÜR DEN NULL-TARIF. ROMANTIK PUR ODER<br />

HEIDELBERG IM BÜRGERKRIEG<br />

Momentaufnahmen, Beobachtungen - Augenblicke aus dem Deutschland der<br />

Wohlstandsidylle der siebziger Jahre. In Heidelberg nahmen Deutschlands maoistische<br />

Kommunisten den Kampf um die "Diktatur des Proletariats" auf - mit Steinen gegen<br />

Fahrpreiserhöhungen - unterstützt von Tausenden Studenten.<br />

stern, Hamburg 07. Mai 1975<br />

Die Schlacht war geschlagen. Zur Manöverkritik hatten sich im Heidelberger Präsidium<br />

Polizeidirektor Werner Kohler, 45, und seine Einsatzleiter versammelt. Ein Super-Acht-Film spulte<br />

nochm<strong>als</strong> "Bürgerkrieg am Neckar" ab, der fast eine Woche in der pittoresken Altstadt getobt<br />

hatte.´<br />

1.200 Polizisten, die aus allen Landesteilen Baden-Württembergs abkommandiert worden<br />

waren, kämpften gegen 2.000 Demonstranten. In der Hauptstraße in engen Gassen Mann gegen<br />

Mann. Mit Hubschraubern, Wasserwerfern, Tränengas, Pfeffernebel, Holzknüppeln und einem<br />

neuentwickelte Demonstranten-Räumgerät zeigte die Staatsmacht Unnachgiebigkeit. Werner<br />

Kohler war drauf und dran, den Ausnahmezustand ausrufen zu lassen: "Noch ein paar<br />

Demonstranten mehr, dann hätten wir den Bundesgrenzschutz einsetzen müssen." - Endzeit-<br />

Stimmung in Heidelberg am Neckar.<br />

Übte die Polizei den inneren Notstand, so probten die jugendlichen Kämpfer hinter den<br />

Barrikaden die Revolution. Mit Holzlatten, kleinen Molotow-Cocktails, Steinen, Flaschen und<br />

Eisenstangen wüteten bundesdeutsche Maoisten gegen den Beschluss der Heidelberger Stadtväter,<br />

den Fahrpreis der defizitären Berg- und Straßenbahnen um 25 Prozent auf 1,25 Mark anzuheben.<br />

Die Schlacht von Heidelberg (200 Verletzte) war für Maos Revolutionäre nur der Auftakt<br />

Mitte der siebziger Jahre. "Wir werden den Kampf gegen die Ausplünderung der bürgerlichen<br />

Gesellschaft auf den Straßen vorantreiben", erklärt die maoistische Stadträtin Helga Rosenbaum,<br />

32, die für den Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) vor zwei Monaten mit 6.000<br />

Stimmen ins Gemeinde-Parlament einzog.<br />

Dabei hatte die Öffentlichkeit zur Kommunalwahl im April 1975 den Kommunistischen<br />

Bund Westdeutschland so gar nicht richtig zur Kenntnis genommen. Lediglich die eher beiläufige<br />

Äußerung eines seiner Kandidaten - der "KBW ist für bewaffneten Umsturz" - sorgte für<br />

Aufsehen. Da hockte die einstige Chemielaborantin nun im Stadtparlament unter lauter<br />

ehrwürdigen, notabelen Ratsherren und weigerte sich lauth<strong>als</strong> , eine Verpflichtungserklärung auf die<br />

Freiheitlich-Demokratische Grundordnung (FDGO) abzugeben. Tumulte Krawalle -Übergriffe, <strong>als</strong><br />

sie den SPD-Oberbürgermeister Reinhold Zundel (1966-1990; *1930+2008) zum "Freund der<br />

amerikanischen Kriegsverbrecher" erkor und ihn gar <strong>als</strong> "Symbol der Niedertracht und<br />

Ausbeutung" denunzierte. Mehrfach wurde Stadträtin Rosenbaum wegen "Störungen" von<br />

Sitzungen verbannt, es hagelte Strafanzeigen. Randale im Rathaus-Saal, aufgeladen die Gemüter.<br />

Und im Zentrum des kommunalen Geschehens wähnte sich eine ferngesteuerte KBW-Aktivistin<br />

Rosenbaum , die zum Fanal gegen Staat, Stadt und Straßenbahn einschließlich<br />

Fahrpreiserhöhungen blies.<br />

156


Ihr Kaderchef, der 29jährige Martin Fochler, beabsichtigt unterdessen die brutalen<br />

Gewaltaktionen jetzt in den Städten Frankfurt, Mannheim und Köln fortzusetzen, weil auch dort in<br />

Kürze die Preise für den öffentlichen Nahverkehr erhöht werden. Fochler fanatisch: "Ein heißer<br />

Sommer der politischen Erschütterung steht bevor. Unser Vietnam ist die Bundesrepublik. Unser<br />

Aktionfeld ist der Betrieb, die Schule, die Straße."<br />

Martin Fochler und seine Genossen sehen sich in einem "historischen Kampf" <strong>als</strong> Erben<br />

von Marx, Lenin und Mao. Ihr Endziel ist die "klassenlose Gesellschaft nach dem Vorbild Chinas".<br />

Ihr Nahziel: "Die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und die Einrichtung der Diktatur<br />

des Proletariats." Hasserfüllt predigen die Mao-Jünger Gewalt. Der Grund: Solange die<br />

"Bourgeoisie" über bewaffnete Kräfte verfügt, werde das "Proletariat" die politische Macht "mit<br />

Waffengewalt" erkämpfen müssen. - Heidelberg, Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr<br />

, KBW-Genossen – und ihre Zeit in den siebziger Jahren.<br />

Ihr Lebensinhalt ist deshalb der militante Kommunistische Bund Westdeutschland<br />

(KBW), den sie 1973 in Bremen gegründet hatten. Dam<strong>als</strong> brachen die KBW-Genossen mit der<br />

westdeutschen Gesellschaft; sie entwickelten sich zu Revoluzzern. Martin Fochler gab seinen Beruf<br />

<strong>als</strong> Chemielaborant auf und wurde Sekretär des Zentralen Komitees. Der KBW zahlt ihm ein<br />

monatliches Funktionärsgehalt von 800 Mark netto. Zwei weitere Spitzenfunktionäre und<br />

ideologische Köpfe sind die früheren Studentenführer im Sozialistischen Hochschulbund (SDS)<br />

Jochen Noth und Dietrich Hildebrandt. Sie waren nachbestandenen Examen am Radikalen-Erlass<br />

in Baden-Württemberg gescheitert. - Berufsverbot. Noth flog <strong>als</strong> wissenschaftliche Hilfskraft der<br />

Universität Heidelberg raus. Politische Lebensstationen des ehemaligen Lehrers Hildebrandt: SDS,<br />

Kommunistische Hochschulgruppe, KBW, Komitee für Demokratie und Sozialismus und Bündnis<br />

90/Die Grünen - Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg (1996-2001).<br />

Mitte der siebziger Jahre sitzen beide für acht beziehungsweise zwölf Monate im<br />

Gefängnis. Sie hatten während der Internationalen Konferenz für Entwicklungshilfe 1970 in<br />

Heidelberg, an der auch der Weltbank-Präsident (1968-1981)und frühere amerikanische<br />

Verteidigungsminister Robert McNamara (1961-1968) teilnahm, die Polizei in wüste Schlägereien<br />

verwickelt.<br />

Bei welchen Wahlen oder Anlässen auch immer, ob im Stadtrat oder später im Landtag zu<br />

Stuttgart - KBW-Hildebrandt fordert stets den Abzug aller fremden Truppen aus der<br />

Bundesrepublik sowie die Auflösung aller fremden Militärstützpunkte. Hildebrandt im Originalton:<br />

"Statt Mitbestimmung von Gewerkschaftsführern in den Aufsichtsräten der Kapitalisten fordern<br />

wir uneingeschränkte Rechte gegenüber den Kapitalisten für die Vertretungsorgane der<br />

Belegschaften für Betriebs- und Personalräte. Das Volk hat kein Interesse an einer Beschönigung<br />

seiner Unterdrückung durch den Staat, sondern an uneingeschränkten Kampfrechten gegenüber<br />

der herrschen Kapitalisten-Klasse."<br />

Nach dem Motto "Revolutionäre Gruppen brauchen Märtyrer, Märtyrer garantieren<br />

Zulauf" haben sich die Mao-Freunde darauf eingestellt, mit einem Bein im Gefängnis zu stehen.<br />

KBW-Funktionär Kurt Höllwarth: "Unser Erfolg lässt sich nur dadurch erklären, dass wir härter<br />

und konsequenter <strong>als</strong> andere im Kampf gegen den Imperialismus sind."<br />

So bescheinigte auch der Verfassungsschutz dem Kommunistischen Bund<br />

Westdeutschland in seinem Jahresbericht 1974: "Der KBW konnte sich organisatorisch festigen.<br />

Seine zielstrebige Fortentwicklung zeigt sich auch in der straffen Anleitung der Ortsgruppen ...".<br />

Hatten die KBW-Maoisten 1973 erst 450 Mitglieder, so konnten sie bis 1975 ihr Potenzial<br />

157


undesweit auf 2.500 steigern. Nach der Chanson-Melodie " ich bin für Mao, das ist meine neue<br />

Philosophie", leben die Weltverbesserer wie in einer Sekte zusammen - asketisch und diszipliniert.<br />

Gut verdienende Genossen, zum Beispiel Lehrer, müssen von ihrem Monatsgehalt (netto<br />

ca. 1.800 Mark) zwischen 30 und 50 Prozent für den "revolutionären Kampf der Arbeitermassen"<br />

an den KBW abführen. Fast ein Drittel der Mitglieder sind Lehrer, die allerdings ihre<br />

Parteizugehörigkeit in der Öffentlichkeit sorgsam verbergen.<br />

Oberster Grundsatz ist für jeden Genossen die strikte Einhaltung der Order, die das<br />

Zentralkomitee in Mannheim an die 50 Ortsgruppen und 60 Sympathisantenzirkel im Bundesgebiet<br />

ausgibt. So auch die Teilnahme an der Heidelberger Straßenschlacht., Kaderchef Martin Fochler:<br />

"Wir mussten schließlich mit einer brutalen Konfrontation rechnen." Die Ortsgruppen-Kader (die<br />

größten sind in Berlin, Bremen, Frankfurt, Hamburg, Heidelberg und Mannheim) achten wiederum<br />

darauf, dass der Agitations-Einsatzplan durchgeführt wird:<br />

• Frühmorgens zwischen fünf und sechs verteilen die Genossen ihr wöchentlich<br />

erscheinendes Zentralorgan, die "Kommunistische Volkszeitung" (Auflage: 55.000),<br />

vor Fabriktoren.<br />

• Tagsüber werden die Mitglieder-Anwärter in so genannten Sympathisanten-Gruppen<br />

(Kommunistischer Arbeiterjugendbund oder Kommunistische Schülergruppe;<br />

Anzahl 3.000) in Maos Werke und in die chinesische Verfassung eingewiesen. Erst<br />

wenn der Kandidat Marxens Wortschatz kennt und Maos Weisheiten begriffen hat,<br />

entscheidet das Zentralkomitee einzeln über die Neuaufnahmen.<br />

• Abends tagen die Ortskader. In geheimen Zirkeln legen sie den Zeitpunkt neuer<br />

Demonstrationen oder die Sprengung von Universitätsvorlesungen wie in Frankfurt,<br />

Heideberg und Berlin fest. Nach dem abgewandelten Lenin-Zitat: "Ein Revolutionär,<br />

der keine Gewalt anwendet, ist kein Revolutionär, sondern ein Schwätzer" (Original-<br />

Zitat: "Ein Revolutionär, der sich nicht anpassen kann, ist kein Revolutionär, sondern<br />

ein Schwätzer") schaukeln sich die extremen Splittergruppen unter der Flagge Chinas<br />

gegenseitig zu Aktionen hoch. Denn außer dem KBW beanspruchen noch fünf<br />

weitere Gruppen, die zwischen 100 und 800 Mitglieder im Bundesgebiet haben, die<br />

"eigentlichen Befreier von der kapitalistischen Knechtschaft" zu sein:<br />

• Die KPD, die in 65 Zellen arbeitet (Mitgliederzahl 700) begreift sich <strong>als</strong> Speerspitze<br />

für die "revolutionäre Gewalt der Volksmassen". Die KPD und ihr Kommunistischer<br />

Studentenverband (KSV, 1.1000 Mitglieder) organisierten 1973 beim Bonn-Besuch<br />

des damaligen südvietnamesischen Ministerpräsidenten Nguyen van Thiêu<br />

(*1923+2001) den Sturm auf das Bonner Rathaus<br />

• Die KPD/ML mit ihren 800 Mitgliedern will mit China <strong>als</strong> "Hauptbollwerk der<br />

Weltrevolution" in der Bundesrepublik den Kommunismus einführen. Sie arrangierte<br />

für ihre Mitglieder vor allem Reisen nach Albanien, wo sie den 30. Jahrestag "der<br />

Befreiung und des Sieges" der Albaner feierten.<br />

158<br />

• Der "Kommunistische Arbeiterbund Deutschlands" (KABD) will den "Sturz des<br />

kapitalistischen Ausbeuter- und Unterdrückungssystems" herbeiführen. Die 100<br />

Genossen sind hauptsächlich in Süddeutschland aktiv.


• Der "Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD" (AB) erklärt die "Mao Zedong-<br />

Ideen" zur Wissenschaft. Er will mit seinen 300 Leuten (in Bayern) die "bürgerliche<br />

Staatsmaschine" zerschlagen.<br />

Untereinander sind sich die Revolutionäre jedoch spinnefeind. Jeder glaubt, den besseren<br />

Weg zur "Diktatur des Proletariats" gepachtet zu haben. So bezichtigt die KPD den KBW<br />

"rechter" und die KPD/ML "linker" Abweichungen. Die KPD wirft der KPD/ML "radikale<br />

Phrasendrescherei" und "Linksopportunismus" vor; die KPD/ML beschuldigt dagegen die KPD<br />

des "Revisionismus" und "unverschämter Angriffe" auf Stalin und der "Verleumdung der KP<br />

Chinas".<br />

Gemeinsam ist allen nur das Idol. Um ihre Ziele verwirklichen zu können, hoffen die<br />

linken Splittergruppen auf den Genossen Mao Zedong (*1896 +1976), dem Gründer der<br />

Volksrepublik China. KBW-Kaderchef Martin Fochler, der selbst noch nicht in China war, fiebert<br />

der ersten Einladung der chinesischen Kommunisten entgegen. Fochler: "Wir würden sofort<br />

unsere beispielhaften Genossen in Peking besuchen." Doch Genosse Mao Zedong zog es bisher<br />

vor, Franz-Josef Strauß (bayerischer Ministerpräsident 1978-1988; *1915+1988) zu empfangen.<br />

Postscriptum. -Der Kommunistische Bund Westdeutschland wurde im Juni 1973<br />

gegründet und im Jahre 1985 aufgelöst. Seine politische Arbeit hatte er bereits Ende 1982<br />

weitgehend eingestellt.<br />

Karrieren - Alle Wege führten über den KBW:<br />

• Reinhard Bütikofer, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/ Die Grünen (2002-2008);<br />

ehem<strong>als</strong> Kommunistische Hochschulgruppe/KHG und KBW Heidelberg.<br />

• Ralf Fücks, Sprecher der Bundes-Grünen 1989, Bremer Senator für Stadtentwicklung<br />

und Umweltschutz 1991-1995, Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung -<br />

gehörte in den 70er Jahren dem Kommunistischen Bund Westdeutschland an. 1973<br />

wurde er <strong>als</strong> einer von drei Rädelsführern bei der Rektoratsbesetzung und im<br />

Frühjahr 1972 von der Universität Heidelberg relegiert.<br />

• Hans-Jörg Hager, früherer Vorstandsvorsitzender der Schenker Deutschland AG,<br />

Logistik-Dienstleiter bei Kühne&Nagel, war ZK des KBW in den siebziger Jahren<br />

und von 1976-1979 verantwortlicher Redakteur der KVZ.<br />

• Eberhard Kempf, Strafverteidiger, kandidierte 1975 erfolglos für den KBW für den<br />

Heidelberger Gemeinderat. Seit dem Umzug der KBW-Zentrale 1977 nach Frankfurt<br />

a/M hat er dort seine Kanzlei. Kempf war unter anderem Rechtsanwalt von Josef<br />

Ackermann (Deutsche Bank), Manfred Kanther, ehem<strong>als</strong> CDU-Innenminister,<br />

Jürgen Möllemann (Ex-FDP-Wirtschaftsminister) oder Jürgen Sengera (Ex-<br />

Vorstandsvorsitzender der WestLB ).<br />

• Gerd Koenen, Historiker und Publizist, trat 1973 den Kommunistischen Bund<br />

Westdeutschlands bei, widmete sich der "revolutionären Betriebsarbeit" . Ab 1976<br />

redigierte er die Kommunistische Volkszeitung des KBW. Ab 1982 distanzierte er<br />

sich vom KBW. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Koenen mit seinen Büchern<br />

über den Kommunismus <strong>als</strong> Utopie der Säuberung (1998) und der autobiographisch<br />

geprägten Schilderung der linksradikalen Szene der 70er Jahre in Das rote Jahrzehnt<br />

bekannt.<br />

159


160<br />

• Horst Löchel, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Bankakademie<br />

•<br />

e.V./Frankfurt School of Finance & Management, war Mitte der siebziger bis Anfang<br />

der achtziger Jahre Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland. 1976<br />

und 1980 kandidierte er bei den Bundestagswahlen für den KBW. Willfried Maier,<br />

ehemaliger Senator der Grünen im Hamburger Senat (1997-2001) trat aus der SPD<br />

aus und schloss sich dem KBW an. Dort wurde er zeitweilig führendes Mitglied. Von<br />

1973 bis 1976 fungierte er <strong>als</strong> leitender Redakteur des Zentralorgans Kommunistische<br />

Volkszeitung (KVZ).Er avancierte in Hamburg zum Gründungsmitglied der Grünen<br />

und Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft seit 1993.<br />

Dieter Mützelburg, Sozialwissenschaftler, Landesvorsitzender der Grünen sowie<br />

Staatsrat im Finanzressort der Freien Hansestadt Bremen. Aufgrund seiner<br />

Aktivitäten für den Kommunistischen Bund Westdeutschland sollte er 1975/1976 auf<br />

Betreiben mehrere SPD-Senatoren aus dem Hochschuldienst entlassen werden. Alle<br />

Berufsverbotsverfahren gegen Mützelburg scheiterten. Als der KBW sich in Bremen<br />

1981/1982 auflöste, wechselte Mützelburg zu Bündnis 90/die Grünen.<br />

• Winfried Nachtwei, Studienrat, stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion<br />

Bündnis 90/Die Grünen (2002-2005). Er war in den 1970er Jahren Mitglied des<br />

maoistischen Kommunistischen Bundes Westdeutschland. Seit 1980 zählte er zur<br />

Friedensbewegung und zu den Gründungsmitgliedern der Grünen in Münster.<br />

• Lutz Plümer, Professor für Geoinformationen an der Universität Bonn, war in den<br />

siebziger Jahren Mitglied der "Sozialistischen Studenten Gruppe" (SSG) des<br />

Kommunistischen Bundes Westdeutschland und später auch Funktionär des KBW,<br />

für den er bei der Bundestagswahl 1976 unter der Berufsbezeichnung "Lagerist"<br />

kandidierte. Im April 1980 nahm Lutz Plümer auf Einladung der ZANU <strong>als</strong> Vertreter<br />

des KBW an den Feiern zur Unabhängigkeit von Zimbabwe teil. Im Jahr 1980 war er<br />

leitender Redakteur des KBW-Zentralorgans Kommunistische Volkszeitung (KVZ).<br />

Sven Regener, Musiker und Schriftsteller, Gitarrist der Rockgruppe Element of<br />

Crime, war Mitglied im Kommunistischen Jugendbund/KLB).<br />

• Krista Sager, Lehrerin in der Erwachsenenbildung, Bürgermeisterin und Senatorin für<br />

Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung in Hamburg (1997-2001) engagierte sich<br />

während ihres Studiums 1977 in der "Sozialistischen Studenten Gruppe" des KBW.<br />

1982 wurde sie Mitglied der Grünen.<br />

• Joscha Schmierer, Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amtes unter<br />

Bundesaußenminister Joschka Fischer und Frank-Walter Steinmeier; u. a. zuständig<br />

für Grundsatzfragen und Europapolitik. Schmierer war 1973 Mitbegründer der<br />

größten deutschen K-Gruppe - des maoistischen Kommunistischen Bundes<br />

Westdeutschland. Bis zur Selbstauflösung im Jahre 1985 galt Schmierer <strong>als</strong><br />

unangefochtene Führungsfigur. Im Dezember 1978 reiste er mit einer KBW-<br />

Delegation zu einem Solidaritätsbesuch zum Massenmörder Pol Pot (*1925+1998).<br />

Unter seiner Herrschaft (1970 bis 1997) wurden 1.7 bis 2 Millionen Kambodschaner<br />

ermordet. In der zweiten Jahreshälfte 1975 saß Schmierer wegen schweren<br />

Landfriedensbruch während einer Demonstration 1970 zwei Drittel seiner<br />

achtmonatigen Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt Waldshut ab. Auch nach<br />

Bekanntwerden des Pol-Pot-Terrors sandte Schmierer dem Diktator noch eine


Grußbotschaft. Trotz seines ungeahnten Aufstiegs hat der Karriere-Diplomat nie<br />

radikal mit seinen früheren Positionen gebrochen.<br />

• Ulla Schmidt, SPD-Politikerin, MdB, Bundesministerin für Gesundheit und Soziale<br />

Sicherung, kandidierte 1976 im Wahlkreis 53 Aachen-Stadt direkt für den<br />

maoistischen Kommunistischen Bund Westdeutschland für den Bundestag und auf<br />

Platz 2 der Landesliste in Nordrhein-Westfalen. Seit 1983 Mitglied der SPD und seit<br />

1990 Mitglied des deutschen Parlaments.<br />

• Christiane Schneider, Schriftsetzerin und Verlegerin, KBW-Mitglied bis zu dessen<br />

Spaltung 1980, danach langjährige BWK-Funktionärin (Bund Westdeutscher<br />

Kommunisten) , seit 2008 Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft für Die<br />

Linke.<br />

Quelle: Wikipedia 12/2008<br />

161


DEUTSCHLANDS RECHTSRADIKALE - AUF RECHTEM<br />

AUGE BLIND UND VOM STAAT FINANZIERT<br />

Frankfurter Rundschau vom 22. November 1971 /stern, Hamburg 13. März 1975<br />

Als Adolf von Thadden (*1921+1996) auf dem fünften NPD-Bundesparteitag in Jahre<br />

1971 seinen rechts-radikalen Kampfgefährten nicht mehr Führer sein wollte, schluchzten in der<br />

Stadthalle des niedersächsischen Holzminden weibliche Delegierte: "Bubi, bleib doch, Bubi komm<br />

wieder." Doch nachdem Abstieg der Nationaldemokraten in Bund und Land (die NPD wurde zu<br />

Beginn der siebziger Jahre in keinen der Landtage mehr wiedergewählt) trat "Bubi" von Thadden<br />

<strong>als</strong> Parteichef der ultrarechten Sammlungsbewegung zurück. Dabei hatte von Thadden in seiner<br />

ihm angedichtete Rolle <strong>als</strong> "nationaler Erneuerer Deutschlands" in den Jahren 1967/1868 seine<br />

Rechtsradikalen in fünf Landesparlamente mit einem Stimmenanteil von fast zehn Prozent hinein<br />

geboxt. Er selbst wurde Abgeordneter in Niedersachsen zu Hannover. Es war das britische<br />

Magazin newsweek, das in von Thadden einen "neuen Hitler" sah. Adolf von Thadden selbst, über<br />

Jahre vom übermäßigen Alkokolkonsum gezeichnet, befand resignierend: "Ich will nicht länger<br />

Haupt- und Gener<strong>als</strong>chwein der deutschen Politik sein."<br />

Schon auf dem NPD-Konvent neofaschistischer Gesinnung und Neuorientierung war es<br />

in Holzminden zu Tumulten gekommen, die zu Massenschlägereien eskalierten; Stuhlbein um<br />

Stuhlbein, Bierflasche um Coca-Cola-Büchse. Im Mittelpunkt der dreitägigen Beratungen standen<br />

Fraktions- und Flügelkämpfe, die die Partei einer Spaltung sehr nahe brachten. Während der<br />

Wortführer jener extremen und gewaltbereiten Gruppen, Bayern NPD-Landesvorsitzender<br />

Siegfried Pöhlmann, die Delegierten ultimativ zu Gewaltaktionen aufrief und die Ohrfeige auf Willy<br />

Brandt unter tosendem Beifall <strong>als</strong> Genugtuung empfand, erklärte der neue Vorsitzende Martin<br />

Mußgnug (1971-1991) aus Tuttlingen: "Schmeißen wir die minderwertigen Gestalten aus der Partei<br />

raus."<br />

Zuvor hatte der bisherige Chef Adolf von Thadden geäußert, er stünde der NPD<br />

angesichts dieser brachialen Flügelkämpfe nicht mehr <strong>als</strong> Parteivorsitzender zur Verfügung.<br />

Thadden wörtlich: "Für einen Tanz auf dem Vulkan irrationaler Vernunft bin ich angesichts der<br />

Gesamtlage der deutschen Innen- und Außenpolitik weder geeignet noch bereit." Für ihn sei es<br />

unmöglich, weiterhin Vorsitzender dieser Partei zu sein, da er mit seiner Überzeugung gewalttätige<br />

und damit auch kriminelle Aktivitäten der Aktion Widerstand nicht vereinbaren könne. Thadden:<br />

"Ich habe kein Verständnis dafür, dass solche Leute in unserer Partei obendrein auch noch <strong>als</strong> eine<br />

Art missverstandener Helden verteidigt werden."<br />

Thadden, der vom extremen nationalistischen Flügel fortwährend überaus hart attackiert<br />

wurde, betonte in einem Diskussionsbeitrag, dass nur eine "radikale Säuberung" der Partei von den<br />

Extremisten dafür künftig sorgen könne, dass die NPD wieder wählbar werde. Gleichzeitig fügte er<br />

hinzu: "Eine solche Säuberung würde aber eine viel zu lange Zeit erfordern, innerhalb derer dann<br />

auch noch eine große Anzahl gutwilliger und positiver NPD-Mitglieder resignieren würden, weil die<br />

Partei ihrer negativen Kräfte nicht Herr zu werden vermag."<br />

Für die Delegierten auf den Hinterbänken des NPD-Konvents zu Holzminden brach ein<br />

Weltbild zusammen. Träume mit von Thadden von einer einheitlichen und schlagkräftigen Partei<br />

des Rechtsradikalismus schienen ausgeträumt, über Jahre gepflegte Wunschvorstellungen waren im<br />

Nu von den Bänken gefegt worden. Ein Bild des Hasses gleichsam bitterster Feindschaften boten<br />

162


eide Lager um Adolf von Thadden und seinen Widersacher Siegfried Pöhlmann. Als Adolf von<br />

Thadden sich nicht zur Wiederwahl stellte, weinten vielen Frauen an diesem Nachmittag. Allen<br />

voran die niedersächsische NPD-Landtagsabgeordnete Gertraude Winkelvoß aus Lüneburg. Sie<br />

konnte sich so gar nicht wieder beruhigen. Dabei hatte sich wortgewaltige Dame in einen<br />

Weinkrampf hineingesteigert – da stand sie nun flehend auf dem Podium, ihrem Bubi von<br />

Thadden nachweinend - ihre Tränen in Theatralik umgesetzt. Wie sie, so sahen viele NPD-Frauen,<br />

die sich noch mit ihrem einst obligat straff gekämmten Dutt und Haarspange zu schmücken<br />

verstanden, in Adolf von Thadden ihren Schwarm, ihr Idol "nationaler Erneuerungen". "Bubi,<br />

Bubi, komm wieder," kreischten 50- bis 60jährige Damen stehend durch den Saal. Während des<br />

Krieges schenkten sie noch flugs dem "Führer ein Kind". Nunmehr galt ihre Hingabe eines<br />

Mannes, der immerhin noch seinen Vornamen in die neuer Zeit mit hinüber retten konnte - Adolf<br />

heißt er.<br />

Adolf von Thadden, genoss die aufgewühlte Demagogie eines routinegeübten<br />

Volksverhetzers. Er setzte sich von der NPD ab, weil er merkte, dass diese Partei nicht mehr "zu<br />

retten" war und mit dem terroristischen Untergrund liebäugelte. Noch am ersten Tag des Konvents<br />

hatte es den Anschein, <strong>als</strong> würde er sich zur Wiederwahl stellen. Weder sein Vorstand noch seine<br />

engsten Freunde wussten, welche Entscheidung er wohl in der Nacht zum Samstag getroffen hatte.<br />

Für ihn war die Zerrissenheit der vermeintlichen nationalen Be-wegung zu groß, <strong>als</strong> dass sie<br />

überbrückt hätte werden können. Während Extremisten um Pöhlmann nunmehr<br />

Funkhausbesetzungen ins Kalkül gezogen haben, hat die NPD eine weitere Eskalationsstufe hin<br />

zur Gewalt "gemeistert". Da versteht es sich in diesem faschistisch amgehauchten Milieu von<br />

selbst, dass Parolen, die 'Brandt und Scheel an die Wand" wünschen - niemanden mehr erregen<br />

mochten. Eine Selbstverständlichkeit, Routine, Alltag bei den Rechtssradikalen.<br />

Wie desolat und kopflos der innere Zustand bei den Rechtsextremen mittlerweile ist,<br />

beweist, dass der Verstand zunächst den ehemaligen engagierten Nazi Professor Dr. Ernst Anrich<br />

mit seinen 65 Jahren zum Parteichef küren wollte. Anrich, der schon zwei Herzinfarkte hinter sich<br />

hatte, hielt sich dann doch zurück, weil er einsah, dass er körperlich zu schwach ist, diesen<br />

"Scherbenhaufen" aus Demagogie samt aufge-stauter Gewaltpotenziale wieder zu flicken. Erst in<br />

den späten Abendstunden kam man zu dem Entschluss, Martin Mußgnug (1936-1997) zum<br />

Parteivorsitzenden aufzustellen. Mußgnug hatte schon Jahre zuvor in dem bereits verbotenen<br />

"Nation<strong>als</strong>ozialistischen Studenten-bund" antidemokratische Spuren hinterlassen. Für politische<br />

Beobachter verdeutlichte sich auf diesem NPD-Bundesparteitag, dass diese rechtsextre-mistische<br />

Bewegung mit ihren verdeckten, konspirativen Praktiken bis hin zur offenen Gewaltanwendung<br />

längst die legalen Plattformen des Grundgesetzes, der parlamentarischen Demokratrie verlassen<br />

hat; verfassungsfeindlich allemal.<br />

Nach dem Rückzug aus der Politik verkaufte Adolf von Thadden -ein Spross aus<br />

pommerischem Uradel - seine Überzeugung auf anderen "Märkten". Erst nach seinem Tode wurde<br />

durch britische Quellen bekannt, dass er stets ein zuverlässiger Informant des britischen Geheimdienstes<br />

MI6 war und dort über Jahre auf der Gehaltsliste stand. Ansonsten versuchte sich von<br />

Thadden <strong>als</strong> Immobilienmakler, um seine Existenz zu sichern. Die Hauptaktivitäten von Thaddens<br />

lagen in Spanien, wo er seit über drei Jahren Bungalows wie Grundstücke zu verkaufen sucht. Eben<br />

Spanien auch in der Nach-Franco-Ära, "weil dort die Menschen, Ein-heimische wie Ausländer,<br />

unter den Garantien eines selbstsicheren gefestigten Staatswesens leben."<br />

Solche Festigkeit hat Adolf von Thadden, der sich in der Bundesrepublik immer von<br />

"Verzichtspolitikern, Kulturbolschewisten und Pornografen" umgeben sah, hierzulande vielerorts<br />

163


vermisst. Der Deutsche, der den Österreichern einmal vorwarf, sich "nicht zum gemein-samen<br />

Bluterbe zu bekennen", hält sich mehr in Spanien <strong>als</strong> im heimischen Hannover auf. Doch mit<br />

Angst-Parolen von einst ist bei seinen Landsleuten auf dem Immobilienmarkt von heute kein<br />

Geschäft zu mehr zu machen. "Es läuft nicht mehr so, wie ich es mir vorgestellt habe." Der<br />

erfolglose Makler - <strong>als</strong> Kolumnist des NPD-Parteiblattes - beschwört gelegentlich noch die<br />

Erinnerungen an gestern - hat seine Geschäftsräume im Hannoverschen Arbeiterviertel Linden.<br />

Das Nachbarbüro gehört den Jungsozialisten. Die Toilette müssen sie sich teilen.<br />

Nachtrag: Die NPD verfügt mit ihren etwa 7.200 Mitgliedern über kein nennenswertes<br />

Barvermögen. Der Steuerzahler ist ihr größter Financier in Deutschland. Die staatlichen Zuschüsse<br />

aus dem Parteienfinanzierungsgesetz betrugen im Jahre 2006 exakt 1.376.678,48 €. Seit dem Jahre<br />

1990 brachten Rechtsextremisten insgesamt 130 Menschen - teilweise unter bestialischer Folter -<br />

um. Ihre Gewalttaten richten sich zu 80 Prozent gegen Deutsche, auch Obdachlose und<br />

ausländische Mitbürger anderer Hautfarbe zählen zu ihren ausgesuchten Opfern. Ein<br />

Gewaltpotenzial, dass in diesem Zeitraum um dreißig Prozent eskalierte. In einem mit<br />

"gerichtsverwertbaren" Beweisen belegten Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht sehen die<br />

Parteien in Berlin "keine vordringliche Aufgabe, keinen Handlungsbedarf".<br />

164


1976<br />

Deutsche Arbeitsgerichte : Urteile im Drei-Viertel-Stunden-Takt<br />

Zeitgeschichte (4): Herbert Wehner alte Mann im Wahlkampf in der alten<br />

Bundesrepublik<br />

Kirchen <strong>als</strong> Wahlhelfer: „Mit den besten Wünschen Euer Pfarrer“<br />

Zeitgeschichte (5): Verfolgt, verboten, geduldet – Kommunisten in Deutschland<br />

Zukunfts-Roman: Putsch in Deutschland<br />

Berufsverbote - Aufrüstung gegen die Freiheit<br />

165


GEWONNEN – UND DOCH VERLOREN – URTEILE IM<br />

VIERTEL-STUNDEN-TAKT. SORGEN DES<br />

ARBEITSRICHTERS MICHAEL VOGEL<br />

Immer öfter werden Arbeitnehmer fristlos entlassen, und fast jeder Gefeuerte ruft<br />

die Justiz um Hilfe an. Doch was nützt es, wenn die Kündigung "im Namen des Volkes"<br />

für Unrecht erklärt wird? Der Job ist ohnehin weg; Billig-Jobs, rechtlose Jobs. Trübe<br />

Aussichten in Deutschland seit eh und je. Überlastete Richter, verschleppte Verfahren,<br />

Klagen über Klagen, Prozesstermine im Viertelstunden-Takt. Nur - wer sich nicht wehrt,<br />

hat schon verloren.<br />

stern, Hamburg 04. November 1976<br />

Die Herren im grauen Flanellanzug und schwarzer Robe kommen schnell zur Sache.<br />

Richter Michael Vogel überfliegt noch einmal die Akte mit dem Geschäftszeichen 11 CA1251/75,<br />

die beiden Anwälte werfen einen Blick in ihre Unterlagen.<br />

Vor dem Hamburger Arbeitsgericht geht es diesen Mittwochmorgen um den Fall Regina<br />

Würger. Die Kontokoristin war von ihrer Firma fristlos gefeuert worden. "Probezeit ist eben<br />

Probezeit", Herr Vorsitzender. Es bleibt doch schließlich dem Unternehmer überlassen, ob er die<br />

Arbeitskraft nach drei Monaten weiterbeschäftigt oder nicht", trägt der Arbeitgeber-Anwalt<br />

selbstsicher vor. Die Gegenseite: "Das sind doch die üblichen Tricks, die Sie hier anbringen. Erst<br />

<strong>als</strong> Ihnen bekannt war, dass Frau Würger schwanger ist, haben Sie den auf unbestimmte Zeit<br />

geschlossenen Arbeitsvertrag zum Probearbeitsverhältnis deklariert, um meine Mandantin an die<br />

Luft setzen zu können."Für den 36jährigen Richter Vogel ist der Sachverhalt eindeutig. Die<br />

Kündigung von Regina Würger war unzulässig, weil der § 9 des Mutterschaftsgesetzes eine<br />

Entlassung während der Schwangerschaft ausschließt.<br />

Dieses am 7. April 1976 gefällte Urteil hilft der am 30. März 1975 gekündigten jungen<br />

Mutter aber nur wenig. Der Arbeitgeber legt Berufung ein. Darüber geht wieder ein halbes Jahr ins<br />

Land. Und erst wenn die Firma vor der nächsten Instanz, dem Landesarbeitsgericht, aberm<strong>als</strong><br />

verurteilt wird, muss sie die Klägerin wieder einstellen - was praktisch nie passiert oder ihr eine<br />

Abfindung von höchstens einem Monatsgehalt bezahlen.<br />

Mit dem Fall Würger hat sich das Gericht zwanzig Minuten befasst. Das ist schon sehr<br />

viel in dieser Zeit, in der einem Fall durchschnittlich maximal eine Viertelstunde zugestanden werd<br />

- im Durchschnitt versteht sich. Überall in Deutschland nimmt die Zahl der<br />

Arbeitsgerichtsverfahren rasant zu. Gerade in Zeiten wirtschaft1licher Talfahrten, Rezessionen,<br />

Betriebsschließungen - gar Entlassungen um nahezu 50 Prozent -geht es in vielen Gerichtssälen wie<br />

einst auf röhrenden Jahrmärkten zu. Rausschmiss ist der alles beherrschende Terminus dieser<br />

Jahrzehnte; verbrannte Erde vielerorts. Menschen hadern ihrer Berufsschicksale wie auf dem<br />

Bahnhofs-Basar im Wartesaal - irgendwo in diesem Land.<br />

Dann ruft die Schriftführerin den Hafenarbeiter Werner Hüper in den Saal. Auf den<br />

Stühlen der Anwälte haben jetzt die Rechtsvertreter der Gewerkschaft ÖTV (seit dem Jahr 2001<br />

Verdi) und des Unternehmens-Verbandes Hafen Hamburg Platz genommen. Hüper, seit sechs<br />

Jahren bei seiner Firma, verdiente <strong>als</strong> Stauervize zuletzt monatlich 4.200 Mark brutto. Ihm war<br />

gekündigt worden, so der Unternehmer-Anwalt, weil er ein "notorischer Trinker" sei. Schon im<br />

166


Jahr 1972 hätte man ihn wegen des "tiefen Blicks in die Schnapsflasche" eine Lohngruppe tiefer<br />

eingestuft. Jetzt habe Hüper bei den Löscharbeiten am Schuppen 59 wieder besoffen, sei daraufhin<br />

schriftlich verwarnt worden und habe dann vierzehn Tage später im Vollrausch auf dem Gelände<br />

der Hamburger Stahlwerke herum krakeelt. Der Unternehmeranwalt ruft laut in den Sitzungssaal<br />

1387: "Aller guten Dinge sind drei. Die Kündigung war fällig."<br />

Die beiden Laienrichter - je einer vom Arbeitgeberverband und von den Gewerkschaften<br />

bestimmt, an diesem Tage ein Handwerksmeister und ein Sparkassen-Angestellter - blicken auf<br />

Richter Vogel. Der Fall scheint klar zu sein. Für den Arbeitsrichter ist er es aber nicht. Immer wenn<br />

es laut wird im Saal - das passiert oft, und Spektakel stößt ihn nun mal ab -, vertieft sich Richter<br />

Vogel in die Akten. Und dort findet er heraus, dass Hafenarbeiter Hüper im Jahre 1972 zu Unrecht<br />

in eine niedrige Lohngruppe runter gestuft worden war. Hüper hatte erst nach der ersten Schicht<br />

etwas getrunken: Er konnte nicht wissen, dass ihn die Firma auch noch für die zweite Schicht<br />

benötigte. Und für den letzten Vorfall konnte das Unternehmen nicht einen Zeugen benennen, der<br />

Hüpers angetrunkenen Zustand bestätigte.<br />

Der Alkoholtest, dem sich Hüper an dem umstrittenen Abend auf Veranlassung der<br />

Firma freiwillig unterzogen hatte, ergab zudem einen Promille-Satz von nur 0,7 bis 0,8. Hüper:<br />

"Der Erste Offizier hatte mich zu einer Flasche Bier und einem Glas Aquavit eingeladen." Das<br />

Urteil: "Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die Kündigung nicht aufgelöst worden." Der<br />

Hafenarbeiter hat seinen Rechtsstreit gewonnen. Aber die Gegenseite will Berufung einlegen.<br />

Genau geht es auch Peter Remmers. Dreizehn Jahre lang war der Arbeiter bei der<br />

Bundesbahn. Jetzt muss er sich gegen den fristlosen Rausschmiss wehren. Für den Schranken- und<br />

Streckenwärterdienst, so erklärt der Anwalt der Bundesbahndirektion, sei Remmers nicht mehr<br />

tauglich, und andere Arbeitsplätze könne ihm die Bahn nicht anbieten. Er sei einmal <strong>als</strong><br />

Streckenposten durch merkwürdiges Benehmen aufgefallen und deshalb ein Fall für den Psychiater.<br />

Obwohl wochenlange Untersuchungen in der Neurologischen Abteilung des Allgemeinen<br />

Krankenhauses Hamburg-Altona und im Landseskrankenhaus Schleswig keine Diagnose erbrachte,<br />

notierte der zuständige Bahnarzt. „dass bei Remmers mit Sicherheit eine Psychose vorliegt, die<br />

diesen für den Betriebsdienst und damit auch für den Baudienst untauglich macht."<br />

Auch der Kündigungs-Widerspruch des Personalrats ("Alle Fürsorgemöglichkeiten<br />

müssen ausgeschöpft werden") half nichts, Remmers verlor seinen sicher geglaubten Arbeitsplatz<br />

bei der Deutschen Bahn. Vom Makel des Bekloppten, des seelisch gestörten Mannes, konnte ihn<br />

das Arbeitsgericht zwar nicht befreien, gleichwohl wurde die Kündigung für rechtsunwirksam<br />

erklärt. Vogel: Die Behauptungen der Bundesbahn, Remmers sei aus gesundheitlichen Gründen für<br />

den Bahndienst untauglich, ist nicht durch einlassungsfähige Einzelheiten begründet worden."<br />

Wie an jedem Mittwoch, dem Sitzungstag der elften Kammer des Hamburger<br />

Arbeitsgerichts, werden auch an diesem Tag Urteile am Fließband produziert. Im Gerichtsflur hat<br />

sich ein Völkergemisch versammelt. Griechen, Türken, Spanier, Kroaten mit ihren Dolmetschern<br />

und Anwälten sind der nächste Schub.<br />

Wieder sitzt die Deutsche Bundesbahn auf dem Platz des Beklagten. Die Bahndirektion<br />

hatte Mirko Stojanovic gekündigt, weil er im Wohnheim "Trave" einen Landsmann mit dem<br />

Brotmesser bedroht haben soll. Richter Vogel: "Was hat eigentlich der Arbeitsplatz mit dem<br />

Wohnheim zu tun? Oder gibt es für Gastarbeiter keine Privatsphäre?<br />

167


Beim Spanier Felipe Gonzales reichte es gar schon zur Kündigung, dass er seine<br />

"Schichtführerin Frau Karin Schulze vor allen Mitarbeitern ausgelacht habe, <strong>als</strong> sie die<br />

Notwendigkeit von Überstunden bekannt gab."<br />

In beiden Fällen wies Richter Vogel die Kündigung <strong>als</strong> unzulässig zurück. Der Fall<br />

Gonzales war Michael Vogels 720. Urteilsspruch in seiner jetzt siebenjährigen Richterzeit. Anfangs<br />

hatte der Jurist geglaubt, "für ein Stück sozialer Gerechtigkeit sorgen" zu können. Diese Illusion hat<br />

die Alltagsroutine umgebracht. Vogel weiß nur zu gut, dass seine Urteile nicht viel mehr wert sind<br />

<strong>als</strong> ein Stück Papier.<br />

Als Regina Würger, die Arbeiter Hüper und Remmers und die Gastarbeiter Stojanovic<br />

und Gonzales gefeuert wurden, war es Anfang oder Mitte 1975. Als Richter Vogel zum<br />

Kammertermin vorlud, war der Kalender bereits zwölf Monate weiter.<br />

Von zehn Gekündigten, die vors Arbeitsgericht gehen, sind acht noch arbeitslos, <strong>als</strong> das<br />

Urteil gefällt wird. Die kurzen Kündigungsfristen, meist zwischen einer und sechs Wochen, und die<br />

sich dahinschleppende Justizbürokratie lassen die Beweiswürdigung der Arbeitsgerichte zur Farce<br />

werden. Richter Vogel: "Bei der ersten Verhandlung glauben die meisten noch, sie würden mithilfe<br />

des Gerichts ihren Arbeitsplatz wiederbekommen. Beim zweiten oder dritten Termin wird ihnen<br />

langsam klar, dass es letztlich nur um eine mehr oder weniger dürftige finanzielle Abfindung geht."<br />

Denn kein Arbeitgeber kann durch richterlichen Beschluss gezwungen werden, einen<br />

Arbeitnehmer wieder einzustellen. Auch wenn das Gericht die Kündigung für nicht rechtens<br />

erklärt, kann der Unternehmer die Lösung des Arbeitsverhältnisses beantragen. Er ist aufgrund<br />

seiner Vertragsfreiheit nicht verpflichtet, einen ehemaligen Mitarbeiter neu zu engagieren. Sein<br />

einziges Risiko: Eine Kündigung kostet Geld.<br />

Für Vogel ist die Funktion des Arbeitsgerichts eher "ein Regulativ für den Arbeitsmarkt<br />

<strong>als</strong> eine konjunktur-politisch unabhängige Rechtsprechung". Der Präsident des Hessischen<br />

Landesarbeitsgerichts, Hans Gustav Joachim, bezeichnet die Ohnmacht der Arbeitsrichter <strong>als</strong><br />

"dramatisch, sozi<strong>als</strong>taatlich unerwünscht und verfassungsrechtlich nicht mehr zu verantworten."<br />

Seit dem Jahre 1970 steigen etwa in Hessen die Zahl der Arbeitsgerichtsverfahren ohne Unterlass;<br />

zwischen 1970 bis 1975 um 54 Prozent. Selbst zu Beginn der neunziger Jahre schnellten nochm<strong>als</strong><br />

die Gerichtstermine um weitere 19,2 Prozent nach oben - auf etwa 35.000 Fälle pro Jahr.<br />

Keine Frage - mit fragwürdigen "Hire-and-Fire"-Methoden wird der Kündigungsschutz<br />

allmählich zur Makulatur, befinden sich deutsche Arbeitsgerichte in einer stetigen Erosion. Allein<br />

in Bayern bräuchten Arbeitsrichter bei einer 40-Stunden-Woche ein ganzes Jahr, um nur die bereits<br />

angehäuften Verfahren abzuarbeiten - vorausgesetzt es kämen keine Weiterern dazu. In Köln muss<br />

jeder Arbeitsrichter bis zu 96 Verfahren im Monat durchziehen. Im Jahre 1972 brauchte er in der<br />

gleichen Zeit nur 65 Fälle.<br />

Wirtschaftskrisen, ökonomische Strukturanpassungen, Zeiten existenzieller<br />

Ungewissheiten sorgen vor Deutschlands Arbeitsgerichten für eine stetige Hochkonjunktur. Allein<br />

in Stuttgart, dem drittgrößten Arbeitsgericht, stieg die Zahl der Klagen in den Jahren 2001 bis 2004<br />

um 43 Prozent auf 20.000. Immer seltener kommt es zu einer vorprozessualen Einigung beim<br />

"Gütetermin". Nach der "primitiven Faustregel" (Vogel) "ein Jahr Betriebszugehörigkeit = ein<br />

Monatsgehalt Abfindung" konnte jahrelang unzählige Prozesse abgewimmelt werden. Heute sind<br />

die Parteien kaum noch kompromissbereit. Die Arbeitgeber, weil sie die Zahlung einer Abfindung<br />

vermeiden wollen, die Arbeitnehmer, weil ihnen der Arbeitsplatz wichtiger ist <strong>als</strong> ein "lächerlicher<br />

Geldbetrag" (Vogel).<br />

168


Michael Vogel bedrückt die sozialpolitische Verantwortung der Arbeitsrichter. Er war<br />

jung im Amt, <strong>als</strong> konservative Richterkollegen ihre Urteile noch im Geiste der Gewerbeordnung<br />

von 1869 fällten. Danach konnte ein Geselle oder Gehilfe schon entlassen werden, "wenn er sich<br />

eines "liederlichen Lebenswandels" schuldig machte, einen Familienangehörigen des Arbeitgebers<br />

beleidigte oder "mit einer abschreckenden Krankheit behaftet" war. Erst die Große Koalition aus<br />

CDU/CSU und SPD hat Anfang 1969 den Schutz vor fristloser Kündigung durch eine<br />

Generalklausel erweitert. Jetzt muss der Arbeitgeber den Kündigungsgrund konkret beweisen. Und<br />

es liegt im Ermessensspielraum des Richters, ob er den Entlassungsgrund anerkennt oder nicht.<br />

Ihn - den Kündigungsschutz - ganz abzuschaffen oder in seinem Wesensgehalt zu<br />

verändern, bedeute in der Praxis, so Vogel "die Arbeitsgerichte abzuschaffen und die Menschen<br />

vogelfrei ihrem Schicksal zu überlassen." Immerhin erstritten die Gewerkschaften allein im<br />

überprüften Jahr 1993 mit ihrer Rechtsbeihilfe vor Arbeitsgerichten Abfindungen und<br />

Nachzahlungen in erster Instanz eine Summe von 93 Millionen Euro.<br />

Die fortschrittlichen Richter - die "politischen Richter", wie sie der Braunschweiger<br />

Oberlandesgerichtspräsident Rudolf Wassermann (*1925+2008; OLG 1971-1990) nannte, sind<br />

darüber entsetzt, dass die konservativen Kollegen immer noch "verzweifelt in der Sammlung der<br />

Urteile der Obergerichte suchen, um den Fall irgendwie hinzubiegen". Michael Vogel: "Auf diese<br />

Art Urteile zu sprechen, beweist doch nur die Ängstlichkeit dieser Kollegen. Es ist einfach<br />

bequemer, wenn man versucht, die mögliche Entscheidung der Ober-Instanz zu erraten."<br />

Genauso hart geißelt Vogel die außergerichtlichen Nebenjobs so mancher<br />

dienstbeflissener Kollegen. Wenn Unternehmensleitung und Betriebsrat etwa beim Abschluss eines<br />

Haustarifs oder einer Betriebsvereinbarung sich nicht handelseinig werden, stehen Arbeitsrichter<br />

gern <strong>als</strong> Vermittler bereit. Ihr Honorar beträgt zwischen zweitausend und fünftausend Euro. Dazu<br />

Vogel: "Diese Nebenverdienste bringen Firmenabhängigkeiten mit sich. Beim nächsten<br />

Kündigungsprozess mit einem solchen Unternehmen glaubt der Richter womöglich, er müsse<br />

besonders nett und vorsichtig sein, um das Management bei Laune zu halten." Befangenheiten,<br />

Abhängigkeiten.<br />

Es ist 13.30 Uhr. Noch ein Dutzend Kläger, Beklagte und Zeugen warten. Noch vier Fälle<br />

auf dem Terminzettel, bei einen liegt die Kündigung über ein Jahr zurück, bei dem jüngsten fünf<br />

Monate. In keinem Fall wird der Richter dem Entlassenen seinen Arbeitsplatz zurückgeben<br />

können. Vogel: "Der Gesetzgeber müsste endlich dem Kündigungsschutz besser absichern. Der<br />

Arbeitnehmer sollte nach der Kündigung weiterarbeiten dürfen und die Kündigung erst dann<br />

gelten oder aufgehoben werden, wenn das Arbeitsgericht rechtskräftig darüber entschieden hat."<br />

Wunschvorstellungen eines Arbeitsrichters.<br />

"Solange keine Waffengleichheit zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer herrscht",<br />

bedeutet Vogel resigniert, "frage ich mich manchmal, bei welcher Riesenlüge und Farce wirkst du<br />

eigentlich mit?" Der Richter hängt sich die Robe um. Wieder geht er in seinen Sitzungssaal 138. Die<br />

Schriftführerin steht an der Tür und ruft auf: "Grübeln gegen Stoffes." Prozessgegenstand:<br />

Verweigerung, fristlose Kündigung.<br />

Postscriptum: Es ist mittlerweile im Jahre 2008 empirisch nachgewiesen, dass<br />

Lockerungen der gesetzlichen Bestimmungen des Kündigungsschutzes keine neuen Arbeitsplätze<br />

geschaffen haben. Zudem gilt der gesetzliche Kündigungsschutz nur noch für jene Arbeitnehmer,<br />

die im selben Unternehmen ohne Unterbrechung länger <strong>als</strong> sechs Monate beschäftigt sind. Viele<br />

Betriebe haben sich darauf verständigt, bei so genannten Neueinstellungen den ohnehin flexiblen<br />

169


Kündigungsschutz durch Zeitverträge zu unterlaufen. Somit dürfte sich <strong>als</strong>bald der seit Jahrzehnten<br />

vorherrschende Ansturm auf Arbeitsgerichte <strong>als</strong>bald zwangsläufig erledigt haben. Alle Streitigkeit in<br />

Sachen des sogenannten Befristungsrechtes im Rahmen der Hartz IV-Empfänger sind ohnehin der<br />

Sozialgerichtsbarkeit zugeordnet worden. Im zeitaufwendigen, individuellen Arbeitsrecht sollen<br />

künftig standardisierte Sammelklagen eingeführt, Massenabfertigungen Maßstab sein. Dass da die<br />

Streitwert-Grenzen jeweiliger Kammern erheblich erhöht wurden, liegt ganz in Trend, für<br />

Mittellose mit Geld-Barrieren Gerichtszugänge zu erschweren; für viele Arbeitnehmer ohne<br />

Rechtsschutz sind schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts geradezu langatmige Gerichtsverhandlung<br />

kaum erschwinglich. Somit, steht zu befürchten: der Sozi<strong>als</strong>taat entlässt nicht nur seine Kinder,<br />

sondern der Rechtsstaat in Deutschland demnach <strong>als</strong>bald auch seine Arbeitsrichter. Sicher? Ganz<br />

Sicher.<br />

170


AUS DEUTSCHEN LANDEN DER ZEITGESCHICHTE (3) -<br />

DER ALTE MANN -WAHLKAMPF UND DIE ALTE<br />

BUNDESREPUBLIK<br />

Kantig, authentisch, trotzig, glaubwürdig - Herbert Wehner (*1906 in Dresden +<br />

1990 in Bonn, beerdigt in Bad Godesberg ) - SPD-Urgestein; Polit-Entertainer,<br />

Überzeugungstäter der Nachkriegs-Ära - Augenblicke<br />

stern, Hamburg vom 30. September 1976<br />

Tochter und Thermosflasche sind immer dabei. Wenn Herbert Wehner im grauen<br />

Dienstmercedes (BN-WZ-108) auf Wahlkampfreise geht, sitzt Tochter Greta neben ihm.<br />

Thermosflasche und Medikamente, sorgfältig in der grasgrünen Leinentasche verpackt, stehen<br />

griffbereit hinterm Fahrersitz. Beide lassen sich von ihrem Chauffeur mit 90 Stunden-Kilometern<br />

über die Autobahn kutschieren - vom niederbayerischen Straubing ins nordrhein-westfälische<br />

Iserlohn.<br />

Die Zufahrtstraßen zur städtischen Parkhalle sind verstopft. Menschentrauben quälen sich<br />

mühsam durch den Eingang. "Der Wehner ist 'ne Reise wert", juxen Jugendliche aus Dortmund.<br />

Eine ältere Dame mit Krokotäschchen und Sonntagsbluse meint: "Die Sozis kriegen meine Stimme<br />

nicht. Aber den Strauß der SPD muss ich gesehen haben." Bei den örtlichen Partei-funktionären<br />

auf dem Podium herrscht Nervosität. Für 20 Uhr hat sich der SPD-Fraktionschef angesagt. Doch<br />

"Onkel Herbert", wie sie respektvoll nennen, ist immer noch nicht da.<br />

Um die Stimmung der 3.000 Zuhörer anzuheizen, wird eine neue Musikkassette ins<br />

Tonbandgerät gelegt. Aus den Lautsprechern tönt "Spiel mir das Lied vom Tod". Was die<br />

aufgeregten Parteifunktionäre nicht wissen -Herbert Wehner sitzt im Nebenraum vor dem<br />

Fernseher: Tagesschau-Köpke (ARD-Nachrichtensprecher *1922+1991) verliest die neuesten<br />

Meldungen.<br />

Aufmacher-Meldung ist auch an diesem Abend der Lockheed-Skandal. Die<br />

Schmiergeldaffäre des amerikanischen Rüstungskonzerns ist für Wehner willkommener Anlass, um<br />

sich an Franz Josef Strauß (*1915+1988) zu reiben. "Einem bedeutenden Politiker haben sie in<br />

New York mal die Brieftasche geklaut", klärt er die Iserlohner auf. "Wäre mir das passiert, hätte am<br />

nächsten Tag mit vier dicken Balken quergedruckt in der Zeitung gestanden: 'Wehner von drei<br />

Nutten ausgeraubt.' Unterzeile: 'Politische Affären nicht ausgeschlossen'."<br />

Die Zuhörer in der ersten Reihe, überzeugte Genossen, jubeln. "Das ist der Herbert, wie<br />

wir ihn kennen", murmelt einer. "Der muss noch härter draufschlagen", fordert ein anderer.<br />

Wehner bleibt seinem Publikum nichts schuldig, Mit ätzender Schärfe und donnerndem Gebrüll<br />

beißt er nach allen Seiten.<br />

Wenn der SPD-Fraktionschef (1969-1983) CDU-Wahlanzeigen verliest ("sozialistische<br />

Misswirtschaft") , "Die Feinde des Staates werden immer frecher"), hält es ihn kaum noch am Pult:<br />

"Franz Josef, dieser Strauß", "der Ludwigshafener Kohl", "Kohl, dieser pomadige Obermufti",<br />

"Büchsenspanner Kohl", "Dregger, dieser einsilbige Vorturner", "Schleyer, das doppelbödige<br />

Doppelkinn mit dem Ypsilon in der Mitte". Pfiffe werden laut. Die Junge Union, die ihre Anhänger<br />

in der Parkhalle zusammengetrommelt hat, protestiert: "Kohl ist der beste Kanzler!" Wehner:<br />

"Dann kriege ich nur noch Kohl-Falten. Sie werden schon sehen, wie schön es da ist." Zwei<br />

171


Genossen schauen belustigend um sich. Der eine zum anderen: "Und schlägt unser Arsch auch<br />

Falten, wir bleiben die Alten."<br />

Dann kommt Wehner auf die Sonthofener Rede des Franz Josef Strauß. Beim Zitat,<br />

wonach die wirtschaft-liche Lage "wesentlich tiefer sinken muss, bis wir Aussicht haben, mit<br />

unseren Vorstellungen gehört zu werden", krakeelt die Junge Union "Bravo". Wütend reißt Wehner<br />

das Mikrophon beiseite. "Diese Zinnsoldaten, diese Reißbrettstrategen, diese Maulhelden."<br />

Herbert Wehner wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ein Ordner rückt das Mikrophon<br />

wieder zurecht. Als nächster bekommt Richard Jaeger (*1913+1998), CSU-Vizepräsident des<br />

Bundestages, sein Fett ab. Wehner erinnert daran, dass es Jaeger war, der 1969 in der katholischen<br />

"Deutschen Tagespost" geschrieben hat: "Wenn Brandt neuer Bundeskanzler wird, muss man sich<br />

fragen, ob wir nicht über Nacht die Rote Armee hier haben." "Kopfab-Jaeger", empört sich das<br />

Publikum. "Nein", sagt Wehner ruhig, "der heißt 'Gliedab-Jaeger'."<br />

Die Junge Union hält es nicht mehr auf den wackeligen Stühlen, "Pfui", tönt es im Chor.<br />

Der SPD-Genosse bleibt gelassen: "Aber meine Herren, liebe Knaben und Mädchen! Da sagen Sie<br />

doch nicht 'Pfui'. Wir sind hier nicht im Damenpensionat." Für den alten Kämpen ist die<br />

Provokation des Gegners bewährtes Mittel, um die eigenen Anhänger zu mobilisieren.<br />

In Iserlohn, wo sich die Kohl-Truppe auf der linken Sa<strong>als</strong>eite platziert hat, hämmert<br />

"Onkel Herbert" pausenlos auf die Jung-Konservativen ein. "Sie Lümmel, Sie Pimpf! Ich werde Sie<br />

schon ruhig kriegen. Mich alten Mann können Sie nicht verkohlen!" Schimpftiraden wollen kein<br />

Ende nehmen. Der Ortsvereinsvorsitzende schiebt dem SPD-Kämpen einen Zettel zu, er solle sich<br />

nicht in Rage bringen lassen.<br />

Plötzlich, <strong>als</strong> sei nichts gewesen, wird das Raubein Wehner behutsam. "Ich bin ein alter<br />

Mann, der hierher gekommen ist, um Ihnen meine Erfahrungen mitzuteilen", sagt er fast<br />

entschuldigend zu den Iserlohnern. Dann beschwört er die Vergangenheit. Aus einem vergilbten<br />

Bändchen aus dem Jahre 1925 ("Redner und Revolution") zitiert er den sozialistischen Altvater<br />

Ferdinand Lassalle: "Die Geschichte ist ein Kampf der Natur" (Ferdinand Lassalle *1825+1864;<br />

u.a. Wortführer der deutschen Arbeiterbewegung).<br />

Über den 1972 verstorbenen IG-Metall-Chef Otto Brenner (*1907 +1972; "Ein kritischer<br />

Freund"), den früheren Bremer Bürgermeister Wilhem Kaisen (*1887+1979; "Ein Vorkämpfer der<br />

Sozialdemokratie") kommt er fast reumütig zu jenen Unions-Abgeordneten, mit denen er sich in<br />

den fünfziger und sechziger Jahren manch hitziges Rededuell geliefert hatte. Gern zitiert er den<br />

damaligen CDU-Fraktionschef Heinrich Krone (*1895 +1989), erinnert sich, wie er mit dem<br />

früheren Außenminister von Brentano (*1904+1964) nach dem Bau der Berliner Mauer in einem<br />

Frankfurter Hotel am Radio dem DDR-Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler<br />

(*1918+2001)zuhörte. Und wie Adenauer und Lübke der SPD 1963 Verdienste um die Demokratie<br />

und den Wiederbau bescheinigten.<br />

Wahlkampf 1976 - für Herbert Wehner ein Exkurs in die jüngste Geschichte, für das<br />

Publikum ein Vorgriff auf seine Memoiren. "17 Jahre", sagt er, "bin ich Vorsitzender des<br />

Gesamtdeutschen Ausschusses gewesen und drei Jahre Minister für Gesamtdeutsche Fragen. Ich<br />

kenne alles sehr genau. Ohne die SPD hätten wir heute keinen freien Teil Berlins."<br />

Es ist die Bilanz eines Mannes, der alle Schlachten geschlagen hat. Der Kommunist war,<br />

der <strong>als</strong> solcher immer noch verteufelt wird; der Narben davontrug, die manchmal noch schmerzen,<br />

wenn der wütende Demokrat Wehner angegriffen wird von Demokraten, denen dieser Begriff allzu<br />

172


glatt über die Lippen geht. Bei Wehners Rückblick kommen betagten SPD-Anhängern die Tränen,<br />

und Genossinnen, die vorhin noch entrüstet waren, nicken auf einmal stumm - teilnahmsvoll.<br />

Die Namen Willy Brandt und Helmut Schmidt erwähnt Wehner erst zur Halbzeit seiner<br />

zweistündigen Rede. In den vorausgegangenen Passagen hießen sie nur der "Vorsitzende" und der<br />

"Bundeskanzler". Wehner wird deutlich: "Auf Helmut Schmidt ist Verlass." Der SPD-Slogan:<br />

"Weiterarbeiten am Modell Deutschland" ist allerdings in Wehners Repertoire nicht zu finden. Statt<br />

dessen benutzt er den SPD-Wahlspruch von 1972; "Wer morgen sicher leben will, muss heute für<br />

Reformen kämpfen."<br />

Es ist 22.30 Uhr. Stieftochter Greta holt die Thermoskanne und Medizin aus der Tasche.<br />

Für Vater Wehner das Signal, Schluss zu machen. Eine halbe Stunde später sind die beiden wieder<br />

auf der Autobahn, ohne Journalistenkolonne, ohne Polizei-Eskorte.<br />

Schon 60 Veranstaltungen, 12o Stunden Wahlreden. Es dürfte Herbert Wehners letzte<br />

Wahlschlacht sein.<br />

173


WAHLKAMPF IN DEUTSCHEN LANDEN (4) : "MIT<br />

BESTEN WÜNSCHEN EUER PFARRER"<br />

Mit der Verketzerung der sozialliberalen Koalition (1969-1982) will die katholische<br />

Kirche der CDU/CSU in den siebziger Jahren zum Wahlsieg verhelfen<br />

stern, Hamburg 16. September 1976<br />

Ein Exorzist kommt selten allein. Der Pfarrer Ernst Alt, 38, und der Salvatorianerpater<br />

Arnold Renz, 65, versuchten, die Dämonen aus dem Körper der 23jährigen Anneliese Michel im<br />

fränkischen Klingenberg zu vertreiben. Die Oberhirten der beiden wollten jetzt die Teufel SPD<br />

und FDP aus den Köpfen der katholischen Wähler verbannen.<br />

Im Kampf der Amtskirche gegen die ungeliebten Sozialdemokraten ist die<br />

Bundestagswahl am 3. Oktober 1976 "nicht nur eine politische, sondern auch eine religiöse<br />

Entscheidung. Wer das nicht jedem Nachbarn und Arbeitskollegen klarmacht und nicht auch durch<br />

intensives Gebet zu einer christlichen Entscheidung beiträgt, ist ein Mitläufer des Bösen", warnt die<br />

"größte christliche Wochenzeitung Europas", die "neue bildpost", ihre katholischen Leser zwischen<br />

Papenburg im Emsland und Altötting in Oberbayern.<br />

Das Boulevardblatt, das jeden Sonntag zwischen Altar und Beichtstuhl feilgeboten und<br />

von rund einer Millionen Katholiken gelesen wird, behauptete schon vor zwei Jahren, dass der<br />

"rote Sozialismus" dabei sei, "aus dem restlichen Deutschland ein Land des Untergangs zu<br />

machen." Jetzt schreckt die fromme Postille (Schlagzeile "Kardinal Döpfner: Ja, ich begegnete<br />

Gott") vor keiner Diskriminierung des politischen Gegners zurück, um im Wahlkampf Stimmung<br />

gegen SPD und FDP zu machen.<br />

So stellt die "neue bildpost" den Terroristen Rolf Pohle (*1942 +2004) <strong>als</strong><br />

Sozialdemokraten vor, der "wegen Landfriedensbruch in der SPD bleiben durfte und erst ein völlig<br />

freischwebender Anarchist geworden ist, seit er seinen SPD-Mitgliedsbeitrag nicht mehr zahlt": Für<br />

die "bildpost" - Redakteure ist SPD-Chef Willy Brandt (*1913+1992) "ein Badefreund<br />

Breschnews", (*1906 +1992, Parteichef der KPdSU 1964-1982) - der "Hauptverantwortliche für<br />

die geistige Lynchstimmung" und "die Schlüsselfigur für die mögliche Sowjetisierung Europas".<br />

Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-1982) "will jetzt unsere Zukunft mit Gesinnungspartnern<br />

aufbauen, die den Kommunisten in ihrem Land in den Sattel helfen."<br />

Und die Bereitschaft von dem FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher (1974-1985)<br />

wieder mit der SPD zu koalieren, ist "<strong>als</strong> demokratische 'Todsünde' weithin erkannt". Der<br />

Außenminister ist für die "neue bildpost" der Politiker, der die Forderung nach einem DKP-Verbot<br />

<strong>als</strong> "demagogisch" abblockt. Dafür, so wird dem Leser suggeriert, zahlt Bonn "Steuergelder für die<br />

Unterwanderer, wenn Kommunisten Ansprüche anmelden."<br />

Bei der Agitation gegen das SPD/FDP-Regierungsbündnis setzen die katholischen<br />

Bischöfe nicht nur auf die "neue bildpost", sondern sie lassen auch ihre 22 Bistumsblätter<br />

(wöchentliche Auflage: zwei Millionen) kräftig mitmischen. Das "Regensburger Bistumsblatt" des<br />

Bischofs Rudolf Graber, 73, (*1903+1992) glaubt, nur die "süddeutsche Union" mit den<br />

CDU/CSU-Rechtaußen Franz-Josef Strauß, Hans Filbinger und Alfred Dregger garantiere einen<br />

Wahlsieg der Unionschristen. Die Regensburger: "Das sind nicht Albrecht, Stoltenberg,<br />

Biedenkopf, Barzel ... Möge die Union dort lächeln, zaubern, freundlich sein, Küsschen werden, I-<br />

174


like-Mainzelmännchen-Helmut-singen ... Der Wähler will die Wahrheit wissen! Im Baden-<br />

Württemberger CDU-Wein ist Wahrheit."<br />

Das "Passauer Bistumsblatt" des Bischofs Antonius Hofmann, 67, (*1909+2000) fragt die<br />

SPD scheinheilig, "wie lange es ihr noch gelänge, antichristliche Kräfte in ihren Reihen<br />

niederzuhalten". Auf eine Antwort der Sozialdemokraten wird allerdings kein Wert gelegt. Die<br />

Redakteure fordern die Leser auf, "dem Antichristen bei der Bundestagswahl mit dem Stimmzettel<br />

eine entsprechende legale Antwort zu geben."<br />

Die Würzburger "Deutsche Tagespost" will "die katholischen Bischöfe in den Ring rufen.<br />

Von ihnen wird eine Wahlempfehlung erwartet, an der es nichts zu deuteln gibt". Die "Tagespost"<br />

empfiehlt, prominente Katholiken aus SPD und FDP zu vergraulen: "Das Wort der Bischöfe<br />

müsste diesmal so deutlich sein, dass auch Persönlichkeiten wie die Sozialdemokraten Georg Leber,<br />

Hermann SchmittVockenhausen oder der FDP-Mann Josef Ertl gezwungen werden, ihren<br />

Balanceakt zwischen ihrer Kirche und ihrer kirchenfeindlichen Partei aufzugeben...".<br />

Die katholische Kirche hat sich zum Endkampf gegen die sozialliberale Koalition gerüstet.<br />

Vergessen ist das noch vor vier Jahren gültige Rezept, mit der Bonner Regierungen einen - wenn<br />

auch zaghaften - Dialog zu beginnen (Herbert Wehner dam<strong>als</strong>: "Wir sollen miteinander reden und<br />

uns aufmerksam zuhören"). Der lose Gesprächsfaden riss, <strong>als</strong> die Sozial-Liberalen mit der Reform<br />

des Abtreibungsparagrafen 218 und des Ehe- und Scheidungsrechts ernst machten und dabei auf<br />

den erbitterten Widerstand des konservativen Klerus stießen.<br />

Als Generalangriff auf den christlichen Glauben werteten die Oberhirten den Beschluss<br />

der FDP, Kirche und Staat strikt zu trennen, und den Erlass von Rahmenrichtlinien für den<br />

Schulunterricht in Hessen und Nordrhein-Westfalen, mit denen der kirchliche Einfluss weiter<br />

zurückgedrängt wurde. Der Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Höffner (*1906+1987) erklärte:<br />

"Abgeordnete, die nicht bereit sind, die Unantastbarkeit menschlichen Lebens ... zu gewährleisten,<br />

sind für einen gläubigen Christen nicht wählbar."<br />

Oberwasser haben seitdem wieder jene Scharfmacher in der katholischen Kirche, die<br />

schon bei der letzten Bundestagswahl 1972 gegen die Sozial-Liberalen zu Felde gezogen sind. Im<br />

November 1972 appellierte zum Beispiel der "Nußbacher Pfarrbote" (Nr. 47) an die Gemeinde:<br />

"Als Christen sollten wir eigentlich wissen, wohin wir unsere Kreuze machen, nämlich in die Felder<br />

der CDU ... Als Pfarrer muss ich es mir leider versagen, im 'Pfarrboten' über die politische<br />

Zwielichtigkeit führender Männer und Bewerber ... zu schreiben ... Wenigstens einen Fall nimmt<br />

die heutige 'bildpost' , die im übrigen sehr zu empfehlen ist, unter die Lupe. Wer mehr wissen will,<br />

möge nach Oberkirch auf die CDU-Kreisstelle gehen und sich dort informieren. Wir haben viel<br />

Grund zu beten, dass sich unser Volk erneuere, ohne dass uns eine tödliche Diktatur wieder in den<br />

Senkel stellt. Mit den besten Wünschen, Euer Pfarrer."<br />

Und im amtlichen Mitteilungsblatt der württembergischen Gemeinde Fronstetten rief der<br />

Pfarrer seinen Gläubigen zu: "Der mündige Christ soll selber entscheiden. Nur keine Manipulation!<br />

Aber wenn Sie es wissen wollen, wie ich persönlich denke und was ich persönlich wähle, dann sage<br />

ich Ihnen das ganz offen und ehrlich: Ich für meine Person wähle die CDU."<br />

Der CDU-Pressesprecher Karl Hugo Pruys (1973-1977) ist sicher, dass die Kirche auch<br />

diesmal einen geharnischten Hirtenbrief zur Bundestagswahl veröffentlichen wird: "Der wird<br />

kommen, ob uns das passt oder nicht." Denn seit dem Tod Julius Kardinal Döpfners<br />

(*1913+1976), der stets Respekt vor SPD-Chef Willy Brandt hatte, ist die viel zitierte kirchliche<br />

Neutralität gegenüber den Parteien aufgehoben.<br />

175


In der Bischofskonferenz gibt jetzt der ultra-rechte Kölner Kardinal Höffner ("Wer Lust<br />

will, dem vergeht sie") den Ton an. Der militante Oberhirte und seine Amtsbrüder glauben, in einer<br />

Notstands-Gesellschaft" zu leben, die einen Kulturkampf zwischen Christentum und Sozialismus<br />

rechtfertigt. Prälat Wilhelm Wöste (*1911+1993), Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe<br />

in Bonn: "Die Kirche hat auch die französische Revolution überlebt, obwohl sie sieben Jahre<br />

verboten war." Die Losung der Bischöfe heißt deshalb: "Nicht klagen, sondern handeln" (Höffner).<br />

• Für Kardinal Höffner sind Schulen, in denen nach den neuen Rahmenrichtlinien des<br />

nordhrein-westfälischen Kultusministeriums unterrichtet wird, für "gläubige Christen<br />

keine Heimat, sondern ein besetztes Gebiet".<br />

• Für den Aachener Bischof Johannes Pohlschneider (*1899 +1981) besteht der<br />

Eindruck, dass die Rahmenrichtlinien eine "Entchristlichung" der Schulen einleiten<br />

und dass "aufbauende geistige Werte wie Religion, Ehrfurcht vor Gott und seinem<br />

Gesetz, Achtung vor Nächstenliebe und Opferbereitschaft" keine Beachtung mehr<br />

finden.<br />

• Für den Augsburger Bischof Joseph Stimpfle (*1916+1996) ist "die rechtsstaatliche<br />

Ordnung bei uns nicht mehr gewährleistet", weil der Abtreibungsparagraf und das<br />

Familienrecht liberalisiert wurden.<br />

• Für Franz Hengsbach (*1910+1991), Bischof von Essen, ist diese Reform der "seit<br />

1945 bedenklichste Angriff gegen die sittlichen Grundwerte unserer Gesellschaft".<br />

• Der Regensburger Bischof Rudolf Graber geht noch einen Schritt weiter: "Das<br />

Abendland stirbt, und es lacht und tanzt dazu."<br />

• Der Hildesheimer Bischof Heinrich-Maria Janssen (*1907 +1988) stellt die<br />

SPD/FDP-Reformpolitik auf eine Stufe mit Nazi-Verbrechen: "Die katholischen<br />

Bischöfe werden dazu nicht schweigen, sowenig, wie sie zu den Verbrechen des<br />

Nation<strong>als</strong>ozialismus geschwiegen haben."<br />

• Der Münsteraner Bischof Heinrich Tenhumberg (*1915+1979) beschimpft die<br />

Bundesrepublik <strong>als</strong> "sozialistischen Nachtwächterstaat" und beklagt sich darüber,<br />

dass nach der Steuerreform einige hundert Kirchen weniger gebaut werden können.<br />

• Das Erzbischöfliche Ordinariat von München erklärte: "Die SPD soll sich künftig<br />

ihre Wähler anderswo <strong>als</strong> bei den Katholiken suchen."<br />

Dieser Meinung sind auch der katholische CDU-Kanzlerkandidat Helmut Kohl und sein<br />

bayerischer Lehrmeister Franz Josef Strauß (*1915+1988). Um am 3. Oktober 1976 die absolute<br />

Mehrheit zu erzielen, muss die Union vor allem in katholischen Gebieten Stimmen<br />

zurückgewinnen, die 1972 auf das Konto der SPD gingen. Dam<strong>als</strong> waren 35 Prozent der SPD-<br />

Wähler katholisch.<br />

So erzielten die Sozialdemokraten in den tiefschwarzen Wahlkreisen Cloppenburg und<br />

Emsland Zugewinne von 4,4 beziehungsweise 5,7 Prozent. Im niederrheinischen Kleve<br />

(Schriftsteller Heinrich Böll (*1917+1985) : "Da sind sogar die Kartoffeln katholisch") erreichten<br />

die Genossen eine Aufwertung von 6,1 Prozent.<br />

Katholik Strauß klagte: "Der Flirt der Prälaten mit der SPD zahlt sich bitter aus." Und<br />

Kohl, der sich <strong>als</strong> politischer Erbe Konrad Adenauers (*1876+1967) stilisiert, möchte den alten<br />

176


"Kölnischen Klüngel" aus den fünfiger Jahren wiederbeleben, <strong>als</strong> sich Hochfinanz und Oberhirten<br />

die Türklinke des Palais Schaumburg in die Hand gaben. So achtet der Mainzer Politiker bei jedem<br />

Fernsehauftritt peinlich darauf, die "christlichen Grundwerte" zu beschwören. Und stets streicht<br />

der CDU-Chef die Rolle des Klerus heraus: "Die Kirchen vermitteln Wahrheiten,<br />

Wertauffassungen und Sinngebungen, die für ein Gemeinschaftsleben fundamental sind."<br />

Solche Ergebenheitsadressen lassen die Oberhirten hoffen, bei einem CDU/CSU-<br />

Wahlsieg würde die Abtreibung wieder unter Strafe gestellt und das Ehe- und Scheidungsrecht<br />

drastisch verschärft werden. Prälat Wöste glaubt sogar, mit einem Kanzler Kohl die Zeit<br />

zurückdrehen zu können: "In den beiden ersten Jahrzehnten hatten wir mehr Einfluss auf die<br />

Bonner Politik."<br />

Die Verbrüderung der Unionsparteien mit der katholischen Kirche zeigt bereits erste<br />

Früchte. Auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem nordrhein-westfälischen CDU-<br />

Oppositionsführers Heinrich Köppler (*1925+1980) in Düsseldorf appellierten katholische Priester<br />

der Diözesen Aachen und Paderborn an "die natürliche Verwandtschaft von Kirche und CDU"<br />

und beschworen die "gemeinsamen Wahlkämpfe in den fünfziger Jahren". CDU-Chef Kohl ließ<br />

sich auf einer Sitzung mit der Deutschen Bischofskonferenz sogar zu der Bemerkung hinreißen:<br />

"Die CDU-Aktivitäten an der Parteibasis" seien "praktisch mit den kirchlichen<br />

Kerngemeinschaften gleichzusetzen".<br />

Als nützlicher Wahlkampfverein für die Christdemokraten hat sich vor allem das<br />

Zentralkomitee der Deutschen Katholiken unter Vorsitz des rheinland-pfälzischen CDU-<br />

Kultusminister Bernhard Vogel (1967-1976) erwiesen. Der Aufruf des Komitees zur<br />

Bundestagswahl (in einer Auflage von elf Millionen verbreitet) stützt die anmaßende Alternative<br />

"Freiheit oder/statt Sozialismus" und die Behauptung der CDU, eine neue SPD/FDP-Regierung<br />

würde zu einem weiteren Verfall und Abbau moralischer Grundwerte führen.<br />

Gegen den Vorwurf, die katholische Kirche betreibe ausschließlich die Wahlpropaganda<br />

der CDU/CSU, haben sich die Parteichristen schon vor Wochen gewappnet. In der katholischen<br />

"Herder-Korrespondenz" erklärte Kohl: "Im Falle eines grundlegenden Wortkonflikts kann die<br />

Frage der Wählbarkeit und Nichtwählbarkeit einer Partei durchaus Gegenstand einer konkreten<br />

kirchlichen Erklärung sein, wenn die Glaubensgemeinschaft in dieser Frage einer Meinung ist."<br />

Trotz der kirchlichen Verleumdungskampagne wollen die Sozial-Liberalen vor der Wahl<br />

keinen Krach mit den Bischöfen anfangen, um die katholischen Wähler nicht in<br />

Gewissenskonflikte zu stürzen. Für die heiße Phase der Wahlschlacht gilt ein Wort von<br />

Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-1982): "Politiker, die das Wort Humanismus oder den<br />

Namen Jesu Christi in jeder ihrer politischen Reden im Munde führen, sind mir ein Greuel."<br />

177


VERFOLGT, VERBOTEN, GEDULDET: RATLOS IN DER<br />

ROTEN ECKE. AUS DEUTSCHEN LANDEN DER<br />

ZEITGESCHICHTE - KOMMUNISTEN<br />

Aus den Landen westdeutscher Zeitgeschichte: Während die Kommunisten in<br />

Italien und Frankreich Mitte der siebziger Jahre unter dem Begriff "Euro-Kommunismus"<br />

auf dem Vormarsch waren, führten sie in der Bundesrepublik ein Schatten-Dasein: Die<br />

Mitgliederzahl stagnierte , der Wählerstamm bröckelte, nur das Geld aus Ostberlin floss<br />

regelmäßig -einstweilen. Die Auflösung der sozialistischen Staatenwelt stürzte die DKP in<br />

eine tiefe Existenzkrise. Von den einst 57.000 Parteimitgliedern hielten nach 1989 nur<br />

wenige Tausend der Partei die Treue.<br />

stern, Hamburg 01. Juli 1976<br />

Als der Kartoffelpreis in der Bundesrepublik Mitte der siebziger Jahre auf 3,50 pro Kilo<br />

kletterte, hielt es den DKP-Chef Rhein-Ruhr, Manfred Kapluck , nicht mehr ruhig am Schreibtisch.<br />

Getreu seinem Leitspruch "Wer die Welt verändern will, muss sie erkennen" kurbelte der 47jährige<br />

in der DDR geschulte Funktionär einen halben Nachmittag, um Günter Mittag (*1926 +1994), den<br />

stellvertretenden DDR-Ministerpräsidenten, in Ostberlin ans Telefon zu bekommen. Als er ihn<br />

schließlich am Draht hatte, machte Kapluck dem DDR-Genossen klar, es müsse jetzt mit Hilfe<br />

einer "Agitation aus dem Kühlschrank bei den Werktätigen das Bewusstsein für die DKP-<br />

Preisstopp-Politik geweckt werden". Mit billigen Kartoffeln, Eiern und Hähnchen aus der DDR<br />

könnte sich die Partei beliebt machen - eben Beachtung verschaffen. Kaplucks Bittruf wurde<br />

erhört. Schließlich hatte er im Jahre 1951 und 1952 <strong>als</strong> Mitglied der dam<strong>als</strong> illegal gewordenen KPD<br />

in einem westdeutschen Gefängnis eingesessen. Mittag, Genosse aus alten Zeiten, ließ 100.000<br />

Eiern, 1.000 Zentner Kartoffeln und 4.000 Hähnchen "frisch aus der DDR" transportieren<br />

(Verkaufsslogan auf eigenen Wochenmärkten zwischen Bottrop und Essen: "DKP bietet an: Das<br />

Ei des Columbus" - pro Stück für einen Groschen). Die SED-Führung schickte nicht nur<br />

Lebensmittel in den Westen. Sie unterstützte nach Erkenntnissen der Unabhängigen Kommission<br />

Parteivermögen (UKPV) ihre DKP im Zeitraum 1981 bis 1989 mit Zahlungen von 269.097.518<br />

Euro.<br />

Die wieder aus der Illegalität aufgetauchten Funktionäre von einst sahen sich jetzt erst<br />

recht in ihrer Rolle <strong>als</strong> Interessenvertreter der kleinen Leute in Gewerkschaften, Betriebsräten<br />

bestätigt. - Aufwind für alte Kommunisten, die wie Manfred Kapluck und Co. ihre Zeit im<br />

westdeutschen Untergrund durchgestanden haben. Früher in der Illegalität bestand seine Aufgabe<br />

darin, die verbotene FDJ im Untergrund am Leben zu erhalten und vornehmlich den Kontakt zur<br />

akademischen Jugend zu suchen; konspirativ versteht sich. Manfred Kapluck war seinerzeit unter<br />

dem Vorwurf zum "Hochverrat" in mehrmonatige Untersuchungshaft gesteckt worden -<br />

verschwand danach für zwölf Jahre in der Illegalität.<br />

Die Partei, vor 57 Jahren - 1919 - von Rosa Luxemburg (*1871 +1919 ) und Karl<br />

Liebknecht (*1871+1919 ) gegründet, will den Bundesbürger nicht länger mit Klassenkampf-<br />

Parolen verschrecken, sondern beweisen, "dass wir Kommunisten auch Menschen sind" (DKP-<br />

Chef Herbert Mies). Und wenn es um die Menschen geht, ist der DKP nichts zu teuer. So<br />

organisiert die DKP-Nachwuchsriege, die Sozialistische Arbeiterjugend (SDAJ), jedes Jahr zu<br />

Pfingsten Zeltlager für Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren - beispielsweise in Gelsenkirchen.<br />

178


Zum Freizeit-Angebot gehören "Getränke und Speisen zu Lehrlingspreisen". Dortmunder<br />

Fallschirmspringer, die für 700 Mark kunstvolle Absprünge zeigen, und Beat-Gruppen, die für fast<br />

6.000 Mark internationale Hits spielen.<br />

Unter den Gästen machen FDJler aus Ostberlin, Rostock, Dresden und Magdeburg in<br />

ihren Blauhemden am meisten von sich reden. Ihre "Fest"-Beiträge ("Warum der Kommunismus<br />

den Kapitalismus besiegt") werden live in die Nachbarzelte ausgestrahlt. Im Hauptzelt "Flöz<br />

Sonnenschein" gibt's Schmalzbrot und Korn für 'ne Mark - extra "für die DKP hergestellt".<br />

Jugendliche mit Fedajin-Tuch und Baskenmütze -die rebellische Ausgeh-Uniform dieser Jahre -<br />

reißen sich um Castro und Marx-Poster - eine Mark pro Stück. Das überlebensgroße Konterfei des<br />

legendären Latino Ernesto Che Guevara (*1928+1967) war schon nach zwanzig Minuten<br />

ausverkauft. Die 26jährige Lehrerin Hilde aus Nordhorn schwärmt von ihren Urlaubsplänen:<br />

"Noch 38 Tage, dann bin ich endlich mit meinen Genossen auf Kuba." - Ein bisschen Romantik,<br />

ein bisschen Revolution, viel Schwärmereien, viel Gänsehaut zwischen Bacardi-Rum, Bretterbuden<br />

und Betonbananen im Kohlenpott. Ihre Freundin Christiane ist schon drei Jahre DKP-Mitglied.<br />

"Wir sind eine Gruppe, die zusammenhält und in der sich jeder um den anderen kümmert" , sagt<br />

sie stolz. Nicht alles am Sozialismus sei ihr ganz geheuer, etwa die Arbeitslager in der Sowjetunion,<br />

"aber mir fehlen wohl noch einige Parteischulungen", bekannt die 22jährige.<br />

Altkommunist Clemens Kraienhorst (*1905+1989) , nach dem in Bottrop eine Straße<br />

benannt wurde, glaubt gar an eine zeitgeschichtliche Epoche, in der der DKP lang erhofft endlich<br />

der Durchbruch naht. Bergmann war er, immer der KPD treu geblieben, auch dann, <strong>als</strong> die Nazis<br />

in ins KZ Esterwegen internierten. Euphorisch schwärmt er: "Mit dieser Jugend und ihrem<br />

Engagement wird es für die Partei in der Bundesrepublik die große Wende geben." Clemens<br />

Kraienhorst rückblickend: "Ich bin Kommunist geworden, weil ich den Leuten helfen wollte." Er<br />

weiß, wie Wählerstimmen für die Kommunisten gewonnen werden können. Bei der letzten<br />

Kommualwahl in der Bergarbeiterstadt Bottrop brachte er es in seinem Wahlkreis auf 33 Prozent.<br />

Die DKP zog mit 7,2 Prozent ins Stadtparlament ein. Einmalig war diese Kraienhorst-Resultat. Bei<br />

den Bundestagswahlen zwischen 1972 und 1983 konnte die DKP allenfalls 0,3 Prozent der<br />

Stimmen auf sich vereinen. Seitdem nahm sie nicht mehr teil. Lediglich in Bremen bei der<br />

Bürgerschaftwahl 1971 brachte sie es mit 3,1 Prozent auf ein für sie ungewöhnliches Ergebnis.<br />

Das gute Kraienhorst-Ergebnis ist der Erfolg einer zähen täglichen Kleinarbeit, auch<br />

Sozialarbeit oder Schuldnerberatung genannt. Wenn eine Familie mit der Ratenzahlung für den<br />

Farbfernseher ins Hintertreffen gerät, wenn Mieterhöhungen drohen, Schwierigkeiten beim<br />

Lohnsteuerjahresausgleich auftreten oder Arbeitslosigkeit zu einem Dauerzustand zu werden droht,<br />

wenn es zu Familienstreitigkeiten kommt - Bottrops Kommunisten haben stets ein offenes Ohr -<br />

Mitgefühl. Damit die Kinder in den Schulferien nicht auf der Straße herumlungern müssen,<br />

organisiert Fraktionschef Heinz Czymek jährlich für 800 Jugendliche eine Kinder-Land-<br />

Verschickung in den "Modellstaat DDR". Und sein Kollege Franz Meichsner baute für die Kinder<br />

aus einem alten Karstadt-Lieferwagen einen fahrbaren Spielplatz mit Bauklötzen und<br />

Tischtennisplatte.<br />

Auch in Bottrops Nachbarstadt Gladbeck sind die Kommunisten hochgeachtet. Hier<br />

arbeitet die DKP mehr "staatstragend" und "auffallend weniger revolutionär" an den Problemen<br />

dieser Stadt.<br />

Hier geht es um Weichenstellungen, die der gravierende Strukturwandel in der Region,<br />

etwa durch die Neuansiedlung von Industrie oder auch Schaffung neuer Arbeitsplätzen, mit sich<br />

bringt. "Diesen Neuerung", sagt SPD-Oberbürgermeister Kurt Schmitz, "widersetzt sich die DKP<br />

179


nicht". Ganz im Gegenteil, sie leiste "sehr viel Kleinarbeit", konzediert der Oberbürgermeister,<br />

auch wenn sie sich laufend ungefragt <strong>als</strong> "Anwalt der kleinen Mannes" regiere. Zuweilen fühle er<br />

sich "genervt", weil sie "kleine Problemchen" über Gebühr groß aufs Trapez hochziehe.<br />

Ob auf dem Spielplatz, in der Nachmittagsschule oder in ihrer Stammkneipe, wo der<br />

DKP-Wimpel neben den Fußball- und Skat-Ehrenurkunden hängt - Westdeutschlands<br />

Kommunisten wollen raus aus dem Schattendasein der Hinterhöfe. Um endlich salonfähig zu<br />

werden und keinen Anlass für ein neues Verbot zu liefern, geben sie sich betont bürgerlich. DKP-<br />

Chef Herbert Mies (1973-1990): "Früher gratulierten wir zuerst den DDR-Sportlern zu ihren<br />

Siegen. Heute schicken wir unserem National-Bomber Gerd Müller (68 Tore, 62 Länderspiele)<br />

Glückwunsch-Telegramme."<br />

Doch die Schönheits-Operationen hat der Partei noch nichts eingebracht. Die DKP steckt<br />

allen Beteuerungen zum Trotz ("Wir sind eine nationale Kraft") in einer Krise. Der in Moskau<br />

geschulte Diplom-Volkswirt Herbert Mies (Kapluck: "Mies war dort drei Jahre, ich nur eines")<br />

musste vor dem Parteivorstand einräumen, dass die "sympathische Kraft" DKP weder Wahlen<br />

gewinnen noch neue Mitglieder werben konnte. Der DKP-Experte, Professor Hermann Weber<br />

(Ordinarius Politische Wissenschaften an der Universität Mannheim 1975-1993) , resümiert:<br />

"Dieser Führungsgruppe fehlt Gespür und analytische Fähigkeit, politische Zusammenhänge<br />

überhaupt noch nach zu vollziehen." Sie habe ihre politische Sozialisation in der Illegalität der<br />

West-KPD von 1951 bis 1968 in der DDR erhalten. Von den 1.500 deutschen Kommunisten, die<br />

während der Hitler-Diktatur in die Sowjetunion flüchteten, kehrten lediglich 700 mit der Gruppe<br />

Ulbricht zurück. - Von den anderen fehlt jede Spur, vermutlich in der Sowjetunion umgebracht<br />

worden. Vielerorts herrschte Nachwuchsmangel für Führungsaufgaben bei den Kommunisten.<br />

Aderlass. Etwaige Führungskader, wie der Essener-Bezirksgenosse Manfred Kapluck, wurden mit<br />

dem Argument denunziert, sie seien "Alkoholiker". - Ende der Durchsage.<br />

Dabei hatte die westdeutsche Justiz Kommunisten weitaus konsequenter, härter und<br />

unnachgiebiger verfolgt <strong>als</strong> ehemalige eingefleischte Nation<strong>als</strong>ozialisten. Jedenfalls lagen die<br />

rechtskräftigen Urteile gegenüber Marx- und Lenin-Anhängern siebenmal so hoch wie die gegen<br />

NS-Tätern - und das eingedenk der Tatsache, dass die Nazis Millionen Menschen ermordet hatten.<br />

Den Kommunisten hingegen konnte man allenfalls Landesverrat vorwerfen. Nach dem KPD-<br />

Verbot ermittelten Staatsanwaltschaften gegen 125.000 Personen wegen angeblich "politischer<br />

Delikte". NS-Verfahren richteten sich bis dato allenfalls gegen 106.000 Verdächtige. Deutsche<br />

Geschichts-Aufarbeitung, deutsches Recht.<br />

Während die Bruderparteien in Italien und Frankreich immer stärker wurden, verloren die<br />

westdeutschen Kommunisten bei den letzten Landtagswahlen 1975 in Rheinland-Pfalz, Schleswig-<br />

Holstein, im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und Bremen 43.262 Wählerstimmen. Bis auf<br />

wenige Kommunal-Parlamente, etwa in den Universitätsstädten Göttingen, Tübingen, Marburg,<br />

konnte die DKP durchweg nur 0,3 Prozent der Wählervoten <strong>als</strong> Stimmen-Maximum in deutschen<br />

Landen erreichen. Seit 1983 nahm sie an der Bundestagswahl nicht mehr teil. Aber auch der<br />

Absturz der einst hoch gelobten Partei-Zeitung "Unsere Zeit" und der DKP-Stadtteilblätter vollzog<br />

sich rasant - sank von 1.073.000 um 272.000 Exemplare auf 801.000. Im Jahr 2008 kann die Partei<br />

vierzehntägig allenfalls 7.500 UZ-Zeitungen drucken. Zudem stagnierte die Zahl der Mitglieder<br />

stagnierte über Jahre -ab 1973 bei rund 42.000. Seitdem Zusammenbruch der DDR 1989 blieben<br />

laut Verfassungsschutz-Bericht nur wenige Tausend übrig (etwa 4.500), die an den Idealen der<br />

"Diktatur des Proletariats" unbeirrt festhalten. Der hessische DKP-Landesverband rief aus seinem<br />

Schatten-Dasein im Jahre 2008 seine noch wenigen Mitglieder auf, für die Landtagswahl die<br />

180


Linkspartei von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi zu wählen. Immerhin gelangten bundesweit<br />

etwa zwanzig DKP-Kandidaten über Listenplätze in kommunale Parlamente oder auch Landtage.<br />

Sogar in den Betrieben, wo Kommunisten nach Lenin "zu allen möglichen Kniffen, Listen<br />

und illegalen Methoden, zur Verschweigung, zur Verheimlichung bereit sein müssen, um nur in die<br />

Gewerkschaften hinzueinkommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis<br />

kommunistische Arbeit zu leisten", blieb der DKP trotz "konsequenter Kleinarbeit" (Kapluck) der<br />

Durchbruch versagt. Und das bei einer fortwährenden Arbeitslosenzahl, die schon in den siebziger<br />

Jahren bei 1,5 Millionen lag und sich in drei Jahrzehnten nahezu verdoppelte. mitunter<br />

verdreifachte. Dauerkrise. Von den 200.000 Betriebsräten in der alten Bundesrepublik, die Anfang<br />

1975 gewählt worden sind, stellte die DKP trotz aller wirtschaftlicher Engpässe mit sozialen Härten<br />

bei Entlassungen lediglich tausend und blieb damit bei 0,5 Prozent. - Eine verschwindende<br />

Minderheit.<br />

An den 41 Universitäten und Technischen Hochschulen mit Studentenparlamenten<br />

blockieren sich die DKP-Kommunisten und die im Kommunistischen Bund Westdeutschlands<br />

organisierten Mao-Anhänger gegenseitig. Dort gewinnt die DKP immerhin in begrenzten Umgang<br />

an Einfluss auf die "neuen sozialen Bewegungen"; weg von der "Handarbeiterklasse" - hin zur<br />

Intelligenz. Der Marxistische Studentenbund (MSB) "Spartakus" (Mitglieder: 4.700) sitzt in 35, die<br />

Mao-Linke (Mitglieder: 4.500) in 33 Parlamenten. Der Konflikt, wer ein "Sozialfaschist" oder "ein<br />

Büttel der Reaktion" sei und die Revolution verraten habe, schwelt unvermindert weiter. Von den<br />

842.000 Studenten haben sich nur ganze 1,4 Prozent hinter den roten Fahnen gesammelt, 1974<br />

waren es immerhin noch 1,8 Prozent. In besagten Universitäts-Städten Göttingen, Hannover,<br />

Bremen, Marburg oder auch Tübingen sitzt die DKP in Stadtparlamenten jener Jahre. Der MSB<br />

"Spartakus" hat sich im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 von den<br />

Hochschulen verabschiedet - wurde still aufgelöst. -Friedhofsruhe.<br />

Im öffentlichen Dienst, den CDU/CDU-Scharfmacher wie Franz-Josef Strauß<br />

(*1915+1988) und Alfred Dregger (*1920+2002 ) von Kommunisten unterwandert sahen, sind von<br />

3,4 Millionen Beamten, Angestellten und Arbeitern 1.789 Kommunisten in den siebziger Jahren.<br />

Beim Bund arbeiten demnach nur 256, Auf 1900 Angehörige des öffentlichen Dienstes kommt<br />

demnach ein Roter. - Schreckgespenster.<br />

Demzufolge gibt es beim Bundesgrenzschutz und bei der Polizei gar keine Kommunisten.<br />

Doch das hindert die Behörden nicht, DKP-Anhänger auszuspähen und zu jagen. Parteichef<br />

Herbert Mies: "Mit den Berufsverboten will man uns an den Rand der Legalität drängen und die<br />

Gurgel zudrücken." Indes: Die DKP hat allerdings wenig getan, um den Argwohn des Staates zu<br />

zerstreuen und den geheimnisumwitterten Schleier ihres Getto-Daseins wenigstens etwas zu lüften.<br />

Die Fenster der Essener Parteizentrale etwa sind vergittert, Tag und Nacht wird das Haus in der<br />

Hoffnungstraße bewacht, Stahlblenden sollen vor Neugierigen schützen. Der Keller hat einen<br />

Notausgang, in einem Raum liegen Schutzhelme und Gasmasken. Im ersten Stock des<br />

Parteigebäudes ist die "Karl-Liebknecht-Schule" untergebracht. 1.400 DKP-Genossen werden dort<br />

jährlich, meist in Wochenlehrgängen, ideologisch getrimmt.<br />

Den Lenin-Schülern wird erklärt, wiederholt und nochm<strong>als</strong> verdeutlicht, dass<br />

• die Theorie von Marx, Engels und Lenin "eine Anleitung zum Handeln ist und die<br />

geistige Waffen bietet, mit denen ... ... der Weg zum Sozialismus auch in der<br />

Bundesrepublik erkämpft werden kann";<br />

181


• "das wichtigste Kriterium für eine wirkliche revolutionäre und internationalistische<br />

Gesinnung die Haltung zur Sowjetunion ist ...";<br />

• "die Verwirklichung des Sozialismus eine Revolution und damit mehr <strong>als</strong> eine Reform<br />

oder Summe von Reformen ist"; 0 die DKP für eine sozialistische Ordnung kämpft,<br />

"deren Grundmodell in den Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft<br />

verwirklicht ist ...";<br />

• es niem<strong>als</strong> zuvor in der Geschichte eine Gesellschaft gegeben hat, die "so menschlich,<br />

so freiheitlich und so demokratisch war wie die Gesellschaft in den Ländern des<br />

realen Sozialismus. Dort hat das arbeitende Volk reale Freiheit und reale Demokratie<br />

... Von der realen Menschlichkeit können die Arbeiter in der Welt des Kapitalismus<br />

nur träumen."<br />

Wer zu den jährlich etwa 220 Auserwählten zählt, die zu Jahres-, Halb- und<br />

Vierteljahreslehrgängen an das "Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der<br />

KPdSU" nach Moskau geschickt werden, oder wer das "Franz-Mehring-Institut" der SED in<br />

Ostberlin (Parteischule für westdeutschen DKP-Funktionäre) besuchen darf, "der muss auch etwas<br />

in der Praxis geleistet haben," sagt Manfred Kapluck.<br />

Die Auswahl der priviligierten Kader trifft der engste Zirkel um Parteichef Herbert Mies.<br />

Bottrops DKP-Fraktionsvorsitzender Heinz Czymek: "Wir müssen uns doch vor Westagenten<br />

schützen." Wie schon zu KPD-Zeiten ist der Mies-Zirkel (das sogenannte Sekretariat des<br />

Vorstandes) "die operative politische und organisatorische Führung der Partei". Beim<br />

Entscheidungsprozess ziehen die Mies-Genossen streng geheime Fragebögen zu Rate, die<br />

Auskunft über die Intimsphäre der Kandidaten, über ihren beruflichen Werdegang und über ihre<br />

Charaktereigenschaften geben.<br />

Wer in der Partei Karriere machen will, muss auch in Ostberlin wohlgelitten sein. Denn<br />

die Westabteilung beim Zentralkomitee der SED unter Leitung von Professor Herbert Häber<br />

(1973-1985) trifft, so der DKP-Experte Hermann Weber an der Universität Mannheim, "sämtliche<br />

Vorentscheidungen , mit welchen Leuten die westdeutsche Parteihierarchie besetzt wird." (Am 11.<br />

Mai 2004 wurde Häber vom Landgericht Berlin wegen der Anstiftung zum dreifachen Mord<br />

schuldig gesprochen; mitverantwortlich für den Tod von drei an der früheren "Staatsgrenze"<br />

erschossenen Menschen). Bis 1989 war Herbert Häber Mitarbeiter bei der Akademie für<br />

Gsellschaftswissenschaften beim Politbüro des ZK der SED.<br />

Oft fahren SED- und Gewerkschaftsfunktionäre aus den sogenannten Patenbezirken der<br />

DDR uner Decknamen in die Bundesrepublik, um den DKP-Genossen bei der Verwirklichung des<br />

"realen Sozialismus" zu helfen. 1975 gingen etwa 1.400 Parteibürokraten auf West-Reise. Für<br />

Herbert Mies ist es freilich undenkbar, dass sich die DKP irgendwann von der Vormundschaft der<br />

SED befreit, um nach dem Vorbild der italienischen und französischen Genossen mit einem<br />

unabhängigen Kurs Wählerstimmen zu gewinnen. Mies: "Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr,<br />

<strong>als</strong> dass die Deutsche Kommunistische Partei für den Lohn bürgerlicher Salonfähigkeit auch nur<br />

ein Fußbreit abweicht von der Lehre von Marx, Engels und Lenin, von der große Idee des<br />

proletarischen Internationalismus." Vor dem italienischen Weg wird scharf gewarnt: "Derartige<br />

Nachgiebigkeit und Prinzipienlosigkeit duldet unsere Partei in ihren Reihen nicht."<br />

Die Nibelungen-Treue zu Ostberlin hat auch finanzielle Hintergründe. Jährlich greift die<br />

SED den westdeutschen Gesinnungsfreunden mindestens mit einer 30-Millionen-Mark-Spritze<br />

182


unter die Arme - so der Verfassungsschutzbericht für 1975. Mit der Summe, die über 20<br />

kommunistische Handelsunternehmen im westlichen Ausland in die Bundesrepublik geschleust<br />

wird, werden die hauptamtlichen Parteiangestellten gelöhnt. Von den 91 Mitgliedern im DKP-<br />

Vorstand verdient gut die Hälfte zwischen 1.700 und 2.500 Mark brutto. Kapluck: "Wir haben<br />

genügend Funktionäre für eine Millionen-Partei. Nur es fehlen uns die Millionen."<br />

Die DDR-Treue (Kapluck: "Honecker und Mies sind schon über 30 Jahre befreundet") ist<br />

für den DKP-Experten Professor Hermann Weber der Hauptgrund, "dass die DKP neben der KP<br />

Luxemburg eine Sekte ohne reelle Wahlchancen bleibt". Nur Herbert Mies verbreitet von Wahl zu<br />

Wahl Zweckoptimismus. 1972 erklärte er: "Es wird die Zeit kommen, da werden auch<br />

Kommunisten in den Parlamenten sitzen. Wir haben einen langen Atem." Vier Jahre später tröstet<br />

er seine Anhänger: "Die DKP wird bei der nächsten Bundestagswahl keinen starken Sprung nach<br />

vorn machen bei den Wählerstimmen (1972: 0,3 Prozent) machen." Aber 1980 sei es dann soweit.<br />

Doch manchmal scheint selbst Herbert Mies zu resignieren: "Bisweilen ist es schon trostlos. Da<br />

beißt sich einfach die Katze in den Schwanz". - Seither war die DKP auf Wahllisten für<br />

Bundestagswahlen nicht mehr gesehen.<br />

183


"ZUKUNFTSROMAN" EINES PUTSCHES IN<br />

DEUTSCHLAND<br />

Was Sie hier lesen, klingt wie ein Schauermärchen. Aber es kann morgen<br />

Wirklichkeit werden: Staatsstreich in Bonn und Zerstörung der demokratischen Freiheiten.<br />

Die Personen und Handlungen dieses "Zukunftsromans" sind zwar frei erfunden. Aber<br />

die kursiv zitierten Gesetzestexte und Gerichtsurteile, die dem autoritären Staat und seinen<br />

Handlangern den Weg ebnen, sind ebenso echt wie die Parallelen aus den letzten zwanzig<br />

Jahren. Und die regierenden Sozialdemokraten und Liberalen sind gemeinsam mit der<br />

CDU/CSU-Opposition gerade dabei, die Waffen des Rechtsstaates weiter zu schärfen. Auf<br />

Kosten der Freiheitsrechte des Bürgers.<br />

stern, Hamburg 16. Juni 1976<br />

Die Eilmeldung der Deutschen Presseagentur tickert um 9.40 Uhr über die Fernschreiber<br />

der Zeitungen und Rundfunkstationen: "Generaldirektor entführt / Aktion von Linksterroristen?"<br />

Es sind noch vierzehn Tage bis zur nächsten Bundestagswahl. Generaldirektor Kurt Becker von<br />

den Wolfsburger Motorenwerken (WM) war am frühen Morgen von vier vermummten Männern<br />

beim Verlassen seiner Dienstvilla in einen Lastwagen gezerrt worden. Einziger Augenzeuge: die<br />

Zeitungsbotin Gisela Gerhardt, die sich bei der Kripo nur daran erinnern kann, dass der Wagen<br />

"gelb wie ein Postauto" war. Von den Kidnappern und dem entführten Konzernherrn, der erst<br />

kürzlich in einer großen Anzeigenaktion für die CDU/CSU geworben hatte, fehlt seither jede Spur.<br />

Die Nachricht platzt in die heißeste Phase der Wahlschlacht. Der Führer der<br />

oppositionellen CDU, Joachim Pantzer, hatte dem regierenden sozialdemokratischen Kanzler<br />

Herbert Lenzinger gerade vorgeworfen, mit den Kommunisten in der DDR unter einer Decke zu<br />

stecken. Lenzinger habe sich bei einem Staatsbesuch in Polen insgeheim in der Grenzstadt Szczecin<br />

(Stettin) mit SED Parteichef Erich Honecker(*1912+1994) ) getroffen. Bei dieser Begegnung, an<br />

der auch Ministerpräsident Horst Sindermann(*1915+1996) teilgenommen habe, seien -angeblich<br />

im Interesse des ungestörten Zugangs nach Berlin -gemeinsame Maßnahmen gegen Fluchthelfer<br />

auf dem Transit-Autobahnen verabredet worden. Pantzer vor dem Bundestags: "Das ist Verrat an<br />

Deutschland und ein Beweis für das Zusammengehen von Sozialisten und Kommunisten."<br />

Die empörten Sozialdemokraten nannten Pantzer "eine ungemeine Dreckschleuder" und<br />

bezichtigten ihn, mit üblen, von Konrad Adenauer ( erster Bundeskanzler 1949-1963 - *1876<br />

+1967) kopierten Tricks zu arbeiten. Der hatte 1953 kurz vor der Bundestagswahl auf einer<br />

Frankfurter Parteiversammlung die SPD-Funktionäre Schroth und Scharley beschuldigt, "von der<br />

Ostzone Geld bekommen zu haben". Nach der Wahl, bei der die CDU/CSU 50,2 Prozent der<br />

Stimmen bekam, erwies sich der Vorwurf in einer Gerichtsverhandlung <strong>als</strong> unhaltbare Erfindung.<br />

Drei Tage nach der Entführung des WM-Generaldirektors: Die noch immer unentdeckten<br />

Kidnapper haben den beiden Fernsehstationen ihre Forderungen für die Freilassung Beckers<br />

zugesandt. Sie werden in den Abendnachrichten verlesen. "Erstens Schluss mit der Lohn-<br />

Ausbeutung im Zweigwerk Singapur; zweitens Schluss mit der Produktion von Rüstungsgütern;<br />

drittens: Freilassung aller politischer Gefangenen in der Bundesrepublik; viertens: Fünf Millionen<br />

Mark in kleinen Noten."<br />

Um den freien Abzug der Kidnapper zu garantieren, soll sich -nach dem Vorbild des<br />

Berliner Pfarrers Heinrich Albertz (*1915 +1993) bei der Entführung des Berliner CDU-Chefs<br />

184


Peter Lorenz (*1922+1987) im Februar 1975 - der Betriebsratsvorsitzende Werner Heintzel <strong>als</strong><br />

Geisel zur Verfügung stellen. Noch in der Nachrichtensendung erklärt Heintzel seine Bereitschaft.<br />

Der Verdacht, dass es sich um eine linke Terror-Aktion handelt, scheint jetzt bestätigt. Am<br />

nächsten Tag übergibt das Verfassungsschutzamt Hannover der WM-Unternehmensleitung eine<br />

Liste von Werksangehörigen, die Verbindung zu linksextremistischen Kreisen haben und früher<br />

einmal eine spontane Arbeitsniederlegung wegen mangelhaften Kantinenessens inszeniert hatten.<br />

Man müsse davon ausgehen, dass diese Arbeiter Kontakt zu den Entführern hätten.<br />

Rechtsgrundlage dieser Information: Nach Paragraf 6 des niedersächsischen<br />

Verfassungsschutzgesetzes, das 1976 nach dem Vorbild anderer Bundesländer erlassen wurde, kann<br />

die Schlapphut-Behörde ihre Erkenntnisse weitergeben, wenn "dies zum Schutze der freiheitlichen<br />

demokratischen Grundordnung erforderlich ist".<br />

Die auf der Liste aufgeführten Arbeiter werden fristlos entlassen. Fünf von ihnen werden<br />

von der Polizei abgeholt. Ein richterlicher Haftbefehl bringt sie hinter Gitter. Rechtsgrundlage:<br />

Paragraf 12 Strafprozessordnung (StPO), Abs. 3 in der Fassung von 1976, wonach jeder der der<br />

Unterstützung einer terroristischen Vereinigung dringend verdächtigt wird, ohne weiteres verhaftet<br />

werden kann. Der Hinweis von Forstmeister Wolf Riedel, der den gelben Transporter in einer<br />

Scheune in der Nähe des Tetzelsteins im Elm - 30 Kilometer südlich von Wolfsburg erspäht hat,<br />

bringt die Sicherheitsbehörden auf eine heiße Spur. Das Anwesen gehört dem 28jährigen Bodo<br />

Schneckenburg, laut Identifikationskartei des Bundeskriminalamtes früher Mitglied der NPD,<br />

vorbestraft wegen Einbruch und in Bonn einmal vorübergehend festgenommen, nachdem er vor<br />

der Ostberliner Mission die DDR-Fahne mit den Ruf "Spalter raus" zerrissen hatte. Nunmehr zählt<br />

er zu den Aktivisten der verbotenen "Wehrsportgruppe Hoffmann", bis ins Jahr 1980 die größte<br />

kriminelle Vereinigung westdeutscher Neo-Nazis. Von ihren 440 rechtsextremistischen Mitgliedern<br />

gingen zahlreiche Attentate wie Bombenanschläge aus.<br />

Das Gerücht, dass sich hinter der angeblich linken Terroraktion ultrarechte Gruppen<br />

verbergen, die nach dem Muster der Selbstentführung des Kölner Professors Bertold Rubin (*1911<br />

+1990) im Jahre 1971 die kommende Bundestagswahl beeinflussen wollen, lösen im WM-Werk<br />

spontane Streiks aus. Bekanntlich fälschte Rubin Drohbriefe und hielt sich mehrere Tage versteckt.<br />

Er wurde später wegen Vortäuschung einer Straftat zu sechs Monaten Haft ohne Bewährung<br />

verurteilt. Als sich die Staatsanwaltschaft dennoch weigert, die fünf immer noch verhafteten<br />

Kollegen auf freien Fuß zu setzen, kommt es zu ersten Krawallen. Arbeiter stecken das Reifenlager<br />

in Brand. In den Zweigwerken Emden, Hannover, Braunschweig und Kassel treten Teile der<br />

Belegschaft in Sympathiestreiks und fordern die ersatzlose Streichung des Paragrafen 6 des<br />

Verfassungsschutzgesetzes. Handzettel der "Roten Zelle WM" zirkulieren, auf denen ein "Stopp<br />

der militärischen Produktion" verlangt und die Landesregierung in Hannover <strong>als</strong> "faschistisch"<br />

attackiert wird.<br />

Der niedersächsiche CDU-Innenminister Pfau befürchtet, dass sich die Streiks wie ein<br />

Flächenbrand ausweiten und die Polizeikräfte des Landes bald nicht mehr Herr der Lage seien.<br />

Nachdem ihn der Verfassungsschutz gewarnt hatte, dass es zu weiteren Entführungen kommen<br />

könnte, fordert er unter Berufung auf Paragraf 9 Abs. I Ziffer 3 des Bundesgrenzschutzgesetzes<br />

von Bundesinnenminister May BGS-Truppen an: "Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den<br />

Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes" und zum "Schutz ziviler<br />

Objekte". Es sind noch acht Tage bis zur Wahl.<br />

Die 15.000 in Schützenpanzern und Mannschaftswagen ins Zonenrandgebiet angerückten<br />

BGS-Männer lösen in der DDR eine Teilmobilmachung der Nationalen Volksarmee aus.<br />

185


Schlagzeile am nächsten Morgen im westdeutschen Millionenblatt "Zeitung": "Die Russen<br />

kommen." Derweil bricht in Bonn Hektik aus. SPD-Kanzler Lenzinger ruft den Krisenstab<br />

zusammen. CSU-Vorsitzender Miesbach sagt: "Der Notstandsfall ist da." Generalinspekteur<br />

Schützer erklärt, er könne für die Sicherheit der Bundesrepublik nur dann die Verantwortung<br />

übernehmen, wenn ihm außerordentliche Befugnisse eingeräumt werden. Nach einer Sitzung der<br />

SPD-Fraktion, auf der der Kanzler freie Hand erhält, entschuldigt sich der linke Abgeordnete<br />

Schlachtmann vor Journalisten: "Sie müssen doch den politischen Druck sehen, unter dem wir<br />

stehen."<br />

Noch am selben Abend beschließt der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit den<br />

Spannungsfall (Art. 80a, Abs. 1 Grundgsetz). Damit wird nach Art. 87a Abs. 3 GG der Einsatz der<br />

500.000 Bundeswehrsoldaten im Innern der Republik möglich. Die Ereignisse überschlagen sich:<br />

Entsetzt über die Notstandsmaßnahmen der sozial-liberalen Regierung Lenzinger spaltet sich der<br />

linke SPD-Parteiflügel (Ex-Juso-Chef Wolfgang Schwarz: "Diese Todsünde soll uns historisch<br />

nicht belasten") von der Mutterpartei. Schon werden junge Lehrer und Arbeitsrichter, die sich der<br />

neuen Unabhängigen SPD (USPD-Die Linke) anschließen, mit Disziplinarverfahren belegt und<br />

vorläufig des Dienstes enthoben.<br />

Begründet wird dies mit der Behauptung, die USPD-Die Linke verfolge<br />

verfassungsfeindliche Ziele. Vergebens berufen sich die Betroffenen darauf, dass nur das<br />

Bundesverfassungsgericht (BVerG) für eine solche Feststellung kompetent sei. Ihnen wird ein<br />

Beschluss des BVerG vom 22. Mai 1975 entgegengehalten, wonach dieses "Parteien-Privileg" nicht<br />

gelte, wenn es um die Beurteilung der Verfassungstreue eines Beamten durch den Dienstherrn geht.<br />

Zugleich erinnert das niedersächsiche Innenministerium in einer „Information für die<br />

Presse“ an dieRechtssprechung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz. Die Richter hätten in einem<br />

Urteil zum Radikalen-Erlass am 29. August 1973 festgestellt: "Schon eine Neutralität gegenüber der<br />

freiheitlichdemokratischen Grundordnung ist ein Eignungsmangel ... ... Deshalb muss der<br />

öffentliche Dienst ständig und ausnahmslos von Personen freigehalten werden, die der<br />

Grundordnung ablehnend oder gleichgültig gegenüberstehen."<br />

In Niedersachsen bezeichnet CDU-Innenminister Pfau die USPD sogar <strong>als</strong><br />

"verfassungswidrig", ohne dass sich die neue Partei dagegen wehren kann. Denn in einem Urteil<br />

vom 29. Oktober 1975 hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden: "Es ist<br />

verfassungsrechtlich legitim, wenn die obersten Verfassungsorgane versuchen, eine Partei. die sie<br />

für verfassungswidrig halten, durch eine mit Argumenten geführte politische Auseinandersetzung<br />

in die Schranken (zu) verweisen."<br />

Im Schnellverfahren beschließt das Bonner Parlament gegen die Stimmen der USPD-<br />

Abgeordneten ein Ausführungsgesetz zum Grundgesetz-Artikel 11, das die Freizügigkeit der<br />

Bundesbürger zeitweilig einschränkt. Die Regierung will damit verhindern, dass sich<br />

Demonstrationszüge vom Ruhrgebiet aus nach Wolfsburg in Marsch setzen. Ferner ordnet die<br />

Bundesregierung auf Grund des Arbeitssicherstellungsgesetzes von 1968 (das zum Notstandspaket<br />

gehört) die Dienstverpflichtung sämtlicher Bus-und Lkw-Fahrer für die Dauer des<br />

Spannungszustandes an.<br />

Das Versteck der mutmaßlichen Terroristen im Elm ist seit 48 Stunden von<br />

Präzisionsschützen aus BGS und SEKs der Polizei umstellt. Seit 24 Stunden ist<br />

Betriebsratsvorsitzender Heintzel <strong>als</strong> Geisel bei den Entführern gefangen. Die Insassen des Hauses,<br />

die sich auf ihren Abflug nach Spanien vorbereiten, wissen nicht, dass Bundesminister May und<br />

186


sein Länderkollege Pfau den nach dem Polizeigesetz von 1976 möglichen Todesschuss längst<br />

befohlen haben.<br />

Drei Soldaten, die daraufhin den Gehorsam verweigerten, müssen sich von ihrem<br />

Kommandeur Sätze aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vorhalten lassen, das am 18.<br />

Februar 1970 gegen einen aufmüpfigen Soldaten entschieden hatte: "Mit seiner Aufforderung, den<br />

Befehl zur Ausbildung im Straßenkampf u verweigern, hat der Beschwerdeführer seine<br />

Dienstverpflichtung verletzt. Solche Umtriebe können in einem Gemeinwesen, das sich auf das<br />

Prinzip der streitbaren Demokratie gründet, nicht hingenommen werden."<br />

In den frühen Morgenstunden des darauffolgenden Tages verlassen fünf Mann das<br />

Bauernhaus. Drei haben Seidenstrümpfe über den Kopf gezogen, zwei tragen nur dunkle<br />

Sonnenbrillen. Sofort nehmen die Scharfschützen die drei Maskierten unter Feuer. Die Männer mit<br />

den Sonnenbrillen reißen die Arme hoch. Als die Beamten zum Tatort rasen, stellen sie fest, dass<br />

sie auf einen Trick hereingefallen sind. Die blutüberströmt am Boden liegenden Männer mit den<br />

Strumpfmasken sind WM-Chef Kurt Becker, Geisel Heintzel und einer der Terroristen.<br />

Bluttransfusionen retteten den WM-Chef, Heintzel und der eine Terrorist sterben auf dem Weg ins<br />

Krankenhaus.<br />

Das dilettantische Vorgehen der Polizei putscht die Erregung der Arbeiterschaft hoch,<br />

Warnstreiks greifen jetzt auf den gesamten Bereich der Metallindustrie über. Der liberale Fernseh-<br />

Kommentator Heinrich Trappel fragt: "Wer profitiert von diesem Durcheinander am Wahltag? Die<br />

Sehnsucht nach dem 'starken Mann' wächst." Indes: Die Gewerkschaftsführung der IG-Metall, die<br />

sich bisher zurückgehalten hatte, sieht sich nun im Zugzwang. Gewerkschaftsboss Ludwig Florian<br />

und seine Vorstandskollegen wollen nach Wolfsburg fahren, um dort "ungebrochene Solidarität"<br />

mit den Streikenden zu demonstrieren. Es dauerte Stunden um Stunden, bis sich die Herren<br />

Funktionäre aus ihren Sesseln im 18. Stock des Gewerkschafts-Wolkenkratzers in Frankfurt am<br />

Main. erheben. Der Grund: Zur "Beruhigung der Gemüter" hatte vorsorglich der Chefredakteur<br />

des IG-Metall-Zeitung, Jürgen Mechelhoff, ("Ich kenne meine Pappenheimer") aus dem<br />

benachbarten Hotel 'Intercontinental' Lachs- und Kaviarschnittchen bestellt, Frühstücks-Sekt<br />

gleich kübelweise ankarren lassen. Um die Öffentlichkeit über das Vorgehen der größten<br />

Einzelgewerkschaft der Welt mit ihren 2,6 Millionen Mitgliedern zu informieren, soll vorab das<br />

Nachrichtenmagazin Der Spiegel informiert werden, <strong>als</strong> meinungsmachendes Profil-Blatt<br />

Deutschlands in diesen Jahren sozusagen.<br />

Im Luxushotel "Frankfurter Hof" (Zimmerpreis ohne Frühstück 245 Mark pro Tag)<br />

wartet deshalb schon vorsorglich Wirtschaftsredakteur Stephan Burgdorff - ausgestattet mit Flanell,<br />

Kaschmir samt Rolex-Armbanduhr - mittlerweile die dritte Nacht auf "real dates and facts" der<br />

Arbeiterführer, wie das da so heißt im neudeutschen Journalisten-Slang. Er ist eigens mit der<br />

Lufthansa aus Hamburg eingeflogen, und jagt sodann mit einem Avis-rent-a-car BMW 2000 GTI<br />

über die Autobahnen an die Wolfsburger Arbeiter-Werkstore. Dort lässt es sich Spiegel-Redakteur<br />

Burgdorff - couragiert wie er ist - dann doch nicht nehmen, Bekannte per Handschlag zu begrüßen,<br />

"ach, siehe da, der Kollege Peters. Wie geht's denn so. Sieht ja nicht so gut aus", lispelt er sich an<br />

die übermüdeten Arbeiter heran. Recherchen-Reise. Kern seiner Spiegel-Geschichte: "Bei einer<br />

Flasche Dome Pérignon kamen sie zur Sache."<br />

Derweil kontern die Metall-Arbeitgeber mit einer totalen Aussperrung aller Streikenden.<br />

Florian will in seiner Eigenschaft <strong>als</strong> stellvertretender WA-Aufsichtsratsvorsitzender das<br />

Werksgelände betreten (Florian: "Die Aussperrung ist ein Relikt aus der Steinzeit"), wird aber durch<br />

die BGS-Posten mit Gewalt daran gehindert. Tausende aufgebrachter Arbeiter, die vor dem<br />

187


Werkstoren warten, erzwingen sich und Florian jetzt gewaltsamen Zugang zum Werk. In einem<br />

Telefon-Interview, das sich neuerdings "live-Schaltung" nennt, mit den Dritten Programm des<br />

Norddeutschen Rundfunks erklärt der niedersächsische CDU-Innenminister Pfau nach einem<br />

eindeutigen Urteil des Bundesgerichtshof vom 12. Februar 1975 sei die Gewerkschaftsführung<br />

durch die Werksbesetzung, bei der sie gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei riskierte,<br />

zu einer "kriminellen Vereinigung" geworden.<br />

Nach einer Beratung des Landeskabinetts geht Pfau noch einen Schritt weiter. Die<br />

Ausschreitungen in Wolfsburg, so erklärt der Minister, hätten gezeigt, dass es Tote geben könne.<br />

Damit seien der Vorstand der IG-Metall und die sonstigen Werksbesetzer eine terroristische<br />

Vereinigung nach Paragraf 129a des Strafgesetzbuches. Noch am selben Abend werden die<br />

Vorstandsmitglieder <strong>als</strong> Rädelsführer und sympathisierende Demonstranten auf Grund dieses 1976<br />

ins Strafgesetzbuch eingefügten Paragrafen verhaftet.<br />

Als die Nazis die Kommunisten holten,<br />

habe ich geschwiegen;<br />

ich war ja kein Kommunist.<br />

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,<br />

habe ich geschwiegen;<br />

ich war ja kein Sozialdemokrat,<br />

Als sie die Katholiken holten,<br />

habe ich nicht protestiert;<br />

ich war ja kein Katholik.<br />

Als sie mich holten, gab es keinen mehr,<br />

der protestieren konnte.<br />

Der Kommentator der "Hannoverschen Morgenpost", der deutsche Pulitzer-Preisträger<br />

of Journalism Adalbert Kröncke, wird im beschleunigten Verfahren (Paragraf 212 StPO) nach dem<br />

neuen Paragrafen 88a StGB wegen Befürwortung von Gewalt verurteilt. Er hatte aus New York<br />

herbeigeeilt eine Schrift der Evangelischen Kirche zitiert (" ... ... auch aus dem Blickwinkel<br />

christlichen Sozialethik kann die Anwendung von Gewalt ausnahmsweise vertretbar sein ...") und<br />

die Frage gestellt , ob die Vorgänge in Wolfsburg nicht einen solchen Verlauf nehmen könnten,<br />

dass eine derartige Ausnahmesituation denkbar sei.<br />

Zwei besonders eifrige Polizisten in Hameln führen sogar einen Gastwirt in Handschellen<br />

ab, weil er es versäumte, die Einsatzzentrale anzufen, <strong>als</strong> ein Gast in seinem Lokal Unterschriften<br />

für eine Solidaritätserklärung mit den Werksbesetzern sammelte und sich damit nach Paragraf 129 a<br />

in Verbindung mit Paragraf 138 Strafgesetzbuch in der Fassung von 1974 strafbar machte.<br />

Die Inhaftierung der IG-Metall-Führung beantwortete der DGB mit dem Gener<strong>als</strong>treik.<br />

Die Bundeswehr marschiert in einige Werke ein, um die Versorgung der Bevölkerung<br />

aufrechtzuerhalten - gestützt auf Art. 87a. Abs. 3 GG (Schutz ziviler Objekte). Als es daraufhin in<br />

den sozialdemokratisch regierten Ländern Hessen und Nordrhein-Westfalen zu blutigen<br />

Zusammenstößen zwischen Arbeitern und Soldaten kommt, fordert die Generalität die<br />

Bundesregierung auf, entsprechend Artikel 3 Grundgesetz beim Bundesrat dwn "Bundeszwang"<br />

für die beiden Bundesländer zu beantragen. Ziel ist es, dioe offenkundig unfähigen<br />

Landesregierungen ihrer Amtsbefugnisse zu entheben und zentral gesteuerte Gegenmaßnahmen zu<br />

ermöglichen.<br />

188


Die Inspekteure der drei Waffengattungen erklären jetzt unter Berufung auf das im Artikel<br />

20, Absatz 4 GG für alle Deutschen garantierte Widerstandsrecht, dass der Bundeskanzler seiner<br />

Amtsbefugnisse enthoben sei und dass sie zum Zwecke der Wiederherstellung der<br />

verfassungsmäßigen Ordnung die oberste Befehlsgewalt ausüben. Widerstand werde mit allen<br />

Mitteln gebrochen. Sie verweisen darauf, dass schon bei den Beratungen des Art. 20, Abs. 4 im<br />

Jahre 1968 klargestellt worden sei, dass es auch ein "Widerstandsrecht von oben" gebe, wenn dies<br />

"das letzte verbleibende Mittel zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechts ist".<br />

Die Bundeswehr versucht, durch "Notverordnungen" -so ein Ausgeh-Verbot zwischen 19<br />

Uhr abends und 7 Uhr morgens -Herr der Lage zu werden. Ein Drittel der<br />

Bundestagsabgeordneten ruft jetzt das Bundesverfassungsgericht an, um die Gesetzeswidrigkeit<br />

dieser Maßnahme festzustellen. Bevor es jedoch zu einem Urteilsspruch kommt, schließt der II.<br />

Senat zwei seiner liberalen Mitglieder aus. Begründung: Sie hätten schon in früheren Schriften<br />

gegen den Begriff der "streitbaren Demokratie" Stellung bezogen md müssten deshalb <strong>als</strong><br />

"befangen" gelten. Das Gericht verhält sich genauso wie schon am 16. Juni 1973. Dam<strong>als</strong> hatte der<br />

II. Senat beim Verfahren über den Grundlagenvertrag mit der DDR auf Antrag Bayerns den<br />

Verfassungsrichter Dr. Joachim Rottmann (1971-1983) <strong>als</strong> befangenen ausgeschlossen.<br />

Begründung: Rottmann habe schon früher erklärt, dass das ehemalige Deutsche Reich nicht mehr<br />

fortbestehe und durch zwei deutsche Staaten abgelöst worden sei.<br />

Im Urteilsspruch räumt das "gesäuberte" Verfassungsgericht dann zwar ein, dass die<br />

Proklamation der drei Bundeswehr-Inspekteure und die Notverordnungen mit den Bestimmungen<br />

des Grundgesetzes nicht in Einklang stehen. Doch dann greifen die Richter in der roten Robe auf<br />

die Rechtssprechung im sogenannten Abhörurteil vom 15.12.1970 zurück. Dam<strong>als</strong> schon seien<br />

"systemimmanente Modifikationen" auch unumstößllicher Verfassungsprinzipien im Rahmen des<br />

tragenden und allgemeinen Verfassungsprinzips der streitbaren Demokratie für gerechtfertigt<br />

erklärt worden.<br />

Zugleich bescheinigt das Gericht mit einem Zitat aus dem KPD-Verbotsurteil vom Jahre<br />

1956 den Militärs die Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens: "Ein Widerstandsrecht gegen einzelne<br />

Rechtswidrigkeiten kann es nur im konservierenden Sinne geben, das heißt <strong>als</strong> Notrecht zur<br />

Bewahrung oder Wiederherstellung der Rechtsordnung." Das Urteil wird im Bundesgesetzblatt<br />

verkündit und erhält damit Gesetzeskraft. Es ist für alle Gerichte und Behörden bindend. Damit ist<br />

der autoritäre Verfassungsstaat "legal" installiert.<br />

189


AUFRÜSTUNG GEGEN DIE FREIHEIT<br />

Kämpfer für Recht und Ordnung bringen den deutschen Rechtsstaat immer mehr<br />

in Gefahr. Politiker wollen schärferes Strafrecht, Radikalen-Erlass und Todesschuss für die<br />

Polizei. Im Namen der Freiheit schränken Parteien und deutsche Richter Grundrechte des<br />

Bürgers immer ein. Was der Sicherheit hinzugefügt wird, geht der Freiheit ab. -<br />

Grundlagen für einen autoritären Über-wachungsstaat und seinen Handlangern sind<br />

längst gelegt. Spiel mit dem Feuer. "Liberty dies by inches - Freiheit stirbt<br />

zentimeterweise."<br />

stern, Hamburg vom 10. Juni 1976 2<br />

190<br />

Das alles geschieht in diesen Tagen:<br />

Das Belgische Fernsehen vergleicht die Bundesrepublik mit den totalitären Staaten Chile,<br />

Spanien, dem Iran und zieht Parallelen zwischen der deutschen Wirklich-keit 1976 und dem Beginn<br />

der Hitlerzeit im Jahre 1933.<br />

Die CDU wirbt: >Freiheit statt Sozialismus.<<br />

Der französische Sozialistenführer François Mitterrand (*1916 +1996) gibt den deutschen<br />

Genossen den "freundschaftlichen, aber ernsten Rat", den Radikalen-Erlass, den er ein<br />

Berufsverbot nennt, schleunigst abzuschaffen.<br />

Die SPD wirbt: > Freiheit durch sozialen Fortschritt.<<br />

Die konservative Londoner "Times" schreibt: "Gefährlicher Rechtsruck in Deutschland."<br />

Die Schweizer "Tribüne de Genève fragt, "ob der Staat, der auf den Ruinen des Nazismus errichtet<br />

wurde, grundlegende demokratische Prinzipien aufgeben wird?"<br />

Die FDP wirbt: Freiheit, Fortschritt, Leistung.<br />

Nie zuvor wurde in Deutschland soviel von Freiheit geredet wie heutzutage: SPD-Kanzler<br />

Helmut Schmidt (1974-1982): "Wann jem<strong>als</strong> vorher auf Boden, ist so viel persönliche Freiheit und<br />

so viel Toleranz verwirklicht worden?" Hessens CDU-Chef Alfred Dregger (*1920+2002) : "Unser<br />

Land ist eines der freiheitlichsten der Welt."<br />

Wer hat nun recht, die Warner im Ausland - wohl-gemerkt im Westen, nicht im Osten -<br />

oder die Freiheitsbeschwörer im Inland? Auf den ersten Blick scheint die Antwort festzustehen.<br />

Das Grundgesetz verbürgt mehr Freiheitsrechte <strong>als</strong> je eine deutsche Verfassung zuvor. Doch hält<br />

die Praxis, was die Theorie verspricht?<br />

So sieht die bundesdeutsche Wirklichkeit aus:<br />

In Ellwangen fordert ein Landgerichtspräsident, einst <strong>als</strong> Jude selbst verfolgt, dazu auf,<br />

dem kritischen Nachwuchs "mit seinem Geschichtsbewusstsein, das dem von Fellachen<br />

entspricht", den Weg in die Justiz zu ver-stellen.<br />

Beim Oberschulamt in Freiburg kann eine junge Lehramts-Anwärterin gegen sie<br />

vorgebrachtes Material des Verfassungsschutzes durch den Nachweis entkräften, dass ihre frühere<br />

Autorenschaft bei der Schülerzeitung "Roter Turm" politisch unverdächtig sei: Der Titel des<br />

2 Mit Peter Koch


Blattes habe sich auf einen rot angestrichenen Gebäudeteil ihres Gymnasiums bezogen. In Hessen<br />

müht sich die Lehrerin Silvia Gingold, deren Eltern 1933 <strong>als</strong> Juden aus Deutschland fliehen<br />

mussten, noch immer vergebens um Übernahme in das Beamten-verhältnis, weil sie Mitglied der<br />

nicht verbotenen DKP ist.<br />

Zur gleichen Zeit wird bei einem SS-Treffen in einem Sonthofener Soldatenheim 31 Jahre<br />

nach Hitler ein Ritterkreuz verliehen; bezeichnet das Verfassungs-schutzamt Hannover amnesty<br />

international, die Organisation zur Betreuung politischer Gefangener, im Gestapo-Jargon <strong>als</strong><br />

"staatsabträglich": fordert in Wiesbaden der CDU-Landtagsabgeordnete Manfred Kanther<br />

(Bundesminister des Inneren 1993-1998) die Bestrafung von Lehrern, die das Buch "Die<br />

Verrohung des Franz Blum" auf den Unterrichtsplan gesetzt und über den unmenschlichen<br />

Strafvollzug diskutiert hatten; kann das "Deutschland-Magazin" des ultrarechten Publizisten Kurt<br />

Ziesel ungestraft ein Titelblatt mit Böll, Grass, Rudolf Augstein sowie den Professoren Alxander<br />

Mitscherlich, Helmut Gollwitzer, Peter Brückner und Jürgen Seifert drucken mit dem Untertitel:<br />

"Die geistigen Bombenwerfer".<br />

So gerät die westdeutsche Szene zum Tribunal gegen die Freiheit unter die Augen der<br />

Öffentlichkeit, doch von ihr nahezu unbemerkt. Sie registriert Übergriffe allenfalls <strong>als</strong> vereinzelte<br />

Betriebsunfälle - ihr fehlt der Überblick, um das Dominospiel zu erkennen, das aus einem<br />

Verfassungsstaat mit freiheitlicher Grundordnung eine autoritäre Staatsverfassung macht. Die<br />

einzelnen Dominosteine sind<br />

• Gesetze, die Polizei und Verfassungsschutz mehr Macht <strong>als</strong> je zuvor geben und den<br />

Schutz des Bürgers bei Strafverfahren gegen Justizwillkür abbauen;<br />

• der Radikalenerlass und die damit verbundene Gesinnungsschnüffelei bei Bewerbern<br />

für den öffentlichen Dienst;<br />

• die Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Verfassungsgericht, die seit Jahren<br />

unter der Parole "streitbare Demokratie" die Staatsgewalt auf Kosten der<br />

Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers ausdehnen.<br />

Dabei schien vor nicht einmal zehn Jahren die Bundesrepublik auf dem Weg einer der<br />

liber<strong>als</strong>ten westlichen Staaten zu werden. Hand in Hand gingen gesellschaflicher Erneuerungswille<br />

(Willy Brandt 1969: "Wir wollen mehr Demokratie wagen") und von rechtsstaatlicher Sensibilität<br />

und Verantwortungs-bewusstsein geprägte Reformen im Justizbereich.<br />

Mit einer Entschärfung des Demonstrationsrechts -der Landfriedensbruch-Paragraf wurde<br />

auf diejenigen beschränkt, die sich an Gewalttätigkeiten beteiligten, während bis dahin auch bloße<br />

Mitläufer strafbar waren - bewahrte der Staat Tausende vor dem Kadi: junge Menschen, die Mitte<br />

der 60er Jahre an den Studenten-demonstrationen gegen das verknöcherte Establishment und<br />

alteingefahrene Tradition an den Hochschulen ("Unter den Talaren - der Muff von 1000 Jahren")<br />

teilgenommen hatten.<br />

Das Haftrecht, das zu oft Menschen unnötig hinter Gitter brachte, wurde entschärft.<br />

Fortan genügte nicht mehr der bloße Verdacht auf Verdunkelung oder Flucht. Jetzt musste der<br />

Verdacht durch konkrete Tatsachen erhärtet werden.<br />

Selbst an äußeren Merkmalen war abzulesen, dass der Staat nicht mehr Macht<br />

demonstrieren wollte, <strong>als</strong> unbedingt nötig war. Polizisten verbargen ihre bislang im Halfter offen<br />

getragenen 7,65-Millimeter-Pistolen unterm Dienstjackett.<br />

191


Kennzeichnend für die politische Aufgeschlossenheit dieser Jahre war die Bereitschaft der<br />

Parteien, die zuerst von der Jugend artikulierten Forderungen in ihre Programme aufzunehmen.<br />

Nicht nur SPD und FDP, selbst CDU und sogar CSU waren gezwungen, über Bildungspolitik,<br />

Mitbestimmung, Vermögensverteilung und Bodenrecht nachzudenken.<br />

Doch schneller und heftiger <strong>als</strong> erwartet kam der Umschwung. Den Konservativen der<br />

Republik war die Reformbewegung schon immer suspekt gewesen (Rainer Barzel (*1924+2006) :<br />

"Dieses Land ist nicht in Ordnung"). Sie hatten die kleine Strafprozessreform gleich <strong>als</strong><br />

"Verbrecherschutzgesetz" verächtlich gemacht. Franz Josef Strauß (*1915+1988) verdächtigte<br />

SPD-Chef Willy Brandt (*1913+1992) gar, das Demon-strationsrecht nur deshalb reformiert zu<br />

haben, um seinen bei einer Kundgebung in Berlin vorübergehend festgenommenen Sohn Peter<br />

vorm Gefängnis zu bewahren.<br />

Eine Reihe widriger äußerer Umstände begünstigte das Klima für die Gegenreformation:<br />

Ölkrise, Wirtschaftstief, ein Millionenheer von Arbeitslosen, Jugendliche ohne Job und<br />

Studienplatz weckten Angst und Unsicherheit. Der "allgemeine Widerwille, der einen liberalen<br />

Rechtsstaat zu begleiten pflegt" (Gustav Heinemann *1899+1976) verband sich mit einer offiziell<br />

mitgetragenen Reformresignation. (Helmut Schmidt: "Dies ist die Zeit der Kontinuität und<br />

Konzentration").<br />

Wertvollster Helfer der Reaktion aber waren die Terroristen. Die Bombenanschläge auf<br />

Springer-Redak-tionen und US-Soldaten, Polizistenmord, Bankraub, der Mord an dem Berliner<br />

Kammergerichts-präsidenten Günter von Drenkmann (*1910 +1974), das Kidnapping des Berliner<br />

CDU-Chefs Peter Lorenz (*1922+1987), der Anschlag auf die Botschaft in Stockholm und die<br />

neuen Attentate in Frankfurt und Hamburg verstärken die Sehnsucht nach einem allmächtigen<br />

Staat, von dem sich der verunsicherte Bürger Schutz erhofft. Die unheilige Allianz zwischen linker<br />

Anarcho-Szene und rechtem Konservativismus erschreckt besonnene Beobachter. SPD-MdB<br />

Dieter Lattmann (MdB 1972-1980) , lange Jahre Vor-sitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller:<br />

"Dass das Pendel einmal zurückschlagen würde, war zu er-warten. Dass es ein solcher<br />

Keulenschlag ist, macht mir angst."<br />

Mit am Keulengriff: die in Bonn regierenden Sozial-demokraten und die bislang auf ihr<br />

liberales Rechts-staatsbewusstsein pochenden Freidemokraten. Die SPD, dank ihrer<br />

geschichtlichen Erfahrungen - Sozialisten-gesetz unter Bismarck und Verfolgung unter Hitler -<br />

eigentlich dazu aufgerufen, der Exekutive keine Über-macht einzuräumen, stand wieder einmal<br />

unter Bekenntnisdruck. Ähnlich wie während des Ersten Weltkrieges im Kaiserreich, <strong>als</strong> die<br />

Sozialdemokraten die Kriegskredite bewilligten (Fraktionsführer David 1915: "In der Stunde der<br />

Not zeigt sich, dass Deutschlands ärmster Sohn auch sein getreuester ist"), wollen die ständig von<br />

der CDU/CSU diffamierten SPD-Führer in der Bundesrepublik zeigen, dass auch sie "anständige<br />

Deutsche" sind. Sie wollen beweisen, dass sie trotz ihrer Ostpolitik keine "Aufweichung" im<br />

Inneren der Bundes-republik duldeten. Und sie wollten sich gegen Franz Josef Strauß behaupten,<br />

der seine konservative Truppe mit der Propaganda-Parole mobil machte: "Wir müssen sagen: Die<br />

SPD und FDP überlassen diesen Staat Kriminellen und politischen Gangstern."<br />

Dieses Rezept wurde von den Rechten begierig aufgegriffen. Alfred Dregger: "Die<br />

Politgangster gedeihen unter einer Käseglocke regierungsamtlicher Verniedlichung, staatlich<br />

geduldeter Schmähung unseres Systems an den Schulen und Hochschulen, nachlassender<br />

Abwehrbereitschaft demokratischer Parteien gegen linksextreme Einflüsse." Helmut Kohl: "Wir<br />

brauchen eine starke Regierung, die Mut hat und handelt." CSU-MdB Carl-Dieter Spranger: "Die<br />

Überbetonung staatlicher Toleranz und f<strong>als</strong>ch verstandene Liberalisierung haben Gewalt,<br />

192


Kriminalität, Brutalität und Terrorismus gefördert." Generalbundesanwalt Siegfried Buback (*1930<br />

+1977): "Es ist kein Wunder, dass der Terrorismus begann, <strong>als</strong> die politische Führung den Einfluss<br />

des Staates erheblich einschränkte."<br />

Unter diesem Trommelfeuer gedieh das Thema Sicherheitspolitik zum Schwerpunkt<br />

sozialdemokratischer Regierungsarbeit. Seit Herbst 1969 wurden 52 Gesetze zur "Inneren<br />

Sicherheit" beschlossen. Vor soviel teutonischem Perfektionismus sorgte sich der Sorbonne-<br />

Professor Alfred Grosser, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels: "Es scheint mir,<br />

dass in der Bundesrepublik immer mehr von der Verteidigung der Grundordnung durch den Staat<br />

die Rede sei und immer weniger von der Verteidigung der Grundrechte gegen den Staat."<br />

Sein Landsmann François Mitterrand gründete sogar schon ein "Komitee zur<br />

Verteidigung der bürgerlichen und beruflichen Rechte in der Bundesrepublik Deutschland" - ein<br />

überzogener Schritt, auf den alle Bonner Parteien beleidigt reagierten und der eine ernsthafte<br />

Diskussion des Rechtsrucks in Deutschland erschwert.<br />

Den entscheidenden Schritt hatte noch Willy Brandt getan. Gemeinsam mit den<br />

Ministerpräsidenten der Länder entwarf der erste SPD-Kanzler im Januar 1972 den Radikalen-<br />

Erlass. Bald war aus der Absicht, Ver-fassungsfeinden den Zugang zum öffentlichen Dienst zu<br />

versperren, eine totale Gesinnungsschnüffelei geworden mit dem Zweck, politisch<br />

Andersdenkende einzuschüchtern.<br />

Ausgerechnet die Generation, die in der NS-Diktatur groß geworden war, spionierte die<br />

erste unbelastete Nachkriegsgeneration aus. Die Bilanz bundesdeutscher Hexenjagd: 500.000<br />

Bewerber wurden bis heute durch die Verfassungsschutzämter überprüft, 450 abgelehnt.<br />

Leidtragende sind nicht nur die Abgelehnten, sondern auch diejenigen, denen nach einer<br />

Überprüfung be-scheinigt wird: keine Bedenken. Denn die Tatsache, dass eine Überprüfung<br />

stattgefunden hat, läuft fortan in den Personalakten mit. Der stets in die Öffentlichkeit drängende<br />

Staatsrechtsprofessor Hans-Peter Schneider (Hannover) über die Folgen: "Bei jeder Beförderung<br />

wird dann gesagt: 'Da war doch mal was. Lieber den nicht, das ist uns zu riskant. ' "<br />

Die Auflage, Verfahren nur auf "gerichtsverwertbare Tatsachen" und nicht auf anonyme<br />

Beschuldigungen zu stützen, wird dabei mit einem Trick unterlaufen. Anonyme Beschuldigungen<br />

werden dem Befragten vorge-halten, und wenn jener - in Unkenntnis ihrer Herkunft und der<br />

Ausforschungsabsicht -antwortet: "Ja, das trifft zu", sind sie automatisch "gerichtsverwertbar". So<br />

munitionierte der Berliner SPD-Innensenator Kurt Neubauer seinen niedersächsischen FDP-<br />

Amtskollegen Rötger Groß (*1933+2004) für das Verfahren gegen den renommierten Politik-<br />

Wissenschaftler Wolf-Dieter Narr mit einem Schreiben voller Denunziationen, hinter denen der<br />

Vermerk stand: "nicht direkt verwertbar". Narr konnte die Vorwürfe widerlegen, berufen wurde er<br />

trotzdem nicht.<br />

Weil Verwaltungsvorschriften nicht allgemeingültiges Recht sind, sondern<br />

behördeninterne Interpretationen des bestehenden Beamtenrechts, bestimmt die Bürokratie, von<br />

niemandem nachkontrollierbar, allein darüber, wer wenn Verfassungsfeind ist. Professor Schneider:<br />

"Dies führt dazu, dass die Exekutive auch Parteien, die nicht verboten sind und gegen die nicht<br />

einmal ein Verbotsantrag vorliegt, <strong>als</strong> verfassungs-feindlich bezeichnen kann."<br />

Schon längst ist das amtliche Aussieben zur Berufsverbotspraktik ausgeweitet worden.<br />

Das spektakulärste Beispiel ist der Nürnberger Oberlokomotivführer Rudi Röder, den die<br />

Bundesbahn wegen seiner Mitgliedschaft in der DKP entlassen will. Der 29jährige Röder ("Was hat<br />

193


denn das Lokfahren mit der Politik zu tun?") wurde ungewollt zum Fernsehstar im westlichen<br />

Ausland. Seither gehört das deutsche Wort "Berufsverbot" genauso wie "Kindergarten" oder<br />

"Ostpolitik" zum internationalen Sprachgebrauch. Auch der Bundes-präsident Walter Scheel (1974-<br />

1979) vermerkte "mit Sorge, dass der Radikalenerlass zu rigoros gehandhabt wird".<br />

Die Angst vorm Berufsverbot macht die jungen Studenten an den Universitäten zu<br />

angepassten Duckmäusern. Aus Sorge um den künftigen Arbeitsplatz bitten sie bei Seminararbeiten<br />

um unpolitische Themen. Der Gießener Politologe Professor Heinz Josef Varain berichtet, dass auf<br />

ausdrücklichen Wunsch der Studenten vervielfältigte Referate ohne Namen des Verfassers verteilt<br />

wurden - ausgerechnet bei dem Thema "Die bürgerlichen Freiheitsbewegungen gegen die<br />

Restauration Mitte des 19. Jahrhunderts". Das neue Hochschul-Ordnungsrecht gibt zudem den<br />

Rektoren die Möglichkeit, Studenten, die durch Demonstrationen oder Sit-ins den Lehrablauf auf<br />

dem Campus oder im Hörsaal stören, disziplinarisch zu bestrafen: vom Hausverbot bis zum<br />

Rausschmiss aus der Uni.<br />

Die westdeutsche Restauration schlug sich vor allem in der Verschärfung des erst vor<br />

wenigen Jahren liberalisierten Strafrechts und Strafverfahrensrechts nieder:<br />

• Seit dem 1. Januar 1975 kann das Gericht einen Verteidiger vom Verfahren<br />

ausschließen, wenn er unter dem Verdacht steht, selbst an der Tat des Beschuldigten<br />

beteiligt gewesen zu sein oder den Kontakt mit dem Beschuldigten zu Straftaten bzw.<br />

zur "Gefährdung der Anstaltssicherheit" zu miss-brauchen. Ein Beispiel aus der<br />

Praxis: Der vom Baader-Meinhof-Verfahren ausgeschlossene Anwalt Christian<br />

Ströbele wurde ein Jahr später vom Bundesgerichtshof zum Pflichtverteidiger einer<br />

Angehörigen der Baader-Meinhof-Gruppe bestellt. Offensichtlich hatten sich die<br />

Einwände gegen ihn <strong>als</strong> nicht stichhaltig erwiesen. Dazu der Bonner Strafrechtler<br />

Professor Gerald Grünwald: "Die Gefahr ist beträchtlich, dass man sich unbequeme<br />

Verteidiger vom H<strong>als</strong>e schafft."<br />

• Das Gericht darf seitdem auch in Abwesenheit der Angeklagten verhandeln -<br />

allerdings nur bei Störungen durch Tumulte oder bei bewusst herbeigeführter<br />

Verhandlungsunfähigkeit. Die Praxis: Im Baader-Meinhof-Verfahren wurden die in<br />

Hungerstreik geretenen Angeklagten ausgeschlossen: der Bundesgerichtshof aber<br />

stellte später fest, die Verhandlungsunfähigkeit sei primär auf die<br />

Haftbedingungen und nicht auf den Hungerstreik zurückzuführen.<br />

Der Schriftverkehr zwischen Verteidigern und Beschuldigten darf unter bestimmten<br />

Voraussetzungen überwacht werden. Eine Korrespondenz über Verteidigungsmöglichkeiten ist<br />

damit undenkbar. Selbst der stockkonservative Anwaltsverein protestierte gegen diesen Eingriff in<br />

elementare Rechtsstaatsprinzipien.<br />

Wer verdächtigt wird, einer terroristischen Vereinigung anzugehören oder sie zu<br />

unterstützen, kann künftig ohne weiteres in Haft behalten werden. Bei ihm entfallen die sonst<br />

notwendigen Kriterien: Flucht-,Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr.<br />

Auch die Anzeigepflicht wurde ausgeweitet. Der Polizeibehörde muss Meldung machen,<br />

wer irgendwo mitbekommt, dass Sympathie- oder Solidaritätserklärungen für Terroristen<br />

abgegeben werden. Unterlässt er die Meldung, macht er sich strafbar, Professor Grünwald: "Ein<br />

Staat, der seine Bürger derart in die Pflicht nimmt und bloßes Schweigen bestraft, schafft sich seine<br />

politischen Straftäter mutwillig selbst."<br />

194


Nach dem neuen Strafgesetzbuchparagrafen 88 a ist künftig die "verfassungs-feindliche<br />

Befürwortung von Straftaten" mit Gefängnis bedroht. Schon das Zitieren aus der Denkschrift der<br />

Evangelischen Kirche "Gewalt und Gewaltanwendung in der Gesellschaft" (Mitverfasser der<br />

Mainzer CDU-Staatssekretär Roman Herzog) könnte jemanden, der verfassungsfeindlicher<br />

Gesinnung verdächtig ist, ins Gefängnis bringen. Zum Beispiel der Satz: "Auch aus dem<br />

Blickwinkel christlicher Sozialethik kann die Anwendung von Gewalt ausnahmsweise vertretbar<br />

sein."<br />

Dabei ist die ursprüngliche Regierungsvorlage noch durch die SPD-Fraktion entschärft<br />

worden. Sonst wäre nach dem "Notstandsgesetz für Intellektuelle" der Justizbüttel schon<br />

losmarschiert, wenn ein Mann wie der SPD-Programmatiker Peter von Oertzen (*1924+2008)<br />

äußert, er werde dem chilenischen Chef-Faschisten Pinochet "eine Bombe unter den Hintern<br />

setzen". Gewaltbefürwortung gegen ausländische Staaten wurde <strong>als</strong> Delikt gestrichen. Auch<br />

braucht Heinrich Böll (*1917+1985) nicht mehr zu fürchten, dass seine Erzählung "Die verlorene<br />

Ehre der Katharina Blum" (Untertitel: "Wie Gewalt entstehen kann und wohin sie führen kann")<br />

auf dem Richtertisch landet. Die Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens, der<br />

Geschichte, der Kunst oder der Wissenschaft wurde dem Zugriff des Staatsanwalts entzogen.<br />

Die Gerichte fassen den Begriff Gewalt ohnehin sehr viel weiter, <strong>als</strong> es sich der juristische<br />

Laie vorstellt. Gewalt ist zum Beispiel nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs auch der passive<br />

Widerstand - etwa das Niedersetzen auf Straßenbahnschienen bei einer Demonstration für den<br />

Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr.<br />

Parallel zur juristischen Aufrüstung in Bonn lieferten auch die Bundesländer den<br />

Verfolgungsbehörden neue und schärfere Instrumentarien. Die Länder-Innen-minister einigten<br />

sich auf ein Gesetz für ihre Ver-fassungsschützer, das nach Ansicht von Professor Hans-Peter<br />

Schneider "Meilensteine auf dem Weg zum autoritären Verfassungsstaat" errichtet. Im einzelnen<br />

sieht das Gesetz vor:<br />

• Die staatlichen Spitzel werden bundesweit ermächtigt, "nachrichtendienstliche<br />

Mittel" anzuwenden (Paragraf 4). Dadurch zum Gebrauch von Richtmikrofonen und<br />

Minispionen ermuntert, können die Verfassungsschützer alle Paragrafen des<br />

Strafgesetzbuches und der Verfassung unterlaufen, die die Intimsphäre der Bürger<br />

gegen geheime Anhörpraktiken schützen sollen.<br />

• Sämtliche der Aufsicht eines Landes unterstehenden juristischen Personen des<br />

öffentlichen Rechts - die Gemeinden, die Landkreise, die Gerichte, aber auch die<br />

Kirchen - haben "der Verfassungsschutzbehörde alle Tatsachen und Unterlagen über<br />

verfassungs-feindliche Bestrebungen unaufgefordert mitzuteilen" (Paragraf 5).<br />

Dagegen war das Gestapo-Recht von 1933 noch vergleichsweise liberal. Dam<strong>als</strong><br />

waren offiziell nur die Kreispolizeiämter zur Meldung verpflichtet.<br />

• Der Verfassungsschutz darf seine Erkenntnisse sogar an private Personen<br />

weitergeben, soweit dies zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung<br />

erforderlich erscheint (Paragraf 6). Damit besteht die Möglichkeit, den<br />

Radikalenerlass auch in der Privatwirtschaft zu praktizieren. Professor Schnei-der:<br />

"Der Verfassungsschutz informiert irgendeinen Arbeitgeber, und bestimmte Leute<br />

werden nicht eingestellt."<br />

195


Mit einer Neufassung des Polizeigesetzes lieferten die Bundesländer einen weiteren<br />

Beitrag zum Leitbild "kämpferische Demokratie". In Paragraf 41 wird der gezielte tödliche Schuss<br />

auf Befehl zugelassen. Bisher war es nur erlaubt, den Rechtsbrecher angriffs- oder fluchtunfähig zu<br />

schießen und nur in Notwehr einen gezielten Todesschuss abzugeben.<br />

Deshalb zögerten Polizeibeamte vor dem Todesschuss, um sich nicht der Strafverfolgung<br />

auszusetzen. "Das neue Recht", so fürchtet Gerald Grünwald, "wirkt wie eine Ermunterung zum<br />

Schießen." Und der Braunschweiger Oberlandesgerichtspräsident Rudolf Wassermann<br />

(*1925+2008) fragt: "Das Grundgesetz hat die Todesstrafe abgeschafft. Wird sie nicht durch dieses<br />

Gesetz gleichsam durch eine Hintertür wieder eingeführt?"<br />

Überhaupt sieht Wassermann in der ständig steigenden Paragrafenflut in Bund und<br />

Ländern nicht "mehr oder weniger überflüssige Beschwichtigungsgesetze", sondern<br />

Bestimmungen, die "tief in die bestehende Rechtsordnung eingreifen." Der OLG-Präsident<br />

Wassermann: "Machen wir uns nichts vor: Was der Seite der Sicherheit hinzugefügt wird, geht der<br />

Seite der Freiheit ab." Der Tübinger Strafrechtsprofessor Jürgen Baumann (*1922 +2003) beklagt<br />

die Unverhältnis-mäßigkeit der Mittel, mit denen der Staat zurück-schlägt. "Hier wird mit Kanonen<br />

auf Spatzen geschossen." Und der Nobelpreisträger Heinrich Böll, kein Jurist, aber ein Mann mit<br />

ausgeprägtem rechts-staatlichen Empfinden, erkennt "einen unbegreiflichen Prozess, wo Freiheit<br />

und Demokratie langsam im Namen von Freiheit und Demokratie erstickt werden."<br />

Solche Mahnung gilt um so mehr, <strong>als</strong> den Parlamenten in Bund und Ländern keine<br />

Ausgabe zu hoch war, wenn es darum geht, die Staatsmacht zu stärken. Allein der Etat des<br />

Bundesamtes für Verfassungsschutz kletterte innerhalb von sechs Jahren um 128 Prozent von 34<br />

auf 77,8 Millionen Mark. Mit den sogenannten Mobilen Einsatz-Kommandos (MEK) schufen sich<br />

die Landesregierungen Sondereinheiten zur Terrorismus-Bekämpfung. Der Bund baute den<br />

Bundesgrenzschutz, der eigentlich die Grenze zur DDR bewachen soll, zur schlagkräftigen<br />

Bundespolizeitruppe aus. Mit Hubschraubern und Schützenpanzern steht die Eliteeinheit "GSG 9"<br />

in Bonn-Hangelar allzeit zum Einsatz gegen den inneren Verfassungsfeind bereit.<br />

An der konzertierten Aktion gegen den freiheitlichen Rechtsstaat beteiligten sich auch die<br />

obersten Richter der Republik. Vor ihren Urteilssprüchen waren nicht einmal die unumstößlichen,<br />

die Freiheit der Bürger garantierenden Grundrechte der Verfassung sicher, die selbst durch den<br />

Bundestag nicht geändert werden dürfen. Das Bundesverfassungsgericht entschied in seinem<br />

"Abhörurteil" vom 15. Dezember 1970, "system-immanente Modifikationen der Grundprinzipien<br />

unserer Verfassung" durch Verfassungsänderung oder Einzelgesetze seien durchaus möglich. Dazu<br />

Professor Schneider: "Hier ermöglicht die Rechtsprechung den Abbau entscheidender Barrieren,<br />

die die Väter des Grundgesetzes zum Freiheitsschutz des einzelnen Bürgers bewusst in unserer<br />

Verfassung verankerten."<br />

Die Richter in der roten Robe lieferten selbst klassische Beispiele, wie solche "systemimmanenten<br />

Modifi-kationen" unumstößlicher Grundgesetzartikel aussehen:<br />

Fall eins: Zwar bestimmt das Grundgesetz in seinem Artikel 5 unwiderruflich: "Eine<br />

Zensur findet nicht statt." Doch <strong>als</strong> das Verfassungsgericht über die umstrittene Ausführung eines<br />

DDR-Filmes zu entscheiden hatte, kam es am 25. April 1974 zu dem Ergebnis: "Wägt man die<br />

Erfordernisse wirksamen Staatsschutzes und das Gewicht des Grundrechts aus Artikel 5<br />

gegeneinander ab, so muss ein Verbringungsverbot von Filmen, die diese Merkmale aufweisen<br />

(Propaganda gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung, Red.) <strong>als</strong> gerechtfertigt<br />

196


angesehen werden." Und weiter: "Auch diese Grundrechte (müssen) gegenüber einer Gefährdung<br />

der freiheitlich demokratischen Grundordnung zurücktreten."<br />

Fall zwei: Ein Offizier der Bundeswehr hatte bei einer Diskussion in der Schreibstube<br />

gegenüber Kameraden erklärt, in Deutschland könne man nicht frei seine Meinung äußern. Als<br />

daraus ein Rechtsstreit zwischen Soldat und Staat entstand, entschied letztendgültig das<br />

Verfassungsgericht: "Ein auf das Prinzip der streitbaren Demokratie begründetes Gemeinwesen<br />

kann es nicht dulden, dass seine freiheitliche Ordnung bei politischen Diskussionen innerhalb der<br />

Truppe und während des Dienstes von militärischen Vorgesetzten in Frage gestellt wird." Und<br />

weiter heißt es in dem Urteilsspruch: "Mit der provozierenden Behauptung, in der Bundesrepublik<br />

könne man seine Meinung nicht frei äußern, diffamiert der Beschwerdeführer die freiheitlich<br />

demokratische Ordnung."<br />

Einziger Trost für den Soldaten: Mit diesem Satz haben ihm die Richter den Beweis für<br />

die Richtigkeit seiner Meinung geliefert.<br />

Die wenigen kritischen SPD-Abgeordneten, die die verhängnisvolle Entwicklung<br />

erkannten, waren machtlos. Was sollten sie auch tun, wenn der oberste Strafverteidiger der<br />

Republik, Generalbundesanwalt Siegfried Buback, sie mit den Worten unter Druck setzte: "Wenn<br />

nicht die Überwachung der Verteidiger beschlossen wird, kann ich nicht ausschließen, dass es zu<br />

weiteren Aktionen wie dem Überfall auf die Botschaft in Stockholm kommt"?<br />

Typisch für das Verhalten der SPD-Linken war der unbeholfene Protest des Schriftstellers<br />

und Abgeord-neten Dieter Lattmann gegen das Gesetz, das die Befürwortung von Gewalt unter<br />

Strafe stellt. Ursprünglich fest entschlossen, sich nicht dem Fraktionszwang zu beugen und gegen<br />

das Gesetz zu stimmen, kippte Lattmann um, <strong>als</strong> es am Tag vor der Bundestagssitzung zum<br />

Machtwechsel in Niedersachsen kam. Lattmann beließ es bei einer mahnenden Rede: "Eine<br />

Bewegung ist in Kraft, die Freiräume einengt und in einigen Fällen Weimarer Ausmaße von<br />

Demokratiefeindlichkeit annimmt." Im Kreise von Genossen entschuldigte er sich später: "Hätte<br />

ich doch noch dagegen gestimmt, dann hätte die CDU/CSU behauptet: ' In Hannover hat die SPD<br />

die Regierung verloren und in Bonn laufen dem Kanzler die Stimmen weg." Der SPD-Linke Harald<br />

B. Schäfer zeigte Verständnis dafür: "Man muss doch den politischen Druck sehen, unter dem wir<br />

stehen."<br />

Durch ihr ständiges Nachgeben gegenüber Forderungen von rechts haben die<br />

Sozialdemokraten "den geistigen Boden für eine weitere Demontage unseres Rechtsstaates durch<br />

reaktionäre Kräfte geschaffen (Professor Grünwald). Und auch die Rechnung der Genossen, die<br />

glaubten, den Christdemokraten den Wind aus den Segeln nehmen zu können, ging nicht auf.<br />

Denn schon haben Politiker von CDU/CSU weitere einschneidende Gesetzesentwürfe<br />

eingebracht, mit denen die Bundes-republik zu einem perfekten Obrigkeitsstaat ausgebaut würde:<br />

• In die Strafprozessordnung soll der Begriff "Verfahrenssabotage" eingefügt und der<br />

Richter mit Polizeigewalt gegenüber seiner Meinung nach aufmüpfigen<br />

Verteidigern, Angeklagten und Zuhörern ausgestattet werden. Gestützt auf diesen<br />

schwammigen Begriff kann er sie zu Geldstrafen bis 2000 Mark oder bis zu einer<br />

Woche Haft verdonnern.<br />

• Nicht nur der Schriftwechsel zwischen Verteidigern und Beklagten soll überwacht<br />

werden dürfen, sondern auch jedes direkte persönliche Gespräch.<br />

197


• Der Begriff "Landfriedensbruch", vor sechs Jahren im Zuge der Rechtsliberalisierung<br />

entschärft, soll wieder die alte, dem Obrigkeitsstaat entstammende Formulierung<br />

erhalten. Dann könnten auch neugierige Mitläufer einer Demonstration, bei der es<br />

plötzlich zu Ausschreitungen kommt, strafrechtlich belangt werden.<br />

• "Zur Beschleunigung strafrechtlicher Verfahren" wollen die CDU/CSU-Länder<br />

Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz die Möglichkeit des Angeklagten<br />

beschneiden, sich etwa durch das Verlesen von Dokumenten und Urkunden zu<br />

entlasten.<br />

• Ihre Begründung: Der Vortrag könne das Verfahren missbräuchlich verzögern.<br />

• Die Polizei soll ermächtigt werden, bei einer Geiselnahme ganze Wohnblocks ohne<br />

Hausdurch-suchungsbefehl zu durchkämmen.<br />

Solche Pläne, die an die Praktiken der Gestapo oder kommunistischer Diktaturen<br />

erinnern, haben jetzt erstm<strong>als</strong> einflussreiche Sozialdemokaten aufgeschreckt. Der badenwürttembergische<br />

SPD-Chef Erhard Eppler will vors Bundesverfassungs-gericht ziehen, falls die<br />

Regierung Filbinger im Musterländle die Razzia-Vollmacht verwirklicht. Die niedersächsische SPD<br />

macht neuerdings Front gegen das Verfassungsschutz-Gesetz (das sie allerdings selbst ins<br />

Parlament eingebracht hatte, <strong>als</strong> sie in Hannover regierte). In Hamburg verkündete Bürgermeister<br />

Klose, der Radikalenerlass würde an der Elbe nicht mehr praktiziert (obgleich noch immer<br />

Bewerber für den hanseatischen Staatsdienst ihre rechte Gesinnung nachweisen müssen - "egal", so<br />

Senatssprecher Paul O. Vogel, "ob jemand Polizeibeamter oder nur Gärtner beim Friedhofsamt<br />

werden will.").<br />

Unversehens finden sich die Sozialdemokraten in der Rolle jenes Hexenlehrlings, der die<br />

Geister nicht mehr los wird, die er rief. Schon werden in Bayern und Baden-Württemberg auch<br />

SPD-Mitglieder von öffentlichen Ämtern ferngehalten, weil sie früher dem Sozialdemokratischen<br />

Hochschulbund (SHB) angehörten oder an Demonstrationen teilnahmen, bei denen auch<br />

Kommunisten mitmarschierten. Zum Beispiel der Pädagoge Reinhard Laudi, 29, SPD, dessen<br />

Bewerbung <strong>als</strong> Studienrat in Bayern aus politischen Gründen abgelehnt wurde; der<br />

Volksschullehrer Hans Kolb, 26. SPD, dem Bayern die Aufnahme in den Schuldienst wegen<br />

mangelnder Verfassungstreue verweigerte; die Assessorin Charlotte Nieß, 28, SPD, die in Bayern<br />

vergebens um die Einstellung in den Justizdienst bat. Sie wurde zur Extremistin gestempelt, weil sie<br />

dem Vorstand der "Vereinigung freiheitlich demokratischer Juristen" angehört, in dem auch ein<br />

paar Kommunisten sitzen. In Baden-Württemberg blieb die Pädagogin Beate Weid, SPD, auf der<br />

Strecke, weil sie bei Studenten-wahlen für den SHB kandidiert hatte.<br />

Auf der vom Radikalenerlass vorgezeichneten Linie versucht CDU/CSU jetzt mit ihrem<br />

Wahlslogan "Frei-heit statt Sozialismus" die gesamte SPD in den Verdacht der<br />

Verfassungsfeindlichkeit zu rücken. Und der Bayern-Kurier führte vor, wie rasch selbst Willy<br />

Brandt hinter den "Eisernen Vorhang" katapultiert werden kann. Brandt, so schrieb das Strauß-<br />

Organ habe die Darstellung <strong>als</strong> unwahr zurückgewiesen, er sei Kommunist gewesen. Originalton<br />

Bayern-Kurier: "Legt man den Begriff Kommunist in dem engen Sinne aus, dass damit nur ein<br />

Mitglied einer kommunistischen Partei bezeichnet werden darf, dann hat Brandt in der Tat recht.<br />

Andererseits dürfte es ihm aber schwerfallen, nachzuweisen, dass er kein Helfer des<br />

Kommunismus war."<br />

198


Im Jahre 112 nach Christi Geburt ging es im Vergleich zur Bundesrepublik 1976<br />

ausgesprochen liberal zu. Dam<strong>als</strong> fragte Plinius der Jüngere, seines Zeichens Statthalter von<br />

Bithynien, seinen Kaiser Trajan, wie er sich bei der Verfolgung von Christen zu verhalten habe. Die<br />

Antwort des römischen Kaisers: "Man soll ihnen nicht nachspüren. Falls sie gemeldet und<br />

überführt werden, sind sie zu bestrafen. Anonym vorgelegte Listen dürfen jedoch bei keiner<br />

Anklage Verwendung finden, denn dies ist von äußerst schlechtem Beispiel und unserer Zeit nicht<br />

würdig."<br />

199


AUS DEUTSCHEN LANDEN - ROTWEIN, RUNEN,<br />

RECHTSRADIKALE<br />

stern, Hamburg 6. Mai 1976<br />

Bruder Wali zündet die Kerzen an. Schwester Ostara die Weihrauchstäbchen. Bruder<br />

Mimir stellt ein hölzernes Runensymbol auf den Alter. Und Bruder Forseti legt einen<br />

schmiedeeisernen Thor-Hammer <strong>als</strong> Zeichen der Fruchtbarkeit dazu. Die Germanen feiern ihr<br />

"Nerthus-Thing" - das Erntedankfest mit Alt-Nazis, Neo-Nazis samt ihren Schlägertrupps mit<br />

Waffenweihe in den Morgenstunden. Von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt warten<br />

unverbesserliche "Möchtegern-Germanen" mit altem Kampfesgesang in Bad Meinberg im<br />

Lippischen Land auf den Exsternsteinen auf ihre "Götter mit sechs Fingern" - und das Jahr für<br />

Jahr irgendwo in Deutschland.<br />

Zwei Dutzend zwischen drei und 78 Jahren im Hinterstübchen des "Hotel<br />

zur Post", Luren- und Trommelmusik vom Tonband. Zwei Männer im grünen Gewand mit<br />

aufgenähten Runenzeichen huldigen den Göttern Odin, Thor und Freya. "Omi-odin-omi-odin, har!<br />

Here-here har", raunt Bruder Wali, "In fünf Jahren werden die Götter mit 40 Drachenschiffen nach<br />

3.000 Jahren wieder zur Erde kommen", prophezeit Bruder Donar. "Lasset uns hier in Bad<br />

Meinberg, an den Externsteinen, ein Haus bauen, um unsere Götter empfangen zu können."<br />

Schwester Ostara fragt: Wie werden wir sie erkennen?" Bruder Donar: "Wir müssen auf ihre Hände<br />

achten. Sie haben nicht fünf, sondern sechs Finger."<br />

Die Versammlung ist mit der Antwort zufrieden. Die Kinder sind es auch, <strong>als</strong> Oma<br />

Ostara am Alter Platz nimmt, um das Märchen vom Froschkönig und dem eisernen Heinrich zu<br />

erzählen. Nächster Programm-punkt: Trankopfer, Bruder Wali schreitet zum Altar, holt eine<br />

Flasche Amselfelder Rotwein (Kroatien) aus der Aktentasche, spricht feierlich "Heil Erdmutter<br />

Herta ! Allvater Odin ! Heil Asen und Wanen!" und gießt einen Schluck in ein Sincalco-Glas, das er<br />

sich vom Wirt geliehen hat.<br />

Gastwirt Oppermann, der nicht wusste, an was für eine Sekte er sein Hinterstübchen<br />

vermietet hat, fasst sich an den Kopf. Weihrauch zieht durchs ganze Haus und stört die anderen<br />

Gäste im Biedermeier-Zimmer beim Essen. Oppermann will sich beschweren, kommt aber nicht<br />

zu Wort. Die Germanen singen gerade: "Üb immer Treu und Redlichkeit." Für Bruder Wali der<br />

Auftakt zu seiner Rede über "Die Erdmutter und ihre Kinder", in der er die Nazi-Verbrechen<br />

beschönigt: "Ich kann nur laut lachen, wenn ich sehe, wie die größten Menschenopferer<br />

Gräueltaten über ihre Feinde verbreiten. Neun Millionen hilfloser Menschen hat die Kirche<br />

ermordet, 30 Millionen hat der Kommunismus auf dem Gewissen. Glaubt mir, ich sage Euch die<br />

Wahrheit." Dann weissagt Bruder Donar: "Ich sage euch, der Weltuntergang steht bevor. Denn die<br />

Götter kämpfen mit Waffen, die heller sind <strong>als</strong> die Sonne." Bruder Forseti, Vegetarier wie die<br />

meisten dieser Germanen, warnt: "Ich sage euch, solange es Schlachthäuser gibt, wird es<br />

Schlachtfelder geben."<br />

Mittagszeit: Schwester Urda drückt die Weihrauchstängel aus, die Männer legen ihre<br />

grünen Umhänge ab. Bruder Wali ist wieder Wolfgang Kantelberg, aus der NPD ausgeschieden,<br />

weil sie ihm zu links war, aktiv in der rechtsradikalen "Aktion Widerstand". Schon einmal<br />

festgenommen, weil er in die Düsseldorfer Staatskanzlei des SPD-Ministerpräsidenten Heinz Kühn<br />

(1912-1992) gewaltsam eingedrungen war. Aus Bruder Mimir wird Günter Sadlowski, Bauingenieur<br />

200


eim Stadtbauamt in Krefeld und Ex-NDP-Bundestagskandidat. Bruder Forseti entpuppt sich <strong>als</strong><br />

Alfons Libisch, einst SS-Mann und nach eigenen Angaben Blumen-Gärtner im KZ-Auschwitz.<br />

Kaum hat der 57jährige Libisch seine Suppe ausgelöf-felt, holt er seinen Personalausweis<br />

aus der Tasche und zeigt seinen Mitgermanen, wie er über den Bundesadler einen Davidstern<br />

gemalt und aus der "Bundesrepublik Deutschland" eine "Jüdische Bundesrepublik Deutschland"<br />

gemacht hat. Dann erzählt der Gärtner von Ausch-witz: "In den KZs war Ordnung und<br />

Sauberkeit. Da waren mehr Blumen <strong>als</strong> in einem Park gepflanzt. Es ist die größte Lügengeschichte<br />

dieser jüdischen Räuberbande, dass ihnen dort ein Haar gekrümmt worden ist. Ein Sozialdemokrat<br />

hat sich bei mir sogar über seinen Aufenthalt bedankt."<br />

Die Tafelrunde nickt beifällig, NPD-Sadlowski weiß: "Die Öfen waren ja fast für die<br />

Brötchen zu klein. Wie sollten denn da Menschen reinpassen?" Und "Widerstandskämpfer?"<br />

Kantelberg fragt: "Wie sollen wir unsere Volksgenossen von der Wahrheit überzeugen, wenn schon<br />

die Frau des Bundeskanzlers ungestraft 'Loki' heißen darf? (Hannelore "Loki" Schmidt ist die<br />

Ehefrau von Altbundeskanzler Helmut Schmidt 1974-1982). Loki ist für mich die Feuerhexe."<br />

(Loki: Feuergott und Gegenspieler des germanischen Halbgottes Odin.)<br />

Am Nachmittag steht "Meditation" auf der Tagesordnung. Wieder Kerzen, Weihrauch<br />

und Odin-sprüche. "Wer völkischnational in der Welt etwas ändern will", verkündet Bruder Wali,<br />

"muss Spannkraft besitzen. Nur sexuelle Enthaltsamkeit fördert die Konzentration." Seinen<br />

Brüdern und Schwestern präsentiert Wali nun einen Love-Tester, einen Liebesmesser aus Japan,<br />

dessen zwei Kontakte mit beiden Händen angefasst werden müssen. Wer ein ausgiebiges<br />

Liebesleben gehabt hat. erreicht, so Wali, höchstens Werte zwischen 20 und 40 Punkte auf der<br />

Skala. Wer enthaltsam lebt, kann mit Werten zwischen 100 und 120 Punkten rechnen. "Nur solche<br />

Leute sind für unseren Kampf brauchbar", belehrt Wali seine Zuhörer. Deshalb soll jetzt jeder mit<br />

dem Love-Tester geprüft werden. Zwei junge Mädchen drücken sich leise aus der Stube. Da geht<br />

Wali eben zur Schwester Urda. Die 73jährige streckt ihm ihre faltigen Hände entgegen. Die<br />

Germanen warten gespannt auf das Love-Resultat der schloh-weißen Oma: Doch über 40 Punkte<br />

kommt sie nicht. Bei der 76jährigen Schwester Ostara bleibt die Nadel sogar schon bei der Marke<br />

20 stehen. Geraune im Hinterstübchen. Bruder Wali stimmt gleich wieder an: "Omi-odin-omiodin-har!<br />

Here-here har!"<br />

Er und seine Gefolgsleute sind überzeugt, dass die Jugend für den Rechtsradikalismus<br />

"nur noch über die Religion zu gewinnen ist". Deshalb wollen die Odin-Brüder und Freya-<br />

Schwestern es den Krischna-, Guru- und Moon-Sekten nachmachen, die mit Meditation und dem<br />

Traum von einer heilen Welt immer mehr Jugendliche verführen. Nur, Unterso Wali: "Bei uns<br />

muss niemand etwas bezahlen. Keiner wird bei uns ausgebeutet." Um der Pseudo-Religion<br />

("Wiedergeburt der germanischen Religion") etwas Geheimnisvolles zu geben, tauften die Neo-<br />

Germanen ihren Kult-Verein "Gylfiliten" nach den ersten sagenhaften Germanen-gott Gylfi.<br />

Die Gylfiliten-Truppe - die sich vom größeren Germanenverband "Goden" (400<br />

Mitglieder) abgespalten hat - will nicht nur Kult und Politik unter einen Hut bringen, den möglichst<br />

blauäugigen Jugendlichen sollen auch Ehepartner fürs Leben vermittelt werden. Natürlich<br />

germanisch-international. So in ihrem Mitteilungsblatt "Odrörir", Nummer 10: "Plötzlich stand er<br />

bei uns vor der Türe, ein Hüne über zwei Meter schlank und nordisch ... Persönlich leidet der<br />

kühne Schwede etwas daran, unverheiratet zu sein. Jeder Mensch möchte ja Familie haben.<br />

Vielleicht kennt der eine oder andere jemanden. Er ist knapp über dreißig und ortsungebunden."<br />

Oder "Zeitsoldat und Gylfilit, 22 Jahre, wünscht zwecks späterer Heirat nettes Mädel (Kinder kein<br />

Hindernis), Hobby Reisen."<br />

201


Mit Reisen und Wandern wollen die Gylfiliten auch die Abenteuerlust der Schüler<br />

ansprechen. So zu dem germanischen Heiligtum auf den Externsternsteinen im Lippischen Land,<br />

zu denen sie am nächsten Morgen um 6 Uhr in der Frühe aufbrechen. An der Spitze des Zuges<br />

laufen die Brüder Wali und Mimir, mit Feuerschale und grünen Gewändern unterm Arm. Auf der<br />

Felsspitze gibt Vater Wali mit dem Fruchtbarkeitshammer seinen verschlafenen Kindern den ersten<br />

Gylfiliten-Segen, Spiritusflammen lodern aus der Feuerschale. Wieder Trankopfer mit preiswertem<br />

Balkan-Rotwein. Die bundesdeutschen Germanen zücken ihre Messer zur Waffen-weihe. Wali<br />

intoniert: "Omi-odin-omi-odin hare."<br />

Er ist glücklich, alles läuft, wie im Festprogramm geplant. Nur die Sonne, die anzubeten<br />

sie die Extern-steine erstiegen, kommt nicht hervor. Alles bleibt im Nebel. Als die Sonne dann<br />

durchbricht, ist von den Gylfiliten nichts mehr zu sehen. Sie sitzen wieder im Hinterstübchen des<br />

Hotels. Vor dem Hotel steht ein VW-Transporter des Bruders Forseti. Er hat an die Heckscheibe<br />

ein Hitlerbild gehängt und einen Spruch dazu -"Ich, einer von den Letzten und den Alten,/Will<br />

treu zu Dir, der einst uns führte, halten/ ... Ich bleibe unseren hehren Zielen treu./ Mein letzter<br />

Stolz ist: Ich war auch dabei."<br />

202


DIE BÜRGERKRIEGS-ARMEE ODER EIN GENERAL IM<br />

NOTSTAND – INNEREN NOTSTAND<br />

Als Bundespolizei proben die Grenzer den inneren Notstand, jagen<br />

Rauschgiftkartelle, Terroristen und beschützten Politiker. Als paramilitärische Truppe<br />

halten die einstigen BGS-Elite-Soldaten mit dem alten Wehrmacht-Stahlhelm den<br />

Kommissgeist von gestern hoch - seit mehr <strong>als</strong> sechs Jahrzehnten. Daran mögen kriminalpolizeiliche<br />

Ermittlungskompetenzen -Laptops und Handys wenig ändern. Im Juli 2005<br />

wurde der BGS in Bundespolizei umbenannt.<br />

stern, Hamburg 6. Mai 1975<br />

Vorbemerkung :<br />

EIN GENERAL IN AUSNAHME-SITUATIONEN<br />

Wie Brigadegeneral a. D. Paul Kühne besetzte Häuser und<br />

Straßenbahnschienen durch BGS-Truppen räumen lassen würde:<br />

"Ein widerrechtlich besetztes Haus in Hannover sollte früh morgens<br />

geräumt werden. Ich habe nicht darüber nachzudenken, ob die lieber hätten drin<br />

wohnen bleiben sollen, weil sie keine Wohnung haben. Das ist ja für uns alles<br />

völlig uninteressant. Es kriegt da einer den Befehl: Dieses Haus ist dann und<br />

dann zu räumen. Aus! Schluss! Nicht ? Klar? ... Die Polizei, die das machen<br />

sollte, das war keine Truppe, Die wurde <strong>als</strong>o um x Uhr auf einen Platz bestellt.<br />

Da kam nun der eine aus der Gartenstraße, der eine aus der Bismarckstraße. der<br />

eine aus der Marktstraße mit Privat-Pkw wie sonst auch zum Dienstantritt ... ...<br />

Und die Leute, die da gelüftet werden sollten. die guckten sich das von oben an.<br />

Eine Grenzschutzhundertschaft hätte das anders gemacht. Sie wäre zu dem<br />

geheimgehaltenen Zeitpunkt mit etwas Gemacht und Motorenlärm überraschend<br />

in der Straße erschienen und hätte zumindest den Überraschungseffekt gehabt ...<br />

...<br />

Anderes Beispiel: Straßenbahndemonstration in Hannover. Wäre was<br />

gewesen für uns. Ich hab' dann je nach Wetterlage Mantel angezogen, Hut auf, in<br />

Zivil natürlich, und mich dazwischengestellt und mir das angeguckt, wie sich die<br />

gesamte Polizeireiterei mühsam bemüht hat, Schienen freizuhalten. Wie eine<br />

Phalanx von wieviel hundert hochbezahlten Meistern, gemischt mit 'ner<br />

Hundertschaft Bereitschaftspolizei - dieser irrsinnige Aufwand. Da muss man<br />

den Mut haben, mit wenigen Kräften vielleicht ein wenig härter vorzugehen ...<br />

Ich habe mir immer eingebildet, wenn der Bundesgrenzschutz <strong>als</strong> nächstes Mittel<br />

kommt nach der Polizei, dann muss das ein etwas härteres Mittel sein. Wenn<br />

Grenzjäger die Beurteilung der Lage schriftlich machen muss und seine<br />

sämtlichen Paragraphen nachblättern muss, dann kommt er nicht mehr zu einem<br />

effektiven Einsatz ...".<br />

Der Panzerwagen stoppt mit einem Ruck. Aus der Luke klettert ein junger Grenzjäger,<br />

springt auf die Straße, nimmt zackig Haltung an. "Herr Oberleutnant, melde mich zurück, Auftrag<br />

203


ausgeführt. Hier ist der Schraubverschluss für die Waschmaschine ihrer Frau." Harald Hirsemenzel<br />

, Abteilungskommandeur des Bundesgrenzschutzes (BGS) im niedersächsischen Uelzen, lächelt<br />

und steckt den Schraubverschluss in die Tasche. Dann lässt er den Grenzjäger abtreten.<br />

"Disziplinlosigkeit", sagt Hirsemenzel stolz, "gibt es bei uns nicht.<br />

Die Jungs, die zu uns kommen, sind bis auf die Knochen motiviert" - selbst wenn es um<br />

private Einkaufsfahrten für die Offiziersfamilien geht. Ob im Einsatz oder in der Kaserne - wenn<br />

Oberstleutnant Hirselmenzel vom Leder zieht, nicken seine Untergebenen sofort beflissen mit dem<br />

Kopf. Nachdenklichkeit -gar Widerspruch ist verpönt. Auch in der Hundertschaft , in der die<br />

Grenzjäger Krause, Gerich und Hartmann Dienst tun. In der grünen Truppe sind die jüngsten<br />

Kameraden gerade 16 Jahre alt, die ältesten keine 19. Fast alle wollen zwischen vier und zwölf Jahre<br />

Gewehr bei Fuß stehen. Für sie, die gerade die Re<strong>als</strong>chule hinter sich haben, ist der Grenzschutz<br />

ein männlicher Erlebnisberuf mit Fahrten durch reizvolle deutschen Landschaften - Streifendienst<br />

vermittelt Naturverbundenheit - , ein Quell seelischer Ausgeglichenheit" (so ein Werbetext für den<br />

Bundesgrenzschutz )in diesen Jahren.<br />

Die Erwartungen des Grenzjägers Krause sind höher gesteckt. Er möchte Karriere <strong>als</strong><br />

Bundespolizist machen ("Im ganzen Bundesgebiet, manchmal in Europa im Einsatz, Tag wie<br />

Nacht"). Kollege Gerlach denkt vor allem an die sichere Existenz in Jahren der Arbeitslosigkeit:"<br />

Hier verdiene ich schon jetzt über 700 Mark netto, bald werden es über 1.000 sein, und ohne Job<br />

werden wir beim Staat bestimmt nicht sein, ganz gewiss nicht." Kamerad Hartmann gefällt es<br />

zudem beim Grenzschutz, dass er spritziger und schlagkräftiger <strong>als</strong> die Bundeswehr zu sein scheint:<br />

"Wir kommen einfach schneller zum Zuge."<br />

In den Spinden der drei Grenzjäger liegen zwei Helme griffbereit - je nach Feindlage. Der<br />

Weltkrieg-II-Stahlhelm aus den Millionen-Restbeständen des Tausendjährigen Reiches für den<br />

äußeren Feind an der damaligen DDR-Grenze. Ein Helm <strong>als</strong> Symbol für die Truppe - auch nach<br />

der Uniform-Reform von 1976 immer wieder neugespritzt, so dass wenigstens sie ein hohes<br />

"Einsatzalter von nahezu 50 Jahren" erreichen konnten ; und für den inneren Feind hingegen der<br />

Polizeihelm mit klappbarem Visier für Randale und inneren Notstand im Land.<br />

Zur Erinnerung: Der äußere Feind, die Nationale Volksarmee der DDR, (NVA)<br />

patrouillierte täglich hinter Stacheldrahtverhauen, Selbstschussanlagen Typ SM 70 und neuen<br />

Metallgitterzäunen -für die Grenzschützer kaum sichtbar und weit vom Schuss. Jedenfalls war die<br />

NVA bis zum 10. November 1989 - dem Tag des Mauerfalls in Berlin und der DDR-Grenzöffnung<br />

zum Westen - an der so genannten Staatsgrenze bis auf die Zähne schwer wie scharf bewaffnet.<br />

Bis zu jener Zwei-Staaten-Wende sollten Schaufensterpuppen in NVA-Uniform und mit dem<br />

Schnellfeuergewehr "Kalaschnikow" im Anschlag den 18jährigen Grenzern das richtige<br />

Feindgefühl vermitteln; <strong>als</strong> Demonstrationsobjekte sozusagen. BGS-Hauptmann Severin: "Die<br />

psychologische Wirkung, die unsere Pappkameraden auf die Truppe ausüben, sollte niemand<br />

unterschätzen."<br />

Für den Einsatz bei Unruhen, sit-ins, Straßenblockaden werden die Grenzschützer seit<br />

den Studentendemonstrationen der Jahre 1967/68 gedrillt; <strong>als</strong> überall schnell einsetzbare<br />

Bundespolizei. Die Initialzündung lieferte die Verabschiedung der Notstandsgesetze, auch der<br />

Bundeswehr im Inneren des Landes einen Marschbefehl erteilen zu können. Die erste Operation<br />

war jedoch keine Straßenschlacht, sondern ein Misserfolg. Der BGS konnte nicht verhindern, dass<br />

der Überfall der palästinensische Terror-Organisation "Schwarzer September" auf die israelische<br />

Olympia-Mannschaft am 5. September 1972 in München im Massaker von Fürstenfeldbruck<br />

endete. Dam<strong>als</strong> nahmen die Terroristen elf Athleten der israelischen Mannschaft <strong>als</strong> Geiseln. Zwei<br />

204


wurden sofort direkt erschossen; bei den anderen scheiterte ein unzulänglicher BGS-<br />

Befreiungsversuch. Insgesamt kamen auf dem Flugplatz zu Fürstenfeldbruck 17 Menschen ums<br />

Leben. Seither gehört jedenfalls die Terroristenbekämpfung zu den wichtigsten, eigentlich zentralen<br />

Ausbildungszielen der 21.000 Mann starken Elite-Truppe des Bundes.<br />

Todesschützen, Karatekämpfer, Rallyefahrer, "junge Menschen, die überhaupt kein Risiko<br />

scheuen, die aus 30 Meter Höhe aus dem Hubschrauber gehen" (FDP-Innenminister Werner<br />

Maihofer (1974-1978), "sind unsere absolute Elite" (Brigadegeneral Fritz-Erhard Herrmann). Wer<br />

einmal den Durchbruch nach oben schaffen will, "muss sich schon <strong>als</strong> 16jähriger daran gewöhnen,<br />

dass ihm der Polizeischutzschild unterm Bett näher ist <strong>als</strong> die eigene Zahnbürste im Waschraum",<br />

tönt Brigadegeneral Paul Kühne, der bei dem großen verheerenden niedersächsischen Waldbrand<br />

im Sommer 1975 Schlagzeilen machte: "Viele an der Spritze, keiner an der Spitze."<br />

Um für den Einsatz bei Unruhen wie Terroranschlägen, Streiks, Protestdemonstrationen,<br />

Blockaden gerüstet zu sein - sind jugendliche Massenaufläufe stets Ernstfälle. Alarmsignal. Sirenen<br />

heulten bei den militanten Krawallen um die Startbahn 18 West des Frankfurter Flughafens 1982.<br />

Sirenen heulen alljährlich immer wieder , wenn Kernkraftgegner mit Barrieren, Barrikaden den<br />

Stopp hoch radioaktiver Atommülltransporte abgebrannter Brenn-Elemente aus Frankreich zu<br />

erreichen suchen. Gesinnungs-Widerstand. Dort, wo die Politik konzeptlos dahindümpelt, keinen<br />

inneren Frieden ermöglicht - sind die Stunden der Gewalt nah, in Gorleben bei jener H<strong>als</strong>starre<br />

unausweichlich. Es sind junge BGS-Bundespolizisten, die den zivilen Widerstand zu brechen<br />

haben; zehntausend Uniformierte - im Jahre 2008: Schlagstöcke, Tränengas , Wasserwerfer .<br />

Beizeiten haben die jungen BGSler während ihrer Ausbildung zu lernen, "wie sie gegen tollwütige<br />

Menschen, die beißen, kratzen, spucken, schlagen und mit Steinen schmeißen" (Hauptmann<br />

Heinen), wie "gegen solche Pöbel in Truppen-Formation aufgeräumt wird". Kamerad Hauptmann<br />

Schwärzel: "Das wird geübt, bis es sitzt. Dann bricht keiner mehr aus der Kette". Tag für Tag<br />

trainieren sie das "Auf- und Absitzen" vom Mannschaftswagen - immer mit denselben Kameraden,<br />

immer dieselben Handgriffe, immer wieder dieselben Knüppel, Wagentür auf, Wagentür zu,<br />

Formation stillgestanden. Visier runter, Marsch. Schnelligkeit ist Trumpf.<br />

Bei der Schießausbildung im Übungsgelände Uelzen-Hainberg liegen die jungen Soldaten<br />

oft bis zu drei Stunden mit der Maschinenpistole im Anschlag. Keine Bewegung, kein Schuss fällt.<br />

Dann, in der 184. Minute, passiert endlich etwas. Ein Tor springt auf, eine Puppe gerät ins<br />

Schussfeld. Schon die erste Kugel muss für den Gegner tödlich sein. "Konzentration ist alles",<br />

bemerkt Hauptmann Severin, "Scharfschützenmedaillen, die unsere Jungs sich an die Brust heften<br />

können, würden sie noch beflügeln."<br />

Keine Geiselnahme oder Straßenschlacht, die ein BGS-Kamerateam auslässt.<br />

Wirklichkeitsnahes Anschauungsmaterial ist bei den Einheiten sehr gefragt. Die Einsatzreserve des<br />

Bundes probt in zahllosen Manövern den Ernstfall. So im niedersächsischen Bodenteich (BGS-<br />

Spruch: "Im ganzen lieben Deutschen Reich gibt es nur ein Bodenteich"), wo sich zwei<br />

Hundertschaften feindlich gegenüberstehen. Die eine soll mit Hubschraubern, Wasserwerfern,<br />

Panzerwagen, Nebelkerzen und Schlagstöcken die "innere Sicherheit" Deutschlands garantieren.<br />

Die andere will mit Farbbeuteln, langen Latten, Steinen und faulen Eiern eine Straßenschlacht<br />

anzetteln.<br />

Am Ende solcher Manöver finden sich Grenzjäger oft zur ambulanten Behandlung im<br />

Krankenhaus wieder. "Korpsgeist, das Gefühl zu einer Truppe zu gehören, ein und dieselbe<br />

Sprache zu sprechen, garantieren die Schlagkraft", versichert Oberstleutnant Hartmann Schubarth-<br />

Engelschall (Spitzname: "Donnerknall"). Und Kollege Hirsemenzel beschwört die Kameradschaft:<br />

205


"Wir trinken auch mal kräftig ein Bier. Und wenn's dabei lauter zugeht, dann hört das niemand.<br />

Das wirkt sich positiv auf die Einsatzbereitschaft in den Städten aus, eben Ballungsgebiete, in<br />

denen es oft drunter und drüber geht."<br />

Schon längst ist die Bundesrepublik von Großoperationen des Grenzschutzes nicht mehr<br />

verschont geblieben. Das "jederzeit abrufbare Sicherheits-Potenzial" (Innenminister Hans-Dietrich<br />

Genscher (1969-1974) soll aber immer erst dann zuschlagen, wenn die Polizeikräfte der Länder der<br />

Lage nicht mehr Herr werden. Mit dieser Machtfülle war die BGS-Truppe nicht ausgestattet, <strong>als</strong> sie<br />

im Jahre 1951 aufgestellt wurde. Dam<strong>als</strong> fristeten die unliebsamen Krieger ein gesellschaftliches<br />

Schattendasein - von keinem gewollt, von niemanden geliebt.<br />

Als Hort hochdekorierter Wehrmachtkämpfer war die grüne Truppe bis zur Gründung<br />

der Bundeswehr 1956 die einzige militärische Organisation, in der braune Frontsoldaten, die im<br />

Zivilleben nicht zurechtkamen, eine neue "Heimat" fanden. Beim Grenzschutz lebten militärische<br />

Tugenden, überkommene Männer-Rituale bald wieder auf; ein Hauch Reichswehr ( Berufsheer<br />

1921-1935, Demokratie ferner "Staat im Staate") wehte durch die BGS-Kasernen. Die Grenzer<br />

hatten den Rußlandfeldzug (1941-1945) noch in Erinnerung, der Feind im Osten war noch immer<br />

im Visier. Drill und absoluter Gehorsam waren selbstverständlich. Mit dem Begriff vom<br />

Staatsbürger in Uniform konnten die BGS-Truppen nichts anfangen -Bedeutungen aus einer<br />

fremden - unerschlossenen Welt.<br />

Die junge Bundesrepublik leistete sich dam<strong>als</strong> eine Elite-Truppe, deren Geist selbst<br />

Adenauers konservativem Innenminister Robert Lehr, CDU, (1950-1953; *1883+1956) verdächtig<br />

war. In einem Erlass warnte er Mannschaften und Offiziere: "Wie ich festgestellt habe, beginnt sich<br />

im Bundesgrenzschutz die Anrede in der dritten Person wieder einzubürgern. Ich ersuche, diese<br />

Anredeform in und außer Dienst nicht mehr zu benutzen." Und erst nach langen Widerständen<br />

setzte sich bei der Truppe die Anrede "Herr" statt der bloßen Namensnennung durch -allerdings<br />

nur im "dienstlichen Schriftverkehr". Für Brüllereien auf dem Kasernengelände schien ein "Herr<br />

Gefreiter" ferner denn je von dem, was sich im Bundesgrenzschutz Stallgeruch nennen darf.<br />

Als die Bundesrepublik wieder aufrüstete und Kader für die Verbände der neuen<br />

Bundeswehr gesucht wurden, wechselten 58 Prozent der dam<strong>als</strong> 16.614 BGS-Beamten sofort die<br />

Fronten. Der Seegrenzschutz des BGS in Nord- und Ostsee wurde sogar ganz von der jungen<br />

Bundeswehr übernommen und bildete die Grundausstattung beim Aufbau der neuen<br />

Bundesmarine. Was vom "alten" BGS übrigblieb, wachte weiter an der Zonengrenze an den<br />

Mahnschildern "Drei geteilt - niem<strong>als</strong>". Und das - obwohl diese Aufgabe eigentlich der<br />

Bereitschaftspolizei der Länder übertragen werden sollte. Es war gar die SPD, die die Auflöung des<br />

BGS-Rumpfes verlangt hatte, um die freigesetzten Grenzer dann <strong>als</strong> "Autobahn-Polizei" einsetzen<br />

zu können.<br />

Eingekeilt zwischen der zahlenmäßig überlegenen Bundeswehr und den Polizeikräften der<br />

Länder, bereitete sich in der kleinen BGS-Truppe ein Leistungszwang aus, der die Anerkennung<br />

beim Bürger garantieren sollte. Er prägt noch heute die Truppe, wie das seither gültige Leitmoto<br />

der erst 1972 gegründeten Anti-Terror-Gruppe GSG 9 beweist: "Schneller, härter, bissiger."<br />

Präzisionsschützen, Kampfschwimmer, Fallschirmspringer, Einsatztaucher, Sprengstoff- experten,<br />

IT-Techniker -Sturmgewehre, Scharfschützengewehre, Maschinengewehre -und eine monatliche<br />

Erschwerniszulage von etwa 400 Euro (2008). Da versteht es sich von selbst, dass alle Dienstpläne<br />

der Anti-Terror-Gruppe "Verschlusssachen" sind<br />

- geht es letztendlich doch um die offene Gesellschaft der Meinungsvielfalt<br />

206


- Freiheit in diesem Land.<br />

Der Bundeswehr waren die BGS-Grenzer bald zu zackig, der Bereitschaftspolizei in den<br />

Ländern zu soldatisch. Der Mainzer CDU-Innenminister Heinz Schwarz (1971-1976): "Die können<br />

ja fast nichts außer schießen." Und der SPD-Bundestagsabgeordnete, Mitglied des<br />

Verteidigungsausschusses, Karl-Heinz Hansen (1969-1982) warnte eindringlich: "Der<br />

Bundesgrenzschutz ist gefährlicher <strong>als</strong> die Bundeswehr. Er hat die Leute aufgenommen, die beim<br />

Aufbau der Armee wegen mangelhafter demokratischer Qualifikation durchgefallen sind."<br />

Hofiert und gehätschelt wurden die BGS-Grünjacken stets von ihren Ziehvätern, den<br />

Bundesinnenministern. Ihre Lobeshymnen durchziehen geradezu atemlos die noch junge<br />

Geschichte Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Kontinuität der Stärke. Einst tönte<br />

der CDU-Innenminister Gerhard Schröder (1953-1961; *1910+1989): "Die Beliebtheit des<br />

Bundesgrenzschutzes schafft gerade an der oft brenzligen Zonengrenze Vertrauen." Hermann<br />

Hörcherl, CSU ,( 1961-1965; *1912+1989) schwärmte: "Die Arbeit ist phantastisch. Wir müssen<br />

eine allgemeine Dienstpflicht für den BGS einführen." Paul Lücke , CDU, (1965-1968;<br />

*1914+1976): "Wenn hier der Notstand ausbricht, alles drunter und rüber geht, dann ist BGS da<br />

und in seiner Kraft nicht zu unterschätzen." Ernst Benda, CDU ,(1968-1969): "Der BGs ist das<br />

unerlässliche Bindeglied zwischen polizeilichem und militärischen Einsatz." Hans-Dietrich<br />

Genscher, FDP, (1969-1974): "Der Bundesgrenzschutz ist ein Garant der freiheitlichdemokratischen<br />

Grundordnung." Gerhard Baum, FDP, (1978-1982): "Der Bundesgrenzschutz ist<br />

eine bestens ausgerüstete Bundespolizei." Wolfgang Schäuble, CDU, (2005-2009): "Ohne das<br />

Engagement und den mobilen Einsatz des BGS wäre der Kampf gegen den internationalen<br />

Terrorismus nahezu aussichtslos. Hut ab."<br />

Trotz der Lobeshymnen seiner Befehlshaber blieb der BGS eine Truppe ohne klaren<br />

Auftrag - folglich mit fragiler Identität. Von der "Auflösungsdebatte" geschockt, vom<br />

Personalmangel geplagt, versuchen die Grünjacken jahrzehntelang, ihre Existenzberechtigung <strong>als</strong><br />

Puffer an der einstigen DDR-Grenze zu beweisen; suche nach Anerkennung. Doch das hehre Ziel<br />

"Zwischen Ost und West nur BGS" wurde nicht erreicht. Denn außer den Grenzern patrouillieren<br />

noch Beamte des Zolls und der Bayerischen Grenzpolizei sowie Engländer und Amerikaner am<br />

Zonenrand früherer Jahre. Seitdem die DDR-Grenze seinerzeit noch engmaschiger geworden ist,<br />

durchsetzten Eifersüchteleien, Statusrivalitäten - Animositäten den eigentlichen Überwachungs-und<br />

Schutzauftrag.<br />

Wenn zum Beispiel ein westdeutscher Schlauchbootfahrer auf der Elbe von DDR-<br />

Grenzern aufgebracht wird, liefern sich Zoll und BGS ein Wettrennen: Wer ist schneller am Tatort.<br />

Sieger bleibt meistens der Zoll, weil er auf der Elbe eigene Schnellboote einsetzen kann. Der BGS<br />

rudert im Schlauchboot hinterher oder muss erst einen Hubschrauber in Gifhorn startklar machen.<br />

General Kühne kann nicht verwinden, dass der Zoll dem Grenzschutz in der Tagesschau oft die<br />

Schau stiehlt. "Es ist blödsinnig mit diesem Verein. An der Grenze ist doch alles dicht, da gibt es<br />

gar nichts zu verzollen. Was wollen die da eigentlich?" Zollamtmann Westermann aus Hitzacker<br />

kontert: "Der BGS soll mal auf dem Teppich bleiben. Wir sind mit unseren Booten auf der Elbe<br />

und mit 200 Mann ständig im Einzeldienst an der Grenze. Der BGS ist weit vom Schuss, nämlich<br />

in den Kasernen."<br />

Einen Erfolg allerdings kann der BGS für sich allein verbuchen. 1975 war er 68.500<br />

Neugierigen ein hilfsbereiter Grenzführer. Ins Gerede gebracht haben den BGS fast ausschließlich<br />

die eigenen Affären. So musste 1973 der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher zugeben,<br />

dass BGS-Beamte neun Jahre zuvor an einer Übung der US-Armee zur "Bandenbekämpfung"<br />

207


teilgenommen hatten und für einen Härtetest 24 bis 37 Stunden in "Gefangenschaft" gegangen<br />

waren. Was sie dabei erlebten, sah laut Genscher-Bericht so aus - Vorläufer der späteren<br />

internationalen Terrorismus-Bekämpfung ab Jahr 2.000 aufwärts.<br />

• "Einsperren in stark überheizten Zellen, Stehen in der Zelle, in "Achtungstellung"<br />

mit über dem Kopf verschränkten Armen. Wachhalten in der Zelle;<br />

• Liegestütze, Beinhüpfen, 'Häschenhüpfen', starke Geräuschbelästigung durch<br />

Trommel mit Stöken und Blechstreifen an der Zellentür, Einspielen schriller Töne in<br />

die Zellen-Lautsprecher, zeitweiliges Einsperren in Stahlblechschränke;<br />

• mit kaltem Wasser besprühen, Beschränkung des Trinkwassers und der Nahrung, in<br />

Furcht versetzen durch angsteinflössendes Hundegebell, Ablecken des Gesichts;<br />

• Beschimpfungen, dann Versprechungen von Geld, Speise, sofortiges Freilassen bei<br />

Verrat von -bevorstehenden 'Bandensprengungen'."<br />

Vorbild war nicht die US-Armee. Sogar bei den Sowjets wollten die Grenzschützer dam<strong>als</strong><br />

lernen. "Wir wissen, dass die Russen sich für den subversiven Kampf und für Guerilla-Aktionen<br />

vorbereiten". begründete der frühere Ministerialdirigent Schultheiss aus dem Bonner<br />

Innenministerium die BGS-Schulung für den Untergrundkampf. Schon im Herbst 1965 wurde<br />

beim BGS der Einsatz gegen Streikende geprobt. Das Stadion Mörfelden bei Frankfurt diente einer<br />

halben Grenzschutzabteilung <strong>als</strong> Aufmarschgebiet. Die Grünröcke waren in der Rolle streikender<br />

Arbeiter geschlüpft. Auf Schildern riefen sie zur Arbeitsniederlegung auf. Der andere Truppenteil<br />

demonstrierte die Staatsmacht und trieb die "Streikenden" auseinander.<br />

Am stärksten ins Zwielicht geriet der BGS durch die Affäre Knorr, die der frühere Chef<br />

der Gewerkschaft Polizei, Werner Kuhlmann ( 1958-1976) aufgedeckt hatte. Kuhlmann (*1921<br />

+1992) warf dem Chef der BGS-Fliegerstaffel Bonn-Hangelar, Oberst Erwin Knorr , vor,<br />

Untergebene im Dienst körperlich misshandelt, geschunden und gedemütigt zu haben. Vom<br />

Vorwurf der Körperverletzung im Amt wurde Knorr zwar freigesprochen, aber nach den<br />

Zeugenaussagen vorm Bonner Landgericht steht fest, dass Ausrücke wie "Idiot, Arschloch,<br />

vollgeschissener Strumpf" zum alltäglichen Sprachgebrauch des ehemaligen Leutnants der<br />

Großdeutschen Luftwaffe gehörten.<br />

Der Düsseldorfer Hubschrauberpilot Dieter Keimes, 1971/1972 in Hangelar zum<br />

Lehrgang, berichtete: "Ich wurde zweimal rausgesetzt, einmal in 80 Kilometer Entfernung vom<br />

Landeplatz. Ich wurde beschimpft - Idiot, Blödel - und musste in die 'Grube' Toiletten reinigen."<br />

Sein Kollege Helmut Engeln: "Ich wurde <strong>als</strong> ausgewachsener Obermeister vor vorsammelter<br />

Mannschaft zusammengeschissen." Obermeister Jürgen Mönch. "Wenn der Oberarm blau wird<br />

und man sich die Flecken mit Kugelschreiber einrahmen kann, dann ist das wohl kein Knuffen<br />

mehr." -Dienstliche Gewalt-Attacken beim BGS.<br />

Die Affäre Knorr und wohl viele, sehr viele kleine Gewalt-Exzesse, die nie an das<br />

Tageslicht durften und auch kamen, war für die sozialliberale Koalition offenkundig der letzte<br />

Anstoss, den Grenzschutz zu reformieren. Das Nebeneinander von Länder-Bereitschaftspolizei<br />

(MEK) , die bei Unruhen eingesetzt wird, und von Grenzschutztruppen, die den Einsatz nur<br />

proben dürfen - <strong>als</strong> Trockenübung - musste endlich klar geregelt werden, um die arge<br />

Verdrossenheit, den Frust, im BGS abzubauen. Brigade-General Kühne: "Eine Straßenräumung<br />

oder Hausbesetzung zum Beispiel wäre eine klassische Sache für den BGS; da würden wir ein<br />

bisschen härter draufschlagen. Natürlich würden wir da nicht gleich schießen."<br />

208


Paul Kühne und sein Pressemajor Werner Rück beließen es nicht nur bei markigen<br />

Kasinosprüchen, zu sehr hatte der Kalte Krieg zwischen Ost und West schon ihre Seelen erobert.<br />

Um das alte Feindbild vom "häßlichen Volksarmisten" aufzupolieren, gingen die Grenzer auf<br />

Tournee, Theater-Tournee; Kühne in der Uniform eines BGS-Brigadegener<strong>als</strong>, Rück in der<br />

Majorsuníform der Nationalen Volksarmee. Den entgeisterten Herrschaften vom Rotary-Club in<br />

Einbek und vom Lions-Club in Hameln spielten die Kalten<br />

Postscriptum. Mit dem Schengener Abkommen, vom Juni 1990, innerhalb der<br />

Europäischen Union auf Grenzkontrollen zu verzichten und der Auflösung der innerdeutschen<br />

Grenze vom 3. Oktober 1990 war der Bundesgrenzschutz eine Truppe ohne Aufgaben. Deshalb<br />

übernahm mit dem Tag der deutschen Wiedervereinigung der Bundesgrenzschutz in den neuen<br />

Bundesländern Funktionen der Bahnpolizei, die im Jahre 1992 ganz in den BGS integriert wurde.<br />

Sukzessiv wurden dem Bundesgrenzschutz deutschlandweit polizeiliche Kontrollen zur so<br />

genannten Gefahrenabwehr - etwa der Schleyer-Fahndung (1994) übertragen. Seither ist er in<br />

Deutschland mit einer Sollstärke von 30.000 - mitunter schwer bewaffneten Beamten präsent.<br />

Demzufolge wurde im Juli 2005 aus dem einstigen Bundesgrenzschutz nach Jahrzehnten des<br />

Kalten Krieges die Bundespolizei. Zudem sind BGS-Beamte auf allen Bahnhöfen wie Flughafen<br />

seit dem 1. August 1998 ermächtigt, ohne Anlass und ohne Grund Menschen aus Zügen oder<br />

Flugzeugen zu holen, Identität zu überprüfen, Gepäck zu kontrollieren.<br />

Operationen:<br />

• Am 27. Juni 1993 versuchten 37 GSG-9-Männer und 60 weitere Beamte die RAF-<br />

Terroristen Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld in Bad Kleinen festzunehmen.<br />

Beide leisteten Widerstand. Beim Schusswechsel kam der Beamte Michael Newrzella<br />

ums Leben. Er war der erste GSG-9-Mann, der im Dienst getötet wurde. Eine<br />

Untersuchung stelle zweifelsfrei den Selbstmord von Grams fest.<br />

• Zwei im Irak stationierte GSG-9-Beamte, Thomas Hafenecker und Tobias Retter,<br />

wurden seit dem 7. April 2004 <strong>als</strong> Objekt-und Personenschützer an der deutschen<br />

Botschaft in Badgad vermisst. Am 1. Mai 2007, mehr <strong>als</strong> drei Wochen nach dem<br />

Überfall, wurde die Leiche eines der beiden vermissten Bundespolizisten, Tobias<br />

Retterath, gefunden. Die sterblichen Überreste des zweiten Beamten, Thomas<br />

Hafenecker, gelten bis heute <strong>als</strong> unauffindbar im Irak.<br />

• Am 4. September 2007 kaperten GSG-9-Beamte eine Ferienwohnung im nordrheinwestfälischen<br />

Oberschledorn, in der drei Verdächtige damit begonnen hatten, aus<br />

Wasserstoffperoxid Sprengstoff herzustellen - Sprengstoff, der in amerikanischen<br />

Gebäuden in Deutschland, aber auch Restaurants, Diskos und dem Frankfurter<br />

Flughafen explodieren sollte.<br />

• Am 30. September 2008 sollte der bisher größte Einsatz der Bundespolizei unter dem<br />

Namen Operation "Desert Fox" anlaufen. Es galt fünf Deutsche, fünf Italiener, eine<br />

Rumänin und acht ägyptische Sahara-Urlauber aus den Händen ihrer Kidnapper zu<br />

befreien. Sie waren in der oberägyptischen Wüste entführt und dann ins Grenzgebiet<br />

zwischen Ägypten, Sudan, Libyen und dem Tschad verschleppt worden. Für ihre<br />

Freilassung forderten die Entführer sechs Millionen Euro Lösegeld. Innerhalb von 36<br />

Stunden wurden mit drei Sonderflügen der Lufthansa, sechs Transall der Bundeswehr<br />

und zwei Antonow-Frachtflugzeugen zirka 150 Einsatzkräfte der GSG-9, dazu 30<br />

Beamte des Führungsstabes der GSG-9 und des Bundespolizeiflugdienstes, 14<br />

209


210<br />

Mitarbeiter des Technischen Hilfswerkes sowie drei Bundespolizeihubschrauber,<br />

zwölf geländetaugliche Einsatzfahrzeuge, große Mengen Muntion in das<br />

südägyptische Shark-el-Uweimat geflogen. Zum Einsatz kam die GSG-9 dann aber<br />

doch nicht. Die Entführer hatten ihre Geiseln laufenlassen.


BILDUNGSNOTSTAND - AUSBILDUNGSMISERE -<br />

KOMPETENZ- WIRRWAR - JUGEND OHNE JOBS -<br />

BESSERUNG NICHT IN SICHT<br />

stern, Hamburg 19. Februar 19763 An jedem Morgen muss der Studiendirektor Walter Major Strichmännchen ins<br />

Klassenbuch malen - für die Schüler, die den Unterricht schwänzen. Nach dem dritten Strich<br />

zeichnet der 65jährige Lehrer ein Kringelchen an den Rand, ein blauer Brief ist fällig. Absender:<br />

Gewerbliche Schule III, Brügmannstraße 25, in 44135 Dortmund.<br />

Lehrer Major mahnt das Ehepaar Schippmann, den sechzehnjährigen Sohn Willi jeden<br />

Mittwoch in die Schule zu schicken. Der Appell verhallt. In der Klassenbuchspalte Schippmann,<br />

Willi, geb. am 26.2. 1960 in Herne, abgebrochener Hauptschüler, ohne Lehrvertrag und arbeitslos,<br />

muss der Pädagoge bald darauf vier weitere Striche markieren.<br />

Nach sieben Wochen alarmiert Walter Major das Ordnungsamt, mit der grünen Minna<br />

soll Willi zum Unterricht transportiert werden. Kurz vor der Polizeiaktion taucht Mutter<br />

Schippmann bei Schulleiter Bruno Hansmeyer auf. "Seit mein Mann arbeitslos ist", klagt sie, "säuft<br />

er nur noch und nimmt Willi immer mit auf Tour. Erst spätabends kommen sie heim, und<br />

frühmorgens geht's gleich wieder los." Die 42jährige Frau ist in Dortmund von Betrieb zu Betrieb<br />

gerannt, "um wenigstens den Jungen aus der Gosse zu holen". Bei einem Bauunternehmer ("Kann<br />

er denn Steine klopfen?") hatte sie Glück. Doch er stellte eine Bedingung: "Ihr Sohn kann bei mir<br />

nur anfangen, wenn er nicht mehr in die Penne gehen muss. Ich kann bloß Leute gebrauchen, die<br />

jeden Tag verfügbar sind."<br />

Zwei Jahre noch - bis zum 18. Lebensjahr - muss Willi einmal wöchentlich die<br />

Berufsschule besuchen, so schreibt es das Schulgesetz zwingend vor. Oberstudiendirektor<br />

Hansmeyer, Chef von 80 Lehrern, 3.000 Schülern, davon 800 ohne Lehrstelle, steht vor einem<br />

Dilemma. Lässt er den Jungen laufen, macht er sich strafbar. Will er ihn zum Unterricht zwingen,<br />

muss er die Polizei bemühen. Hansmeyer entnervt: " Wenn es um soziale Notfälle geht, nehme ich<br />

einiges auf meine Kappe." -Heute sind bereits 130.000 Jugendliche bei der Nürnberger<br />

Bundesanstalt für Arbeit <strong>als</strong> arbeitslos gemeldet. Doch diese Zahl trügt. Tatsächlich sind schon<br />

jetzt in der Bundesrepublik etwa 250.000 junge Menschen arbeitslos, eine verlorene Generation -<br />

mit den besten Chancen, politisch radikal zu werden oder <strong>als</strong> Kriminelle Karriere zu machen.<br />

Die Bundesanstalt vermutet, dass insbesondere Mädchen die Dunkelziffer ausmachen. Als<br />

Schulabgängerinnen ohne Abschluss, ohne Qualifikation, ohne Anspruch auf<br />

Arbeitslosenunterstützung und ohne Chancen auf einen Job verschwinden sie hinter dem<br />

heimischen Herd. - Deutschlands Hausfrauen künftiger Generationen. Gastarbeiterkinder hingegen<br />

tauchen unkontrollierbar unter oder werden von ihren Eltern zurück in ihre Heimatländer<br />

geschickt. Indes: Ein Ende der trostlosen Situation ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, es wird schon<br />

schlimmer kommen. Bereits im Jahre 1984, in acht Jahren, werden nach Hochrechnungen der<br />

Bundesanstalt für Arbeit 1,4 Millionen junge Menschen auf der Straße stehen.<br />

3 Mit Hermann Sülberg<br />

211


Der erste Grund: Die starken Geburtenjahrgänge von 1961 bis 1967 kommen in den<br />

achtziger Jahren <strong>als</strong> Schulabgängerschwemme auf uns zu. Der zweite Grund: Konkurse und<br />

Fusionen beschleunigen die Konzentration der Wirtschaft. So schließen jährlich in der<br />

Bundesrepublik 15.000 Handwerksbetriebe, die zu den ausbildungsintensivsten Firmen zählen.<br />

Allein im vergangenen Jahr gingen durch diese Pleiten 50.000 Lehrstellen verloren. Der dritte<br />

Grund: Schon vor sieben Jahren erhöhte die CDU/ SPD-Koalition mit dem Berufsbildungsgesetz<br />

die Anforderungen an die Lehrherren. 140 Berufe ohne Zukunftsaussichten, wie Miedernäherin<br />

oder Plüschweber, wurden gestrichen, die allgemeine Berufsschulpflicht auch für Hilfsarbeiter bis<br />

zum 18. Lebensjahr eingeführt und der Jugendschutz verbessert - keine Nacht-, Schicht und<br />

Akkordarbeit mehr. Die Devise "Brauchst du einen billigen Arbeitsmann, schaff' dir einen Lehrling<br />

an", galt nicht mehr. So sank die Zahl von 600.000 Ausbildungsplätzen in den sechziger Jahren auf<br />

250.000 im Jahr 1975.<br />

Das stark reduzierte Lehrstellenangebot macht den Artikel 12 des Grundgesetzes zur<br />

Farce - "Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstelle frei zu<br />

wählen." Abiturienten, denen der Numerus clausus einen Studienplatz verbaut, lassen sich <strong>als</strong><br />

Export-, Industrie- und Versicherungskaufleute ausbilden. Re<strong>als</strong>chüler erlernen das Schweißeroder<br />

Schlosserhandwerk.<br />

Auf der Strecke bleiben die am stärksten Benachteiligten in diesem Land: Von denen, die<br />

bereits beim ersten Schritt ins Berufsleben stolperten, hatten 40 Prozent keinen<br />

Hauptschulabschluss, jeder fünfte Sonderschüler, und sieben Prozent haben nicht einmal dort das<br />

Ziel erreicht. In den sogenannten Jungarbeiterklassen treffen sie sich wieder - auf dem Abstellgleis<br />

der Berufsschulen. In Dortmund zum Beispiel feilen sie ein Bambi aus Holz oder löten eine<br />

Wanduhr aus Draht zusammen - sechs Stunden pro Woche und das drei Jahre lang.<br />

Doch was zählt schon ein gefeiltes Bambi oder eine präzis laufende Wanduhr, wenn die<br />

arbeitslosen Jugendlichen keinen Beruf dabei erlernen und nicht einmal etwas Geld mit nach Hause<br />

bringen - Selbstbeschäftigungstherapie? Jochen Remmers bekam für seine Holzschnitzerei eine<br />

Zwei. Fachlehrer Lichte von der Dortmunder Gewerblichen Schule III: "Er war stolz wie Oskar,<br />

etwas geleistet zu haben." Die pädagogische Aufbaubarbeit der Schule machten die Eltern sofort<br />

wieder kaputt. Vater Remmers, seit sechs Monaten arbeitslos, kanzelte seinen Sohn ab: "Was willste<br />

denn mit solchem Scheiß-Bambi. Geld kannste damit auch nicht verdienen."<br />

Ob in Dortmund oder München: "Junge Leute, die keine Lehrstelle gefunden haben,<br />

denken, dass sie <strong>als</strong> Hilfsarbeiter das große Geld verdienen". sagt der bayerische CSU-<br />

Landtagsabgeordnete Karl Schön. Vor allem in den Großstädten bleiben die Schulbänke meist leer.<br />

An der Münchner Berufsschule für Jungarbeiter in Giesing kam von 1.000 schulpflichtigen<br />

Arbeitslosen im ersten Schuljahr nur die Hälfte zum Unterricht. Im zweiten waren es 30 und im<br />

dritten Jahr nur noch zehn Prozent.<br />

Auf dem Lande dagegen, wo die Arbeitslosigkeit am höchsten ist, die Kleinunternehmer<br />

und Handwerksmeister auch in den Berufsschulen das Sagen haben und der Pfarrer so wichtig wie<br />

der Mathematiklehrer ist, "da ist keiner eine anonyme Figur und jeder für uns jederzeit greifbar,<br />

erklärt Oberstudiendirektor Besserer, Chef der Passauer Berufsschule. In seiner Außenstelle<br />

Vilshofen gab es früher nur eine Bäckerklasse. Heute sind es fünf, 1977 sind bereits sieben Klassen<br />

eingeplant. In der Schul-Backstube sitzen 22 Lehrlinge wie die Hühner auf der Leiter. Aus dem<br />

niederbayerischen Landkreis werden die Jugendlichen jede Woche aus dem 50-Kilometer-Umkreis<br />

mit dem Schulbus herangekarrt, um von Meister Josef Huber "die Kunst des Backhandwerks<br />

212


gründlichst zu erlernen" (Studiendirektor Alois Eder). Grund für den Bäcker-Boom: Die Meister<br />

besetzen ihre Gesellenjobs mit billigeren Lehrlingen.<br />

Von den 22 Stiften wollten 16 ursprünglich gar keinen Teig kneten. Weil nur das<br />

Bäckerhandwerk ihnen eine Lehrstelle bieten konnte, änderten sie plötzlich ihren Entschluss.<br />

Huber: "Wir bekommen immer mehr Bäcker. Bald wissen wir gar nicht mehr wohin damit." -<br />

Bäckerboom auf bayerisch. Und Recht hat der Bäckermeister. Schon heute arbeiten im<br />

Bundesdurchschnitt 65 von 100 Bäckern nicht mehr in ihrem erlernten Beruf. Der viel zitierte<br />

goldene Boden des Handwerks ist arg morsch geworden. Denn auch bei den Mauern muss jeder<br />

dritte, bei den Metzgern, Schustern, Dekorateuren und Schneidern sogar jeder zweite in die<br />

Industrie abwandern.<br />

Die Handwerksbetriebe bilden mehre <strong>als</strong> doppelt so viele Lehrlinge aus, <strong>als</strong> sie später<br />

beschäftigen können. Großbetriebe mit mehr <strong>als</strong> 500 Beschäftigten, Betriebe <strong>als</strong>o, die die besten<br />

Voraussetzungen für eine gründliche und vielseitige berufliche Qualifikation bieten, stellen nur ein<br />

knappes Fünftel aller Ausbildungsplätze.<br />

Die Krise der beruflichen Bildung zwingt nicht nur Facharbeiter, am Fließband zu jobben,<br />

sie kostet den Steuerzahler auch eine ganze Stange Geld: Umschulung heißt das Zauberwort der<br />

Stunde, der Jahre. 1969, <strong>als</strong> das Arbeitsförderungsgesetz in Kraft trat, drückten 60.000<br />

Arbeitnehmer erneut die Schulbank, 1974 waren es bereits 300.000 (Kosten: 1,5 Milliarden Mark),<br />

und 1980 werden es voraussichtlich 800.000 Umschüler sein, die vorher den f<strong>als</strong>chen Beruf erlernt<br />

haben oder auch durch wirtschaftliche Strukturveränderungen in einer Sackgasse gelandet sind.<br />

Dass neben Klein- und Mittelbetrieben auch der Staat die berufliche Bildung sträflich<br />

vernachlässigt, zeigt sich daran, dass er für einen Hauptschüler 22.000 Mark, für einen Re<strong>als</strong>chüler<br />

27.000 Mark, für einen Gymnasiasten 44.000 Mark und für einen Berufsschüler nur 5.000 Mark<br />

ausgibt. Diese Benachteiligung sieht auch der Bundeskanzler. Helmut Schmidt (1974-1982): "Guckt<br />

man sich nur einmal an, in was für Schulgebäude bei uns Gymnasiasten und Berufsschüler<br />

untergebracht sind, dann kann man erkennen, wie über Generationen hinweg die berufliche<br />

Ausbildung vernachlässigt worden ist." Und der Bildungsforscher Wolfgang Lempert vom Berliner<br />

Max-Planck-Institut: "Die Berufsschule ist ein Feigenblatt, mit dem die pädagogische<br />

Benachteiligung der meisten Lehrlinge nur notdürftig verdeckt wird."<br />

Erdrückend ist vor allem der Lehrermangel. 15.000 Planstellen sind unbesetzt, 27 Prozent<br />

des Unterrichts fallen im Bundesdurchschnitt aus. Dazu Erich Frister (*1927+2005),<br />

Bundersvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (1968-1981): "Die Lage der<br />

Kollegen in der Berufsschule ist verzweifelt. Sie ähnelt der eines Arztes, dem für die Behandlung<br />

von Schizophrenie nur kalte Umschläge zur Verfügung stehen." - Die Situation ähnelt vor allem<br />

der von 1906. Dam<strong>als</strong> wies der Stundenplan der Gewerblichen Berufsschule Neuss schon sechs<br />

Wochenstunden aus, wobei - im Gegensatz zu heute - das Fach Religion nicht mitgerechnet wurde.<br />

70 Jahre später erhalten nach einer repräsentativen Untersuchung der Hamburger Hochschule für<br />

Wirtschaft und Politik (befragt wurden Schüler an allen Hamburger Berufsschulen) 14 Prozent der<br />

Schüler noch immer nicht mehr <strong>als</strong> sechs Unterrichtsstunden pro Woche.<br />

Verschärft wird die deutsche Ausbildungsmisere durch einen undurchschaubaren<br />

Kompetenz-Wirrwar, verursacht durch einseitige Politiker-Interessen, den Machthunger der<br />

Wirtschaftsverbände und der Kulturhoheit der Bundesländer. Bis heute wollen die Bonner<br />

Fachminister allein die "Ausbildungsordnung" für die Lehrlinge im Betrieb festlegen. Das eigentlich<br />

zuständige Wissenschaftsministerium wird nur am Rande geteiligt. Innenminister Werner Maihofer<br />

213


(1974-1978) will sich nicht bei der Ausbildung der Beamten und Angestellten des öffentlichen<br />

Dienstes reinreden lassen. Landwirtschaftsminister Josef Ertl (1969-1983; *1925+2000) möchte<br />

allein für seine Bauern zuständig sein. Und Wirtschaftsminister Hans Friedrichs (1972-1977) will<br />

bei den Handwerksstiften und Industriekaufleuten die Oberhand behalten. Insbesondere im<br />

Bereich beruflicher Bildung zeigt sich überdeutlich, wie sich der westdeutsche Föderalismus ad<br />

absurdum führt - und zudem Millionen sinnlos verschlingt. Modell Deutschland.<br />

Die Kultusminister der Länder dagegen bestimmen die Rahmenrichtlinien für die<br />

Berufsschullehrer. Die Gemeinden sollen mit Finanzspritzen der Länder die Schulen bauen. Die<br />

Oberaufsicht führt die Wirtschaft. Ihre 73 Industrie- und Handelskammern sowie die 45<br />

Handwerkskammern kontrollieren nicht nur die Ausbildung in den Betrieben, sie zensieren auch<br />

die Gesellenprüfungen. Die Folge des Bildungs-Chaos: In keinem Bundesland sind die<br />

Ausbildungspläne im Betrieb mit denen der Schule abgestimmt. Wer etwa in Frankfurt<br />

Industriekaufmann lernt, muss sich nach den Bestimmungen des Bonner Wirtschaftsministeriums<br />

nacheinander in verschiedene Betriebsbereiche einarbeiten: in die Material-, Produktions- und<br />

Absatzwirtschaft sowie in das Personalwesen. Der Rahmenplan des hessischen Kultusministers für<br />

den Berufsschulunterricht ist ganz anders aufgebaut. Er gliedert sich in eine Grund- und eine<br />

Fachstufe, die aber zu wenig auf die spezifischen Kenntnisse eines Industriekaufmanns eingeht.<br />

Nach der "Hamburger Lehrlingsstudie" sind 60 Prozent der Schüler der Meinung, dass sie<br />

eine "berufliche Bildungslücke" haben und ihr Fachwissen für die Praxis nicht ausreicht. Und 40<br />

Prozent von ihnen halten Lehr- und Ausstattungsmaterial ihrer Schulen für unzureichend. Mit<br />

ähnlicher Berufschulkritik wollen sich auch Wirtschaft und Handwerk profilieren, vor allem, um<br />

von ihren eigenen Ausbildungsmängeln abzulenken. In der jüngsten Untersuchung des Deutschen<br />

Industrie- und Handelstages (DIHT) "Zur Situation der Berufsschulen" beklagen sich die<br />

Unternehmerfunktionäre über ein "schwaches Berufsethos" und mehr "Interesse an ideologischer<br />

<strong>als</strong> an sachbezogener Arbeit" bei der jüngeren Lehrergeneration. Doch gerade das Fach Politik liegt<br />

an der Spitze der ausgefallenen Stunden. Und die jüngeren Lehrer bemühen sich, mit Hilfe von<br />

Fernsehkameras und Tageslichtprojektoren den Schülern ein wirklichkeitsnahes Berufsbild zu<br />

vermitteln. Wie zum Beispiel Jörg Haas und Manfred Heinisch an der Hamburger Berufsschule für<br />

Stahl und Metallbau. Eine andere, antiquierte Lehrmethode pflegt dagegen Vize-Direktor Meyer<br />

von derselben Schule. Er lehrt immer noch das klassische Einmaleins, wenn er morgens in die<br />

Klasse kommt. Meyers Stil macht die Schüler sauer. Sie lesen dann lieber ihre Morgenzeitung.<br />

Bei Willi Skibba, 53, Berufsschuldirektor im schleswigholsteinischen Meldorf, saufen die<br />

Pennäler schon in der Frühpause ihren in kleinen Doornkaat-Flaschen abgefüllten Bourbon-<br />

Whisky und lassen bisweilen Stinkbomben hochgehen. Die einzige Rettung sieht der geplagte<br />

Pädagoge ("Ich kann zehn Aschenbecher hinstellen und trotzdem liegen die Kippen auf dem<br />

Boden") im Blockunterricht. In Städten wie Hamburg, Bremen, Dortmund, Hannover wird bereits<br />

im Block unterrichtet. Statt an einem Tag in der Woche, werden die Schüler sechs oder gar<br />

dreizehn Wochen hintereinander weg unterrichtet. Der Vorteil: für Schüler und Lehrer: Der<br />

Lehrstoff kann in abgeschlossenen Abschnitten vermittelt werden. Der Vorteil für den Betrieb: Der<br />

Jugendliche wird nicht jede Woche aus dem Job gerissen. Als Willy Skibba das Modell in Meldorf<br />

einführen wollte, gingen die Kleinbetriebe auf die Barrikaden: "Wir können es uns nicht erlauben . .<br />

. die Lehrlinge sechs Wochen lang zu entbehren."<br />

Und <strong>als</strong> der konservative Pauker mit dem CDU-Kultusministerium in Kiel verhandelte<br />

("Ein muss doch auch in Schleswig-Holstein den Anfang machen"), stürmten ihm<br />

Handwerksmeister und Kleinunternehmer die Bude: "Mein lieber Skibba, wenn Sie hier etwas<br />

214


gegen unseren Willen durchsetzen, entziehen wir der Schule unsere Unterstützung." Denn alle<br />

deutschen Berufsschulen sind auf Industriespenden (Maschinen und Geld) angewiesen. Nach<br />

dieser Standpauke wollte Skibba den Unterricht nicht mehr blocken. In Hamburg dagegen kam es<br />

nicht so schnell zum Friedensschluss. Dort zogen 64 Firmen - vor allem Kleinbetriebe - vor<br />

Gericht, um den Blockunterricht zu verhindern.<br />

Bei den Auseinandersetzungen um die Reform des Berufsbildungsgesetzes hat sich auch<br />

die Großindustrie in die Front der Reformgegner eingereiht, die von den Christdemokraten im<br />

Bundestag angeführt wird. Nach den Vorstellungen der SPD/FDP-Koalition (1969-1982) soll<br />

• das Angebot an Ausbildungsplätzen konjunkturunabhängiger und damit sicherer<br />

gemacht werden. Überbetriebliche Lehrwerkstätten sollen besonders in wirtschaftlich<br />

schwachen Landstrichen vernünftige Ausbildungsplätze garantieren. Und wenn von<br />

den privaten und öffentlichen Arbeitgebern nicht genügend Lehrstellen angeboten<br />

werden. sollen mit Hilfe einer Berufsbildungsabgabe der Unternehmer 700 Millionen<br />

Mark aufgebracht werden, um neue überbetriebliche Lehrwerkstätten zu schaffen;<br />

• die Berufsausbildung in eine breitere Grund- und eine darauf aufbauende<br />

Fachbildung gegliedert werden, was die Wahl f<strong>als</strong>cher Berufe eindämmen und die<br />

berufliche Beweglichkeit verbessern wird;<br />

• ein neues "Bundesinstitut für Berufsbildung" eine bessere Zusammenarbeit zwischen<br />

Bund, Ländern, Arbeitgebern und Gewerkschaften ermöglichen und damit eine<br />

effektivere Verzahnung zwischen Betrieb und Schule verwirklichen.<br />

Außerdem soll eine Berufsbildungsstatistik <strong>als</strong> Frühwarnsystem dienen und helfen,<br />

Jugendarbeitslosigkeit zu vermeiden. Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer (1973-1977;<br />

*1915 +1977) über die von Wissenschaftsminister Helmut Rohde (19741978) geplante Reform:<br />

"Die Betriebe sind verunsichert." Und Dortmunds Handelskammer-Präsident Hans Hartwig sieht<br />

seine "schlimmsten Erwartungen übertroffen".<br />

Die Furcht der Herren scheint unbegründet. Denn mit dem Regierungswechsel in<br />

Niedersachsen (1976) hat die CDU ihre Mehrheit in Bundesrat, der dem Berufsbildungsgesetz<br />

zustimmen muss, weiter ausgebaut. Der Bildungsexperte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,<br />

Georg Gölter (1989/1990 Präsident der Kultusministerkonferenz), mobilisierte bereits die<br />

Ministerpräsidenten der Union gegen das Gesetz: "Wenn die Koalition nicht zur Kurskorrektur<br />

bereit ist, hat die Berufsbildungsreform keine Chance mehr." Gölter und seine Gesinnungafreunde<br />

indes wollen alles beim alten lassen, denn die alte Gesetzgebung von 1969 habe sich bewährt. Die<br />

Bundesregierung müsste sich mit einem kostspieligen Flickwerk begnügen, um wenigstens einen<br />

Teil der Jugendlichen von der Straße zu holen. Sie stellt schon jetzt 300 Millionen Mark für<br />

arbeitslose Jugendliche bereit, die sich weiter schulen lassen wollen.<br />

Auch die Bundesanstalt für Arbeit ist großzügig. Für 27.000 Jugendliche bezahlt die<br />

Behörde Lehrgänge an Volkshochschulen und bei Hausfrauenvereinen und Gewerkschaften. Das<br />

Arbeitsamt zahlt jedem dieser Jugendlichen 300 Mark Unterhaltszuschuss, und die Arbeitgeber<br />

können sich auf den Föderlehrgängen die besten Arbeitskräfte aussuchen, um sie einzustellen - in<br />

den ersten zwölf Monaten werden bis zu 90 Prozent der Lohnkosten <strong>als</strong><br />

Arbeitsförderungsmaßnahme vom Staat übernommen.<br />

Das von der Bundesregierung angebotene Berufsgrundbildungsjahr nützt noch weniger,<br />

denn es wird nicht auf eine spätere praktische Ausbildung angerechnet. Hinzu kommt, dass die<br />

215


Industrie es ablehnt, Lehrlinge einzustellen, die ein Jahr zusätzlich die Schulbank gedrückt haben.<br />

So schrieb der Personalchef der Kabel- und Metallwerke in Hannover einen Absagebrief an einen<br />

Lehrstellenbewerber, "da wir bei der Übernahme in ein Ausbildungsverhältnis laut<br />

Anrechnungsverordnng der Bundesregierug gezwungen sind, das Berufsgrundbildungsjahr voll<br />

anzurechnen . . .".<br />

Resigniert sagte sich deshalb der zwanzigjährige Nobert Dittmer aus Frankfurt im letzten<br />

Jahr: "Was soll eigentlich der ganze Quatsch." Er nahm sein Glück selbst in die Hand. Im<br />

Frankfurter Stadtteil Bornheim trifft er sich jeden Morgen um 10 Uhr in einem Jugendhaus mit<br />

anderen Jugendlichen zum Frühstück, Am Anfang, vor einem halben Jahr, gingen sie gemeinsam<br />

zum Arbeits- oder Sozialamt, um sich Tips für Berufsförderung zu holen. Jetzt haben sie sich einen<br />

Lastwagen gekauft, um Fuhraufträge wie den Transport von Möbeln oder Klavieren auszuführen.<br />

Manchmal streichen sie unter Anleitung eines Tapezierers Wohnungen. Die Jugendlichen: "Wir<br />

wollen selber Unternehmer sein".<br />

216


1977<br />

Terrorismus – Deutschland im Herbst<br />

Argentinien – verhaftet, verschwunden<br />

Indonesien – Endlösung auf Buru<br />

Afrika – Massenmorde unter schwarzen Diktatoren<br />

Chile – Foltergeneral Augusto Pinochet (*1915+2006)<br />

Lettland – Unter roten Zaren verbannt<br />

Folter in dieser Welt: Jeder kann der Nächste sein<br />

Israel – Sippenhaft im Land der Bibel<br />

Iran – von Deutschland verraten, vom Schah verfolgt<br />

Brasilien – Furchtlose Kirche gegen Barbarei<br />

Uruguay – Das KZ, das Freiheit heißt<br />

217


TERRORISMUS - ZERRISSENE GESTALTEN ODER<br />

BLEIERNE ZEITEN IM DEUTSCHEN HERBST<br />

Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer (*1915+1977) wurde im Oktober 1977 in<br />

der Nähe vom französischen Mulhouse durch die Terrororganisation RAF ermordet.<br />

Es war der Höhepunkt einer wohl<br />

schwerwiegenden Krise in der Nachkriegsgeschichte. Bedrückende Ereignisse jener <strong>als</strong><br />

"Deutscher Herbst" bezeichneten Monate, rückten zweifelhafte Rechtsanwälte in den<br />

Mittelpunkt. Rechtsvertreter, die daran erkennbar zerbrochen sind; zerrissene Gestalten.<br />

Der umstrittene RAF-Schleyer-Vermittler Advokat Denis Payot aus Genf verlor wegen zu<br />

hoher Honorarforderungen an die Bonner Regierung sein Amt <strong>als</strong> Präsident der<br />

schweizerischen Liga für Menschenrechte; weitgehend seine Reputation. Sein deutscher<br />

Kollege Claus Croissant blieb nicht nur RAF-Sympathisant und RAF-Unterstützer,<br />

sondern war zudem Jahre später auch noch Agent des Ministeriums für Staatssicherheit<br />

(IM Thaler) tätig. In Frankreich, wo Croissant "politisches Asyl <strong>als</strong> Verfolgter" beantragt<br />

hatte, wurde er im November 1977 in deutsche Haftanstalten abgeschoben. Es begannen<br />

Croissant-Jahre mit Gefängnissen, Geldstrafen, Berufsverbot. Den Kontakt zu seinen<br />

einstigen Freunden hatte er längst verloren. Er starb im Jahre 2002 in Berlin. - Momente<br />

vom deutschen Herbst mit seinen Neben-Schauplätzen in Genf und Paris. - Wirre Zeiten<br />

in einer vom Terror entgeisterten Angst-Epoche.<br />

stern, Hamburg 22. September 1977 / 02. Oktober 1977<br />

Als Klaus Croissant die Geschichte vom "verlorenen Sohn" erzählte, wusste er noch<br />

nicht, dass es vorerst sein letzter Auftritt war. Verfolgt von der bundesdeutschen "Barbaren-<br />

Polizei" , so tönte der Anwalt, sei er heimgekehrt nach Frankreich, in das Land seiner Väter. So wie<br />

die Burgunder und Hugenotten vor den Greifern des Sonnenkönigs Ludwig XIV. (*1638+1717)<br />

hätten flüchten müssen, ergehe es nun ihm im 20. Jahrhundert. Nur: Der Unterdrücker sei heute<br />

nicht mehr der König, sondern der Kanzler am Rhein. Und die Gehilfen des Helmut Schmidt<br />

(1974-1982) seien die alten NS-Blockwarte, die schon "fünf Jahre nach dem Krieg die Köpfe<br />

erhoben und ihre Plätze wieder einnahmen". Das Deutschland der "Nazi-Väter", so Croissant,<br />

habe ihm keine "Freiheits-Garantien" mehr geben können. Deshalb könne er nur von Frankreich<br />

aus der Bonner Regierung den Kampf ansagen und den Verfolgten zur Seite stehen.<br />

Croissants Gesprächspartner, der Pariser Journalist Charles Blanchard von der<br />

sozialistischen Tageszeitung "Le Matin", war "tief beeindruckt", <strong>als</strong> er das Versteck des flüchtigen<br />

Anwalts in der Avenue Général Leclerc verließ. Blanchard konzedierte: "Er war mir sehr<br />

sympathisch. Wir hatten ein warmherziges Gespräch." Das war am vergangenen Freitag 16.<br />

September 1977 um 14 Uhr.<br />

Bereits um 15.28 Uhr riegelten 80 Polizisten der 6. Territorial-Brigade den Häuserblock<br />

im 14. Pariser Stadtbezirk hermetisch ab. Scharfschützen postierten sich auf Dächern und in<br />

Hausfluren. Robert Cotté, seit 22 Jahren Hausmeister des Blocks 110, berichtet: "Ein Stoßtrupp<br />

eilte auf den Hinterhof. Einer sagte mir, ich solle schnell im Haus verschwinden, damit mir nichts<br />

passiert."<br />

4 mit Michael Seufert<br />

218<br />

4


Die Polizisten pirschten sich vor bis an die letzte Tür auf dem Hinterhof. Mit entsicherten<br />

Pistolen stießen zwei Beamte dann die Tür auf. Auf dem düsteren Wohnungsflur kam ihnen Klaus<br />

Croissant bereits entgegen. Er trug einen dunkelblauen Rollkragenpullover und eine hellblaue<br />

Hose. Mit den Worten "wir haben einen Haftbefehl gegen Sie", legten die Beamten ihm die<br />

Handschellen an.<br />

Als Croissant über den Hinterhof abgeführt wurde, sah Hausmeister Cotté seinen<br />

Untermieter, den er bislang nur aus der Zeitung kannte, zum ersten Mal. Cotté: "Ich sitze fast den<br />

ganzen Tag am Fenster. Doch ich habe dort niemanden kommen oder gehen sehen." Er mag sich<br />

damit trösten, dass seine Vorgänger in der Concierge-Loge auch nicht scharfsichtiger waren. Denn<br />

kein Geringerer <strong>als</strong> Wladimir Iljitsch Lenin hatte 1912 hier im selben Haus in der jetzigen Avenue<br />

General Leclerc heimlich und unerkannt seine Pamphlete gedruckt.<br />

Im Santé-Gefängnis, das mit seinen 15 Meter hohen Mauern einer mittelalterlichen<br />

Trutzburg ähnelt, verlas Staatsanwalt Moyal dem "heimgekehrten Sohn" den internationalen<br />

Haftbefehl und das Auslieferungsgesuchen der Bundesrepublik. Begründung: Komplizenschaft mit<br />

einer kriminellen Vereinigung. Croissant, obwohl perfekt Französisch sprechend, hüllte sich in<br />

Schweigen.<br />

Dafür soll jetzt sein Rechtsanwalt Roland Dumas (späterer Außenminister in den Jahren<br />

1984-1986 und 1988-1993) die französische Linke mobilisieren. Dumas, ein Intimfreund des<br />

Sozialistenchef François Mitterrand (*1916+1996) und seinerzeit <strong>als</strong> Justizminister einer<br />

Volksfront-Regierung im Gespräch, hatte bereits am 11. Juli 1977 erfolglos einen Asyl-Antrag<br />

seines Mandanten bei den Pariser Behörden gestellt. Roland Dumas: "Ich finde es völlig<br />

unstatthaft, einen ausländischen Rechtsanwalt festzunehmen, der um politisches Asyl in unserem<br />

Land gebeten hat."<br />

Doch zu einer großen Polit-Affäre dürfte der Fall Croissant kaum ausreichen. Denn bevor<br />

die Linke sich formieren kann, wollen die französischen Behörden den verhafteten Advokaten<br />

schon in die Bundesrepublik abgeschoben haben.<br />

Dass die Pariser Polizei ihn überhaupt fand, verdankt sie dem Journalisten Charles<br />

Blanchard. Er wurde seit Längerem beschattet. Als er jetzt die Exklusiv-Story im Untergrund<br />

suchte und Croissant die Selbstdarstellung in Sachen "Nazi Deutschland", legte Blanchard<br />

unfreiwillig die Spur. Hätte Croissant den Rat seines Vor-Vor-Mieters Lenin beherzigt, wäre ihm<br />

die Festnahme vielleicht noch für einige Zeit erspart geblieben. Lenin hatte im Exil formuliert: "Ein<br />

Revolutionär, der sich nicht anpassen kann. ist kein Revolutionär, sondern ein Schwätzer."<br />

Aber ein Freund großer Worte war Klaus Croissant schon immer. In zahllosen Agitprop-<br />

Aktionen profilierte er sich zu einer Art PR-Manager der "Rote Armee Fraktion" (RAF). Für die<br />

Staatsanwaltschaft in Stuttgart gilt er zugleich <strong>als</strong> der Zuchtmeister aller Bandenmitglieder und<br />

Werber für den Terroristen-Nachwuchs. Und <strong>als</strong> ein Mann, der gefügig folgt, wenn RAF-Chef<br />

Andreas Baader (*1943+1977) befiehlt.<br />

Dabei begann dieser Dr. Klaus Croissant (*1931+2002) seine Karriere genauso bürgerlich<br />

wie viele seiner Anarcho-Klienten. Sein nobles Büro im WMF-Haus an der Königstraße im<br />

Zentrum der Schwaben-Metropole war beliebter Treffpunkt der Stuttgarter Schickeria und vor<br />

allem trennungswilliger Damen. "Er macht so saubere Scheidungen, so ganz ohne schmutzige<br />

Wäsche", hieß es lobend. Ein braver Mann <strong>als</strong>o, ein Junggeselle mit guten Manieren und<br />

Kunstverstand, ein gerngesehener Partygast und Feinschmecker.<br />

219


Geboren wurde er am 24. Mai 1931 in der schwäbischen Provinz. Am Fuße der<br />

Schwäbischen Alb, in Kirchheim / Teck bei Esslingen, besaß sein Vater Hermann eine Drogerie.<br />

Als der Vater 1954 starb, führte die Mutter das Geschäft weiter. Der brave Sohn Klaus machte<br />

1951 sein Abitur an der "Oberschule für Jungen" in Kirchheim und studierte bis Ende 1955 Jura in<br />

Tübingen und Heidelberg.<br />

1961 - inzwischen 30 Jahre alt - ließ er sich in Stuttgart <strong>als</strong> Anwalt nieder; Croissant, der<br />

spätere Links-Anwalt", zählte dam<strong>als</strong> noch Industrielle zu seinen Klienten. Er galt <strong>als</strong> Sympathisant<br />

der Freien Demokraten. Und nach dem Schwaben-Motto "Schaffe, schaffe, Häusle baue" kaufte er<br />

sich zwei Eigentumswohnungen in Stuttgart.<br />

Zwei Kollegen brachten den eher theoretisierenden und zaudernden Schwaben vom Pfad<br />

der bürgerlichen Tugenden ab und auf die Seite jener, die den "revolutionären Kampf" auf ihre<br />

Fahnen geschrieben hatten. Das eine große Vorbild war der Berliner Rechtsanwalt Horst Mahler<br />

(1970 Gründungsmitglied der RAF, rechtskräftig verurteilter Rechtsextremist und Antisemit) - ein<br />

Mann, der <strong>als</strong> Staranwalt der APO zum Schrecken konservativer Richter wurde. Die zweite<br />

Leitfigur war sein Kollege Jörg Lang. Er überzeugte Croissant davon, dass in der Bundesrepublik<br />

der "blanke Faschismus" herrsche und der Kampf dagegen jedes Mittel rechtfertige. Später, <strong>als</strong><br />

Sozius in der Stuttgarter Anwaltskanzlei organisierte Lang bundesweit die "Komitees gegen Folter",<br />

ehe er schließlich selbst in den Untergrund ging.<br />

Klaus Croissant hatte inzwischen seine Kanzlei von der Nobeladresse in eine Seitenstraße<br />

verlegt. Dieses Büro unterm Dach des Hauses Lange Straße 3 wurde nach Ansicht der<br />

Staatsschützer zur Schaltstelle und Nachrichtenzentrale für Terroristen. Von hier aus kurbelte<br />

Croissant auf Anweisung von Andreas Baader und Ulrike Meinhof (*1934+1976) die Kampagnen<br />

gegen die "Isolationsfolter", "Gehirnwäsche" und "Mord an Holger Meins" an. Im April 1974,<br />

noch ehe der große BM-Prozess in Stuttgart-Stammheim überhaupt begonnen hatte, wurde<br />

Croissant wegen des Verdachts der "Unterstützung einer kriminellen Vereinigung" die Verteidigung<br />

für Andreas Baader entzogen.<br />

Der Anwalt nahm daraufhin zwei neue Kollegen in seine Kanzlei auf - Arndt Müller und<br />

Armin Newerla. Doch auch sie gerieten schnell ins Visier der Staatsschützer. Newerla wurde im<br />

August 1977 verhaftet, Arndt Müller folgte einen Monat später in die Untersuchungshaft. Auch<br />

ihnen wirft die Staatsanwaltschaft vor, eine kriminelle Vereinigung unterstützt zu haben.<br />

Arndt Müller, 1942 in Leipzig geboren und seit 1975 Sozius von Croissant, gilt bei der<br />

Justiz <strong>als</strong> "Reise-Anwalt". Als ein Mann, der die RAF-Gefangenen nicht anwaltlich berät, sondern<br />

ausgestattet mit zahlreichen Untervollmachten die Häftlinge von Hamburg bis Stammheim<br />

besucht, mit Informationen versorgt und Befehle übermittelt. Vom Oktober 1975 bis zum Juni<br />

1977 registrierten die Justizbehörden 517 Müller-Besuche bei RAF-Häftlingen. Seinen Rekord<br />

stellte er im Januar 1976 auf: 39 Besuche in 31 Tagen.<br />

Argwöhnisch vermerkten die Fahnder vom Bundeskriminalamt auch, dass Müller von<br />

Dezember 1976 bis April 1977 mindestens 15mal lange, unbewachte Gespräche in Stuttgart-<br />

Stammheim mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe führte. Zur gleichen Zeit<br />

besuchte er auch Siegfried Haag und Sabine Schmitz in ihren Gefängniszellen, die - so das BKA -<br />

die Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback (*1920+1977) und andere<br />

Terroraktionen geplant und vorbereitet haben.<br />

Einer anderen Reise Arndt Müllers maßen die Ermittler erst später Bedeutung bei ; einer<br />

Fahrt via Saarbrücken nach Frankreich am 10. Januar 1977. Auf dem Beifahrersitz registrierten die<br />

220


Bundesgrenzschützer dam<strong>als</strong> die 28jährige Brigitte Mohnhaupt. Inzwischen, nach dem Polizisten-<br />

Mord von Utrecht, ist sie die meist-gesuchte Frau in Holland. (1982 verhaftet, wegen neunfachen<br />

Mordes zu fünfmal lebenslänglich und 15 Jahren verurteilt. Nach 24 Jahren auf Bewährung im<br />

Jahre 2007 vorzeitig aus der Haft entlassen).<br />

Sorgsam notierte des BKA auch die Verbindung steckbrieflich gesuchter Terroristen zur<br />

Croissant-Kanzlei. So betätigte sich Willy Peter Stoll, der <strong>als</strong> Helfer des mutmaßlichen Buback-<br />

Attentäters Günter Sonnenberg (1978 zu zwei Mal lebenslänglich verurteilt, 1992 vorzeitig auf<br />

Bewährung aus der Haft entlassen) auf der Fahndungsliste steht im Februar 1975 <strong>als</strong> Briefträger für<br />

Croissant. In der Haftanstalt Stammheim lieferte er einen Brief an Andreas Baader ab.<br />

Und auch die vier Frauen, die im Zusammenhang mit der Ermordung des Bankiers Jürgen<br />

Ponto (*1923+1977) in Oberursel /Taunus gesucht werden, waren vorher Helfer des Anwalts<br />

Croissant. - Angelika Speitel, Silke Maier-Witt, Sigrid Sternebeck und Susanne Albrecht tippten<br />

Briefe in der Stuttgarter Kanzlei, schnitten im Düsseldorfer "Stockholm-Prozess" die Verhandlung<br />

auf Tonband mit oder trugen dem Chef im Gericht die Robe nach.<br />

Als ein weiteres Indiz für die Verstrickungen Croissants mit der Terroristenszene werten<br />

die Ermittler die Tatsache, dass bei einer Durchsuchung der Kanzlei in der Langen Straße 3 im Juli<br />

1977 der Original-Bekennerbrief der Buback-Mörder gefunden worden war.<br />

Wenn Klaus Croissant von Frankreich nach Deutschland abgeschoben wird, erwartet ihn<br />

in Stuttgart eine 263 Seiten starke Anklageschrift wegen Unterstützung der RAF. So ganz neu ist<br />

diese Akte allerdings nicht. Ein Jahr lang hatte sie auf dem Tisch der 12. Großen Strafkammer des<br />

Stuttgarter Landgerichts geschmort, ohne dass die Hauptverhandlung begann. Erst die spektakuläre<br />

Flucht des Angeklagten und die bestürzte Reaktion der Öffentlichkeit trieben die Richter zur Eile<br />

an.<br />

Dass Revolutionäre in Deutschland auf wenig Sympathie stoßen, hatte Croissant schon<br />

1972 in einem Fernsehinterview beklagt: "Ich würde die Entscheidung desjenigen, der völlig mit<br />

dieser Gesellschaft gebrochen hat und sich zu einem bewaffneten Kampf entschlossen hat,<br />

anerkennen. Ich meine, dass auch derjenige, der sich <strong>als</strong> Revolutionär versteht, Anspruch auf<br />

Achtung hat. Und ich meine, dass es gerade daran in unserem Staat fehlt."<br />

Wenn die Stuttgarter Richter ihm die Achtung versagen, erwartet Croissant eine Strafe bis<br />

zu fünf Jahren Haft.<br />

Deutschland im Herbst des Jahres 1977.- Szenenwechsel, Ortswechsel, Milieusprünge,<br />

vom mondänen Paris ins streng calvinistisch geprägte Genf zum Schweizer Anwalt Denis Payot,<br />

dem Mittler zwischen Bonn und den RAF-Entführern des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns-Martin<br />

Schleyer (*1915+1977).<br />

Mit der Hand streicht sich der 35jährige Denis Payot über die stacheligen Wangen:<br />

"Entschuldigen Sie bitte die Barstoppeln", sagt er eitel lächelnd, "aber ich bin sehr lange unterwegs<br />

gewesen." Die blonden Stoppeln des Denis Payot sind der sichtbare Nachweis seiner Aktivitäten<br />

und seines Einflusses im Entführungsfall Hanns-Martin Schleyer. Und mit dem Stoppeln wächst<br />

der Ruhm, den er sichtlich genießt.<br />

Über Nacht wurde der noch recht junge Anwalt, Präsident der Schweizer Liga für<br />

Menschenrechte, Sohn eines protestantischen Theologen aus der Genfer Oberschicht, zur<br />

Schlüsselfigur zwischen Bonner Krisenstab und den Schleyer-Entführern.<br />

221


Wenn Payot frühmorgens in seiner geheimnisvollen Mission von irgendwoher -vermutlich<br />

Frankreich - nach Genf zurückkehrt, haben seine Mitarbeiter die internationale Presse schon<br />

durchforstet. Nach Ländern gegliedert, liegen die Artikel mit seinem Namen auf dem stumpfen<br />

Parkettboden: Payot und nochm<strong>als</strong> Payot. Sein Name ist nicht zu übersehen. Mit grünem Filzstift<br />

unterstrichen, hebt er sich bedeutungsvoll vom sonstigen Krisengerangel ab.<br />

Als sei ihm das Zeitungsgequatsche egal, schlendert der Jungadvokat an der stattlichen<br />

Kollektion vorbei und macht vor einem englischen Spiegel halt. Nach dem Motto, "Spieglein,<br />

Spieglein an der Wand, was gibt es Neues im Land", riskiert einen Blick auf den übernächtigten<br />

jungen Rechtsanwalt, der auf so dramatische Art plötzlich weltberühmt wurde.<br />

Dabei fühlt sich Denis Payot nicht bloß <strong>als</strong> einfacher "Kontaktmann zwischen der<br />

deutschen Regierung und den Entführern." Ein "Vermittler in eigener Regie und Verantwortung"<br />

will er sein. Den Terroristen will er verdeutlicht haben, dass er die "Entführung missbilligt". Was<br />

Payot von der Rechtsordnung der Bundesrepublik hält, präzisiert er: "Dort würde ich zum<br />

Sympathisanten gezählt und von der Verteidigung der Terroristen ausgeschlossen, obwohl das eine<br />

völlig f<strong>als</strong>che Einstufung wäre." Mit der Bundesrepublik hat er sowieso nicht viel im Sinn: "Da<br />

herrscht ein schreckliches Klima", und über den Bonner Krisenstab im Kanzleramt könne er zu<br />

gegebener Zeit "einige Lächerlichkeiten publik machen, die die Blamage perfekt machten."<br />

Publizität ist das Schlüsselwort für die Schlüsselfigur Payot. Auch Bonn hat seinen<br />

Selbstdarstellungsdrang erkannt. Regierungssprecher Grünewald will ihn noch ein bisschen bei<br />

Ruhe halten, "so sehr er auch bestrebt ist, die Aufmerksamkeit auf sich zu richten". Das wird den<br />

Bonnern kaum gelingen. Denn Denis Payot - erst seit 18 Monaten Anwalt - will sich jetzt in Sachen<br />

Humanität einen internationalen Namen machen. Da nützt es wenig, wenn das Bundeskriminalamt<br />

ihn bittet, die Mitteilungen geheim zu halten. Payot lässt alle Details an Schweizer Redaktionen<br />

durch-telefonieren. Ein Schweizer lasse sich nun mal nicht das Maul verbieten.<br />

Als er an diesem Nachmittag seine Kanzlei am Boulevard Georges Favon betritt, hängt<br />

sich eine Traube von Journalisten an den kraushaarigen Juristen. In der Pose eines UNO-<br />

Diplomaten wimmelt er alle Fragen ab. Auf "Monsieur Payot" reagiert er erst gar nicht. Auf<br />

"Maître Payot" (Maître ist in französischsprachigen Ländern die respektvolle Anrede für Anwälte)<br />

ließ er einen Korrespondenten wissen, er werde um 19 Uhr eine "wichtige Erklärung" abgeben. Die<br />

Journalisten rasen zum Pressezentrum der UNO zurück, telefonieren mit ihren Redaktionen. Denn<br />

zur selben Stunde tagt am Rhein der Große Krisenstab und ein neues Ultimatum läuft um 24 Uhr<br />

ab. Kurz vor 19 Uhr scharen sich 50 Korrespondenten vorm Fernschreiber. Erwartungsvoll wird<br />

die Meldung vom Ticker gerissen. "Maître Payot teilt mit, 'er werde weiter zur Verfügung stehen<br />

und dankt den Journalisten für ihre Arbeit' ".<br />

Am nächsten Tag drängt es den Meister wiederum, in der Presse zu stehen. Gleich zwei<br />

Erklärungen sind geplant. Um 15 Uhr verurteilt er auf einer Pressekonferenz die Folter in Israel.<br />

"Maître Payot" habe sich zwar nicht vor Ort informieren können, sei aber von der Richtigkeit der<br />

Dokumente überzeugt. Um 17. 15 Uhr teilt er der Öffentlichkeit nichts Neues im Fall Schleyer mit.<br />

Die Meldung des nächsten Tages: "Vorwürfe Payots gegen Israel." -Payot bestätigt, Botschaften<br />

erhalten zu haben."<br />

Eine Zeitung, die auf seinem Schreibtisch liegt, ist ihm besonders ans Herz gewachsen.<br />

Das Schweizer Boulevard-Blatt "Tat" berichtete in großen Lettern: "Schmidt schnauzt Anwalt<br />

Payot an." Daneben zwei Fotos, die den Kanzler und den Jungjuristen mit einem Telefonhörer<br />

zeigen. Helmut Schmidt schaut ernst drein, Payot lächelt staatsmännisch. Danach gefragt, ob er mit<br />

222


dem Kanzler telefoniert und ob der ihm präzise sein Mandat erklärt habe, will Denis Payot nichts<br />

sagen. Sein Schweigen ist verständlich. Sonst könnte gar in der Schweiz der Eindruck entstehen, er<br />

sei für den Regierungschef der sozial-liberalen Koalition noch eine Nummer zu klein. So bleibt ihm<br />

die Schlagzeile.<br />

Vor f<strong>als</strong>chen Eindrücken hat sich der Manager für Menschenrechte schon immer<br />

gefürchtet. Vor allem dann, wenn ihm Kontakte zum Terroristenanwalt Klaus Croissant nachgesagt<br />

werden. Er kenne ihn persönlich gar nicht, bemerkte Payot lapidar. Dass Payot jedoch im Juli 1976<br />

in Amsterdam eine von Croissant initiierte Erklärung zur "Abschaffung der Folter" in<br />

bundesdeutschen Gefängnissen unterschrieben hat, verschweigt er geflissentlich. Dass Pfarrer<br />

Ensslin im April 1977 mit ihm zusammentraf, um die Anerkennung seiner Tochter <strong>als</strong> politische<br />

Gefangene zu erreichen, daran erinnert er sich heute nur noch dunkel. Dass Croissant in diesen<br />

Jahr bereits drei Mal bei ihm in Genf gewesen sein soll, ist ihm völlig neu.<br />

Seine Deutschkenntnisse enden beim Begriff "Berufsverbot", den er allerdings so<br />

einwandfrei ausspricht, <strong>als</strong> stehe er wöchentlich vor einem deutschen Verwaltungsgericht. Ihm,<br />

dem Denis Payot, gehe es bei der Schleyer-Entführung nur um den Menschen. "Mein Ziel ist es,<br />

das Leben von Hanns-Martin Schleyer unter allen Umständen zu retten. Auch wenn die<br />

Bundesrepublik in Bonn hart bleiben sollte."<br />

Uns interessiert nicht, was Bonner Politiker für Staatsräson halten und ob sich in der<br />

Bundesrepublik die Krise zuspitzt", sagt Payots engster Berater, der Rechtsanwalt Philippe Preti.<br />

"Wenn die Deutschen das Problem mit Gewalt lösen wollen, werden wir wichtig Informationen<br />

durchsickern lassen. Die deutschen Behörden wüssten dann nicht mehr, was sie tun sollten."<br />

Nachtrag - Sechzehn Tage später - am 18. Oktober 1977 - wurde Hanns-Martin Schleyer<br />

durch drei Kopfschüsse ermordet und am darauffolgenden Tag im französischen Mulhouse im<br />

Kofferraum eines Audi 100 tot aufgefunden. Die Identität des Mörders wird von den Akteuren der<br />

Entführung bis dato unter Verschluss gehalten. Lediglich im "Spiegel" offenbarte Ex-RAF-Mitglied<br />

Peter-Jürgen Broock im September 2007, dass Rolf Heißler und Stefan Wisniewski die Täter seien.<br />

223


ARGENTINIEN: "DETENIDO - DEPARECIDO -<br />

VERHAFTET - VERSCHWUNDEN"<br />

In den sieben Jahren der argentinischen Militärdiktator von 1976 bis 1983 sind<br />

30.000 Menschen verschwunden, entführt, gefoltert und ermordet worden - darunter 100<br />

Deutsche oder Kinder deutscher Eltern. Während es anderen Regierungen gelang, ihre<br />

gefangenen Bürger zu befreien, vermochte es die deutsche Regierung nicht, auch nur ein<br />

einziges Leben zu retten. Oberste Priorität hatten für die Regierung Schmidt/Genscher im<br />

Jahre 1977 Rüstungsexporte: U-Boot-Verkäufe, Fregatten-Verkäufe, Panzer-Verkäufe,<br />

Kanonen-Verkäufe und Automobil-Verkäufe in Militär-Regime. Derlei lukrative Geschäfte<br />

sollten nicht durch sozial engagierte und links orientierte Entwicklungshelferinnen wie<br />

etwa Elisabeth Käsemann (*1947 +1977) gefährdet werden. Sie wurden voreilig, vorschnell<br />

und ungeprüft dem Terroristen-Verdacht ausgesetzt - ihrem Schicksal in Folterkammer bis<br />

zum grausamen Tod überlassen. "Detenideo - desparecido - verhaftet -verschwunden."<br />

Spurensuche.<br />

stern, Hamburg 25. August 1977 5<br />

Die Augen spiegeln Angst und Anklage, Schmerz und Sehnen, Resignation und Revolte.<br />

Es sind Emigranten-Augen. José Ramon Morales und seine Frau Graciella Luisa leben erst seit<br />

wenigen Wochen in Mexico-City. Freunde hatten sie mit Dokumenten versorgt und von ihrem<br />

Heimatland Argentinien über mehrere Grenzen bis nach Mexiko geschleust. Arbeit haben die<br />

Morales noch nicht gefunden. Sie leben vom Geld der Freunde, die selbst nicht viel haben. Und sie<br />

leben mit ihren Erinnerungen.<br />

Die Morales sind jung. Er ist 28, sie ist 27. Beim Erzählen wechseln sich José Ramon und<br />

Graciella Luisa ab, sie fallen sich ins Wort, korrigieren sich gegenseitig wie Ehepaare das überall in<br />

der Welt tun. Nur das, was sie erzählen, ist mit nichts zu vergleichen.<br />

Ihre Erzählung beginnt mit dem 2. November 1976. Am Nachmittag jenes Tages kam<br />

Graciella Luisa nichtsahnend nach Hause, einem Haus in der Vorstadt Ramo Mejia im Westen von<br />

Buenos Aires. Sie war mit ihren beiden Töchtern, der vierjährigen Mariana und der zweijährigen<br />

Gloria im Krankenhaus gewesen. Als die Frau zu Hause ankam, wie üblich trat sie durch die offene<br />

Hintertür in das Gebäude, sah sie ihre Schwiegermutter im Sessel sitzen - mit gebundenen Händen<br />

und verbundenen Augen. - Möbel waren umgestürzt. Schubladen herausgerissen, Gläser<br />

zersplittert, das ganze Haus in Unordnung. Fremde Männer in Zivilkleidung, angeführt von einem<br />

Uniformierten mit Helm und Stiefel, sprangen auf sie zu, nahmen ihr die Kinder weg und<br />

schlossen sie in einem Nebenraum ein.<br />

Graciella Luisa: "Sie überfallen mich mit Fragen, wollen wissen, wo mein Mann ist. Sie<br />

sagen mir, dass mein Schwager und meine Schwägerin verhaftet sind, dass auch mein<br />

Schwiegervater verhaftet worden ist, und dass sie ihn gefoltert haben, weil er nicht den<br />

Aufenthaltsort meines Mannes verraten wollte. Sie schleppen mich ins Badezimmer, lassen die<br />

Wanne voll Wasser laufen und drohen mich zu ertränken, wenn ich jetzt nicht reden würde. Sie<br />

5 mit Peter Koch und Perry Kretz<br />

224


sagen, dass sie Waffen im Haus gefunden hätten. Sie zeigen mir die Gewehre, es sind sehr moderne<br />

Waffen. Ich bestreite, dass diese Waffen vorher in unserem Haus waren."<br />

Graciella Luisa wird an den Haaren in die Garage des Hauses gezerrt. Dort steht das Auto<br />

des Kommandos, ein weißer Wagen. Graciella muss sich auf den Hintersitz setzen. Auf dem Sitz<br />

liegt ein Koffer mit Silbersachen, die der Familie Morales gehören. Auch der Schwiegervater - José<br />

Morales - wird ins Auto gestoßen, bekleidet nur mit Unterwäsche. Er hat eine Kapuze über dem<br />

Kopf. Der Schwiegervater und Graciella müssen sich auf den Boden des Wagens legen. Das Auto<br />

fährt ab, rund 20 Minuten dauert die Fahrt durch Argentiniens Hauptstadt. Dann ist der Wagen am<br />

Zielort angekommen. Der Fahrer hupt, die beiden Verschleppten hören, wie sich ein Rollladen<br />

öffnet. Sie fahren in eine große Garage, eine frühere Autowerkstatt. Dann werden die zwei Opfer<br />

aus dem Wagen gezerrt und eine Treppe hinaufgestoßen. Die Beschreibung des Hauses, in dem die<br />

Morales Dinge erleben werden, die sie für ihr Leben prägen, deckt sich mit der Schilderung des<br />

Enrique Rodriguez Larretta über jenen Ort, in dem er und seine gekidnappten uruguayischen<br />

Mitbürger in Buenos Aires gefangen gehalten wurden. Offensichtlich ist die Garage in Buenos<br />

Aires ein viel genutztes Folterzentrum.<br />

Graciella Luisa wird im ersten Stock in einen Raum gezerrt. Die Männer reißen ihr die<br />

Kleider vom Leib, dann wird sie mit den Händen an eine Kette geknebelt und so weit<br />

hochgezogen, dass ihre Füße nicht mehr den Boden berühren. Auf den Boden wird grobes Salz<br />

geschüttet, wie bei den Uruguayern. Sie erinnert sich: "Die Männer setzten meinen Körper unter<br />

Strom, zuerst den Kopf, dann die Geschlechtsorgane und auch das Herz. Sie beschimpfen mich<br />

sagen, ich solle über die Verbindung meines Mannes zu den Linken reden. Nach einer Weile fange<br />

ich an Blut zu spucken und bekomme eine Scheidenblutung. Sie halten jetzt an, geben mir Watte.<br />

Ich darf mich anziehen und mich hinsetzen. Ich werde gefesselt. Nun beginnt wieder das Verhör.<br />

Jetzt sagen sie plötzlich, dass sie mich freilassen wollten, wenn ich rede. Ich solle mir auch keine<br />

Sorgen über die Kinder machen. Die hätten sie bei meiner Schwiegermutter zu Hause gelassen."<br />

Das Verhör wird unterbrochen, <strong>als</strong> unten ein neues Auto ankommt. Ein Haufen Männer<br />

stapft die Treppe hoch. Sie schreien durcheinander und gestikulieren wild. Graciella Luisa: "Sie<br />

bringen meinen Mann. Auch er muss sich ausziehen. Ich ahne, dass sie ihn nun foltern werden und<br />

bitte, mich wegzubringen, da ich nicht dabei sein möchte. Ich komme ich ein anderes Zimmer.<br />

Dort treffe ich meinen Schwager und meine Schwägerin. Bald höre ich die fürchterlichen Schreie,<br />

nur Schreie meines Mannes."<br />

José Roman Morales war etwas verspätet nach Hause gekommen. Nach der Arbeit -José<br />

Ramon arbeitet im Laden seiner Vaters, einem kleinen Unternehmen für den An- und Verkauf von<br />

Metallwaren - war er noch zu einer Werkstatt gegangen, wo er sein Motorrad zur Reparatur<br />

abgestellt hatte. Als José Ramon nach Hause kam, wurde er von fünf Männern umringt. Sie fragten<br />

ihn, wer er sei. Als er sich zu erkennen gab, zerrten sie ihn in die Küche und schlugen auf ihn ein.<br />

Wenn ihm sein Leben lieb sei, sagten sie zu ihm, solle er reden, über seine Verbindung zu den<br />

Gewerkschaften und über seine Verbindung zu Untergrundorganisationen. José Ramon durfte<br />

noch kurz seine Mutter sehen, sie saß in einem Zimmer des Hauses mit seinen beiden Kindern und<br />

weinte. Die Männer stießen ihn dann in einen Lieferwagen. Der Wagen war schon voller Sachen<br />

aus dem Haushalt der Morales: Kleidungsstücke, Fernsehgerät, Möbel. Einer der Schergen hatte<br />

sich alle Oberhemden von José Ramon übereinander gezogen. Mit Sirenengeheul ging die Fahrt zu<br />

der Garage.<br />

225


Am Ende der Treppe, die zu den Folterzimmern im ersten Stock führt, sieht José Ramon<br />

zwei mit Blumen verzierte Kacheln, auf denen steht: "Wer hier hineingeht, ist bereit zu sterben<br />

oder zu töten."<br />

José Ramon setzt jetzt den Bericht seiner Frau fort: "Oben treffe ich meine<br />

Familienangehörigen wieder. Das Gesicht meines Vaters ist zerschlagen und voller blauer Flecke.<br />

Auch mein Bruder ist da, Luis Alberto und seine Frau. Die beiden sehen noch verhältnismäßig gut<br />

aus, sie sind weniger geschlagen worden. Wieder werde ich verhört, ich soll reden. Über mein<br />

Verbindungen zu den revolutionären Kräften, über subversive Bücher, wie sie es nennen, über<br />

versteckte Waffen. Sie wollen wissen, ganz allgemein, welche Politiker ich kenne.<br />

Als meine Antworten sie unbefriedigt lassen, ziehen sie meinen Vater hoch und setzen ihn<br />

unter Strom. Zum Schluss ist er ohnmächtig und stöhnt nur noch. Ich muss das alles ansehen.<br />

Dann komme ich an die Reihe. Sie ziehen mich aus. legen mich auf eine Stahlmatratze. Damit ich<br />

nicht so laut schreien kann, während sie mich unter Strom setzen, pressen sie mir ein Kissen auf<br />

das Gesicht. Als sie die Stromkabel in der Höhe meines Herzens ansetzen, verliere ich das<br />

Bewusstsein. Als ich wieder zu mir komme, machen sie sich über mich lustig. Einen Mann, der bei<br />

der Folterung dabei war, offensichtlich ein Arzt, fordern sie auf, mich zu behandeln, damit ich<br />

nicht wegsterbe. Dann stecken sie mir die Kabel in den Mund. Es ist grauenvoll."<br />

Übergangslos wird die Folterei abgebrochen. Die Schergen lassen José Ramon liegen und<br />

ziehen sich in einen andern Teil des Raumes zurück. Dort wird ihnen ihr Abendessen aufgefahren.<br />

- Nach dem Essen geht die Quälerei weiter. Schreie und Fragen, Strom und Schläge - in der<br />

Erinnerung ist es für José Ramon wie ein wirk- licher Albtraum. Doch die Narben an seinem<br />

Körper zeugen davon, dass es nicht ein böser Traum war. Spät in der Nacht wurden die Folterer<br />

müde. Schon längst ist ihnen gleichgültig, ob ihnen auf ihre Fragen geantwortet wird oder nicht. Sie<br />

quälen aus Routine. José Ramon: "Einer schlug mir mit einem Stock auf die Kniegelenke und sagte<br />

mir, dass er an meinen Aussagen gar nicht interessiert sei, sondern, dass es ihm einfach Spaß<br />

mache."<br />

Dann gehen die Folterer nach unten zum Schlafen. Ihre Opfer finden vor Schmerzen<br />

keinen Schlaf. Graciella Luisa gelingt es, die Nylonschnur, mit der ihre Hände gefesselt sind, zu<br />

lockern und abzustreifen. Mit einiger Kraftanstrengung kann sie auch die Streifen aus Bettleinen<br />

lösen, mit denen ihre Füße zusammengebunden sind. Sie schleicht in ein Nebenzimmer. Dort sieht<br />

sie zwei Mann am Boden liegen. Sie schubst den ersten an und sagt ihm, wer sie sei. Er antwortet<br />

nicht. Sie geht zu dem zweiten. Es ist ihr Mann. Es ist schwierig, ihn zu befreien. Er trägt<br />

Handschellen. Der Schlüsselbund hängt an einem Haken an der Tür. Nach etlichen Versuchen<br />

klappt es schließlich, einer der Schlüssel paßt.<br />

Die beiden Morales schleichen auf den Flur. Dort steht an der Wand ein<br />

Maschinengewehr. Sie greifen es. Jetzt suchen sie noch den Vater. Sie finden ihn in seiner Zelle<br />

vollkommen nackt. Er will nicht mitkommen. Sein Sohn José Ramon: "Er sagte, ich sollte still sein,<br />

es gebe keine Fluchtmöglichkeit." Der Vater, 54 Jahre alt, war fertig, gebrochen. José Ramon und<br />

seine Frau Graciella Luisa geben noch nicht auf, sie schleichen die Treppe herunter. Ehe sie den<br />

Ausgang erreichen, entdeckt sie einer der Schergen. Eine wilde Schießerei beginnt. Graciella erhält<br />

einen Brustdurchschuss, José Ramon einen Streifschuss am Bein. Mit dem Maschinengewehr<br />

schießt José Ramon sich und seiner Frau den Weg nach draußen frei.<br />

Draußen ist es noch dunkel. Auf der Straße geht die Schießerei weiter. Die beiden<br />

verletzten Flüchtlinge schleppen sich über eine Bahnlinie, die dicht am Haus vorbeiführt, erreichen<br />

226


eine Straße, wo ein Lastwagen mit laufendem Motor steht. Mit vorgehaltener Waffe zwingen sie<br />

den Fahrer zum Aussteigen, setzen die Flucht mit dem Lkw fort. Sie geraten mit dem schweren<br />

Lkw in eine enge Einbahnstraße. Als ein Personenwagen entgegenkommt, ist die Fahrt zu Ende.<br />

José Ramon springt heraus, zerrt seine Frau mit und zwingt nun mit vorgehaltener Waffe den<br />

Fahrer des Personenwagens zum Aussteigen. José Ramon wendet den Personenwagen, mit dem<br />

schnelleren Fahrzeug rasen er und seine Frau durch Buenos Aires. Sie kennen Freunde, Deck-<br />

Adresse.<br />

Später im Exil, draußen in Mexiko, will José Ramon nicht sagen, welcher Organisation er<br />

angehörte, mit welchen Widerstands-Gruppen er Verbindung hatte. Er fürchtet offensichtlich, die<br />

Anklage, die in der Schilderung seines persönlichen Schicks<strong>als</strong> liegt, könne an Wirkung verlieren,<br />

wenn er sich zu einer der bewaffneten Untergrundgruppen bekennt, seien es nun die<br />

peronistischen Montoneros oder die ERP, die Ejército Revolucionario Popular, die revolutionäre<br />

Volksarmee. Nur soviel berichtet José Ramon noch: dass ein Arzt seiner Frau die Wunde verband;<br />

dass Freunde bei der Mutter die Kinder holten; dass die Grenze kein Problem war, "weil es Leute<br />

gibt, die uns an der Grenze halfen". Und schließlich noch: dass er von seinem Vater, seinem Bruder<br />

und seiner Schwägerin nie mehr etwas gehört hat, dass Verwandte vergeblich Eingaben machten,<br />

um etwas über deren Schicksal zu erfahren. José Ramon: "Ich hoffe noch immer, dass sie leben."<br />

Die Tragödie der Morales ist argentinischer Alltag, seit dem 24. März 1976, seit dem<br />

Militärputsch, der General Jorge Rafael Videla an die Macht brachte. Wie die Morales-Familie in<br />

der Autowerkstatt in einem Vorort von Buenos Aires werden seither überall in Argentinien<br />

Tausende gefoltert. Im Militärareal Campo de Mayo oder der Villa Devoto in Buenos Aires, im<br />

Armee- gefängnis Campo de la Rivera in der Stadt Córdoba.<br />

Die willkürlichen Verhaftungen auf Grund irgend- welcher obskurer Angaben, die meist<br />

unter Folter erpresst wurden, der Einsatz von nicht identifizierbaren Zivilpersonen, die aber doch<br />

über Fahrzeuge und Waffen der Armee verfügen, das Ausrauben der Wohnungen von Verhafteten,<br />

das bestialische Foltern, das schon längst nicht mehr darauf gerichtet ist, Informationen zu<br />

erhalten, sondern mögliche Oppositionelle physisch zu zerstören, all das ist Bestandteil des<br />

General-Regimes. Willkür und Brutalität nehmen ständig zu. Denn im Jahr 1978 will Argentinien<br />

die Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten und sein regie render General Videla hat versprochen,<br />

dass es bis dahin im Land "Frieden" herrschen werde - Friedhofsruhe.<br />

Als "Staatsterrorismus" hat die argentinische Menschenrechtskommission "Comission<br />

Argentina pro los De- rechos Humanos" in einem Bericht an die Menschen-rechtskommission der<br />

Vereinten Nationen in Genf die Regierungsform bezeichnet, mit der Videla über das 25-Millionen-<br />

Volk herrscht. Der englische Lord Eric Reginald Lubbock Aveburg, langjähriges Mitglied des<br />

britischen "House of Lords" und der Menschenrechtskommission des Parlaments, stellte in einem<br />

Bericht für die Gefangenenhilfs-Organisation amnesty international fest, dass heute in Argentinien<br />

ein Bürger schon dann unter den Verdacht kommen könne. subversiven Ideen anzuhängen, wenn<br />

er ein Buch des Dichters und Nobelpreisträgers Pablo Neruda (*1904 +1973) besitze. "Wird dieser<br />

Mann dann aufgegriffen und unter Arrest gestellt, dann bedeutet dies in der Regel, dass er schwer<br />

gefoltert wird, ehe die Untersuchungen über seine politische Harmlosigkeit abgeschlossen sind." Im<br />

heutigen Argentinien genüge schon der bloße Verdacht auf Subversion, um Personen sogar zu<br />

töten. Es gäbe keine Rechte gegen willkürliche Festnahmen, und wer ausnahmsweise wegen<br />

erwiesener Unschuld freigelassen werde, habe keinen Anspruch auf irgendeine Art von<br />

Wiedergutmachung.<br />

227


General Videla hatte im März 1976 die Regierung übernommen mit dem Versprechen: "...<br />

die Freiheit nicht zu zertreten, sondern sie zu retten. Wir wollen das Recht nicht beugen, sondern<br />

seine Anwendung durch- setzen." Auch <strong>als</strong> der Widerspruch zwischen Worten und Taten immer<br />

evidenter wurde - inzwischen verschwinden in Argentinien Tag für Tag 40 Menschen spurlos, die<br />

Gesamtzahl dieser "Desaparecidos" betrug schon ein Jahr nach dem Putsch rund 20.000, die Zahl<br />

der politischen Gefangenen, wird nach UN-Offiziellen auf nochm<strong>als</strong> rund 25.000 geschätzt -<br />

verstand es Videla, dem Ausland gegenüber <strong>als</strong> ein Mann zu er- scheinen, den die Umstände zum<br />

harten Durchgreifen zwangen und der selber besorgt ist über die täglichen Morde. Im Vergleich zu<br />

Chiles Präsident General Augosto Pinochet (*1915+2006), der sich offen zu Verfolgung und Folter<br />

bekannte, versteht sich Videla auf diplomatische Tarnung. Videlas Propaganda-Trick hat auch in<br />

der Bundesrepublik Deutschland Erfolg.<br />

Unter Federführung der gewerkschaftseigenen Bank BfG wurde dem Videla-Regime ein<br />

90-Millionen-Dollar-Kredit gegeben. Der Deutsche Gewerkschaftsbund pro- testierte bei der Bank<br />

für Gemeinwirtschaft (BfG) gegen diese Hilfsaktion für die Militärdiktatur. Die BFG rechtfertigte<br />

in einem Antwortbrief das Darlehensgeschäft mit dem Argument, "dass man leider in<br />

Lateinamerika nur selten Maßstäbe an- wenden kann, die in westlichen Demokratien <strong>als</strong><br />

selbstverständlich gelten."<br />

Videlas propagandistisches Geschick zeigt sich auch darin, dass er die Montoneros<br />

(peronistische Bewegung, in den siebziger Jahren bekannteste Stadtguerillas Lateinamerikas)<br />

gegenüber dem Ausland <strong>als</strong> Ter- roristen darstellen konnte, die sich jedes Rechtsanspruchs begeben<br />

haben. Tatsächlich aber haben diese argentinischen Untergrundkämpfer nichts mit den<br />

anarchistischen Morden etwa der deutschen Baader-Meinhof-Gruppe gemeinsam. In Anbetracht<br />

der besonderen argentinischen Verhältnisse - der ununterbrochenen Abfolge korrupter und<br />

gewalttätiger Regierungen - können die Montoneros viel eher <strong>als</strong> Kämpfer für größere<br />

Menschenrechte gelten.<br />

Sie stellten dies einmal mehr unter Beweis, <strong>als</strong> sie der Regierung Videla Anfang 1977 ihre<br />

Mindestforderungen für die Aufgabe des Widerstands anboten: Freilassung all jener Häftlinge, die<br />

ohne Urteil eingekerkert sind und Wiederzulassung der unter dem Ausnahmezustand verbotenen<br />

politischen Organisationen.<br />

Doch statt für die Montoneros engagierten sich europäische Sozialisten wie Bruno<br />

Kreisky (*1911+1996, österreichischer Bundeskanzler 1970-1983) oder Olof Palme (*1927 +1986,<br />

schwedischer Ministerpräsident 1969-1976 und 1982-1986) allenfalls für eingelochte argentinische<br />

Gewerkschaftsbosse. Tatsache aber ist, dass viele - nicht alle -dieser Gewerkschafter einmal eine<br />

Gangsterbande waren, die jetzt zu Recht hinter Schloss und Riegel gebracht wurde (wobei die<br />

Videla-Regierung allerdings <strong>als</strong> letzte legitimiert wäre, irgend jemand in Haft zu setzen). Nur wer<br />

die komplizierte argentinische Vergangenheit kennt, ist in der Lage, die verwickelte Gegenwart, die<br />

durch Videlas Propaganda zusätzlich eingenebelt wurde, zu durchschauen.<br />

Wir sitzen im 21. Stockwerk des Clubs Alemán en Buenos Aires im Goethe-Instituts im<br />

Frühjahr des Jahres 1977. Casino-Atmosphäre. Abendliche Schummer-Stimmung. Vivaldi-Klänge<br />

vom alten Plattenspieler. Cocktails-Zeit. Traumhafte Kulisse. Erhabenheit. Tags zuvor hatten wir<br />

nach langen Flug von Sao Paulo in Brasilien mit scharfen Soldaten-Kon- trollen halbwegs<br />

unbeschadet hinter uns gebracht. Vielleicht deshalb suchten wir zunächst in Buenos Aires ein<br />

wenig Ruhe, ein wenig Beschaulichkeit, Besinnung - in diesen gefürchteten Folter-Jahren<br />

Südamerikas.<br />

228


Wir fuhren auf einem Boot im riesigen Delta des Rio de la Plata. Wir passierten unzählige<br />

Inseln mit alten Hotels, schwedischen Häusern, Villen, Hubschrauber-Landeplätzen auf den so<br />

genannten Partyinseln, auch Privat-Inseln der Super-Reichen. Hier lagen bildhübsche Mädchen auf<br />

den Booten und harrten da aus in ihrer gemeinsam erlebten Langeweile. Überall an den Stränden<br />

des Rio de la Plata Heerscharen graziöser, leicht bekleideter Frauen - vorzeitige Insignien eines sich<br />

zaghaft andeutenden weltweiten Sex-Tourismus. Im sanften Bogen das weiße Sandufer der Playa<br />

Ramirez mit langen Wellen dünte der Rio de la Plata den Strand hinauf. Im Sand tanzten, sangen,<br />

tranken und knutschten lebenslustige Menschen scheinbar unbesorgt fortwährend in den langen<br />

Tag hinein - mit Geld natürlich. Ansichtskarten-Idylle. Verkitschte europäische Wehmut vielleicht.<br />

Atempause ganz gewiss.<br />

Nunmehr am Frühabend im Deutschen Klub gleiten meine Blicke hinaus aus der<br />

klimatisierten Abge- schiedenheit auf Buenos Aires. Die Stadt besteht aus Hunderten quadratischer<br />

Blöcke; schnörkellos, unnahbar. Überall Soldaten, Panzer, Gewehre, Reiterstaffeln, Hunde,<br />

Hundertschaften, Folterstätten irgendwo versteckt hinter angegrautem Gemäuer. Vor einem Jahr -<br />

1976 - hatten sich die Militärs an die Macht geputscht. Da war nichts von Romantik pur, da fiel<br />

auch keinem von uns die melancholische Melodie "Don't Cry for me Argentina" ein. Da dachte<br />

jeder von uns ganz leise, aber spürbar an sein Leben, ans Überleben. Angst hatten wir, richtige<br />

Furcht. Irgendwie war in solch einem unbe- rührten Augenblick Argentinien ein Ort, ein Schauplatz,<br />

an dem die authentisch miterlebte, verdichtete Vernichtung der Menschheit auf wenige<br />

Quadrat- kilometer ihre Fortsetzung fand.<br />

Perry Kretz, der Fotograf, sprach nicht von ungefähr in diesem Moment von seinen<br />

eingegerbten, schon irgend- wie traumatisch sitzenden Vietnam-Erlebnissen, My Ly, Da Nang und<br />

so fort. Mir schossen Bilder von ent- geisterten, blutrünstigen Armee-Patrouillen in Uganda durch<br />

den Kopf. Und Peter Koch (*1938+1988) wollte sogleich seinen alten Bekannten Klaus Oertel aus<br />

früheren Bonner Tagen kontaktieren, der es <strong>als</strong> Chef von Mercedes Benz in Argentinien "ganz<br />

schön nach oben gebracht hat"; folglich sehr einflussreich war. Einfach deshalb weil, Daimler und<br />

Co. <strong>als</strong> "verlässlicher Partner der Militär-Junta unter besonderem Schutz steht und damit auch sehr<br />

gute Geschäfte, Profite macht".<br />

Tagsüber hatte ich noch mit Klaus von Dohnanyi, seinerzeit SPD-Staatsminister im<br />

Auswärtigen Amt (1976-1981) in Bonn telefoniert. Wir benötigten seine Hilfe, um unser<br />

Recherchenmaterial - Tonbandaufnahmen, Filme, Dokumente - aus der Militärdiktatur Brasilien<br />

(1964-1985), wo wir vorher waren, mit der geschützten Diplomatenpost außer Landes zu<br />

bekommen. Bildungsbürger Klaus von Dohnanyi hat uns in Sachen Brasilien "noch einmal<br />

geholfen. Aber in Argentinien ist das ausgeschlossen. Das wäre genauso, wenn wir Terroristen wie<br />

Baader/Meinhof in Deutschland noch Lagepläne für ihre Bomben lieferten", sagte er und legte auf.<br />

Montoneros und Baader-Meinhof weltweit alles in einen Pott werfen? Geht das überhaupt? Na<br />

denn, Herr Staatsminister.<br />

Mir ging an diesem denkwürdigen Tag unzulässiger Verallgemeinerungen aus Bonn am<br />

Rhein der Name der deutschen Soziologiestudentin und Entwicklungshelferin Elisabeth Käsemann<br />

(*1947+1977) aus Tübingen nicht mehr aus dem Sinn. Aus der Redaktion in Hamburg kam die<br />

Nachricht: Autos ohne Kennzeichen hatten vor ihrer Wohnung in Buenos Aires gestoppt.<br />

Kreischende Bremsen. Türen wurden aufgerissen. Männer sprangen heraus. Sie drangen in ein<br />

Haus ein und fielen über sie her. Handschellen, Kapuze übern Kopf, Spray in die Augen. Elisabeth<br />

Käsemann wurde von Soldaten abge-führt, in eines der Auto gezerrt. Türen schlugen zu. Motoren<br />

heulten auf. Die Autos rasten davon. Die junge Frau, die Argentiniens Schergen abholen, wird in<br />

229


der Öffentlichkeit nicht mehr lebend gesehen. Es ist, <strong>als</strong> hätte die Erde sie verschluckt.<br />

Anschuldigungen, Gerüchte lauteten seinerzeit, sie hätte mal zu jemandem aus dem linken<br />

Montonero-Umfeld - Stadt-Guerilla - Kontakte gehabt, gefälschte Papiere zur Ausreise besorgt.<br />

Nur Belege, Beweise, die gab es nicht. Fehlanzeige. Vermutungen, Verdächtigungen - mehr nicht.<br />

So oder ähnlich muss es in der Nacht vom 8. auf den 9. März 1977 geschehen sein, <strong>als</strong> die<br />

deutsche Staats-bürgerin Elisabeth Käsemann in Buenos Aires von ihren Folterern abgeholt,<br />

geraubt, gekidnappt worden ist. Ausgerechnet an diesem Tag trafen wir aus Sao Paulo kommend in<br />

Buenos Aires ein - auf der Suche nach dem Verbleib weiterer hundert Deutscher oder auch<br />

Deutschstämmiger, die während 1976 bis 1983 spurlos in Argentinien wie vom Erdboden<br />

verschluckt worden sind. -"Detenido - desaparecido -verhaftet - verschwunden"; über 30.ooo<br />

Menschen in dieser verdunkelten Epoche.<br />

In Elisabeths Alter und Leben, ihrem Werdegang, ihren Wahrnehmungen <strong>als</strong> auch<br />

gesellschaftspolitischen Absichten konnte ich Ähnlichkeiten zu meiner Biografie entdecken.<br />

Parallelen, die mich aufwühlten. Nur mit dem folgenschweren Unterschied, dass mich mein<br />

Veränderungswille in den Journalismus - <strong>als</strong> Intrument der Aufklärung -trieb. Elisabeth hingegen<br />

setzte sich auf die andere Seite des Tisches - zu den Armen, Entrechteten, Farbigen,<br />

Ausgestoßenen oder zu den Verdammten dieser Erde, um mit Frantz Fanon (*1925+1961) zu<br />

sprechen - dem Vordenker der Entkolonialisierung.<br />

Rückblick auf eine Biografie. -Elisabeth, Tochter des Tübinger Theologie-Professors<br />

Ernst Käsemann (*1906+1998) , studiert um 1968 Soziologie an der Freien Universität in West-<br />

Berlin. Sie diskutierte immer und immer wieder mit dem SDS-Vordenker und Gesellschafts-<br />

Architekten Rudi Dutschke (*1940+1979 ). APO-Jahre, Rebellen-Jahre. Jahre der Träumen, der<br />

Entwürfe von Skizzen oder auch Utopien nach einer gerechteren Welt, einer neue deutschen<br />

Republik. Elisabeth wollte nicht warten auf bessere Zeiten, nur in Studenten-Milieus diskutieren,<br />

theoretisieren und dort in solch einem akademischen Umfeld kleben bleiben. Sie wollte raus in die<br />

Welt, dort anpacken, zupacken, wo die alltägliche Not grassierte - etwa in den vielerorts stinkenden,<br />

erbärmlichen Slums von Buenos Aires. Dort arbeitete sie für eine christliche Mission in der Villas<br />

Miserias. Hier glaubte Elisabeth, ihre Lebensaufgabe gefunden zu haben. - Hoffnung.<br />

Ihren täglichen Unterhalt verdiente sie sich mit Übersetzungen und Deutsch-Unterricht.<br />

Den besorgten Eltern im fernen Tübingen schrieb Elisabeth: "Diese Entscheidung, hier in Buenos<br />

Aires zu bleiben, und nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren, fällte ich nicht aus<br />

persönlichen Gründen, sondern aus ideellen. Sie entspringt meiner Verantwortung <strong>als</strong> Mensch. Ich<br />

werde arm sein, ich werde manchmal, mich zurücksehnen nach allem, was ich zu Hause hatte."<br />

In ihren nahezu 300 Folterzentren verschleppten die argentinischen Militärs politische<br />

Gefangene aller Schattierungen: Peronisten, Kommunisten und Bürgerliche, Christen, Juden und<br />

Atheisten - eben Menschen, denen der vorauseilende Gehorsam fremd geblieben ist. Es gab<br />

Zeugenaussagen, die beweisen, dass Elisabeth Käsemann <strong>als</strong> "Mitglied einer politischen<br />

oppositionellen Gruppe" im Folterzentrum "El Vesubio" interniert und zugerichtet worden war -<br />

bis Todesschüsse in den Rücken und ins Genick aus nächster Nähe sie am 24. Mai 1977<br />

hinrichteten.<br />

Es gab Zeugenaussagen, die zweifelsfrei belegen, wie Elisabeth um ihr Leben flehte, auf<br />

Knien kroch, winselte und immer wieder auf Spanisch mit ihrem harten deutschen Akzent<br />

beteuerte: "Das ist die Wahrheit, das ist die Wahrheit ... ". Sie lag angekettet am Boden,<br />

untergebracht in Verschlägen, die an Hundehütten rinnerten. Nichts half - niemand half. Eine<br />

230


englische Freundin, die ebenfalls interniert, gefoltert worden war, diese Weggefährtin kam nach<br />

gezielt-massiver Intervention Englands wieder frei. England.<br />

Nicht so Elisabeth Käsemann. Es ist ein Frauen-Schicksal, das mich auch nach Jahrzehnte<br />

danach zornig, bitter und verächtlich werden lässt - unvergeßlich bleibt. Wie der deutsche<br />

Botschafter Jörg Kastl (1977-1980 ) mit schrägem, feistem Grinsen im fernen Buenos Aires beim<br />

Hummer-Menü im Gespräch mit mir zynisch daher schwadroniert. "Wer in einem - äh - Spannungs-feld<br />

in die Schuss - äh - linie gerät, der ist in Gefahr."<br />

Dabei hatte das Auswärtige Amt genaue Hinweise, wo Elisabeth Käsemann gefangen<br />

gehalten wurde. Aber die Diplomaten unternahmen nachweislich nichts um das Leben dieser<br />

deutschen Staatsbürgerin zu retten. Mittlerweile gilt es <strong>als</strong> verbrieft, dass weder die Botschaft in<br />

Buenos Aires, noch das Auswärtige Amt mit Hans-Dietrich Genscher (FDP) an der Spitze noch<br />

Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) sich jem<strong>als</strong> nachhaltig bemühten, intervenierten - das Leben<br />

einer gefolterten deutschen Studentin aus kirchlichem Haus zu retten. Die englische Regierung tat<br />

das mit Erfolg, die deutsche lehnte solch ein Ansinnen kategorisch ab. Die Moral der Geschicht':<br />

Eine verkaufte Mercedes-Karosse wiegt eben mehr <strong>als</strong> ein Atem. - Schubladen auf und Schublade<br />

wieder zu. Argentiniens Propaganda-Trick über eine vermeintliche Terroristin, der Ulrike Meinhof<br />

(*1934+1976) Südamerikas die in Wirklichkeit eine friedfertige Sozialarbeiterin war, zeitigte<br />

Wirkung.<br />

Bemerkenswert an dieser Vertretung der Deutschen in Buenos Aires war, wem sie da<br />

sonst so ihre Fürsorgepflicht angedeihen ließ. Vornehmlich dann, wenn es in dieser Nachkriegs-<br />

Epoche um Alt-Nazis ging, waren bundesdeutsche Diplomaten stets hilfsbereit zur Stelle. Belegt<br />

ist, dass der SS-Massenmörder namens Adolf Eichmann (*1906+1962, für die Ermordung von<br />

sechs Millionen Juden zentral mitverantwortlich), vor seiner Entdeckung im Jahre 1962 in<br />

Argentinien in der deutschen Botschaft zu Buenos Aires Schutz, Obhut, Gespräche und gefälschte<br />

Ausweispapiere suchte. Den deutschen Diplomaten zu Südamerika waren über Jahre offenkundig<br />

flüchtende Nazis wichtiger, <strong>als</strong> etwa Verbindungen zu einer angereisten Soziologie-Studentin - mit<br />

kesser Lippe ohnehin eine "linke Spinnerin" sondergleichen. Bei Eichmann und Co. stimmte<br />

zumindest eines einvernehmlich: Herkunft, Gedanken-Nähe, Karriere-Muster -unverwechselbar<br />

der Stallgeruch.<br />

Es galt in Deutschlands Diplomaten-Kreisen zu Bonn und anderswo Ende der sechziger,<br />

bis Mitte der siebziger Jahre hinein <strong>als</strong> ein "offenes Geheimnis", wer und auch wo Alt-Nazis in<br />

Sachen Deutschland noch unterwegs waren, ihre Kanäle fingierten.. Jeder wusste es, keiner sprach<br />

darüber. - Als junger Reporter, in vielen Länder unterwegs, habe ich es zunächst nicht glauben<br />

wollen - aber dann notgedrungen erleben, zur Kenntnis nehmen müssen, wie viele Braunröcke aus<br />

der Nazi-Zeit unter dem Schutz der "Corps diplomatique" unbehelligt überwinterten. - Schonzeit.<br />

Verquere Zeiten.<br />

Folgerichtig gab Außenamts-Staatssekretär Günther van Well (FDP *1922+1993) nach<br />

einem Treffen mit General Videla im Jahre 1978 in Buenos Aires freimütig zu, dass das Thema der<br />

verschwundenen, gefolterten, ermordeten Deutschen in Argentinien überhaupt nicht angesprochen<br />

worden sei. Leisetreterei hieß das hinter vorgehaltener Hand - ausschließlich standen deutsche<br />

Exportlieferungen im Werte von drei Milliarden Mark im Mittelpunkt - Waffen und nochm<strong>als</strong><br />

Waffen, Kampf-Panzer und nochm<strong>als</strong> U-Boote, Ma- schinenpistolen vornehmlich für den<br />

Straßenkampf - Made in Germany.<br />

231


Am 10. Juni 1977 kehrte die Leiche Elisabeth Käsemanns im Frachtraum einer Lufthansa-<br />

Maschine nach Deutschland zurück, wurde sie in ihrer Heimatstadt Tübingen beerdigt. Die Eltern<br />

hatten über Mittelsmänner den Leichnam der Tochter für 22.000 Dollar freikaufen können. Vater<br />

Ernst Käsemann musste nach Argentinien reisen, um den Leichnam seiner Tochter ausgehändigt<br />

zu bekommen. Die Leiche hatte weder Haare noch Augen. Gerichtsmediziner in Tübingen<br />

konstatierten: dass Elisabeth von hinten durch vier Schüsse getötet wurde, was auf eine typische<br />

Exekution hinweist.<br />

Elisabeth Käsemann wurde am 16. Juni 1977 auf dem Lustnauer Friedhof zu Tübingen<br />

beigesetzt. An diesem Tag erklärten ihre Eltern: "Wir haben heute unsere Tochter Elisabeth auf<br />

dem Lustnauer Friedhof bestattet. Am 11. Mai 1947 geboren, am 24. Mai 1977 von Organen der<br />

Militärdiktatur in Buenos Aires ermordet, gab sie ihr Leben für Freiheit und mehr Gerechtigkeit in<br />

einem von ihr geliebten Lande. Ungebrochen im Wollen mit ihr einig, tragen wir unsern Schmerz<br />

aus der Kraft Christi und vergessen nicht durch sie empfundene Güte und Freude."<br />

Finale eines Verbrechens - Im Auftrag der Koalition gegen die Straflosigkeit vieler<br />

Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Argentinien während der Militär- diktatur erstattete am 25.<br />

März 1999 Rechtsanwalt Roland Deckert Strafanzeige im Fall Käsemann. Das Amtsgericht<br />

Nürnberg erließ am 11. Juli 2001 Haft- befehl gegen den früheren argentinischen General Carlos<br />

Guillermo Suárez Mason . Er stand unter konkretem Verdacht, die Ermordung Elisabeth<br />

Käsemanns befehligt zu haben.<br />

Ihr Scherge, Carlos Guillermo Suárez Mason (*1924-+2005), der in Argentinien den<br />

Beinamen "der Schlächter des El Olimpo" trug, wurde für die Entführung von 254 Personen und<br />

der illegalen Adoption von Kindern verschwundener Kritiker verurteilt. Im Jahre 1979 sagte er<br />

angeblich gegenüber einem Vertreter der US-Bot- schaft, dass er jeden Tag zwischen 50 und 100<br />

Todeurteile unterzeichne. Italien, Deutschland und Spanien hatten seine Auslieferung beantragt. -<br />

Abgelehnt.<br />

Im November 2003 wurden Auslieferungsanträge gegen die Beschuldigten Jorge Rafael<br />

Videla, ehemaliger Präsident der Militärjunta, und gegen Ex-Admiral Emilio Eduardo Massera<br />

erlassen. - Die Anträge aus Deutschland wurden am 17. April 2007 vom Obersten Gerichtshof<br />

Argentiniens abgewiesen - die Akte Elisa- beth Käsemann endgültig geschlossen.<br />

Nur wenige der geheimen Gefangenenlager oder Folterzentren sind nach den Jahren der<br />

Miltiärdikatur (1976-1983) <strong>als</strong> Gedenkstätten erhalten geblieben. Die Gebäude von "El Vesubio",<br />

in der Elisabeth Käsemann ihr Leben ließ, wurden abgerissen. Ein früheres Folterzentrum im<br />

Stadtteil Belgrano von Buenos Aires war in den 90er Jahren der Partykeller - ein ehemaliges Junta-<br />

Mitglied hatte es gemietet, um dort die Hochzeit seiner Tochter zu feiern.<br />

Wie in allen lateinamerikanischen Ländern liegt auch in Argentinien die tiefere Ursache für<br />

den politischen Zer- fall in wirtschaftlichen Problemen. Die Staaten Süd-amerikas sind in erster<br />

Linie Exporteure von Rohstoffen und Agrarprodukten. Seit dem Koreakrieg ( 1950-1953) sind die<br />

Preise für diese Produkte - abgesehen von kleinen Schwankungen und einem Zwischenhoch kurz<br />

nach der Ölkrise im Jahre 1973 -kontinuierlich gefallen. Die "Terms of Trade" entwickelten sich<br />

immer zum Nachteil dieser Länder. Deren Kassen wurden leerer, die schon vorhandenen krassen<br />

sozialen Gegensätze ver- schärften sich weiter. In vielen dieser Länder kam es vorübergehend zu<br />

linksreformerischen oder links- revolutionären Systemen, die versuchten, mit einem nationalistischsozialistischen<br />

Rezept diesen Tendenzen Einhalt zu gebieten. Dazu gehörten das Zurückdrängen<br />

der multinationalen Unternehmen mit ihrer Kontrolle über die wichtigsten Produkte, die<br />

232


Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und die staatliche Kontrolle des Außenhandels. Mit diesem<br />

Programm traten in Latein- amerika ganz unterschiedliche linke Strömungen an; Salvador Allende<br />

(*1908+1973; chilenischer Präsident 1970-1973), General Juan José Torres González (1921-1976),<br />

die reformerischen Generäle in Peru und in Argentinien der Peronismus.<br />

Juan Domingo Perón (*1895+1974) regierte Argentinien zwei Mal. Seine Amtszeit dauerte<br />

von 1946 bis 1955, seine zweite währte von 1973 bis zu seinem Tod am 1. Juli 1974. Auch Perón<br />

war ein klassischer Diktator, ein wesentlicher Zug aber unterschied ihn von Amtskollegen à la<br />

Alfredo Stroessner (*1912+2006; Präsident und Diktator von Paraguay 1954-1989) in Paraguay.<br />

Das waren Peróns sozialreformerischen Ideen. Er setzte sich für eine Steigerung der<br />

Arbeitereinkommen ein, für einen Ausbau des Gewerkschaftssystems. Seine erste Frau Evita<br />

(*1919+1952) wird noch heute in Argentinien verehrt <strong>als</strong> die "Königin der Armen".<br />

Es war allerdings ein sehr spezielles Gewerkschaftssystem, das der argentinische Präsident<br />

aufbaute, keine klassische, demokratische Arbeiterbewegung wie in Europa, sondern ein<br />

Gewerkschaftstum von Peróns Gnaden. Die Gewerkschaftsbosse waren seine Statthalter auf dem<br />

Arbeitersektor und brauchten von dem Moment an, wo sie sein Wohlwollen hatten, nicht mehr zu<br />

befürchten, dass sie abgewählt werden könnten.<br />

Wer Peróns Stimme hatte, der blieb.<br />

So entwickelten sich an der Spitze vieler Gewerkschaften klassische Mafiosi, die ihre<br />

Gewerkschaft wie ein Gangstersyndikat regierten. Typische Beispiele dafür waren die<br />

Metallarbeiter-Bosse. Augusto Vandort, er starb bei einem Attentat, und Lorenzo Miguel, der heute<br />

hinter Gittern sitzt. Standen bei den Metallern Gewerkschaftswahlen an, und es wagte jemand, eine<br />

Gegenliste zu machen, war der so gut wie tot. Vandort und später Miguel schickten ihre<br />

Bodyguards los, die den Opponenten empfahlen, sich schleunigst zu verziehen und denjenigen, der<br />

nicht gehorchte, einfach umnagelten.<br />

Der Sieg bei der Gewerkschaftswahl war dann so gut wie sicher. Hinzu kam: die<br />

Wahlbeteiligung betrug im Durchschnitt nur drei Prozent, und bei dieser Wahlbeteiligung konnten<br />

die Bosse zum großen Teil schon mit den Leuten, die sie in die Gewerkschaft geschleust hatten,<br />

ihre Mehrheit sichern. Dazu gehörten die Bodyguards und die mit Verwaltungsjobs belohnten<br />

Anhänger bis hinunter zum Portier oder zum Fahrer. Die meisten Leute hatten mit dem<br />

Metallarbeitersektor nicht das geringste zu tun.<br />

Einer der größten Gauner im argentinischen Gewerkschaftswesen hieß Coria, er war<br />

Anführer der Bauarbeiter-Gewerkschaft, zugleich aber auch einer der größten Bauunternehmer<br />

Argentiniens. Auch er starb bei einem Anschlag der Linken. Ein anderes Prachtexemplar<br />

argentinischer Gewerkschaftsbewegung war der Anführer der Handelsgewerkschaft March, der<br />

eines Tages eine eigene Bank gründete. Er steckte so viel Einlagegelder <strong>als</strong> Nettogewinn weg, dass<br />

selbst die Bankaufsicht in Argentinien nicht mitmachen wollte. Der Mann wanderte hinter Gitter,<br />

für ein Jahr allerdings nur, und in eine Luxuszelle mit Fernsehen.<br />

Wie verrottet auch immer die peronistischen Gewerkschaften sich entwickelten, zu einem<br />

hatte es politisch geführt: Ein großer Teil der Linken wurde in Argentinien aufgezogen durch die<br />

peronistische Bewegung. Nach seiner ersten Amtszeit (1946-1955) wurde Perón gezwungen, ins<br />

Exil zu gehen. In Argentinien wechselten sich dann in rascher Folge Militärregierung und<br />

Zivilregierungen ab. Keiner aber ist es gelungen, die peronistische Bewegung aufzusaugen. Perón<br />

und erst recht seine Frau Evita, die 1952 an Krebs starb, waren längst zu einem übergroßen Mythos<br />

in Argentinien geworden.<br />

233


Vom Exil aus bestärkte Perón die nachwachsende junge Generation, die sich in<br />

Anlehnung an die gegen die englischen Kolonialherren rebellierende Gauchos des 19. Jahrhunderts<br />

Montoneros nannten, in ihrem Engagement für einen nationalen Sozialismus und in ihrer<br />

Opposition gegen die jeweils herrschende Regierung. Perón feierte sie <strong>als</strong> "herrlichste Jugend", die<br />

mit der Waffe in der Hand gegen militärische Diktatur kämpft und bereit ist, ihr Leben fürs<br />

Vaterland und soziale Gerechtigkeit zu geben".<br />

Als Perón 1973 zurückkam, fand er so eine breite Masse enthusiastischer jugendlicher<br />

Peronisten vor, die ihn persönlich gar nicht kannten. Es waren Linke unterschiedlichster Couleur,<br />

Trotzkisten, Kommunisten. Als Perón dann wieder an der Macht war, wollte er nichts länger von<br />

ihnen wissen. Öffentlich höhnte er: "Mit den Linken kann man kämpfen, aber nicht regieren." -<br />

Regieren wollte Perón lieber - wie früher -mit der alten Gewerkschaftsclique. Immerhin, Perón<br />

hatte noch das Prestige, den totalen Bruch zwischen diesem linken Flügel und seiner Bewegung zu<br />

vermeiden.<br />

Als Perón allerdings am 1. Juli 1974 starb und seine dritte Frau, die völlig unbedarfte<br />

Isabel, eine ehemalige Nachtclub-Tänzerin, an die Macht kam (1974-1976), hielt diese Arrangement<br />

nicht mehr. Isabel regierte mit einer Gauner-Clique, allen voran der ehemalige Jahrmarkts-<br />

Astrologen und Zauberkünstler José Lopez Rega (1916+1989) , von Interpol weltweit wegen<br />

Unterschlagung gesucht. Ihre wichtigste Aufgabe bestand darin, Geldbetrag um Geldbetrag die<br />

Staatskasse Argentiniens zu plündern -Millionensummen. Was zum Beispiel aus Wohlfahrtsfonds<br />

hereinkam, buchten sie auf persönliche Konten ab. In zweieinhalb Jahren, in denen Rega an der<br />

Macht war, konnte er allein sich rund 120 Millionen Dollar zusammengaunern. Gegen diese<br />

korrupte Clique machte eine breite Schicht der eigenen Bewegung Front, am rabiatesten die linken<br />

Gruppierungen, die sich schnell und sehr effektiv <strong>als</strong> Guerilla organisierten. So kam es, dass<br />

Argentinien zum Zeitpunkt der Amtsausübung von Isabel eine pero- nistische Regierung hatte und<br />

eine personistische Guerilla, die sich beide bis aufs Messer bekämpften.<br />

Neben den Montoneros hatten sich seit 1970 noch eine andere Guerilla-Organisation<br />

gebildet, die ERP, der bewaffnete Flügel der trotzkistischen Revolutionären Arbeiterpartei. Das<br />

Operationsfeld der ERP war vor- nehmlich die Gegend um Córdoba. Zeitweise gelang es der ERP,<br />

ein Areal im Norden des Landes etwa von der Größe des Saarlandes unter Kontrolle zu bringen<br />

und <strong>als</strong> "befreite Zone" auszurufen.<br />

Als am 24. März 1976 General Videla an die Macht kam, hatte Argentinien die stärkste<br />

Guerilla auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Ihr Sympathisantenkreis wird heute noch auf<br />

120.000 Personen geschätzt, trotz aller Verhaftungen und Morde noch eine riesige potenzielle<br />

Untergrundarmee. Die Kriegskasse der Guerilla-Kämpfer wird auf zwei Drittel des argentinischen<br />

Militärbudgets taxiert. Allein durch das Kidnappen der Gebrüder Born, Inhaber eines riesigen<br />

Getreide konzerns, kassierten die Untergrundkämpfer 60 Millionen Dollar.<br />

Bei einer Reihe Aktionen zeigte die Guerilla ihre Stärke. Am 19. Juni 1976 töteten die<br />

Untergrundkämpfer den Polizeichef von Argentinien, General Cardozo. Eine<br />

Widerstandskämpferin, die 18 Jahre alte Ana Maria Gonzales, hatte sich mit der Tochter des<br />

Gener<strong>als</strong> befreundet und dann eine Bombe unter das Bett von Cardozo platziert.<br />

Am 19. August 1976 wurde General Omar Carlos Actis, Vorsitzender des staatlichen<br />

Komitees für die Fußball- weltmeisterschaft 1978, ermordet. Am 2. Oktober 1976 explodierte im<br />

streng bewachten und abgeriegelten Militärareal Campo de Mayo eine gewaltige Bombe in einer<br />

Militärbaracke, in der sich noch wenige Minuten zuvor der argentinische Präsident General Videla<br />

234


aufgehalten hatte. Mit knapper Not entging Videla auch im März 1977 einem Anschlag.<br />

Zentnerschwerer Sprengstoff riss ein neun Meter tiefes Loch in die Landebahn des Stadtflughafens<br />

von Buenos Aires, kurz nachdem die Privatmaschine von General Videla abgehoben hatte.<br />

Staatsstreiche, <strong>als</strong>o der gewaltsame Umsturz bestehender politischer Machtverhältnisse,<br />

sind in Südamerika nichts Außergewöhnliches. Sie gehören lange Jahre sozusagen zur Folklore. Seit<br />

1930 gab es insgesamt 121 erfolgreiche Putsche auf dem amerikanischen Subkontinent. In den<br />

früheren Jahren floss meist nicht viel Blut. Der "golpe de teléfono", der Staatsstreich per Telefon,<br />

bei dem die Armee des Landes dem regierenden Präsidenten das Ende seiner Amtszeit mitteilte,<br />

besorgte den Übergang auf neue Machtträger in relativer Harmlosigkeit. Die Armee begnügte sich<br />

mit einer Hintergrundrolle im Sinne des "corriger la fortune". Sie sorgte dafür, dass ungeachtet<br />

irgendwelcher Wahlergebnisse oder Koalitionsabsprachen ihr genehme Potentaten das Staatsruder<br />

in der Hand hielten. In den letzten Jahren aber wurde der "golpe de teléfono" abgelöst durch den<br />

"auto golpe".<br />

Der Herrschaftsanspruch des Militärs hatte sich geändert, es wollte jetzt selbst regieren.<br />

Brasilien machte 1964 den Anfang, das zweite Land war Chile 1973, es folgte am 24. März 1976<br />

Argentinien.<br />

Und wie schon in Brasilien und Chile wurde auch in Argentinien ein Beispiel dafür, dass<br />

mit der neuen Form des Staatsstreichs eine Eskalation der Gewalt einherging. Die angewandten<br />

Mittel stellten den Zweck des Unternehmens, nämlich Ordnung zu schaffen, in Frage. Unter dem<br />

Vorwand, dem Land Sicherheit zu zurückzu- geben, errichtete Argentiniens General Videla ein<br />

Terrorregime. Um illegaler Gewalt zu begegnen, wurden die Schutzrechte des einzelnen außer<br />

Kraft gesetzt und gewalttätige Illegalität geduldet. Das Recht wurde auf zweifache Weise<br />

gebrochen: Zum ersten wurden Gesetze geschaffen, die der argentinischen Verfassung widersprachen;<br />

zum zweiten missachteten Armee und Polizei selbst diese Gesetze.<br />

Unterdrückungsinstrumentarien der argentinischen Junta umfasst im wesentlichen folgende<br />

Gesetze und Verordnungen:<br />

Die Aufrufung des Ausnahmezustands, der die Verhaftung jedes Oppositionellen<br />

ermöglicht. Dabei wurde ausdrücklich jener Artikel 23 der National- versammlung außer Kraft<br />

gesetzt, der bisher den unter Ausnahmerecht Festgenommenen die Möglichkeit gab, das Land zu<br />

verlassen;<br />

• festgenomme Zivilisten werden Militärgerichten überantwortet, was Artikel 95 der<br />

argentinischen Nationalverfassung ausdrücklich verbietet;<br />

• den vor einen Militärgerichtshof gestellten zivilen Angeklagten ist ausdrücklich<br />

untersagt, einen zivilen Anwalt zu nehmen. Sie müssen ihre Verteidigung einem<br />

Offizier übertragen;<br />

• Parteien wurden verboten, jegliche politische Betätigung wurde untersagt. Selbst das<br />

Schreiben einer Parteiparole wird verfolgt;<br />

• sämtliche kollektiven Rechte der Arbeiter wurden außer Kraft gesetzt: das<br />

Streikrecht, das Versamm- lungsrecht, das Recht auf Abschluss von Kollektivverträgen;<br />

• die Todesstrafe wurde eingeführt. Sie ist ab 16 Jahren vollstreckbar;<br />

235


Geständnisse während eines Verhörs erübrigen fortan die Beweisaufnahme vor Gericht;<br />

es sei denn, ein Angeklagter kann beweisen, dass er sein Geständnis unter Folter abgegeben hat.<br />

Die Beweislast liegt dann bei hm. Bisher hat noch kein Zeuge geladenerer Folterer sein Handeln<br />

zugegeben.<br />

Begleitende Maßnahmen sind Strafzumessungen außerhald jeder Relation: Der Besitz<br />

einer Pistole etwa kann eine 15jährige Gefängnisstrafe nach sich ziehen. Eine totale Pressezensur<br />

wurde verfügt. Zeitungen und Rundfunk wurde am 22. April 1976 durch Regierungsdekret sogar<br />

verboten, über den Tod von "Subversiven" oder das Auffinden von Leichen zu berichten, wenn<br />

dies nicht von offizieller Seite bekanntgegeben war. Dazu kommt der nackte Terror:<br />

Lord Avebury zählte in seinem Bericht für amnesty international nach der Befragung<br />

argentinischer Gefangener <strong>als</strong> gängigste Methoden auf; Schläge, Elektroschocks, U-Boot (das<br />

Eintauchen in Wasser bis kurz vor dem Erstickungstod), das Verbrennen mit Zigaretten, das<br />

Überschütten von Gefangenen mit Wasser bei Minus-temperaturen, das Aufhängen von Opfern an<br />

den Handgelenken, der Entzug von Nahrung, Getränken und Schlaf, Vergewaltigung. Die<br />

argentinische Menschenrechts-Kommission nennt in ihrem Bericht unter Berufung auf<br />

Zeugenaussagen noch weitere Ungeheuerlichkeiten: das Absägen von Händen oder Füßen,<br />

Verstümmelung durch beißende Hunde, die auf die Opfer gehetzt werden.<br />

Die schmutzigste Arbeit überlassen die Militärs der Alianza Argentina Anticomunista.<br />

Diese Todes- kommandos, zusammengesetzt aus rechts-extremistischen Soldaten, die einen<br />

Feierabendjob brauchen sowie Militärs und Polizisten, die dienstfrei haben, verhaften,<br />

verschleppen, plündern, foltern und töten mit Billigung der amtlichen Stellen. In keinem einzigen<br />

Fall wurde versucht, eine Untersuchung der Aktionen der AAA vorzunehmen, im Gegenteil: die<br />

AAA-Kommandos sind ausgerüstet mit den Ford-Falcons der Sicherheitskräfte. Rufen tatsächlich<br />

einmal Augenzeugen einer AAA-Aktion die Polizei, dann lassen die Polizisten diese Kommandos<br />

ungestört weiter agieren.<br />

Im August 1976 erklärte der argentinische Außen minister Admiral César Guzetti (*1925<br />

+1988) nach einer Rede vor den Vereinten Nationen in New York: "Meine Vorstellung von<br />

Subversion oder Terror ist das Auftreten von linken Terrororganisationen. Subversion oder Terror<br />

auf der Rechten ist nicht dasselbe. Wenn der soziale Körper eines Landes infiziert ist, bildet er<br />

Anti-Körper. Diese Anti-Körper kann man nicht in gleicher Weise beurteilen wie die Bakterien. Sie<br />

sind nur eine natürliche Reaktion auf eine Krankheit." Während seiner Amtszeit traf sich César<br />

Guzetti mit seinem amerikanischen Amtskollegen Henry Kissinger (1973-1977). Er sicherte der<br />

Militärjunta seine Unterstützung zu.<br />

Nach dem Mord an dem General Omar Actis, dem Organisator der Fußball-<br />

Weltmeisterschaft 1978, wurden am nächsten Tag in einer Vorstadt von Buenos Aires 30 Leichen<br />

gefunden, von Schüssen und Dynamit zerrissen. Keiner dieser Toten hatte Schlipse, Gürtel oder<br />

Schuhbänder - sichere Indizien dafür, dass es sich um Gefangene handelte. Das gleiche passierte<br />

nach dem Anschlag auf den Polizeichef Cardozo. Noch am selben Tag wurde das Elternhaus der<br />

Attentäterin in die Luft gesprengt, in der darauffolgenden Nacht wurde auf einem Parkplatz im<br />

Zentrum von Buenos Aires die verstümmelten Leichen von acht jungen Männern und Frauen<br />

gefunden.<br />

Zwar ist die Todesstrafe offiziell wieder eingeführt, aber die Militärs haben entdeckt, dass<br />

die Ermordung unliebsamer politischer Gegner bequemer ist <strong>als</strong> eine legale Erschießung, bei der es<br />

zu Protesten aus dem Ausland kommen kann. Am 6. Oktober 1976 wurden auf hartnäckige<br />

236


Gesuche von Verwandten hin 34 Leichen auf dem Moreno-Friedhof südlich von Buenos Aires<br />

exhumiert. Bei allen Leichen waren die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Sie konnten<br />

<strong>als</strong> die Opfer einer Anti-Guerillia-Aktion identifiziert werden, die am 14. April 1976 in diesem<br />

Vorort von Buenos Aires abgelaufen war. Auf dem zentralen Friedhof in Córdoba hoben Militärs<br />

am 10. Oktober 1976 ein Massengrab mit Baggern aus, mindestens 60 Leichen wurden<br />

hineingeworfen. Die Stelle wurde anschließend zubetoniert. Dazu amnesty international: "Es ist<br />

offensichtlich, dass in Argentinien eine große Zahl von Leuten, die spurlos verschwanden,<br />

inoffiziell exekutiert worden sind." Häufig allerdings geben die Militärs auch nach solchen<br />

Erschießungen ein Kommuniqué heraus. Darin heißt es in nahezu immer wortgleichen<br />

Formulierungen: "Die Gefangenen wurden beim Fluchtversuch erschossen." Oder: "Die<br />

Sicherheitskräfte konnten mehrere subversive Personen aufspüren. Als sie sich weigerten, einem<br />

Haftbefehl zu folgen, kam es zum Schusswechsel, bei dem mehrere sub- versive Verbrecher den<br />

Tod fanden."<br />

Der Terror des Videlas-Regimes richtet sich nicht nur gegen die eigenen Landsleute,<br />

sondern auch gegen die rund 12.000 Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten, die in den letzten Jahren<br />

in Argentinien Asyl gefunden hatten. Im Büro des Hohen Kommissars für das Flüchtlings- wesen<br />

der Vereinten Nationen in Buenoes Aires - es ist im 8. Stock der Einkaufsstraße SuiPacha 280<br />

untergebracht - hängt ein Plakat mit dem englischen Satz: "It doesn't take much to become a<br />

refugee - your race or belief can be enough" ("Es ist nicht schwer, ein Flüchtling zu werden, deine<br />

Rasse oder dein Glauben können genügen").<br />

Seit dem Amtsantritt Videla ist es in Argentinien nicht schwer, <strong>als</strong> Flüchtling eine Leiche<br />

zu werden. Am 2. April 1976 trug die staatliche Einwanderungsbehörde allen in Argentinien<br />

lebenden Flüchtlingen auf, ihren Wohnort anzugeben und sich anschließend alle 30 Tage bei der<br />

Polizei zu melden. Als Strafe wurde der Entzug des Asylrechts angedroht. Diese auf den ersten<br />

Blick harmlos administrative Maßnahme hatte für viele tödliche Folgen.<br />

So wurden wenige Tage später in einem Hotel im Zentrum von Buenos Aires der<br />

ehemalige uruguayische Senator Zelmar Michelini und der ehemalige Parlamentspräsident von<br />

Uruguay Hector Ruiz verhaftet und kurz darauf von Kugeln durchsiebt an einer Straße gefunden.<br />

Am 26. Mai 1976 wurde der ehemalige Präsident von Bolivien, General Juan Jose Torres<br />

(*1920+1976, Präsident von Bolivien 1970/1971) aus seiner Asylwohnung in Buenos Aires<br />

entführt und einen Tag später 80 Kilometer außerhalb der Hauptstadt ermordet aufgefunden.<br />

Torres wurde im Rahmen der Operación Cóndor erschossen. Unter diesem Codenamen operierten<br />

in den 70er und 80er Jahren Sicherheitsdienste von sechs lateinamerikanischen Ländern mit der<br />

erklärten Absicht, linke politische und oppositionelle Kräfte weltweit zu verfolgen und<br />

auszuschalten. Nach den bisherigen Ermittlungen - Jahr 2008 - sowie der Auswertung von<br />

Dokumenten fielen mindestens 200 Personen der Operación Condor zum Opfer. Menschenrechtsorganisation<br />

wie amnesty international (ai) gehen jedoch von einer weitaus höheren Anzahl<br />

Ermorderter aus. ai befürchtet, dass unter den latein- amerikanischen Regimen bis zu 50. o00<br />

Menschen ihr Leben ließen, weitere 35.000 noch immer vermisst werden.<br />

Nach nunmehr ausgewerteten amerikanischen Dokumenten war es insbesondere US-<br />

Sicherheitsberater Henry Kissinger während der Präsidentschaft von Richard Nixon (1969-1974),<br />

der die Operación Condor aktiv unterstützte. Er befürchtete eine marxistische Revolution in<br />

Lateinamerika. Demzufolge betrachtete Friedensnobelpreisträger Kissinger (1973) die<br />

Militärdiktatoren <strong>als</strong> Verbündete der USA. Bemerkenswert ist zudem, dass Frankreich Veteranen<br />

aus dem Algerienkrieg (1954-1962) den lateinamerikanischen Militärs zwecks Erfahrungsaustausch<br />

237


einschließlich Sondertrainingsprogramme zur Verfügung stellten. Thema: Effektivität der<br />

Foltermethoden<br />

Zwei markante Schicksale - stellvertretend für viele, sehr viele. Anders <strong>als</strong> in Brasilien oder<br />

in Chile hat sich die katholische Kirche in Argentinien noch nicht zu einer eindeutigen Opposition<br />

gegen das Willkür-Regime der Generäle durchringen können. Eher im Gegenteil. Der<br />

Militärbischof Victorio Bonamin verkündet in seinen von Funk und Fernsehen übertragenden<br />

Predigten: "Der Kampf gegen die Subversion ist ein Kampf zur Verteidigung der Moral, der<br />

Menschenwürde und der Religion. Es ist ein Kampf zur Verteidigung von Gott. Der Feind hat es<br />

selbst so gewollt." Oder: "Wir befinden uns am Vorabend eines reinen und heiligen Argentiniens."<br />

Obgleich auch zahlreiche Priester von den Militärs wegen angeblicher Zusammenarbeit mit den<br />

Linken ermordet wurden, hat das katholische Episkopat in einem Dokument über die<br />

Menschenrechte sich bislang nur zu so verhaltener Kritik aufraffen können wie: "Im Eifer, die<br />

Sicherheit zu erlangen, die wir alle so sehr wünschen, könnten Fehler begangen werden:<br />

willkürliche Verhaftungen, unverständlich lange Festnahmen, Unwissenheit über den Verbleib von<br />

Verhafteten, Isolation von fraglicher Dauer, Verweigerung geistlichen Beistands."<br />

Die Militärs in Argentinien haben so praktisch überhaupt keine legale Institution zu<br />

fürchten, die ihnen wirksam Opposition bieten könnte. Angesichts dieser Situation kommt der<br />

britische Lord Avebury in seinem Bericht für amnesty international zu dem Schluss: "Die<br />

Missachtung der Menschenrechte in Argentinien ist an sich schon alarmierend genug. Was sie noch<br />

schlimmer macht, ist die Tatsache, dass ein Ende dieses Miss- standes nicht erkennbar ist."<br />

Postscriptum . -Es bedurfte nur wenige Jahre der Millitärs an der Macht, um ihre Politik<br />

dem Ausverkauf Argentiniens gleich zu setzen. Das Land war dem wirtschaftichen Ruin nahe, sank<br />

die Industrieproduk- tion um 4o Prozent, stieg die Staatsverschuldung auf ungeahnte<br />

Rekordhöhen. Mit den 1982 gegen England geführten und verlorenen Waffengang um die<br />

Zugehörigkeit der Falkland-Inseln suchten die Militärs letztmalig, die ihrer Meinung nach zentrale<br />

nationale Idee zu mobilisieren. Vergeblich. Wirtschaftliche Panik um Betriebe und Arbeitsplätze,<br />

um den Wohlstand schlechthin, sind seither weitaus größer.<br />

Die gescheiterten Generale zogen sich in ihre Kasernen zurück. Im Jahre 1983 votierten<br />

die Argen- tinier und Argentinierinnen nach fortwährenden Massenprotesten gegen den<br />

ökonomischen Verfall Raúl Alfonsin 1983-1989) zum ersten frei gewählten Präsidenten nach der<br />

Soldaten-Herrschaft. Seit 1977 verlangten die "Madres de Plaza de Mayo" in ihren fortwährenden<br />

Demonstrationen und Kundgebungen Aufklärung über den Verbleib, Mord, Freiheits- beraubung<br />

und Torturen an ihren Söhnen. Im Jahre 2006 wird der ehemalige Chefermittler Miguel<br />

Etchecolatz wegen Erschießung, Verstümmelung von politischen Gegner zu lebenslanger Haft<br />

verurteilt. In der Urteilsbegründung wurde erstm<strong>als</strong> von einem argentinischen Gericht der Begriff<br />

Völkermord verwendet.<br />

Einer der Hauptverursacher, General Rafael Videla, musste sich 1985 wegen<br />

Menschenrechtsverletzungen (Mord, Folter, Entführung, Freiheits beraubung) vor Gericht<br />

verantworten und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Fünf Jahre später widerfuhr ihm durch<br />

das sogenannte Schlusspunktgesetz - die Begnadigung. Aufgrund seiner Verantwortung für<br />

Kinderraub musste er sich 1998 erneut inhaftieren lassen. Er hatte im Amt die Adoption von<br />

Kleinkindern inhaftierter Oppositioneller verfügt; im selben Jahr wurde Videla unter Hausarrest<br />

gestellt; 2001 aberm<strong>als</strong> verhaftet. Nun beschuldigte man ihn, Drahtzieher einer Verschörung gegen<br />

Oppositionelle gewesen zu sein.<br />

238


Im selben Jahr wurde er unter Hausarrest gestellt. Im Jahre 2001 erneut verhaftet: man<br />

beschuldigte ihn zusätzlich, während seiner Diktatur Drahtzieher einer Verschwörung gegen<br />

Oppositionelle gewesen zu sein. Mittlerweile kehrte Videla in seine Wohnung im Stadtteil Belgrano<br />

von Buenos Aires zurück - praktisch <strong>als</strong> freier Mann.<br />

239


INDONESIEN: ENDLÖSUNG AUF DER GEFANGENEN-<br />

INSEL BURU<br />

Mit 225,5 Millionen Einwohnern ist Indonesien das größte Insel-Land der Welt.<br />

Es wurde im Jahre 1949 von den Niederlanden unabhängig. Nach etwa fünf Jahrzehnten<br />

Diktatur wurde Indonesien erst im Jahre 2004 von der Weltöffentlichkeit <strong>als</strong><br />

demokratischer Staat anerkannt. Zuvor herrschten Militärs mit allgegenwärtiger Folter,<br />

Deportationen Hunderttausender von Menschen, Vergewaltigungen <strong>als</strong> Dauerzustand.<br />

Massengräber vielerorts - Gefangenen-Inseln waren die Folgen jene Schreckensjahre -<br />

Rückblicke auf das eigentlich Undenkbare, Unfassbare.<br />

stern, Hamburg 18. August 1977<br />

Indonesien - Bilder von weißen weiten Stränden unter Palmen, blauem Meer, tropischen<br />

Himmel und Blumen streuenden, zartgliedrigen Tänzerinnen auf Bali verbinden sich mit diesem<br />

Namen. Doch die Prospekt-Schönheit vom Reich der 13.000 Inseln ist eine trügerische Idylle. Die<br />

Wirklichkeit sieht so aus: Indonesien hält mit 100.000 politischen Gefangenen den absoluten<br />

Weltrekord. Erst im weiten Abstand folgt an zweiter Stelle mit etwa 10.000 politischen Gefangenen<br />

die Sowjetunion.<br />

Die Eingekerkerten leben entweder, wenn sie <strong>als</strong> besonders gefährlich gelten, in finsteren<br />

Verliesen auf der Hauptinsel Java (Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt: "Selbst Tiere werden<br />

menschlicher behandelt") oder sie sind auf ferne, unwirtliche Inseln verbannt, etwa auf der<br />

berüchtigte "Island Buru", zweitausend Kilometer weg von der Hauptstadt Djakarta, dem Sibirien<br />

Indonesiens. Beri, beri, Malaria, Tuberkulose grassieren unter den Gefangenen, lassen sie zu<br />

Hunderten sterben. Dazu kommt Unterernährung, Deportierte haben zudem selber für ihr<br />

tägliches Brot zu sorgen. Doch der karge Boden gibt keine ausreichenden Ernten her. Außerdem<br />

müssen die Gefangenen viel von dem, was sie den dürren Feldern abtrotzten, <strong>als</strong> Ernteertrag an die<br />

Behörden abführen. In ihrer Not machen die Internierten Jagd auf Ratten und Schlangen, die sie<br />

zum Teil vor Hunger roh essen (so ein Report von amnesty international).<br />

Die politischen Gefangenen Indonesiens leben ohne Hoffnung. Sie wurden meist vor<br />

über zehn Jahren eingesperrt, seither warten sie auf ihren Prozess. Sie werden wohl auch noch die<br />

nächsten zehn Jahre warten müssen. Denn nach offiziellen Angaben der indonesischen Regierung<br />

wurden bisher weniger <strong>als</strong> 800 Personen vor Militärtribunalen oder Zivilgerichten abgeurteilt, ein<br />

Drittel zum Tode.<br />

Die regierenden indonesischen Militärs profitierten von der geografischen Lage ihres<br />

Herrschaftsbereichs. Die Grausamkeiten auf dem abgelegenen fernöstlichen Inselstaat blieben über<br />

ein Jahrzehnt der Weltöffentlichkeit verborgen. Erst nach dem Amtsantritt von US-Präsident<br />

Jimmy Carter (1977-1981) interessierte sich der amerikanische Kongress auch für<br />

Menschenrechtsverletzungen in Indonesien. Der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher<br />

(1974-1992), der im Frühjahr 1977 eine Asienreise unternahm und dabei Indonesien besuchte,<br />

setzte sich nun ebenfalls gegenüber Präsident Haji Mohamed Suharto (*1921+2008) und<br />

Außenminister Malik für die Freilassung der Inhaftierten ein. Nur dann, so Genscher, könne weiter<br />

mit deutscher Hilfe und deutschen Investitionen gerechnet werden, wenn das indonesische Regime<br />

von seiner brutalen Unterdrückungspolitik des innenpolitischen Gegners ablasse.<br />

240


Das Internationale Rote Kreuz entschloss sich im Mai 1977 zu einem ungewöhnlichen<br />

Schritt, um auf die verzweifelte Situation der politischen Gefangenen aufmerksam zu machen.<br />

Gehört es normalerweise zur Geschäftsgrundlage des Roten Kreuzes, unter Ausschluss der<br />

Öffentlichkeit Regierungen in vertraulichen Berichten eine Abänderung betreffender Missstände zu<br />

fordern, so wählte das Rote Kreuz im Fall Indonesien den Schritt an die Öffentlichkeit. In einem<br />

Bulletin vom 4. Mai 1977 beschwerte sich das Rote Kreuz darüber, von der indonesischen<br />

Regierung bei einem Inspektionsbesuch über die tatsächliche Lage der Inhaftierten<br />

hinweggetäuscht worden zu sein. Ihm - dem Roten Kreuz - seien nur einige eilig verschönte Lager<br />

gezeigt worden, die für den Besuch mit Betten, Nahrungsmitteln und Freizeitgeräten<br />

vorübergehend ausstaffiert worden seien. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes kündigte<br />

an: "Wir werden weiterhin Reisen in indonesische Gefangenenlager unternehmen und erwarten,<br />

dass uns dabei keine Schwierigkeiten gemacht werden."<br />

Die Zahl von 100.000 politischen Gefangenen in Indonesien ermittelte amnesty<br />

international . Die meisten Institutionen und ausländischen Regierungen, die sich inzwischen um<br />

die Missachtung der Menschenrechte in dem fernen Inselreich kümmern, haben diese Zahl<br />

übernommen. Sie schenken den niedrigen Angaben der indonesischen Behörden keinen Glauben.<br />

In ihren letzten offiziellen Verlautbarungen sprach die indonesische Regierung von 39.000<br />

politischen Gefangenen. Doch gleichzeitig sagte der Gener<strong>als</strong>taatsanwalt Sugih Arto: "Es ist<br />

unmöglich zu sagen, wie viele politische Gefangene es gibt. Es ist eine ständig schwankende Zahl<br />

wie der Wechselkurs des Yen gegenüber dem Dollar."<br />

Die indonesische Tragödie begann im Jahre 1965. Dam<strong>als</strong> regierte in Indonesien der<br />

außenpolitisch nach Peking hin orientierte Präsident Achmed Sukarno (1901-1970), gestützt auf<br />

den Bündnis von Nationalisten, religiöser Parteien und Kommunisten. Die Kommunistische Partei<br />

Indonesiens, die PKI (Partai Komunis Indonesia) hatte im Jahre 1955 bei den letzten Wahlen 16<br />

Prozent der Stimmen errungen, sie war viertstärkste Kraft geworden und wuchs in den folgenden<br />

Jahren ständig. In der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober 1965 putschten Einheiten der<br />

Armee unter Führung von Oberstleutnant Untung. Sie nahmen sechs Heeresgeneräle gefangen und<br />

richteten sie noch am selben Tag hin. Sie erklärten das Kabinett Surkano für abgesetzt. An seine<br />

Stelle installierten sie ein 45 Mann umfassendes Gremium aus Persönlichkeiten aller politischer<br />

Schattierungen. Ausgeschlossen blieben stark antikommunistische Politiker und Militär. Innerhalb<br />

dieses Gremiums waren allerdings auch nur drei Mitglieder Kommunisten.<br />

Die Aufständischen erklärten, sie hätten mit ihrem Putsch einer Revolte konservativer,<br />

vom amerikanischen Geheimdienst CIA unterstützter Teile des Heeres zuvorkommen wollen. Es<br />

sollte später oft davon die Rede sein, dass Präsident Sukarno die Untung-Revolte insgeheim<br />

gefördert hatte. Schon am Nachmittag desselben Tages kam der konservative Gegen-Putsch. Der<br />

Befehlshaber der strategischen Reserve, Generalmajor Suharto, besetzte die Rundfunkstation<br />

Djakartas und erklärte, der Putsch des Oberstleutnant Untung sei von der PKI, von der<br />

Kommunistischen Partei Indonesiens, ferngesteuert gewesen. Doch seine, Suhartos Truppen,<br />

hätten den Umsturz in der indonesischen Republik verhindert und die Ordnung wiederhergestellt.<br />

Generalmajor Suharto, der bald darauf <strong>als</strong> Präsident auch selbst die Verfügungsgewalt<br />

über Menschen, Millionen und Materialien übernahm, stellte die Ordnung mit einem der<br />

folgenschwersten Massaker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder her. Als westliche<br />

Reporter, die den Insel-Staat Ende des siebziger Jahrzehnts bereisten, spürten wir vielerorts Angst,<br />

Furcht, Bangigkeit in diesem von Blut getränkten Land. Auch ich hatte Angst, Schweißausbrüche,<br />

nervöse, nahezu schlaflose Nächte. Ich notierte in meinem Reisetagebuch: "Indonesien - in einer<br />

241


eispiellosen Verfolgungsjagd wurden Menschen linker Gesinnung oder jene, die man vom<br />

Hörensagen dafür hielt, wurden sogenannte Sympathisanten, Chinesen, allzu oft auch private<br />

Rivalen, sie wurden blindlinks aufgespürt, erschlagen, ganze Familien ausgerottet, ihre Anwesen,<br />

Häuser, Wohnungen einfach niedergebrannt." Furcht war unser Wegbegleiter, überall lauerte unter<br />

den noch wenigen Intellektuellen westliche Prägung Friedhofsruhe. Jeder ahnte es, keiner wusste es<br />

genau, wer wird das nächste Opfer sein. Schlafnot, Hab-Acht-Stellung, Atemnot - nur raus aus<br />

diesem Land der beschaulichen scheinbar unendlich weiten weißen Stränden.<br />

Suhartos Armee hetzte fanatische Moslems - Indonesien ist zu 94 Prozent islamischen<br />

Glaubens - gegen die Kommunisten auf. Die Kommunisten wurden <strong>als</strong> gottlose Menschen<br />

dargestellt, der einfachen Landbevölkerung wurde erklärt: Ihr müsst die Kommunisten töten, sonst<br />

töten sie euch. Die Ermordung der sechs Generäle wurde dabei <strong>als</strong> Werk der kommunistischen<br />

Partei hingestellt, <strong>als</strong> eindringliches Beispiel für das, wie die Kommunisten hausen würden, wenn<br />

man sie nicht vertilge. Propaganda und wohl auch jene Veranlagung der Malaien zu fanatischen<br />

Glauben führten zu einem bestialischen Abschlachten. Mindestens eine halbe Million Menschen<br />

fanden den Tod.<br />

Hinter den religiös verklausulierten Mordaufrufen standen handfeste wirtschaftliche und<br />

politische Interessen der islamischen Grundbesitzer und der Armeeführung. Die kommunistische<br />

Partei hatte im Jahre 1964, ein Jahr vor dem Putsch, die verarmten indonesischen Bauern zu einer<br />

Besetzung der Ländereien der großen Grundbesitzer aufgerufen, <strong>als</strong> von denen eine Landreform<br />

des damaligen Präsidenten Sukarno hintertrieben wurde. Jetzt war die Stunde der Rache<br />

gekommen. Dabei kann es inzwischen jedoch <strong>als</strong> sicher gelten, dass die Kommunistische Partei<br />

weder Indonesiens Putsch ins Rollen brachte, noch sich <strong>als</strong> Partei aktiv daran beteiligte. Sie war<br />

ganz offensichtlich auf diesen Putsch überhaupt nicht vorbereitet. Eine Reihe ihrer Führer befand<br />

sich an jenem 1. Oktober 1965 in Peking zum dortigen Nationalfeiertag. Andere waren auf Reisen<br />

außerhalb der Hauptinsel Java.<br />

Da es im indonesischen Inselreich keine ausreichenden Kommunikationsmittel gibt, war<br />

eine koordinierte Aktion der Partei damit ausgeschlossen. Vieles hingegen deutet auf eine mögliche<br />

Unterstützung der Putschisten unter Generalmajor Suharto durch die USA hin. Seine Offiziere<br />

waren in den USA ausgebildet worden. Der damalige amerikanische Verteidigungsminister Robert<br />

McNamara (1961-1968) erklärte 1966 vor dem außenpolitischen Ausschuss des Senats auf die<br />

Frage eines Senators, ob sich rückblickend gesehen die amerikanische Militärhilfe für Indonesien<br />

ausgezahlt habe: "Ja, das glaube ich."<br />

Wer <strong>als</strong> Linksverdächtiger das Massaker von 1965 und die weiteren Säuberungswellen<br />

überlebte, wanderte hinter Gitter. Zum Einsatz gegen regimefeindliche Gruppen schuf die neue<br />

Regierung des Gener<strong>als</strong> Suharto eine Behörde, die KOPKAMTIB. Die Exekutive dieser Behörde<br />

war das Heer. Fortan nahm es zusätzlich zu den militärischen auch politische und polizeiliche<br />

Aufgaben wahr. Damit war die enge Verflechtung von Verwaltung und Soldaten hergestellt. Auch<br />

die Bürgermeister in vielen Dörfern wurden nun vom Militär gestellt. Fortan konnten<br />

Heeresoffiziere im ganzen Land entscheiden über Gefangennahme, Verhöre und Verhaftungen.<br />

Eine rechtliche Kontrolle gab es nicht. Als Inhaftierungsgrund genügte die Annahme, dass jemand<br />

direkt oder indirekt in den Putsch von 1965 verwickelt war. Mit der Verordnung Nr.<br />

09/KOGAM/1966 wurden die Gefangenen in drei Kategorien eingeteilt.<br />

Kategorie A: "Offensichtlich in die Bewegung des 30. September verwickelt."<br />

Kategorie B: "Offensichtlich indirekt in die Bewegung vom 30. September verwickelt."<br />

242


Kategorie C: "Es gibt Anzeichen oder man kann vernünftigerweise davon ausgehen, dass<br />

eine direkte oder indirekte Verwicklung in die Bewegung vom 30. September vorlag."<br />

Diese dehnbaren Begriffe öffneten jeder Willkür Tür und Tor. Wer immer der Regierung<br />

nicht passte, konnte und kann aufgrund dieser präsidialen Verordnung verfolgt werden. Zur<br />

Kategorie A, die die angeblich gefährlichsten Gefangenen umfasst, zählen rund 2.000 Personen.<br />

Eine Aussage des Gener<strong>als</strong>taatsanwalts Sugih Arto gibt Zeugnis von dem Willkürregime: "Dann<br />

gibt es da die B-Gefangenen. Wir wissen mit Sicherheit, dass sie Verräter sind, dass sie ideologisch<br />

voreingenommen sind, aber es gibt ncht genügend Beweise, um sie vor Gericht zu bringen."<br />

Den Gefangenen ist Rechtsbeistand in den meisten Fällen verwehrt. Folter,<br />

Elektroschocks, Zerquetschen der Zehen unter Tischbeinen, das Hineinstoßen der Gefangenen in<br />

Gruben, deren Boden mit Glassplittern bedeckt ist - werden zur gängigen Verhörmethode. Folter<br />

ist sogar amtlich eingeräumt. Der Hochkommissar der Polizei Dr. Hudioro erklärt einmal<br />

öffentlich, seine Beamten seien "nicht immer in der Lage, Ermittlungen ohne Anwendung von<br />

Gewalt durchzuführen". Der indonesische Rechtsanwalt Dr. Yap Thiam klagte im August 1975 vor<br />

dem staatlichen Gerichtshof in Djakarta das Schicksal der politischen Gefangenen an: "Sie werden<br />

behandelt wie der Abschaum der Gesellschaft, beraubt der elementarsten Rechte, die allen anderen<br />

Bürgern zustehen. Die Gefangenen haben keine Macht und keine Stimme, kein Recht, sich zu<br />

beschweren, oder gegen ihre nicht endende Einkerkerung, gegen Torturen, Beschimpfung, Hunger<br />

und Krankheit zu protestieren." Yap Thiam sprach aus eigener Erfahrung. Er war selbst verhaftet,<br />

aber dann wieder freigelassen worden.<br />

Die Administration legt nicht nur fest, wer Kommunist war oder verdächtige Kontakte zu<br />

Kommunisten hatte, sie bestimmt auch, wer nicht Kommunist ist. Jeder Indonesier, der eine<br />

Schule besuchten oder arbeiten will, braucht ein Schriftstück, das ihm bescheinigt, nicht in den<br />

Putsch von 1965 verwickelt gewesen zu sein. Durch dieses Dekret ist zugleich jede<br />

Wiedereingliederung ehemaliger politischer Gefangener verhindert. Denn wer immer sich auf<br />

Kontakte mit einem ehemaligen Gefangenen einlässt, läuft Gefahr, selbst inhaftiert zu werden,<br />

zumindest aber nicht jene Schriftstück zu erhalten, das ihm Schulbesuch oder Arbeit ermöglicht.<br />

Ein perfekter Willkür-Automatismus ist damit in Gang gesetzt. Wann immer die indonesische<br />

Regierung zur Rede gestellt wird, dass sie über ein Jahrzehnt politische Gefangene ohne Prozess<br />

festhält, ist ihre Replik: Die Gefangenen können zum großen Teil deshalb nicht in ihre Heimat<br />

entlassen werden, weil sie sich <strong>als</strong> Kommunisten und Atheisten den Zorn der Dorfbewohner<br />

zuzuziehen würden und möglicherweise getötet werden könnten.<br />

Tatsächlich hat die Regierung wohl in voller Absicht noch kein Programm entwickelt, wie<br />

die politischen Häftlinge jem<strong>als</strong> wieder <strong>als</strong> freie Bürger leben können. Die Gefangenenpolitik ist<br />

längst Teil eines Umsiedlungsprogramms geworden, um die Hauptinsel Java zu "entlasten". Ein<br />

typisches Beispiel ist die Deportationsinsel Buru, eine Molukkeninsel. In einem vom holländischen<br />

Fernsehen im Oktober 1976 ausgestrahlten Programm sagte der Lagerleiter von Buru über die<br />

Behandlung seiner Gefangenen: "Wir stopfen sie mit religiösen Anleitungen voll und gehen ihnen<br />

Arbeit, damit sie keine Zeit haben zu Diskussionen." Und <strong>als</strong> seine "erzieherische Aufgabe" legte er<br />

ein Vier-Punkte-Programm fest:<br />

1. "Wir müssen ihre Gedanken von den Kommunisten zurückgewinnen, 2.Wir<br />

müssen sie dazu bringen, richtige Indonesier zu werden, aufgebaut auf den<br />

indonesischen Verfassungsgrundsätzen. den Panca-Sila-Prinzipien -nämlich<br />

Glaube an Gott, Nationalismus., Menschlichkeit, Demokratie und soziale<br />

Gerechtigkeit.<br />

243


2. Sie müssen zu religiösen Menschen erzogen werden, die unseren Gesetzen Folge<br />

leisten und tun, was auch immer unsere Regierung anordnet.<br />

3. Wir müssen sie in die Gesellschaft zurückleiten, ohne dass dadurch neue<br />

Probleme für unsere Regierung entsehen."<br />

Dieser letzte Punkt aber heißt, dass die Deportierten selbst dann, wenn sie tatsächlich<br />

einmal ihre Freilassung erleben sollten, für immer auf Buru bleiben müssen. Das machte der<br />

stellvertretende Gener<strong>als</strong>taatsanwalt Sutrisno Hamidjojo schon 1971 klar: "Im Endstadium werden<br />

die politischen Gefangenen zwar auch auf der Insel bleiben, aber sie werden nicht mehr dem<br />

Lagerzwang wie bisher unterliegen." So hat die indonesische Regierung bereits inzwischen damit<br />

begonnen, die Familien der Gefangenen zu veranlassen, ebenfalls nach Buru überzuwechseln.<br />

Bisher aber sind nur knapp zweihundert Familien den insgesamt 10.000 Eingeschlossenen auf Buru<br />

nachgefolgt.<br />

Warum die Gefangenen sich sträuben, Frauen und Kinder nachkommen zu lassen,<br />

erklärte der indonesische Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer, in den fünfziger Jahren einmal <strong>als</strong><br />

Mitglied einer offiziellen Kulturdelegation nach Holland gereist, jetzt auf Buru interniert. Als er von<br />

Reportern gefragt wurde, sagte er angesichts der kontrollierenden Wachoffiziere in vorsichtigen<br />

Sätzen: "Die wirtschaftlichen Bedingungen sind hier nicht so recht geeignet. Und außerdem, hier<br />

gibt es keine Arznei. Meine Frau hat Tuberkulose." Und er setzte hinzu: "Solange ich auf Buru bin,<br />

habe ich keine Zukunft. Ich will frei sein in allem: im Denken, im Reden und im Handeln. Ich bin<br />

Schriftsteller, ich will schreiben. Ich träume davon, nach Java zurückzukehren, zu meiner Arbeit, zu<br />

meiner Berufung."<br />

Der politische Gefangene Toer (*1925 + 2006) verbrachte die Jahre von 1965 bis 1979<br />

meist auf Buru. Hier schrieb er sein berühmtestes Werk, die Romantetralogie Buru. Von seiner Zeit<br />

auf der Gefängnisinsel erzählt das stark autobiografische Werk "Stilles Lied eines Stummen". Nach<br />

Intervention der Carter-Regierung kam Toer 1979 frei, konnte aber Jakarta bis zum Sturz Suhartos<br />

1998 nicht verlassen. Pramoedya Toer gilt <strong>als</strong> bedeutendster zeitgenösisscher Autor Indonesiens.<br />

Seine Werke wurden in 37 Sprachen übersetzt.<br />

Wie Pramoedya Ananta Toer waren hunderttausend Menschen weit über zehn Jahre unter<br />

diesen Bedingungen der Entrechtung, Entwürdigung eingesperrt. Das sind mehr <strong>als</strong> eine Million<br />

Jahre des Leidens.<br />

244


MASSENMORDE UNTER SCHWARZEN DIKTATOREN<br />

Überall Tote, mit Macheten zugerichtete Menschen - Präsidenten-Garden <strong>als</strong><br />

Killerkommandos, der Mob plündert, vergewaltigt, foltert im Busch. Leichen, Tierkadaver.<br />

Kaum einer will da noch flüchtigen Blickes rasch unterscheiden. Verwesungsgestank.<br />

Keiner kann, keiner mag mehr zählen. Nur weg hier, nur raus aus diesen Blut getränkten<br />

Staaten dieses geschundenen Kontinents - fliehen. Aber nur wohin unter Afrikas<br />

weitflächigem Diktatoren-Kartell. Hunderttausend, Fünfhunderttausend, eine Million<br />

blindwütig ermordeter Menschen ? - Willkür-Opfer am Victoria-See in Ost-Afrika. Es<br />

waren meist vom Westen hofierte und üppig ausstaffierten Schlächter vergangener<br />

Jahrzehnte. Spaniens Macías von Äquatorial Guinea, Englands gehätschelter Idi Amin aus<br />

Uganda oder Frankreichs feudaler Statthalter Bokassa I. von der Zentralafrikanischen<br />

Republik. - Randnotizen aus einer längst eingemotteten, verdrängten Epoche. Albträume,<br />

die im Zimbabwe des Tyrannen Robert Mugabe im Jahre 2008 nach nahezu 30 Jahren eine<br />

bedrückende Aktualität erfahren.<br />

Stern, Hamburg 11. August 1977<br />

Für die westliche Welt ist er eher ein Clown <strong>als</strong> ein ernst zu nehmender Staatsmann.<br />

Ugandas Dr. h.c. Idi Amin Dada, Gener<strong>als</strong>tabschef und Präsident auf Lebenszeit (*1928 +2003). -<br />

Mal bietet er den Engländern Bananen an, um ihre Wirtschaftskrise zu überwinden. Mal wünscht er<br />

dem "lieben Bruder" Richard Nixon (*1913+1994) schnelle Genesung vom Watergate-Skandal.<br />

Seine 31 Kinder stellt er der ugandischen Bevölkerung mit dem Hinweis vor: "General Amin ist ein<br />

guter Scharfschütze." Und weil dem wirklich so sein soll, kündigt gleich weitere Geburten an:<br />

"Diesmal ist es möglich, dass unter den Müttern Amerikanerinnen sind."<br />

Wenn Idi Amin (Gewaltherrscher 1971-1979) nicht laut zu Elefanten und Krokodilen<br />

spricht, wenn er nicht mit zwei Panzern, einem Hubschrauber und einer Handvoll Soldaten die<br />

Eroberung der Golan-Höhen spielt, dann jagt er mit seiner Triller-Pfeife den deutschen<br />

Botschafter Richard Ellerkmann (1974-1977) im knielangen Sportdress über die Aschenbahn des<br />

Stadions von Kampala und biegt sich vor Lachen über den schweißgebadeten Diplomaten, der auf<br />

gute Beziehungen zum Diktator und Menschenschlächter größten Wert legt.<br />

Idi Amin Dada ist immer gut für einen Hit, der Schlagzeilen macht. Er ist ein Neger, der<br />

dem Stereotyp mancher Europäer entspricht. Ein Zwei-Meter-Mann, der 120 Kilo auf die Waage<br />

bringt und dessen kurze Nase sich von seinem großen, kugelrunden Kopf kaum hervorhebt. Idi,<br />

"Stimme Afrikas", lässt andere Staatsmänner auf dem schwarzen Kontinent neben sich verblassen.<br />

So den Führer der Zentralafrikanischen Republik Jean-Bédel Bokassa (*1921+1996). Seit<br />

Dezember 1976 hat die Welt neben dem japanischen Tenno und dem Schah Resa Pahlewi einen<br />

dritten Kaiser: Bokassa I. Er musste erst vor kurzem seinen Rock verlängern lassen, weil er die<br />

vielen Orden, die er sich selbst verliehen hatte, nicht mehr anstecken konnte. Das Protokoll am<br />

Kaiserlichen Hof zu Bangui ist streng und mit dem Zarentum im 17. Jahrhundert zu vergleichen.<br />

Niemand darf der Majestät näher kommen <strong>als</strong> sechs Meter. Wenn bei einer Audienz der Kaiser<br />

etwas fragt oder sagt, hat der "durch die Allerhöchste Gegenwart Geehrte" zu sagen: "Ja, Euere<br />

Kaiserliche Majestät." Eine Krone aus Gold und Hun-derten kostbarer Edelsteine, ein Reichsapfel,<br />

ein prunkvolles Zepter sowie einen Zwei-Zentner-Thron ließ Bokassa I. in Paris und Antwerpen<br />

für seine Kaiser-Krönung anfertigen.<br />

245


In Äquatorial-Guinea hat sich Präsident Francisco Macías Nguema (*1924+1979) zwar<br />

weder einen Dok-torhut noch eine Krone aufsetzen lassen, dafür gibt die einzige Bibliothek des<br />

Landes nur Bücher von und über Macías heraus. Die amtliche Anrede, "einziges Wunder von<br />

Äquatorial-Guinea", muss von jedem strikt eingehalten werden, der zum Präsidenten vorgelassen<br />

wird. In den Schulen und Kirchen hängen, leicht nach oben versetzt, Macías-Bilder neben<br />

Kruzifixen. Und das Glaubensbekenntnis der Nation lautet: "Gott schuf Äquatorial-Guinea nach<br />

dem Willen von Papa Macías."<br />

Ida Amin, Bokassa I. und Macías mögen für Europäer "Witzfiguren" sein. Doch ihre<br />

Namen sind Synonyme für die schrecklichsten Massenmorde auf diesem Erdteil in der zweiten<br />

Hälfte des 20. Jahrhunderts. In Uganda, "der Perle in Afrikas Krone" (Nationalhymne) , sind nach<br />

Schätzungen der Internationalen Juristen-Kommission und amnesty international seit 1971 - er<br />

putschte gegen Präsident Apollo Milton Obote ( *1924+2005) - zwischen 100.000 und 500.000<br />

Menschen ums Leben gekommen. Die internationalen Gremien sind in Amins Reich auf<br />

Mutmaßungen angewiesen, weil Hitler-Verehrer Amin im Gegensatz zu seinem Idol auf preußische<br />

Buchführungen keinen Wert legt und Statistiken verbot.<br />

Der Londoner Guardian hat <strong>als</strong> erste Zeitung einen Vergleich zwischen Adolf Hitler und<br />

Idi Amin gezogen. In einer Karikatur fragt Amin den Führer des Tausendjährigen Reiches: "Ich<br />

habe die Minderheiten verfolgt, die Juden verurteilt und eine Nacht der langen Messer veranstaltet.<br />

Haben Sie eine Idee, wo ich meinen Bunker bauen könnte?" Idi Amin, der in seinen "Träumen so<br />

oft mit Gott Zwiesprache hält", hatte selbst eine Idee. Über Radio Uganda ließ der Diktator die<br />

Nachricht verbreiten, er wolle Hitler ein Ehrendenkmal bauen lassen, das er persönlich einweihen<br />

werde. An österreichischen UN-Gener<strong>als</strong>ekretär Kurt Waldheim (*1918+2007, Mitglied des NS-<br />

Studentenbundes und des SA-Reiterkorps) telegrafierte er gar: "Hitler hat zu Recht sechs Millionen<br />

Juden bei lebendigen Leib mit Gas verheizt, denn die Juden handeln gegen die Interessen der<br />

Völker."<br />

Pogromstimmung im Sportstadion zu Kampala. Es ist der 16. Februar 1977. Ida Amins<br />

"State Research Burau" -Staatsuntersuchungsbüro - hat wieder einmal eine Verschwörung gegen<br />

den Staatspräsidenten aufgedeckt. Diesmal sind es der Erzbischof Janani Luwum sowie die<br />

Minister Oboth Ofumbi und Oryema, die einen Staatsstreich geplant haben sollen. Sie sind ins<br />

Stadion gebracht worden, um vor der Öffentlichkeit <strong>als</strong> Verschwörer abgestempelt zu werden. Auf<br />

der Ehrentribüne sitzt das diplomatische Korps der Ostblock-Staaten, die Botschafter Italiens,<br />

Frankreichs und der Bundesrepublik. In der Arena stehen dreitausend Soldaten Gewehr bei Fuß.<br />

General Mustapha Adriki, Vizepräsident Ugandas, heizt die Masse auf: "Diese Männer haben mit<br />

den Feinden Feldmarschall Dr. Amins konspiriert. Was sollen wir mit ihnen tun?"<br />

"Bringt sie um!" brüllen die Soldaten. Sie stoßen rhythmisch die Fäuste in die Luft und<br />

rufen immer wieder: "Bringt sie um, Tod den Verrätern!" Die Botschafter applaudieren dem<br />

Diktator, <strong>als</strong> Amin ans Mikrofon tritt: "Mein Volk, ihr seid im Recht. Wir können diese Verräter<br />

aber nicht sofort umlegen. Sie sollen einen fairen Prozess haben." Wieder dezentes Klatschen von<br />

der Diplomaten-Bank. Charles Harrison, vom britischen Fernsehen BBC, konnte <strong>als</strong> einziger<br />

ausländischer Journalist diese Szene beobachten. Er sagte später: "Amin wollte den Botschaftern<br />

dokumentieren, dass er einer der Harmlosesten in der Armee ist. Ohne seine Autorität hätten die<br />

Soldaten die Gefangenen an Ort und Stelle zerrissen."<br />

Doch was nutzte es. - Vier Stunden nach dem makabren Massenauftritt waren der Bischof<br />

und die beiden Minister tot. Die letzten Stunden des anglikanischen Erzbischofs sind inzwischen<br />

durch Augenzeugenberichte und Indiskretionen ugandischer Regierungsbeamter aufgeklärt.<br />

246


Luwum wurde vom Stadion erst in das internationale Konferenzgebäude von Kampala -<br />

gleichzeitig die Residenz der Sicherheitsdienste -gebracht. Gefesselt fuhren ihn Sicherheitsoffiziere<br />

dann in Amins Ausweichquartier, die Nakasero Lodge bei Kampala. Dort warteten auf ihn, Amin,<br />

sein Stellvertreter Mustapha Adriki und sieben weitere Offiziere. Die besorgte Tageszeitung<br />

"Uhuru" (Freiheit), die allerdings im Nachbarland Tansania erscheint, schilderte in grosser<br />

Aufmachung: "Bischof Luwum wurde ins Zimmer gestoßen. Amin verlangte von ihm eine<br />

Unterschrift unter ein vorbereitetes Dokument, dass er, Luwum, in die Vorbereitungen zum Sturz<br />

Amins verwickelt gewesen sei. Luwum bestritt die Anschuldigungen und verweigerte die<br />

Unterschrift. Amin forderte Luwum auf, niederzuknien und ihm um Verzeihung zu bitten. Als sich<br />

der Bischof beharrlich weigerte, befahl Amin sechs Soldaten ins Zimmer.<br />

Sie nahmen dem Seelsorger die Fesseln ab, warfen ihn zu Boden und rissen ihm die<br />

Kleidung vom Körper. Dann schlugen ihn zwei Soldaten auf Anordnung Amins mit<br />

Nilpferdpeitschen zusammen. Der Bischof begann zu beten, was Amin noch mehr in Wut brachte.<br />

Er trat ihn, schlug ihn. Schrie: 'Unterschreib!' Aber der Bischof unterschrieb nicht. Amin: 'Ich habe<br />

den Bischof und die Missionare schon einmal gewarnt. Jetzt wird Gott sie strafen, weil sie<br />

ungehorsam sind.' "<br />

Die Nachrichtensendung von Radio Uganda - es war halb acht abends - unterbrach die<br />

Sitzung. Der Sprecher verlas aberm<strong>als</strong> die Meldung, dass der Bischof und die Minister verhaftet<br />

worden seien. Amin befahl, das Radio abzustellen. Dann spielte er Gott. Die Journalisten vom<br />

"Uhuru" schilderten: "Er zog die Pistole und schoss zwei Mal auf den Bischof, in die linke Brust.<br />

Luwum war sofort tot. Seine Leiche wurde auf einen Polizei-Landrover gelegt. Kurz darauf kam ein<br />

zweiter Landrover mit den Leichen der beiden Minister. Niemand durfte bis zum nächsten Morgen<br />

darüber reden." Die Frühnachrichten von Radio Uganda verbreiteten die Version vom "Unfalltod".<br />

Die Gefangenen hätten während ihres Transports fliehen wollen. Dabei sei der Wagen ins<br />

Schleudern geraten und habe sich überschlagen.<br />

Im Ausland glaubte es keiner. In einem Gedächtnisgottesdienst für den ermordeten<br />

Luwum sagte der kenianische Bischof Lawi Imathiu in der überfüllten Allerheiligen-Kathedrale in<br />

Nairobi: "Es ist die Ironie, dass die 'Organisation der Afrikanischen Einheit' (OAU) und die Kirche<br />

von Afrika die weißen Regimes im südlichen Afrika verurteilen und gegenüber den Söhnen und<br />

Töchtern Afrikas blind sind, die unter macht hungrigen Verrückten und solche Leuten leiden, die<br />

Unschuldigen nach dem Leben trachten." Kenias Staatspräsident Jomo Kenyatta (*1893+1978 )<br />

hatte Amin schon früher <strong>als</strong> "einen Idioten" und Sambias erster Regierungschef Kenneth David<br />

Kaunda <strong>als</strong> "einen Verrückten" bezeichnet.<br />

Die internationalen Proteste von US-Senatoren, englischen Unterhaus-Abgeordneten und<br />

schwedischen Ministern beantwortete Amin lapidar: "Ich bin mir keiner Schuld bewusst."<br />

Gleichzeitig verhängte der Diktator eine Nachrichtensperre fürs Ausland, um "die Gräuelmärchen<br />

und Lügengeschichten zu stoppen, die von Journalisten erfunden werden", erklärte Amin.<br />

Nach der Ermordung des Bischofs reiste der Reporter Karl Robert Pfeffer (*1941+1979)<br />

durch Uganda: "An diesem Mittag fahren wir nicht weit - wir lassen das Gefängnis von Kampala<br />

hinter uns und auch die Kadettenschule, wo Amins Wachmannschaften gedrillt und auf ihn und<br />

den Islam eingeschworen werden. Etwa fünfzehn Kilometer vom Stadtkern Kampalas entfernt<br />

liegt die Ortschaft Nagulu. Bei Nagulu gibt es kleine Wälder, sumpfige Ausläufer des Victoria-Sees<br />

und sehr viel Elefantengras. Als wir auf der Hauptstraße nach Jinja hinter Nagulu anhalten, steht an<br />

mehreren Stellen eine hohe Rauchsäule über dem Sumpf - angeblich wird das Gras abgebrannt,<br />

und das ist alltäglich in Uganda. Aber mein Freund weiß etwas: Wir gehen zu diesem Wäldchen<br />

247


und tun so, <strong>als</strong> wollten wir unsere Notdurft verrichten. Zuerst sehe ich nur die Vögel, Bussarde und<br />

andere afrikanische Fleischfresser, die abseits der Flammen kreisen, sich niederlassen, nach einer<br />

Weile wieder aufsteigen. Dann rieche ich es: süßlich, nicht sehr aufdringlich, aber eindeutig. Und<br />

dann sehe ich zwischen den Bäumen und abgebrannten Grasbüscheln etwa ein Dutzend leblose<br />

Formen, die kaum noch <strong>als</strong> die Überreste von Menschen zu erkennen sind."<br />

Wir nicht in den Sümpfen verendet, findet den Tod im Victoria-Nil, der durch einen<br />

Staudamm gesperrt wird. Alle paar Monate bleiben die Turbinen stehen - blockiert von Leichen,<br />

die der Nil anschwemmt. Eines haben die wehrlosen Opfer gemeinsam. Im berüchtigten Makindy-<br />

Gefängnis oder in der Naguruz-Kaserne richten Amins Untertanen ihre Gefangenen bis zur<br />

Unkenntlichkeit hin. - So bestialisch und brutal, wie man es sich kaum vorstellen kann.<br />

Idi-Land - ein Terror-Land. Gleich <strong>als</strong> er im Jahre 1971 die Macht übernahm, rottete er<br />

seine Gegner aus. Armee-Einheiten erschossen und erschlugen Leute auf offener Straße. Auf<br />

Lastwagen wurden die Leichen ab-transportiert. In Gefängnishöfen hoben Soldaten Massengräber<br />

aus. Heute durchkämmen Amins zehn Überfall-Kommandos (Assasination squards) die kleinen<br />

Städte und Provinzen, Wohnviertel und Geschäftsgegenden. Unliebsame Kleinbauern werden von<br />

Feldern, Frauen mit ihren Kindern aus Hütten geholt, weil sie einem Stamm angehören, den der<br />

Diktator zum Staatsfeind erklärt hat. Auch Angestellte in Büros und Soldaten in Kasernen werden<br />

nicht verschont. Sie alle kennen ihren Bestimmungsort, wenn sie in die Lastwagen mit dem<br />

Autokennzeichen "UUU-171" oder einer anderen x-beliebigen dreistelligen Nummer gezerrt<br />

werden. Die Naguru-Kaserne.<br />

Wer dort hingebracht wird, hat keine Überlebenschance mehr. Aus Uganda geflohene<br />

Geschäftsleute und zahlreiche Minister, die selbst um ihr Leben fürchteten, gaben vor der<br />

Internationalen Juristen-Kommission in Genf Amins Todes- und Folterpraktiken zu Protokoll: Die<br />

Opfer haben sich in einer Reihe aufzustellen. Der erste Gefangene wird gezwungen, sich<br />

hinzulegen. Der Nächste muss mit einem Vorschlaghammer den Kopf des Vordermannes<br />

zerschmettern. Dann ist er selbst dran. - "Hinlegen - zerschlagen -hingelegen", lauten die<br />

Kommandos der Soldaten. Bis nur noch einer übrig bleibt. Der wird erschossen. Wenn Amins<br />

Soldaten selbst Hand anlegen, bevorzugen sie das langsame Töten (slow killing). Zuerst wird in die<br />

Arme, Beine oder in die Brust geschossen. Der Geschwundene soll sich zu Tode bluten. Einen<br />

Gnadenschuss gibt es nicht. Dem Opfer reißen Soldaten Fleischstücke aus dem Körper. Manchmal<br />

roh, meist aber über einem offenen Feuer gebraten, zwingen die Schergen es, sein eigenes Fleisch<br />

aufzuessen; bis es durch Sepsis oder Verbluten stirbt.<br />

Exekutionskommandos erschießen jeweils 25 Menschen auf den Kasernenhöfen.<br />

Anschließend werden ebenfalls 25 Gefangene aus den Zellen geholt und müssen die Köpfe der<br />

Leichen zerhacken, zerschneiden, zermartern. Zum Schluss haben sie sich in die Blutlachen zu<br />

legen. Zu den Ugandern, die ermordet wurden, zählen Richter und Ärzte, Abgeordnete und<br />

Minister, Lehrer und der frühere Botschafter Ugandas in Deutschland, George W. M. Kamba<br />

(1969-1971), aber auch zwei Amerikaner, Nicolas Stroh und Robert Siedle. Sie wollten etwas über<br />

die Massaker erfahren und kamen dabei selbst ums Leben.<br />

Die amerikanische Zeitung "Chicago Tribune" berichtete von einem Häftling, der<br />

entlassen wurde nach Kenia flüchten konnte: "Die Wachen kamen jeden Morgen, um einige<br />

Häftlinge auszuwählen, die getötet werden sollten. Sie gaben den Gefangenen Vorschlaghämmer<br />

und Messer und befahlen, die zuvor ausgesuchten Häftlinge zu töten. Sie sagten uns, sie hätten<br />

keine Munition. Deshalb sollten wir das machen. Ich tötete drei ehemalige Polizisten. Ich stieß<br />

ihnen ein Messer ins Herz, damit sie schneller starben. Ich machte es mit der rechten Hand,<br />

248


während ich mit meiner linken ihr Gesicht bedeckte. Ich konnte ihnen dabei nicht in die Augen<br />

sehen ... Eines Tages wurden wir zum Kafu-Fluss gebracht, der nördlich von Kampala liegt. Wir<br />

wurden zusammengebunden und aufgefordert, in den mit Krokodilen verseuchten Fluss zu<br />

springen. Als wir uns weigerten, trieben uns die Wachen mit ihren Bajonetten in den Fluss. Dann<br />

waren die Schreie zu hören, <strong>als</strong> die Krokodile den Gefangenen Arme und Beine abbissen. Ich hatte<br />

Gott sei Dank Glück."<br />

Selbst seine eigenen Soldaten, Polizisten und Justizbeamten lässt Amin rücksichtslos<br />

umbringen. Ende Februar 1977 wurden im militärischen Ausbildungslager Kabamba etwa<br />

fünftausend Menschen erschossen. Sie alle waren Angehörige der Acholi-und der Langi-Stämme,<br />

die mit etwa einer Millionen Menschen ein Zehntel der Elf-Millionen-Bevölkerung stellen. Amin,<br />

der zu den Moslems (600.000) zählt, behauptet, diese beiden Stämme bereiten heimlich die<br />

Rückkehr seines Vorgängers Apollo Milton Obote (Präsident Ugandas 1966-1971 und 1980-1984,<br />

*1924 +2005) vor, der im Exil in Tansania lebt.<br />

Sein Blutvergießen ist jedoch nicht nur auf die Religionszugehörigkeit zurückzuführen. Sie<br />

hat einen weiteren Hintergrund. Amin, der wahrscheinlich 1925 - keiner kennt sein genaues<br />

Geburtsdatum - im Dorf Kokobo im Distrikt West-Nil <strong>als</strong> Sohn ärmlicher Bauern geboren wurde,<br />

gehört zum Stamm der Kakwa, einer Untergruppierung des Nubier-Stammes aus dem Sudan, die<br />

die Engländer 1892 <strong>als</strong> Söldner mit ins Land brachten, um das heutige Uganda zu kolonialisieren.<br />

Dem Kakwa-Stamm eilte schon dam<strong>als</strong> unter den Völkern Afrikas der Ruf voraus, die blutigsten<br />

Kämpfer des Kontinents zu sein. Bei den Ureinwohnern sind sie bis heute gefürchtet und verhasst.<br />

Der britische Major Iain Grahame, unter ihm diente Amin <strong>als</strong> Feldwebel, sagt heute über die<br />

Rekrutierung der Schwarzen: "Wir haben nicht auf die Intelligenz geachtet, sondern darauf, dass sie<br />

groß und stark waren, draufschlagen konnten und Schnelligkeit besaßen." Idi Amin hatte alles.<br />

Von 1951 bis 1960 war er sogar Ugandas Boxmeister im Schwergewicht. Grahame weiter:<br />

"Dass Amin einmal die Macht übernehmen würde, das wäre mir dam<strong>als</strong> selbst im Traum nicht<br />

eingefallen. Darauf ist er auch von uns nicht vorbereitet worden. Er hat keine Regierungserfahrung,<br />

keine Ahnung von Diplomatie oder Wirtschaft. Er kann kaum lesen, geschweige schreiben. Für ihn<br />

haben schriftlichen Arbeiten keine Bedeutung. Wenn Amin regiert, dann macht er das mündlich.<br />

Bis spät in die Nacht hinein führt er Telefongespräche mit seinen Leuten in Moskau, Nairobi,<br />

Washington und Kapstadt. Er telefoniert mit der ganzen Welt und fragt: Was ist los. Am nächsten<br />

Morgen, wenn alles noch ziemlich schläfrig in die Büros kommen, hat Amin sich entschlossen,<br />

Erklärungen zu diesem oder jenem Problem abzugeben. Von zehn Stellungnahmen sind neun<br />

unverständlich - auch für seine Minister. Zur Diskussion sagt er dann, habe er keine Zeit. Er müsse<br />

Politik machen und da zählen nur die Fakten."<br />

Die Kolonialherren von einst hatten ihre Kinder in die Unabhängigkeit entlassen. Die<br />

Parallele in ihrer persönlichen Entwicklung und in ihren Diktaturen ist kein Zufall.<br />

Ugandas Idi Amin und Bokassas Zentralafrikanisches Kaiserreich. Amin kämpfte <strong>als</strong><br />

einfacher Soldat in der britischen Kolonialarmee in Burma. Während des Mau-Mau-Aufstandes<br />

von 1953 bis 1957 in Kenia brannte er Dörfer nieder, ließ Frauen und Kinder an die Wand stellen -<br />

plünderte. Die Engländer, die von seinen Übergriffen wussten, dankten es ihm dennoch. Vom<br />

Feldwebel schaffte er <strong>als</strong> erster farbiger Soldat den Sprung ins Offizierscorps. Er wurde<br />

Hauptmann, schnell Major und noch schneller Oberst, nachdem die Briten Uganda verlassen<br />

hatten.<br />

249


Jean-Bédel Bokassa (*1921 +1996) exerzierte schon mit sechzehn Jahren für die<br />

französische Armee. Diese hatte zehn Jahre vorher seinen Vater erschossen. Die Familie musste<br />

zusehen. Am Anfang des Jahrhunderts schockten die Franzosen mit ihren Sklaven-Massakern in<br />

den Niederungen am Ubangi-Fluss die Weltöffentlichkeit. Bokassas Mutter nahm sich nach dem<br />

Tod ihres Mannes das Leben. Vollwaise Jean-Bédel machte Frankreich zu seinem Ersatzvaterland.<br />

Für die Franzosen kämpfte er zuerst gegen die Deutschen, dann in Vietnam und in Algerien. In 23<br />

Dienstjahren brachte er es zum höchst dekorierten schwarzen Soldaten in der französischen<br />

Armee. Neunundsiebzig Orden, meist Tapferkeitsauszeichnung vorm Feind, schmückten schon<br />

dam<strong>als</strong> seine Brust. Als Ubangi-Schari 1960 unabhängig wurde, avancierte Bokassa zum<br />

Armeechef. Sechs Jahre später putschte er gegen seinen Vetter David Dacko (*1930 +2003).<br />

Seither zeigt er seiner 2,5 Millionen-Bevölkerung, was er in seinen Feldzügen gelernt hat: Mord,<br />

Folter, Terror.<br />

Der "petit maréchal", wie Bokassa herzhaft von den Franzosen genannt wird, machte<br />

erstm<strong>als</strong> im Jahre 1972 von sich reden. An der Spitze von Kabinett und Gener<strong>als</strong>tab ging er mittags<br />

ins Zentralgefängnis von Bangui, um den Dieben des Landes eine Lektion zu erteilen. Seine<br />

Soldaten hatten schon alle Vorbereitungen getroffen. In Zweierreihen kauerten vier Dutzende<br />

Diebe auf dem Gefängnishof. Der Präsident trat auf und befahl: "Pro Mann ein Dieb." Die<br />

Soldaten schlugen auf die Diebe ein. Drei fielen tot um. Die Überlebenden wurden gefesselt auf<br />

den Marktplatz getrieben. Fünf Stunden mussten sie dort in glühender Sonne zur Abschreckung<br />

ausharren. Gleichzeitig verfügt der Staatschef: Künftig soll allen Dieben das linke Ohr<br />

abgeschnitten werden, im Wiederholungfall auch das rechte. Beim dritten Mal wird die Hand<br />

abgehackt. Am nächsten Tag lebte von den Geschundenen keiner mehr. Über Rundfunk teilte<br />

Bokassa mit: "Diese Diebe sind alle ums Leben gekommen. Wir haben ihnen die menschliche<br />

Würde entzogen."<br />

Als UN-Gener<strong>als</strong>ekretär Kurt Waldheim (1986-1992; *1918+2007) Bokassas Grausamkeit<br />

öffentlich tadelte, bekam das Kaiser vor seinen Minister einen Tobsuchtsanfall: "Dieser Ausbeuter<br />

und Zuhälter soll doch das Maul halten." Das müssen sonst nur seine Minister. Zwei Drittel haben<br />

während seiner Amtszeit mindestens einmal im Gefängnis gesessen. Denn der "Patriarch mit dem<br />

Rohrstock", so das NachrichtenMagazin "Jeune Afrique" duldet keine Nachlässigkeiten. Wer sich<br />

ihm dennoch widersetzt, dem ergeht es so wie dem früheren Polizeipräsidenten Jean-Baptiste<br />

Mounoumbaye. Zur Folterung hatte der Diktator die ganze Familie zwangsgeladen. Erst wurden<br />

dem Polizeichef die Augen aus den Höhen gerissen, dann die Arme und schließlich die Beine<br />

gebrochen, bevor eine Gewehrsalve dem grausamen Spiel ein Ende bereitete. Seinen früheren<br />

Freund und Putschgenossen Oberst Alexandre Benza schnitt Bokassa persönlich mit einem<br />

Rasiermesser Monogramme in den Oberkörper. Soldaten mussten Banza dann das Rückgrat<br />

brechen und durch die Straßen schleifen.<br />

Ähnlich ergeht es den Ministern oder Militärs in Äquatorial-Guinea. Von den Ministern,<br />

die 1968 das Kabinett bildeten, lebt heute keiner mehr. Zwei Drittel aller Mitglieder der<br />

Nationalversammlung sind Säuber-ungen zum Opfer gefallen. Präsident Francisco Macías Nguema<br />

(1968-1979; *1924+1979) diente den Spaniern <strong>als</strong> mittlerer Kolonialbeamter, bevor er 1968 zur<br />

Staatsführung auserkoren wurde. Seinen Außenminister Atan-sio Nkongo zwang er mit<br />

vorgehaltener Pistole, aus dem Fenster zu springen. Seinen Erziehungsminister Ochaga erschlugen<br />

Wachposten im Gefängnis von Bata. Von den 400.000 Einwohnern sind ein Viertel nach Nigeria<br />

geflüchtet. Aus Angst vor Tod und Brutalität. 40.000 Intellektuelle hat Macías während seiner<br />

250


Diktatur umlegen lassen. "Diese sind Afrikas größtes Problem. Sie verseuchen unser Klima mit<br />

fremder Kultur", erklärte der Präsident.<br />

Der Kaufmann Pablo Elias aus Madrid berichtete im Jahre 1976 nach seiner Flucht aus<br />

dem Gefängnis über Folterpraktiken der Macías-Soldaten: "Am ersten Tag stand ich bis zum H<strong>als</strong><br />

in fauligem Wasser. Danach wurde ich in ein Kellerloch gepfercht und bekam mit einem<br />

Rutenbündel immer wieder Schläge. Die Wächter ließen die Gefangenen zu Gladiatorenkämpfe<br />

antreten. Sie mussten mit Keulen so lange aufeinander eindreschen, bis einer tot umfiel." -<br />

Massenexekution: 300 sogenannte Regimegegner wurden auf einer Lichtung im Busch 1975<br />

zusammengetrieben. Unter ihnen waren neun Parlamentarier, 78 Regierungsbeamte, 21 Häuptlinge,<br />

21 Offiziere und 31 Geschäftsleute. Die Kommandos liefen immer in der gleichen Monotonie ab:<br />

"Abgeordnete raustreten!" befahl der Erschießungsoffizier. "Legt an! Feuer!" Die Politiker fielen<br />

um. "Häuptlinge raustreten!"- "Legt an! Feuer!" Eine Leichengruppe mehr.<br />

Ob Idi Amin, Bokassa I. oder Macías - ihre Schreckensdiktaturen waren nur möglich, weil<br />

die Kolonial-Herren im 19. Jahrhundert unabhängig von Volks- und Stammeszugehörigkeit<br />

künstliche Grenzen schufen und die Stämme gegeneinander ausspielten. Auch weil Afrika über<br />

Jahrzehnte ein Spielball der Hegemonialmächte zwischen Ost und West war, und zu einer Art<br />

preiswerter Rohstoffquelle multinationaler Konzerne geworden ist. Gewiss, die Länder Afrikas<br />

verfügen über nahezu unerschöpfliche Energie-Reservate; ihre Einwohner hingegen darben an der<br />

Hungergrenze, obwohl Milliarden Dollar in die Staaten flossen. Eine strukturelle, dauerhafte<br />

Besserung ist nicht in Sicht. Chancenlos. Ihre Volkswirtschaften sind bekanntlich schon mehr <strong>als</strong><br />

einmal zusammengebrochen. Über Macías Äquatorial Guinea sichert sich die Sowjetunion und<br />

neuerdings auch China ihren militärischen Nachschub für ganz Westafrika. Der Hafen San Carlos<br />

für die Container-Schiffe, der frisch betonierte Airport für die Tupolews. Ihre militärische<br />

Materi<strong>als</strong>chlacht im Krieg um Angola wäre sonst kaum möglich gewesen. Neuerdings schickt<br />

Macías, der sein Land von der Außenwelt sonst abgeriegelt hält - kein Student darf im Ausland<br />

studieren -, seine Soldaten zur Ausbildung nach Moskau.<br />

Kaiser Bokassa I., er weinte noch, <strong>als</strong> Charles de Gaulle (*1890+1970) starb ("Papa ist tot,<br />

Papa ist tot"), will seit zwei Jahren mit jeder ideologischen Macht paktieren, die ihm - er verbraucht<br />

35 Prozent des Staatshaushalts für private Zwecke - und seinem bankrotten Land Geld bietet.<br />

Bokassa: "Jetzt bin ich bereit, jeden willkommen zu heißen, ob er Europäer, Chinese, Russe,<br />

Afrikaner oder Amerikaner ist." Die Chinesen ließen sich dies nicht zwei Mal sagen.<br />

Frankreichs Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing (1974-1981) war dann doch wieder<br />

der erste Besucher, nachdem Bokassa einige Wochen zuvor die Franzosen <strong>als</strong> ein "Volk von<br />

Schwulen und Ganoven" herabgewürdigt hatte. Auf dem Flughafen von Bangui gab's 44 Küsse<br />

und Lobeshymnen auf den Diktator. Giscard d'Estaing über Bokassa: "Frankreichs bester Freund<br />

in Afrika." Eine 20-Millionen-Dollar-Kredit hatte der Franzose im Reisegepäck.<br />

Ugandas Staatschef Idi Amin, dem der Westen aufgrund seiner Allmachtsträume,<br />

Unberechenbarkeit und Finanznot keine schweren Waffen mehr ins Land schickt, ließ sich die von<br />

den Israelis beim Entebbe-Angriff zerstörten russischen MIG-Jäger durch Libyens<br />

Revolutionsführers Oberst Muammar al-Gaddafi ersetzen. Seit Paul VI. (*1897 +1978) "den<br />

größten Führer Afrikas" (Amin) nicht mehr zur Privat-Audienz empfängt und auch die von ihm so<br />

geliebte Queen Elizabeth ihm die Einreise zu der Commonwealth-Konferenz nach London nicht<br />

mehr ermöglicht, hat er den letzten britischen Diplomaten außer Landes gejagt. Seither sind die<br />

Russen mit fünfhundert Militärberaters in Kampala, und die Palästinenser, die seine neue Leibgarde<br />

bilden, weil er den einheimischen Soldaten nicht mehr traut, besser im Geschäft denn je. Und<br />

251


Ghaddifis 50-Millionen Mark für Waffen und Munition hat der General schon gut angelegt. Die<br />

NATO-Schnellfeuergewehre, mit denen er seine Soldaten noch zum sechsten Jahrestag der<br />

Machtübernahme paradieren ließ, sollen abgeschafft werden. Amins Tagesbefehl lautet: "Schafft<br />

mir die Kalaschnikow an."<br />

Zum Westen unterhält Amin zurzeit nur privaten Kontakt. Aus Paris ließ er sich eine<br />

Carrera-Bahn schicken, mit der er in seiner Freizeit spielen will. Und aus London kommt alle vier<br />

Wochen Whisky-Nachschub. Dafür schickt Idi Amin eine Boeing 707 der "Uganda Airlines" an die<br />

Themse. Seine Marke: Johnnie Walker black label, denn die trank schon sein britischer Major Iain<br />

Grahame.<br />

Postscriptum. -In einem von Idi Amin im Oktober 1978 begonnenen Krieg gegen<br />

Tansania, (Operation Magurugur) kam es im April 1979 zu einer militärischen Gegenoffensive.<br />

Tansanische Truppen nahmen gemeinsam mit Exil-Ugandern im April 1979 die Hauptstadt<br />

Kampala ein. Amin musste fliehen; zunächst nach Libyen, sodann in den Irak. Schließlich gewährte<br />

im die saudi-arabische Regierung Asyl unter der Bedingung, dass er sich nicht mehr politisch<br />

betätige und zum Islam konvertiere. In der Stadt Dschidda lebte Idi Amin in einer Regierungsvilla<br />

bis zu seinem Tod. Er starb am 16. August 2003 nach längerer Zeit im Koma an Bluthochdruck<br />

und Nieren-versagen. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen kamen während<br />

seiner achtjährigen Gewaltherrschaft in Uganda zwischen 100.000 und 500.000 Menschen ums<br />

Leben. Für seine Verbrechen an der Menschheit hatte sich Idi Amin vor keinem Richter, vor<br />

keinem internationalen Gerichtshof der Menschenrechte zu verantworten.<br />

Jean-Bédel Bokassas Tyrannei endete im April 1979. Seinerzeit ließ er noch Schüler-und<br />

Studentenunruhen in seinem Land mit Hilfe von regulären Truppen aus Zaire niederschlagen.<br />

Zahlreiche Jugendliche wurden inhaftiert, weil sie gegen das Tragen der staatlich verordneten<br />

Schuluniformen protestiert hatten. In Bokassas Gefängnissen folterten und mordeten zu dieser<br />

Zeit seine Schergen über 100 Kinder. Entscheidend war, dass Bokassas Schutzpatron Frankreich<br />

sich von seinem Schützling distanzierte, ihn nicht mehr finanziell unterstützte und zum Umsturz<br />

freigab. So gelang dem ehemaligen Präsident David Dacko die Machtübernahme, während sich der<br />

Gewaltherrscher zu einem Staatsbesuch in Lybien aufhielt. Das Kaiserreich wurde abgeschafft, die<br />

Republik wieder herstellt. Am 26. Dezember 1980 wurde Bokassa in Abwesenheit wegen Mordes,<br />

Folter, Korruption und Kannibalismus zum Tode verurteilt. Unterdessen lebte Bokassa im Schloss<br />

Hardicourt westlich von Paris mit zehn seiner 55 Kinder und einer Freundin. Seine 18 Ehefrauen<br />

hatte er in seinem Kaiserreich zurücklassen müssen. Vom französischen Staat erhielt Bokassa <strong>als</strong><br />

ehemaliger französischer Hauptmann nach 23 Dienstjahren eine Pension von etwa 1.000 Euro. Am<br />

23. Oktober 1986 kehrte Bokassa wieder in die Zentralafrikanische Republik zurück, aberm<strong>als</strong><br />

inhaftiert und am 12.Juni 1987 erneut zum Tode verurteilt. Der Richterspruch blieb auch dieses<br />

Mal nur von kurzer Dauer, wurde am 29. Februar 1988 in lebenslange Zwangsarbeit umgewandelt<br />

und löste sich letztendlich im Rahmen der Generalamnestie des Präsidenten André Koingba (1981-<br />

1993 ) in Wohlgefallen auf. Jean Bédel Bokassa starb im Alter von 75 Jahren am 3. November 1996<br />

in Bangui an einem Herzinfarkt. Er hinterließ 17 Frauen mit etwa 54 Kindern.<br />

Franciso Macías Nguema wurde am 3. August 1979 durch seinen Neffen gestürzt. Er galt<br />

neben Jean-Bédel Bokassa und Idi Amin <strong>als</strong> der grausamste Diktator Afrikas. Wegen seines<br />

Kampfes gegen Intellektuelle wurde er auch mit Kambodschas Millionen-Schlächter Pol-Pot<br />

(*1928+1997) verglichen. Die Zahl der Todesopfer seiner Schreckensherrschaft beläuft sich<br />

zwischen 10.000 und 50.000. Mehr <strong>als</strong> hunderttausend Menschen befanden sich auf der Flucht. Ein<br />

Gericht sprach ihn des Völkermords, Menschenrechtsverletzungen für schuldig und verurteilte ihn<br />

252


zum Tode. Die Hinrichtung wurde am 29. September 1979 durch marokkanische Soldaten<br />

vollstreckt. Afrikas Schreckensdiktaturen haben im Laufe der Jahrzehnte ihr Hauptaugenmerk, ihre<br />

Schwerpunkte verlagert, gleichwohl ungebrochene Kontinuitäten, brachiale Missachtungen des<br />

Völkerrechts nicht verloren. Immer noch und wieder immer dominieren Ängste, Todesängste,<br />

Ängste vor Folter Vernichtung, Ausrottung. -Irrationalismen dieser Jahre, Horrorbilder aus dem<br />

21. Jahrhundert.<br />

Mit Robert Mugabe seit 1987 Präsident von Simbabwe tritt dieses Mal ein in England<br />

ausgebildeter Akademiker in die Fußstapfen blutüberströmter Profile.<br />

Menschenrechtsverletzungen, Torturen, Verschleppungen begleiten seine Macht, die er seit dem<br />

Jahre 1980 ausübt. Das Abschlachten, auch Vertreibungen weißer Landbesitzern durch so genannte<br />

zum Hass aufgestachelte "Veteranen" geht auf sein Geheiß zurück. Hungersnot, Wirtschaftskrise,<br />

Hyperinflation, Tausende ermorderte Menschen - und "Wählerstimmen", die er seit Jahrzehnten zu<br />

seinen Gunsten zu f<strong>als</strong>chen versteht. - . Der eigentliche Sieger zur Präsidentenwahl hieß anno 2008<br />

Morgan Tsvangirai. -Dieser mutige Mann hatte im Jahre 2007 Mugabe-Folter am eigenen Leid<br />

erfahren, hat Angst um sich, noch größere Furcht auch um seine Anhänger; vor Folter in<br />

Kasernen, Misshandlungen auf offener Straße, Massenvergewaltigungen oppositioneller Frauen in<br />

Stadien, auf Plätzen - vor gezielten Todesschüssen. Wie sagte noch Südafrikas Erzbischof<br />

Desmond Tutu: Mugabe ist die "Karikatur eines afrikanischen Diktators" - Posthum sind Amin,<br />

Bokassa und Macías in diesem blutgetränkten Zimbabwe nah - in Harare hautnah.<br />

Aber immerhin: Seit Februar 2009 darf sich der frühere Gewerkschaftsführer Morgan<br />

Tsvangirai Ministerpräsident von Zimbabwe nennen.<br />

253


CHILE: FOLTER-GENERAL AUGUSTO JOSÉ RAMÓN<br />

PINOCHET (*1915+2006)<br />

Er regierte Chile <strong>als</strong> selbsternannter "Präsident auf Lebenszeit" über 17 Jahre,<br />

ohne jem<strong>als</strong> gewählt worden zu sein. Er starb im 10. Dezember im Jahre 2006 im Alter von<br />

91 Jahren, ohne sich jem<strong>als</strong> für seine systematischen Menschenrechtsverletzungen,<br />

Verbrechen an der Menschheit, verantworten zu müssen. Leichen pflasterten seinen Weg,<br />

Tausende von Folteropfern säumen Chiles Friedhöfe. - Massenverhaftungen, Hunderte<br />

verschwundener Studenten, Lehrerinnen, Gewerkschafter - irgendwo in Wäldern<br />

unkenntlich verscharrt. Konzentrationslager vielerorts, Fußballstadien <strong>als</strong> Verlies,<br />

Polizeistation <strong>als</strong> schalldichte Folterstätten - die kritische Intelligenz des Landes in<br />

Massengräbern oder auf der Flucht. Über eine Million Menschen mussten während der<br />

Pinochet-Diktatur (1973-1990) emigrieren. Erst mit Beginn der neunziger Jahre begann in<br />

Santiago mühsam die Re-Demokratisierung. Rückschau gegen das Vergessen auf Chiles<br />

Schreckens-Epoche. Die Aufarbeitung jener Horrorjahre hat erst nach mittlerweile zwei<br />

Jahrzehnten quälend begonnen. Spurensuche.<br />

stern, Hamburg 04. August 1977<br />

Der 61jährige Augusto Pinochet Ugarte, Oberkommandierender des Heeres. Juntachef<br />

und Staatspräsident der Republik Chile seit 1974 liebt die europäische Wehrmachtsglorie der<br />

dreißiger Jahre. Von hoher Tellermütze bis zum glitzernden Gold auf den Kragenspiegeln, vom<br />

Hackenknallen auf den Kasernenhöfen bis zur Marschmusik im Wohnzimmer nach Feierabend<br />

kopiert er längst Vergangenes für den aktuellen Hausgebrauch in Chile. Das Militär, sagt der<br />

Diktator, musste den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende (*1908+1973) stürzen, "weil<br />

Chile sein traditionelles Lächeln verloren hatte".<br />

Ein Putsch, in diesem Jahrhundert, auf dem südamerikanischen Kontinent ohne Beispiel,<br />

der zwischen 15.000 bis 20.000 Menschenleben auslöschte. "Die Demokratie muss gelegentlich in<br />

Blut gebadet werden, damit die Demokratie fortbesteht", erklärte der General einen Monat nach<br />

seiner Machtübernahme am 11. Oktober 1973. Massenexekution, die unerbittliche Jagd auf all jene<br />

Chilenen, "die in der Sowjetunion ihr eigentliches Vaterland haben" (Pinochet), seien notwendig<br />

und unvermeidlich gewesen. Für ihn ist Chile heute ein Land, "in dem die Leute frei und glücklich<br />

sind". Auch die seit vier Jahren verhängte nächtliche Ausgangssperre ist für Pinochet nur positiv:<br />

"Vater kommt früh nach Haus und Mutter ist glücklich."<br />

Pinochet demonstriert die neue Bürgeridylle Chiles bei sich zu Hause. In der<br />

Hollywoodschaukel, die auf dem englischen Rasen vor der Villa steht, posiert Vater Augusto im<br />

hemdsärmeligen Dress neben Mutter Dona Lucia im sommerlichen Seidenkostüm. Chilenische<br />

Reporter der Junta frommen Wochenzeitschrift "Que Pasa" sind zu Besuch. Gemeinsam wollen<br />

General und Journalisten an seinem Image basteln, es zu einem fürsorglichen Familienpatriarchen<br />

aufpolieren. Die Militärdiktatur sitzt fest im Satteln, deshalb soll der blutrünstige Soldat aus dem<br />

Bewusstsein der Leute verschwinden. Eine identitätsstiftende Vaterfigur für das Zehn-Millionen-<br />

Volk wird aufgebaut. Pinochet rückt näher an seine Frau und legt den linken Arm um ihre Schulter.<br />

Dann schaut er freundlich, erstaunlich milde in die Ferne. Der Fotograf drückt auf den Auslöser<br />

und hat die Familienharmonie im Kasten; eine Glückseligkeit, die die Marxisten der Bevölkerung<br />

vorenthielten.<br />

254


Der General weiß auch warum. Er erinnert sich auf einmal an die Witwe des toten<br />

Salvador Allende: "Da reist sie nun durch die Welt, die Frau Hortensia, redet schlecht über uns und<br />

spielt die tragische Rolle der traurigen Witwe. Einer vereinsamten Frau, wo doch aber jeder hier im<br />

Land bestens weiß, dass Allende sich zu Lebzeiten nicht einmal an sie erinnerte und mit dieser -<br />

wie heißt sie noch - ach ja, mit dieser Margarita Contreras zusammenlebte."<br />

Sozialistischer Sittenverfall gestern, konservatives, soldatisches Eheglück dieser Putsch-<br />

Jahre. Beides präsentieren Chiles Medien ihren Lesern in Wort und Bild. Salvador Allende mit<br />

schief-verzerrtem Gesicht in den Armen seiner Geliebten, Pinochet treuherzig wie brav neben<br />

seiner Ehefrau in der Hollywood-schaukel. Keimfrei, katholisch und klug: Besser hätten die Nazis<br />

ihre Familienpropaganda auch nicht aufziehen können. "Wir haben doch sechs Enkelkinder, fünf<br />

Jungs und ein Mädchen", verrät Pinochet der chilenischen Öffentlichkeit. "Nein Alterchen", es sind<br />

sieben, du hast Rodriguito vergessen", unterbricht Dona Lucia. "Ah, ja noch ein Baby, Rodrigo",<br />

verbessert sich der Präsident. "Na ja", meint Dona Lucia, "die anderen sind doch Teufelchen, der<br />

Kleine noch nicht." Der General gibt zu, dass Rodrigo sein Günstling ist. "Die anderen sind mit<br />

irgendwie gleichgültig." Dona Lucia unterbricht wieder: "Um Gottes willen, Augusto, gleichgültig?"<br />

Die "spitzfindigen" Reporter fanden bei den Pinochets heraus, dass die Familie sonntags<br />

das "heilige Mittagessen" gemeinsam einnimmt. Seine drei Töchter und die beiden Söhne, die ihren<br />

Vater "Pate" nennen, sitzen dann auch am Tisch. Vorher war die Familie beim Gottesdienst. Dona<br />

Lucia: "Ich glaube, wir kennen alle Kirchen in Santiago." Was die gläubigen Pinochets der<br />

Bevölkerung verschweigen, ist eine geheime Demarche von Papst Paul VI. (1897-1978) aus Rom.<br />

Der katholische Oberhirte hatte Pinochet die Exkommunizierung angedroht, falls er die<br />

Menschenrechte in seinem Land weiterhin missachte. Das war Anfang 1976. Dam<strong>als</strong> saßen noch<br />

an die 6.000 politische Gefangene in Konzentrationslagern und Gefängnissen. Wenige Monate<br />

später ließ er 302 Häftlinge frei. Sein Kommentar: "Eine großzügige Geste. Ich bin nämlich ein<br />

Christ."<br />

Internationale Proteste, Chile gehöre zu den Klassikern der Folterstaaten, wollen die<br />

Pinochets nicht wahrhaben. Dona Lucia: "Viele Besucher haben die paar stinkenden Taugenichtse<br />

im Gefängnis gesehen, wie wohlgenährt, gesund und strahlend sie aussehen. Aber kaum haben sie<br />

Chile wieder verlassen, reden sie von Folter und anderem Unsinn." Ihr Mann, so gibt sie vor, wolle<br />

nichts anderes <strong>als</strong> "das Land voranbringen". Jetzt ergreift er selbst wieder das Wort. Wenn<br />

Pinochet die Provinz bereist, und er ist ständig auf Achse, "zeigen die Leute mir offen ihre<br />

Zuneigung. ' Hoffentlich werden Sie nicht müde', rufen sie mir zu", sagt der General mit Stolz. Er<br />

sagt es jedem, der es hören will. Sein zweites Thema sind die loyalen Chilenen im Ausland, die nach<br />

einer Geschäftsreise nach Santiago zurückkehren. Sie berichten ihm über die sogenannte "Vox<br />

populi" - Volkes Stimme. Ob der Taxifahrer am Flughafen "Charles de Gaulle in Paris oder der am<br />

Münchner Hauptbahnhof: Die Junta-Chilenen hören für ihren Putsch-Präsidenten immer nur einen<br />

Satz heraus: "Was wir hier brauchen, ist ein Pinochet."<br />

Die Schar der Jasager haben Pinochet seine "internationale Popularität" inzwischen<br />

eingeredet, dass ihm ein Platz in der Weltgeschichte gewissermaßen sicher scheint. Pinochet über<br />

sich und sein missionarisches Sendungsbewusstsein: "Für die Marx- und Lenin-Verschwörer aus<br />

Moskau war es ein harter Schlag, dass sich Chile vom Kommunismus befreien konnte. Die<br />

Bevölkerung sieht mich <strong>als</strong> eine Hoffnung. Sie sehen mich <strong>als</strong> den Führer." Wenn das Wort Führer<br />

fällt, ist ein neuer Begriff dieser Ära nicht fern -"Pinochetismus" . Der Diktator ließ ihn beizeiten<br />

ausstreuen, um sich <strong>als</strong> alleinige Erbe des "Franquismus" zu empfehlen. Pinochet, der Franco<br />

Südamerikas -Pinochet, der vom spanischen Generalissimus Franco noch kurz vor seinem Tod mit<br />

255


dem höchsten spanischen Militärorden in Friedenszeiten ausgezeichnet worden ist, übernimmt<br />

mehr und mehr auch die ideologischen und politischen Strukturen, eben Grundmuster,<br />

Herrschaftsallüren; oft alltägliche Allüren des Caudillo. So verfügt er bereits über einen<br />

Geheimdienst, die DINA, die ihm direkt untersteht, und setzte nach Franco-Vorbild einen<br />

"Staatsrat aus achtundzwanzig Honoratioren" ein, die ihn beraten sollen.<br />

Pinochetismus in Südamerika heißt in den eigenen Worten des Gener<strong>als</strong>. "Menschen<br />

müssen gefoltert werden, weil die Sicherheit des Staates es erfordert." Oder: "Ich mache sie aus,<br />

dann greife ich sie an und wenn ich kann ich kann, zerstöre ich sie." Pinochetismus <strong>als</strong> faschistische<br />

Diktatur läuft darauf hinaus: "Ich werde sterben, mein Nachfolger auch, aber Wahlen wird es nicht<br />

geben." Und Pinochetismus lehrt die Armee heute: "Soldaten sind gefährlicher <strong>als</strong> Polizisten, weil<br />

ihr Beruf das Töten ist."<br />

So und nicht anders hat Augusto Pinochet sein "Handwerk" gelernt. Im Jahre 1915 in<br />

Valparaíso geboren, avancierte er schon mit 21 Jahren zum Leutnant der Armee. Bis zum Allende-<br />

Sturz 1973 trat Pinochet nach der Tradition der chilenischen Streitkräfte politisch nicht in<br />

Erscheinung. Er war Berufssoldat, der durch "Energie und Disziplin" schneller Karriere machte <strong>als</strong><br />

manch anderer seines Offiziersjahrganges, sagten Mitschüler über ihn aus. Er schrieb über die<br />

Geografien Chiles, Argentiniens, Boliviens und Perus, die während seiner Ära zur Pflichtlektüre an<br />

den Schulen des Landes gehörten.<br />

Als Pinochet Militärattaché der chilenischen Botschaft in Washington wurde, fiel er<br />

Anfang der Sechziger den Amerikanern auf. Die US-Armee lud ihn seither regelmäßig in ihr<br />

Ausbildungscamp "Fort Gulick" in die Panamakanal-Zone ein. (Am 31. Dezember 1999 wurde das<br />

US-Gebiet entlang des Kan<strong>als</strong> sowie alle US-amerikanischen Militärbasen offiziell an Panama<br />

übergeben.) "Fort Gulick" war keine x-beliebige Kaserne. Auf einem Areal von 66.208 Hektar, das<br />

sind die Hälfte des Landes der einstigen Panama-Kanalzone, bildete die 8. Gruppe der US-Special-<br />

Forces die Offiziere Lateinamerikas im Kampf gegen "Subversion" in ihren Ländern aus. Die<br />

Disziplinen: Dschungelkrieg, Ranger-Drill und Anti-Guerilla-Taktik. Auch die militärische<br />

Gegenspionage von Staatsstreichen standen auf dem Lehrplan.<br />

Castros Kuba-Eroberung im Jahre 1959 und Che Guevaras Untergrundkrieg in Bolivien<br />

1968 ließen die US-Regierung fürchten, Südamerika könne nach und nach kommunistisch infiltriert<br />

werden. So bezeichnet die französische Tageszeitung "Le Monde" die Panama-Zone heute <strong>als</strong> eine<br />

"Filiale des Pentagon" in Washington. Und die "New York Times" berichtet: Von den 30.000<br />

Absolventen des "Fort Gulick", das für die Lateinamerikaner "Excuela de las Americas" heißt, sind<br />

heute in Südamerika insgesamt 170 Regierungschefs, Minister, Oberbefehlshaber, Stabschefs oder<br />

Direktoren der Geheimdienste. Naheliegend, dass die USA nach Bekundungen ihres damaligen<br />

Außenministers Henry Kissinger gleichsam spätestens seit 1970 den Sturz Salvador Allendes durch<br />

massive Militärhilfe angestrebt haben - ein internationalen Handels- und Kreditembargo gegen<br />

Chile federführend durchsetzten.<br />

General Augusto Pinochet Ugarte trug sich im Jahre 1965 zum ersten Mal in die<br />

Teilnehmerliste von "Fort Gulick" ein. 1968 zum zweiten Mal und 1972 zum letzten Mal. Als er ein<br />

Jahr später gegen Salvador Allende putschte, waren ihm sicherlich noch Lehrprogramme wie<br />

Übungen der 8. Gruppe der Special-Forces im Gedächtnis präsent. Sie waren gedacht <strong>als</strong><br />

Gebrauchsanweisungen gegen "linke" Putschisten, doch lieferten gleichzeitig die Rezeptur für den<br />

perfekten Staatsstreich von rechts.<br />

256


Instruction 1/57: "Die ganze Weisheit beim Staatsstreich besteht darin, dass er einen<br />

plötzlichen, entschlossenen Schlag ins Herz der Regierung darstellt, einen Dolchstoß, der gleich<br />

beim ersten Stoß bis zum Heft eindringt ...".<br />

Instruction 9/57: "Es gibt wahrscheinlich keinen besseren Weg, dieses Ziel zu erreichen,<br />

<strong>als</strong> durch ein oder zwei geschickte Mörder ...".<br />

Instruction 37/57: "Das allgemeine Ziel der Angriffsperiode ist es, durch plötzliche<br />

Gewaltanwendung den gesamten Teil des Staatsapparates, der wirksamen Wider-stand leisten<br />

könnte, kopflos zu machen und in Verwirrung zu bringen ... Die Nachrichtenverbindungen der<br />

Regierung müssen unterbrochen werden. In dieser Hinsicht sollten die Aufständischen äußerst<br />

rücksichtslos sein."<br />

Instruction 49/57: "Wenn der Staatsstreich gelingt, wird eine Zeit kommen, wo die<br />

Anhänger der alten Regierung nur noch an Flucht denken ... Wenn das Rückgrat des Widerstands<br />

gebrochen ist, werden die Fliehenden ein leichtes Ziel bieten. Je schneller die Truppen die<br />

Fluchtwege kontrollieren können, desto reicher wird wahrscheinlich die Ernte sein. Auch hier ist<br />

die Verfolgung wie in herkömmlichen Kriegen die Krone des Sieges ...".<br />

Instruction 54/57: "Zumindest in der Vergangenheit wurden den technischen<br />

Einzelheiten des Staatsstreiches zu wenig militärische Erwägungen gewidmet. Es ist vielleicht<br />

natürlich, dass der Staatsstreich kein Studienobjekt an den meisten Offiziersschulen war ... In vieler<br />

Hinsicht erscheint diese Vernachlässigung <strong>als</strong> unangebracht, denn es ist möglich, dass der<br />

Staatsstreich in den militärischen Überlegungen der Zukunft eine immer größere Rolle spielen<br />

wird."<br />

Pinochets Coup, der heute pathetisch die "Revolution vom 11. September" genannt wird,<br />

war meisterlich durchdacht. Nach vier Stunden war alles vorbei. Salvador Allendes Präsidentschaft<br />

(1970-1973) war mit seinem Versuch gescheitert, auf demokratische Wege eine sozialistische<br />

Gesellschaft zu etablieren. Allende hatte gegen eine Bourgeoisie gekämpft, die nicht bereit war, von<br />

ihrem Reichtum etwas abzugeben, die vielmehr um ihre Pfründe fürchten musste. Allendes<br />

Wirtschaftspolitik sah ihre vordringliche Aufgabe in einer entschädigungslosen Verstaatlichung der<br />

Bodenschätze - speziell Kupferbergbau -, die Enteignung von ausländischen Großunternehmen,<br />

auch der Banken und eine Agrarreform, bei der 20.000 Quadratkilometer Fläche von<br />

Großgrundbesitzern an Bauern und Kollektive übergeben wurden. Verbessert hatte sich durch<br />

Allende nämlich zunächst sehr schnell die wirtschaftliche Lage der Arbeiter und der Unterschicht.<br />

Löhne wuchsen um 30 bis 6o Prozent, Preise für Grundnahrungsmittel und Mieten wurden<br />

eingefroren, jedes Kind bekam Schuhe und täglich ein Liter Gratismilch in der Schule;<br />

Kindersterblichkeit sank um 20 Prozent, Arbeitslosigkeit um 8,8 Prozent. Mit seiner anfänglich<br />

erfolgreichen Sozialpolitik folgte Allende sowohl sozialistischen Idealen der 70er Jahre des 20.<br />

Jahrhunderts <strong>als</strong> auch einer südamerikanischen Tradition "populistischer" Nachfragepolitik. Doch<br />

allesamt wurde Allendes sozialistisches Chile mittels glasklarer US-Handels- und Kreditembargos<br />

vom Tisch gefegt, in den Abgrund getrieben; Privatinvestitionen sanken, Gelder ins Ausland<br />

transferiert.<br />

Die Wirtschaft des Landes stand folglich vor dem Ruin, abhängig vom amerikanischen<br />

Kapital, das Chile wegen der Verstaatlichung einiger wichtiger US-Unternehmen boykottierte.<br />

Schwere Wirtschaftskrisen samt Streiks durchschüttelten das Land, Rationierungen und hohe<br />

Inflationen bis zu 600 Prozent bestimmten den Krisen geschüttelten Alltag. Der US-Geheimdienst<br />

CIA hatte bereits zu diesem Zeitpunkt vorsorglich acht Millionen Dollar zur "Destabilisierung der<br />

257


Volksfrontregierung" ins Land gepumpt. Schmiergelder, die Militärs, Kongressabgeordnete,<br />

streikende Fuhrunternehmer sowie radikale Linke und Rechte kassierten. -Am Ende des Traums<br />

nach einer gerechteren Gesellschaft blieb die Erosion eines systematisch in den Ruin<br />

aufgetriebenen Volkes. - Ob nun Selbstmord oder Mord eines unbeugsamen Salvador Allendes im<br />

Präsidentenpalast am 11. September 1973 in Santiago de Chile - keiner kann die tödlichen<br />

Ereignisse mit Gewissheit belegen.<br />

Als die Hauptstadt Santiago am Rande des Bürgerkriegs stand, glaubte Allende immer<br />

noch, sich auf Pinochet verlassen zu können. Schließlich ist Pinochet unter Allendes Regentschaft<br />

zum Divisionsgeneral, zum Befehlshaber der in Santiago stationierten Zweiten Armee und<br />

Oberkommandierender des Heeres ernannt worden. Immer wieder rief Allende ihn an und fragte:<br />

"Was geht vor Augusto?" Der General beruhigte seinen Präsidenten: "Ich werde bis zum Ende<br />

loyal zur Regierung stehen", versicherte er.<br />

In Wirklichkeit war Pinochet längst zum Brutus geworden. Die blutigen Putschpläne<br />

waren schon mit den Oberbefehlshabern der Teilstreitkräfte abgesprochen worden, Sie lagerten bei<br />

Pinochet in der Schublade. Den letzten Anstoß zum Umsturz sollen Pinochet jedoch die Frauen<br />

der betuchten groß- und mittelbürgerlichen Schichten gegeben haben, die auf ihn auch noch zu<br />

Zeit seiner Präsidenten-Diktatur einen beträchtlichen Einfluss ausübten. Ihre Kochtopf-<br />

Demonstrationen in Santiago gegen stets höhere Lebensmittelpreise, und die ständigen Sticheleien<br />

gegen die verhassten Sozialisten seiner eigenen Ehefrau Dona Lucia beim morgendlichen<br />

Frühstück zu Hause, "Augusto, du bist doch Soldat und kein Feigling", all diese scheinbar<br />

beiläufigen atmosphärischen Begleiterscheinungen beschleunigten offensichtlich Allendes Ende.<br />

Knapp zwei Monate nach dem Putsch von Santiago kam in "Fort Gulick" in der noch<br />

durch US-Militärs besetzen Panama-Kanalzone ein Brief aus Santiago an, der über Jahrzehnte den<br />

Ehrenflur schmückte, in dem jedes Mitgliedsland durch seine Nationalflagge vertreten war. "Wir<br />

bitten Sie, die Dankbarkeit der chilenischen Armee entgegenzunehmen, der ich meine aufrichtigen<br />

Glückwünsche für die berufliche Ausbildung, die in diesem Institut erteilt wird, hinzufüge." Der<br />

Brief trägt das Datum vom 6. November 1973 und ist unterzeichnet von Augusto Pinochet.<br />

Pinochet und seine zwei Gesichter. Als US-Präsident Jimmy Carter (1977-1981) im<br />

Wahlkampf der republikanischen Ford/Kissinger-Regierung (1974-1977) den Vorwurf machte,<br />

"den gewählten Allende gestürzt zu haben, um einer Militärdiktatur Platz zu machen", konterte der<br />

General in einem Telegramm an Carter: Er sei "durch f<strong>als</strong>ch oder verstümmelte Informationen<br />

beeinflusst worden, die auf der Propaganda marxistischer Parteien basieren." Carter solle doch<br />

nach Chile kommen und an Ort und Stelle die Materialen einsehen. Jimmy Carter fuhr bekanntlich<br />

nicht, dafür amerikanische Journalisten, die der Diktator im 22. Stock von Diego Portales empfing.<br />

Sein Arbeitszimmer, ein sachlich-kühler Raum, kennt nur einen Schmuck: einen<br />

goldglänzenden Säbel. Die Gespräche beginnt Pinochet immer mit derselben Litanei. Eigentlich<br />

rede er überhaupt nicht mit ausländischen Journalisten. "Man wird Ihr Interview doch nur<br />

publizieren", witzelt er verbissen, "wenn Sie schreiben, an Pinochets Händen klebt Blut. Kein<br />

Mensch wird Ihnen glauben, dass ich ein normaler und ruhiger Mensch bin, der sogar lachen<br />

kann." Seine Landknechtsjovialität offenbart, was ihm selbst seine engsten Freunde bescheinigen.<br />

Er ist kein Mann der brillanten Intelligenz, vielmehr ein Haudegen, der sich durch Diensteifer,<br />

Beharrlichkeit und Härte nach oben geboxt hat. Dazu kommt eine Portion dreister Bauernschläue,<br />

mit der er seine Gegner allzu oft auszutricksen versucht. Eine amerikanische Reporterin von NBC:<br />

"Aber ich habe die Leiche eines politischen Gefangenen mit eigenen Augen gesehen." - "Was sahen<br />

Sie, Einschüsse, Folterspuren?" fragte Pinochet mürrisch. "Ich sah blutige Wunden am ganzen<br />

258


Leib, zerschlagene Schläfen." Pinochet reagiert sachkundig: "Autounfall", sagt er. "Ein typisches<br />

Beispiel, wie jene zwei Terroristen, die vor ein paar Tagen einer Streife ausrissen. Ihr Wagen<br />

überschlug sich dabei. Manchmal versuchen die Herren sich freizuschießen, sogar mit<br />

Handgranaten. Auch auf unserer Seite, Madame, gibt es Opfer. Aber vielleicht ist der Mann, den<br />

Sie sahen, auch auf eine ganz gewöhnliche Weise verunglückt, und seine kommunistischen<br />

Angehörigen benutzen dies, um uns eins auszuwischen. Große, geschickte Lügner, die<br />

Kommunisten. Vor ein paar Tagen hat ein Arbeiter ein kleines Mädchen geschändet und verbreitet,<br />

die Polizei habe das getan. Wir holten ihn ab, und er gestand die Wahrheit. Was Ihre Presse nicht<br />

daran hindert, uns <strong>als</strong> perverse Verbrecher zu verleumden."<br />

Ein anderer Reporter: "Der Mapacho-Fluss und die Gewässer der südlichen Provinzen<br />

von Cantía und Valdiria spülen täglich entsetzlich zugerichtete Leichen an die Uferböschungen."<br />

Pinochet: "Diese Menschen sind nicht durch Soldaten getötet worden. Extremisten haben<br />

Schwerverletzte in den Fluss geworfen, weil sie sie nicht hätten pflegen können." Die Folterlager in<br />

Tejas Verdes in Fuerte Borgono, in Talcahuano, in der Academia de Guerra Aérea, die<br />

Torturzentren in der Villa Grimaldi, in Tres Alamos , in der Calle José Domingo Canas oder in der<br />

Calles Londres 42, existieren für Augusto Pinochet gar nicht. Er tut so, <strong>als</strong> würde er es auch Hitler<br />

abnehmen, nichts von Auschwitz gewusst zu haben.<br />

Die Isolierhaft, der Schlafentzug, die Prügel, die Vergewaltigung, das Ausreißen der<br />

Fingernägel, die Behandlung mit Drogen, die Elektroschocks, die Papageienschaukel -für Augusto<br />

Pinochet sind es "Gräuelmärchen, die aus Moskau kommen". Der Bericht der UNO-<br />

Menschenrechtskommission, die 150 Zeugen in Genf, Paris, New York und Caracas vernahm, der<br />

Report der Internationalen Juristen-Kommission, die in Chile über Hunderten von Schicksalen<br />

minutiös nachging, die Nachforschungen der Internationalen Arbeitsorganisation, die das Regime<br />

für den Tod von 119 Gewerkschafter verantwortlich macht - die Materi<strong>als</strong>ammlung der kirchlichen<br />

Vicaría de Solidaridad in Santiago, die Statistiken des Lutherischen Weltbundes (50.000 Ermordete<br />

seit dem Putsch) und von amnesty international (130.000 Menschen wurden seit 1973 für kürzere<br />

oder längere Zeit interniert, 1.500 Chilenen sind spurlos verschwunden, wahrscheinlich tot) - 4.000<br />

noch in Haft. Pinochet begegnet den Anklagen mit kaltschnäuziger Ignoranz.<br />

Er weiß sich bei seiner Politik der Unterstützung der internationalen Hochfinanz sicher.<br />

Seit dem Umsturz sind die Militärjunta insgesamt 2.5 Milliarden Dollar zugeflossen: Von<br />

Finanzorganisationen, ausländischen Privatbanken, Verkäuferkredite und staatliche Hilfen<br />

insbesondere von den USA, Brasilien und Argentinien. Bis ins Jahr 1980 werden der Diktatur<br />

weiterhin 500.000 Dollar jährlich gewährt; <strong>als</strong> Finanzspritze weiterer Repressionen sozusagen.<br />

Selbst die Volksrepublik China pumpte 125 Millionen Mark in eine Kugellagefabrik. Im April 1977<br />

war auch ein deutscher Großbankier Hermann Josef Abs (*1901+1994) zu Gast. Die chilenische<br />

Zeitung El Mercurio berichtete: "Herr Abs, einer der einflussreichsten europäischen Bankiers,<br />

erklärte, er sei auf Grund der Zuneigung zu Chile gekommen, die er für unser Land verspüre, wo er<br />

zum ersten Mal vor fünfzig Jahren <strong>als</strong> Student gewesen sei. Andererseits stehe das Institut, dessen<br />

Ehrenpräsident er ist, an der Spitze eines Bankenkonsortiums, das sich anschickt, der Corporacion<br />

del Cobre einen Kredit über hundert Millionen Dollar zu gewähren. Die Deutsche Bank hatte<br />

kürzlich der chilenischen Zentralbank einen Kredit über 50 Millionen Mark für den Kauf von<br />

Kapitalgütern eingeräumt." - Am Nachmittag konferierten, wie sollte es auch anders sein, Bankier<br />

Abs und Folter-General Pinochet im Gebäude Diego Portales. Der Diktator zum Bankier: "Unter<br />

den Nationen der Welt gibt es keine, der sich das chilenische Volk näher fühlt <strong>als</strong> den Deutschen."<br />

259


Nachtrag - Ende September 1998 reiste Pinochet <strong>als</strong> Senator nach Großbritannien. Dort<br />

ließ er sich seinen kranken Rücken behandeln und traf sich mit der britischen Ex-Premierministerin<br />

Margaret Thatcher (1979-1990), die er während des Falkland-Krieges unterstützt hatte. Aufgrund<br />

eines spanischen Haftbefehls wegen Völkermord, Staatsterrorismus und Folter wurde Pinochet in<br />

England verhaftet - unter Arrest gestellt. Dem folgte ein monatelanges, fortwährendes juristisches,<br />

aber auch machtpolitisches Tauziehen zwischen England, Spanien und Chile. Ausgerechnet die<br />

chilenische Regierung unter Eduardo Frey setzte sich für seine Freilassung ein. Ihre Gründe waren<br />

sein hohes Alter und sein offenkundig schlechter Gesundheitszustand. Dieser offiziellen Version<br />

schlossen sich gleichfalls die USA an. In Washington wurden nämlich weitere Enthüllungen und<br />

Verwicklungen der Vereinigten Staaten in die Menschenrechtsverletzungen, Verschleppungen unter<br />

Pinochets Herrschaft befürchtet.<br />

Pinochet indes kehrte unter Beifall seiner Anhänger im Jahre 2000 nach Chile zurück. Bis<br />

zu seinem Tod am 10. Dezember 2006 stand er in Chiles Hauptstadt unter "Hausarrest". - Zu einer<br />

gerichtlichen Aufarbeitungen und Aburteilung jener Herrschaftsjahre mit Tausenden von Opfern<br />

kam es nicht mehr. Verpasste Chancen auf Versöhnung, auf Aussöhnung in dieser zerrissenen<br />

Nation. Im März 2006 wurde die Sozialistin Verónica Michelle Bachelet Jeria zur neuen Präsidentin<br />

gewählt. Die Kinderärztin floh während der Pinochet-Zeit über Australien in die DDR. Ihr Vater,<br />

ein Allende-Anhänger, der Luftwaffengeneral Alberto Bachelet, war derart grausam von Pinochet-<br />

Schergen gefoltert worden, dass er wenig später verstarb. Michelle Bachelet floh über Australien in<br />

die DDR, wo sie Germanistik und Medizin studierte. Im Jahr 1979 - noch unter dem Pinochet-<br />

Regime - kehrte sie nach Chile zurück. Trotz Jahrzehnte, die mittlerweile seit dem Ende des<br />

Pinochet-Regime vergangen sind, spricht Michelle Bachelet noch lange nicht davon, den Schergen<br />

oder Schlächtern von ehedem <strong>als</strong> Geste eines Neuanfang, die Hand zu reichen. Michelle Bachelet<br />

kann es wie vielen anderen Leidensgenossen allenfalls um eine "Wiederbegnung" (reencuentro) mit<br />

Menschen in einem Land gehen, in dem die Wunden offenkundig mühsamer verheilen können <strong>als</strong><br />

vielleicht anderswo.<br />

260


LETTLAND: UNTER ROTEN ZAREN VON EINST -<br />

MILLIONEN HÄFTLINGE IN TAUSENDEN VON LAGERN<br />

VERBANNT<br />

stern, Hamburg – 22. Juni 1977 6<br />

Die Szene hätte sich an der Klagemauer in Jerusalem abspielen können: Juden, die im<br />

Dritten Reich von Nazis verfolgt wurden, singen alte hebräische Lieder und tanzen im Halbkreis.<br />

Ein Rabbi, um den sich eine Menschentraube gebildet hat, fordert an Ort und Stelle ein Mahnmal,<br />

das an die Gräueltaten der Nazis erinnern soll.<br />

Doch diese Juden, die sich hier versammelt haben, leben nicht in Jerusalem, ihre<br />

Zwangsheimat ist die lettische Hauptstadt Riga, und in Riga ist eine Demonstration nationaler<br />

Minderheiten verboten. Polizisten sprengen die friedliche Veranstaltung. Offiziere des sowjetischen<br />

Geheimdienstes KGB fotografieren die Teilnehmer. Einer von ihnen ist der 55jährige Jacob<br />

Raskin. Als der Ingenieur versucht, Polizisten von der Verhaftung des Rabbi abzuhalten, ruft ihm<br />

ein Mann zu: "Das werden Sie noch bereuen!"<br />

Am nächsten Tag trifft Raskin zufällig einen langjährigen Freund in der Kaleju-Straße.<br />

Der bittet ihn, da er in Eile sei, doch ein paar Bücher, die er bei sich habe, in die Staatsbibliothek zu<br />

bringen. Kaum hat Raskin die Büchertasche in der Hand, treten zwei Männer auf ihn zu. Sie weisen<br />

sich <strong>als</strong> Offiziere des "Komitees für Staatssicherheit" aus. In der Tasche, die durchsucht wird,<br />

befinden sich 3.000 US-Dollar - in der Sowjetunion verbotene Devisen. Das Urteil für den arglosen<br />

Raskin: drei Jahre Arbeitslager ohne Bewährung.<br />

Das Arbeitslager OZ 78/7, in dem Raskin interniert wird, liegt zwölf Kilometer östlich<br />

von Riga. Es ist eines von rund 1.000 KZs, die sich die Sowjetführung leistet, um ihre Häftlinge<br />

"umzuerziehen" - so heißt das offiziell. Im Lager OZ 78/7 trifft Raskin auf den 44jährigen Olafs<br />

Bruvers. Der Taxifahrer hatte es gewagt, mit seinen Fahrgästen über Glaubensfreiheit und<br />

Menschenrechte zu diskutieren. Das Urteil gegen ihn: sechs Monate ohne Bewährung.<br />

Raskin und Bruvers leben heute im Westen. Ihren Freund Wassilij Ediger ließen sie<br />

zurück; auf dem Gefangenen-Friedhof von Riga. Das Einzige, das heute an ihn er- innert, ist eine<br />

quadratische Grabtafel aus Holz, auf der seine Häftlingsnummer 1214/13 eingeritzt worden ist. Er<br />

starb im Herbst 1975 an "Herzversagen". So jedenfalls teilte es die Lagerleitung der Familie mit.<br />

Tatsächlich litt Ediger an chronischer Unterernährung. Die Steineschlepperei in der<br />

Baubrigade hatte er nicht mehr durchgehalten. Ausreichendes Essen gab es nicht, ein Arzt war<br />

nicht zur Stelle, <strong>als</strong> der Ausgemergelte zusammenbrach. Wenige Stunden später war er tot.<br />

Drei Schicksale von 1,2 Millionen. So viele Häftlinge sind in der Sowjetunion unter<br />

unwürdigen Bedingungen eingekerkert. Nach Berichten der amerikanischen Regierung , die mit den<br />

Recherchen der Gefangenen-Hilfsorganisation amnesty international übereinstimmen, sind davon<br />

mehr <strong>als</strong> 10.000 politische Häftlinge. Ihr einziges "Verbrechen": Sie glauben und denken anders, <strong>als</strong><br />

es die Partei befiehlt.<br />

6 Mit Erich Follath<br />

261


Politische Gefangene, die nach ihrer Haft in den Westen ausreisen durften und ihre<br />

Augenzeugen-Berichte veröffentlichten, werden in der Sowjetunion <strong>als</strong> "Lügner und<br />

Entspannungsfeinde" diffamiert. Die sowjetische Führung - ob früher Nikita Chruschtschow<br />

(*1894+1971) oder später Leonid Breschnew (*1906-+1982) behauptet aber: "In der Sowjetunion<br />

gibt es keine politischen Gefangenen."<br />

Auch <strong>als</strong> im Dezember 1975 ein unter größten Gefahren gedrehter Amateurfilm vom<br />

Arbeitslager OZ 78/7 bei Riga im französischen Fernsehen ORTF gesendet wurde und der stern<br />

(Nr. 1/1976) die Bilddokumente veröffentlichte, erklärte die Sowjetführung: "Der Film ist eine<br />

Fälschung." Dieses Dementi nahmen den Moskauer Kommunisten dam<strong>als</strong> nicht einmal ihre<br />

französischen Parteigenossen ab. KPF-Chef Georges Marchais (*1920+1997) ging bewusst auf<br />

Kollisionskurs mit Moskau, <strong>als</strong> er feststellte: "Diese Tatsachen können dem Sozialismus Schaden<br />

zufügen."<br />

Wie recht Georg Marchais hat, beweisen neue Filmdokumente, die der stern <strong>als</strong> erste<br />

westliche Zeitschrift veröffentlicht. Sie zeigen das Lager von Riga ein Jahr danach. Wieder gelang es<br />

unbekannten Amateurfilmern, sich unter Lebensgefahr an das Lager OZ 78/7 heranzuschleichen<br />

und den Alltag der Gefangenen im Bild festzuhalten. Der 16mm-Streifen wurde von Freunden in<br />

den Westen geschmuggelt. Der Film beweist: OZ 78/7 ist in den letzten zwölf Monaten zu einem<br />

perfekten Konzentrationslager ausgebaut worden.<br />

Und das in jener Zeit, in der sich die sowjetische Regierung auf dem internationalen<br />

Parkett mit Entspannungs-Rhetorik zu profilieren sucht. Rechtzeitig zur zweiten "Konferenz für<br />

Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)", die am 15. Juni 1977 in Belgrad begonnen<br />

hat, präsentierte die KPdSU-Spitze der Weltöffentlichkeit eine neue, "liberale" Verfassung, Sie<br />

garantiert dem 225-Millionen-Volk - auf dem Papier -die klassischen Bürgerrechte: Recht auf freie<br />

Meinungsäußerung, Demonstrationsfreiheit, Glaubensfreiheit und "Unantastbarkeit im<br />

Briefverkehr und bei Telefongesprächen".<br />

In Wirklichkeit sind die <strong>als</strong> Jahrhundertwerk gefeierte Gesetzestexte ein Aufguss der<br />

Stalin-Verfassung von 1936, die ebenfalls Freiheiten versprach. Doch auch heute wie dam<strong>als</strong> gilt:<br />

"Die Ausübung dieser Rechte und Freiheiten durch die Bürger darf die Interessen der Gesellschaft<br />

und des Staates ... nicht verletzten." Und nur die Partei bestimmt, wer "die Interessen der<br />

Gesellschaft" verletzt. Und das Strafrecht ermächtigt den Staatsapparat, politische und religiöse<br />

Dissidenten zu verhaften und abzuurteilen.<br />

Die sowjetische Verfassungswirklichkeit, die Regime-Gegner in den Untergrund zwingt<br />

und Dissidenten an der Ausreise hindert, widerspricht eindeutig der Schlussakte der ersten KSZE-<br />

Tagung in Helsinki. Bei der Unterzeichnung im August 1975 hatte Parteichef Leonid Breschnew<br />

(1964-1982) zugesagt, den "freien Austausch von Gedanken in Informationen und Meinungen"<br />

zwischen der UdSSR und den westlichen Staaten zu verwirklichen. Amerikanische Kritik, Moskau<br />

sei "weit unter den Abmachungen von Helsinki geblieben" und wende die Menschenrechte<br />

"willkürlich" an, wies der KP-Chef stets entrüstet und mit der Begründung von sich, in der<br />

Sowjetunion gebe es keine Straflager, sondern nur "Erziehungskolonien".<br />

Der Tag der 1.500 Häftlinge in der "Erziehungskolonie" Riga OZ 78/7 beginnt, so<br />

bekunden ehemalige Insassen, um 5.30 Uhr. Die Strafgefangenen müssen zum Zähl-Appell aus<br />

ihren Baracke heraustreten. An den Türen gibt es jeden Morgen ein Gedränge. Die Unterkünfte<br />

sind hoffnungslos überbelegt. Mehr <strong>als</strong> 50 Mann hausen jeweils in einem Schlafraum, der für zwölf<br />

bestimmt ist.<br />

262


Auch im Essens-Saal ist der Platz knapp. Die zwei Tassen wässriger Hafersuppe schlürfen<br />

die meisten im Stehen hastig herunter. Die Wachposten, die Maschinenpistolen über der Schulter,<br />

treiben zur Eile. Die Armee-Lastwagen warten. Es ist sieben Uhr. Der Menschentransport beginnt.<br />

Langsam schieben sich die Laster, auf denen jeweils 50 Gefangene zusammengepfercht<br />

hocken, bewacht von abgerichteten Hunden, durch den Haupteingang des Lagers. Vorbei an<br />

Militärposten mit Maschinenpistolen im Anschlag, vorbei an Stacheldrahtverhauen und den neuen<br />

hohen Holzzäunen. Durch Stadtbezirke Rigas geht es über die "Krustpils lela", zu deutsch<br />

"Kreuzburgstraße", hinaus nach "Incukalna", einem Fabrikgelände mit Sägewerk und Holzlager.<br />

Ob im heißen Sommer oder im bitterkalten Winter, für die Verbannten von Riga gibt es<br />

keinen Unterschied. Sie müssen neun Stunden pro Tag im Freien schuften - dazwischen liegen<br />

knappe 15 Minuten Pause. Die Sträflinge haben nur ein Ziel: die hohen Arbeitsnormen<br />

einzuhalten. Darüber wacht ein Soldat mit Stoppuhr und Notizbuch.<br />

Für die Knochenarbeit bekommen die Gefangenen 50 Kopeken pro Tag. Das sind nicht<br />

einmal zwei Mark. Von diesen zwei Mark werden 1,60 Mark für das Essen abgezogen.<br />

Moskaus Parteifunktionäre planen die Arbeit der Gefangenen in ihren<br />

Wirtschaftsprogrammen fest ein. Gäbe es sie nicht, würden in Riga die supermoderne "Popow-<br />

Elektrofabrik", das neue Brotkombinat und die Wasserversorgungsanlage nicht stehen. Die<br />

sowjetische Zeitung "Kasachstanskaja Prawda": "Die von Gefangenen verrichtete Arbeit ist<br />

Schwerarbeit, und die Produktionsnormen sind maximal. Eine Arbeitskolonne ist kein<br />

Erholungsheim. Hier muss gearbeitet werden. Im Schweiße des Angesichts."<br />

Um 17 Uhr sollen die Laster zurück ins Lager. Schon eine halbe Stunde später beginnt der<br />

politische Unterricht. Unteroffiziere lesen aus den Werken von Marx und Lenin, lassen Texte<br />

aufsagen und klopfen immer wieder die politische Gesinnung ab. Kommt die Rede auf die<br />

Menschenrechte, dann fallen Sprüche, wie sie der Bewacher Ljubajew vor Häftlingen äußerte:<br />

"Menschenrechte? Das ist etwas für Neger!"<br />

Wer sich nicht parteifromm verhält, muss mit harten Strafen rechnen. Familienbesuche,<br />

ohnehin nur alle sechs Monate erlaubt, werden gestrichen. Die Essensrationen, durchschnittlich<br />

1.800, manchmal sogar nur 1.300 Kalorien pro Tag, werden um die Hälfte gekürzt - zum Sterben<br />

zu viel, zum Leben zu wenig. Nach allgemeingültiger Ansicht benötigt ein körperlich schwer<br />

arbeitender Mensch weit über 3.000 Kalorien.<br />

Wer im Lager aufmuckt, kommt zu Saul in die "Spezialklinik". Schon sein Name sorgt im<br />

Lager für Angst und Schrecken. Denn "Saul mit den Sechs-Unzen-Boxhandschuhen", wie er wegen<br />

seiner Lieblings-Werkzeuge im Lager genannt wird, kann die Geschundenen körperlich so quälen,<br />

dass keine sichtbaren Spuren zurück-bleiben. Bei der Umerziehung "ist jede beliebige Maßnahme<br />

und Methode der pädagogischen Einflussnahme einzusetzen" - so steht es in de 1972 verfassten<br />

Erläuterungen der sowjetischen Gesetzgebung.<br />

Das Arbeitslager OZ 87/7 ist berühmt für seine "Feldscher". So werden in der<br />

Sowjetunion jene Hilfskräfte genannt, die ohne jede medizinische Ausbildung an kranken<br />

Gefangenen herumdoktern. Oft sind die "Feldscher" selbst Gefangene, die, weil es kein geschultes<br />

ärztliches Personal gibt, Sprechstunden abhalten. Dabei wäre gerade in Riga Mediziner dringend<br />

nötig, denn fast täglich passieren im Sägewerk "Incukalna" schwere Arbeitsunfälle. Die Männer<br />

arbeiten ohne den geringsten Sicherheitsschutz: keine Helme, keine Handschuhe, keine<br />

Schutzbrillen.<br />

263


Die Einwohner von Riga wissen von alldem gar nichts. Kontakte zwischen der lettischen<br />

Bevölkerung und den Lagerinsassen weiß der Staatsapparat zu verhindern. Er setzt <strong>als</strong> Wärter<br />

nämlich Angehörige sowjetischer Nationalitäten ein, die nicht Lettisch sprechen können und oft<br />

auch nicht Russisch. Die Auswahl des Wach-person<strong>als</strong> hat Methode: In Riga tun Mongolen und<br />

Tscherkessen Dienst. Dafür dient Wachpersonal aus Riga im sibirischen Wladiwostok.<br />

Nur Offiziere des KGB können mit den Gefangenen sprechen. KGB-Chef in Riga ist<br />

Oberstleutnant Berzins, ein 48jähriger Mann mit stahlblauen Augen und einem pausbäckigen<br />

Gesicht. Er beschäftigt sich mit besonders gravierenden "politischen Fällen". Eine Zutat seiner<br />

Verhör-Methodik: "Reden Sie, solange wir Ihnen dazu noch Gelegenheit geben! Sonst werden Sie<br />

eines Tages froh sein, überhaupt noch sprechen zu können." Manche Häftlinge aus Riga haben<br />

noch Jahre nach ihrer Entlassung Albträume an Oberstleutnant Berzins.<br />

Der sowjetische Fortschritt zu höherem "Ruhm und Ehre der Arbeiterklasse" ist nicht<br />

aufzuhalten - auch nicht im Arbeitslager OZ 78/7 von Riga. Zierten letztes Jahr noch Bäume und<br />

Sträucher den Weg zum Lager, so haben heute Bulldozer die Sicht freigeräumt. Damit haben die<br />

Wachen die Lagerumgebung unter totaler Kontrolle. Die Lastwagen sind neuerdings mit zwölf<br />

Millimeter dicken Stahlplatten abgedichtet, um den Menschentransport vor den Augen Neugieriger<br />

zu verheimlichen.<br />

Letzte Variante des technischen Fortschritts - eine haushohe stabile Holzwand, zugleich<br />

Barrikade, versperrt den Gefangenen jeden Blick in die Außenwelt. Riga im Sommer des Jahres<br />

1977. OZ 78/7 ist eines der fünf Arbeitslager der Stadt - und es ist trotz allem noch das humanste.<br />

Die Gefangenen in den anderen Lagern müssen noch härter arbeiten, dürfen noch weniger<br />

schlafen, bekommen nur eine Schachtel Zigaretten pro Woche. Besuch dürfen sie nie empfangen.<br />

Und da es sich um "Lager der verschärften Kategorie" handelt, ist an Entlassung nicht zu denken.<br />

264


FOLTER IN DIESER WELT - JEDER KANN DER NÄCHSTE<br />

SEIN :<br />

"Wer gefoltert wurde, kann in dieser Welt nicht mehr heimisch werden"<br />

Jean Améry, österreichischer Schriftsteller (*1912+1978)<br />

stern, Hamburg 8. Juni 1977<br />

Folter ist für den österreichischen Schriftsteller Jean Améry "das fürchterlichste Ereignis,<br />

das im Gedächtnis eines Menschen zurückbleibt", für den französischen Philosophen Jean-Paul<br />

Sartre (*1905+1980) "der Striptease des Humanismus". Und für den deutschen Bundesminister<br />

Hans Matthöfer ( 1974-1982) sind "die Machthaber, die Menschen foltern lassen, ehrlose Lumpen,<br />

schmutzig bis in den letzten Winkel ihrer verrotteten und verlausten Seelen."<br />

Wäre Matthöfers Ansicht für die praktische Politik der sozial-liberalen Koalition in Bonn<br />

(1969-1982) maßgeblich, müsste die Bundesregierung zu mindestens 60 Staaten ihre<br />

diplomatischen Beziehungen abbrechen. Fakten der UNO-Menschenrechtskommission und der<br />

weltweiten Gefangenen-Hilfsorganisation amnesty international belegen, dass in 60 Ländern der<br />

Welt die Folter zum Strafvollzug gehört.<br />

Nicht nur in Polizeistationen, Kasernen, Krankenhäusern und Gefängnissen auch in<br />

Prunkvillen einiger Staatspräsidenten überbieten sich Verhörer und Folterer gegenseitig, wehrlose<br />

Opfer Schmerzen zuzufügen. So in der Residenz des Diktators von Nicaragua, General Anastasio<br />

Somoza Debayle (*1925+1980).<br />

Noch nie mussten so viele Menschen Torturen ertragen wie in der zweiten Hälfte des 20.<br />

Jahrhunderts. Noch nie wurde die Folter zur Durchsetzung tagespolitischer Interessen der<br />

jeweiligen Machthaber so brutal eingesetzt wie in unserer Zeit.<br />

Folter bleibt keinem Zufall überlassen, sie hat System. Die Schreckensvision, man könnte<br />

der Nächste sein, ist ein innenpolitischer Ordnungsmechanismus, der in diktatorischen Ländern die<br />

rechtlose Bevölkerung nach Belieben willfährig macht und jedwede öffentliche Kritik - sei es nur an<br />

sozialen Missständen - im Keim erstickt. Die Anleitung zur Menschenhatz lieferte der französische<br />

Militärhistoriker Roger Trinquier (*1908+1986) schon im Jahre 1961, <strong>als</strong> er die Folter in das System<br />

der modernen Kriegsführung einbezog: "Der Terrorist muss begreifen, dass er, wenn er gefangen<br />

genommen wird, nicht wie ein gewöhnlicher Verbrecher behandelt werden kann, noch wie ein<br />

Gefangener auf dem Schlachtfeld ..."<br />

Folter hat sich zu einer weltweiten "Subkultur des Terrors" entwickelt, wie das<br />

amerikanische Nachrichtenmagazin "Time" schreibt, mit eigener Sprache, mit eigenen Ritualen, mit<br />

eigenen spiritistischen Sitzungen. So müssen die Geschundenen im persischen "Komitee-<br />

Gefängnis" genau wie im Verhörzentrum der II. brasilianischen in Sao Paulo und in Chiles<br />

berüchtigter "Villa Grimaldi", die im Zentrum der Hauptstadt Santiago liegt, ihre Peiniger mit dem<br />

Titel "Doktor" ansprechen. Aus Hauptmann Orlando Manso Duràn (Chile), genannt "Paleface"<br />

(Bleichgesicht), wird Dr. Duràn. Aus dem Kriminalrat Sergio Fleury, Verbindungsmann zwischen<br />

dem brasilianischen Geheimdienst und den illegalen Todesschwadronen, die Oppositionelle<br />

verschleppen und töten, wird Dottore Fleury. Selbst die größte Zeitung des Landes, der "Estado<br />

Sao Paulo", tituliert ihn so vorsichtshalber voller Respekt. In den Folterräumen der II.<br />

Brasilianischen Armee in Sao Paulo versucht man, Regimekritiker unter Todesqualen den<br />

265


"subversiven Geist" auszutreiben - eine Art "geistiger Selbstreinigung", die den<br />

Teufelsaustreibungen religiöser Fanatiker ähnelt.<br />

Der Folterer suggeriert seinem Opfer, er, der Folterer sei eine "magische Gestalt" mit<br />

übernatürlichen Kräften. Nach stundenlangen Verhören mit Peitschenhieben und Elektroschocks<br />

unterbrochen, wird der Gedemütigte auf eine Eisenpritsche gelegt und gefesselt. Der Raum wird<br />

abgedunkelt. Jetzt beginnt der zweite Teil, Hypnose. Aus Lautsprechern, die im Verhörzimmer<br />

dafür installiert worden sind, ertönt in Intervallen rhythmische Soulmusik oder expressive Passagen<br />

aus der Fünften und der Neunte Symphonie von Beethoven. Im Stil eines Exorzisten macht sich<br />

der Scherge an die Arbeit. Er versetzt sein Gegenüber in einen Trancezustand. Darin soll das Opfer<br />

seine Schuld bekennen, mit Kommunisten und anderen Oppositionellen zusammenzuarbeiten und<br />

Namen sowie Adressen sogenannter Staatsfeinde verraten. Wenn diese Methode nichts hilft,<br />

werden wieder 120-Volt-Stromstöße durch den Körper gejagt, und nach einer Pause beginnt die<br />

Hypnose von vorn.<br />

Folterer leben in einer Wunschwelt, in der sie negative Reizwörter, die sie an Brutalität<br />

und Sadismus erinnern müssten, zu positiven Begriffen ummünzen. Die "Villa Grimaldi" heißt für<br />

die chilenischen Menschenquäler "Villa des Gelächters" (Palacio de la Risa). Und in Persien, wo an<br />

die 100.000 politische Gefangene die Haftanstalten füllen, werden blutverschmierte Folterkammern<br />

"Marschierer-Zimmer" genannt. Denn nach den Tortouren müssen die Geschundenen in der Zelle<br />

auf und ab gehen. Die Gefängnisärzte befürchten, ihre total erschöpften "Patienten" könnten an<br />

einem Kreislaufkollaps sterben, wenn sie sich nicht bewegen.<br />

Spitznamen sollen die wahre Identität der Folterknechte verbergen, die die meisten von<br />

ihnen nicht preisgeben wollen. "Der Lange" oder "Der Schnauzbart" spielen auf ihr Äußeres, "El<br />

Aleman" (Der Deutsche), "Cara de Culebra" (Schlangengesicht) oder "El Carnicero" (Der<br />

Schlächter) auf Brutalität und Sadismus an.<br />

Folterer waren für Briten Anthony Storr (*1920+2001), einst renommierter Professor für<br />

klinische Psychiatrie in Oxford, Menschen, "die nicht primär boshaft und sadistisch sind". Doch<br />

ihr jahrzehntelanges Kasernenleben - mit Drill, Gehorsam und eingebläuter Ideologie - haben aus<br />

einem durchschnittlichen Welt- ein gefährliches Feindbild entstehen lassen, bei den meisten ein<br />

Schwarz-Weiß-Muster, das nur Gut und Böse zulässt. Nur deshalb konnte sich der griechische Ex-<br />

General Stylianos Pattakos zu der Behauptung hinreißen lassen: "Kommunisten sind Bestien. Wir<br />

machen keinen Unterschied zwischen Menschen und Menschen, nur zwischen Menschen und<br />

Bestien." Der Schauspielerin Melina Mercouri (*1920+1994), die sich seinerzeit im Jahre 1967<br />

entschieden gegen die folternde griechische Militärjunta stellte, entzog Pattakos in seiner<br />

Eigenschaft <strong>als</strong> Innenminister die griechische Staatsbürgerschaft. Melina Mercouri entgegnete: "Ich<br />

wurde <strong>als</strong> Griechin geboren und werde <strong>als</strong> Griechin sterben. Herr Pattakos wurde <strong>als</strong> Faschist<br />

geboren und wird <strong>als</strong> Faschist sterben."<br />

In den meisten Armeen rangiert der Folterer am untersten Ende der Rangskala. Für den<br />

Verhörer ist er ein Lakai, der Informationen herauszuquälen hat. Das vorherrschende<br />

Leistungsprinzip. "welcher meiner Jungs foltert am besten", soll die Qualität des Schrecklichen<br />

garantieren. Das ist ihre Umwelt - ihr Milieu -, in der junge Unteroffiziere die grausame Absurdität,<br />

Andersdenkenden Schmerzen und Demütigungen zuzufügen, <strong>als</strong> alltägliche Banalität empfinden.<br />

Anthony Storr: "Folterer sind hierarchisch denkende Menschen, die Befehle suchen und<br />

akzeptieren. Sie gehorchen, ohne zu fragen." Ihr "Handwerk" ist ein Routine-Job, der harmlosere<br />

Berufe geradezu parodiert" ("Time"). Der amerikanische Missionar Fred Morris ist 17 Tage in der<br />

brasilianischen Hafenstadt Recife gefoltert worden. Er berichtet: "Diese Leute kamen um neun Uhr<br />

266


morgens und gingen nachmittags um fünf. Der einzige Unterschied war, dass sie mit Folter ihr<br />

Geld verdienten. Ein gewisser Major Maja sagte vor der Tortur stets zu mir: "Ich bin ein Christ, der<br />

jeden Morgen in die Messe geht."<br />

Eine Studie der Gefangenen-Hilfsorganisation amnesty international charakterisiert den<br />

Folter-Typ der siebziger Jahre <strong>als</strong> jemanden, "der seine eigenen Konflikte und Fantasien durch die<br />

Vernichtung anderer auslebt." So hat die institutionelle Grausamkeit ihre unkontrollierbare<br />

Eigengesetzlichkeit, die Sadismus heißt.<br />

Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm (*1900+1980)<br />

sieht im Sadismus "die Leidenschaft, absolute Macht über Menschen zu gewinnen." Sein<br />

amerikanischer Kollege Philipp P. Hallie: "Grausamkeit ist der Prozess der Zerstörung jener<br />

Verhaltensmuster, die für gewöhnlich die Lebensform des Opfers bestimmen." Und Jean-Paul<br />

Sartre schreibt: "Man will den, der unter Folter nachgibt, nicht zum Sprechen zwingen, man drückt<br />

ihm einen Stempel auf: den des Unmenschen."<br />

"Das darf nie wieder passieren", sagten im Jahre 1948 - nach Hitlers Konzentrationslagern<br />

- die 51 Unterzeichner-Staaten der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen: "Niemand<br />

darf der Folterung, unmenschlichen oder erniedrigenden Strafen unterworfen werden." Heute<br />

haben fast alle Staaten diese Erklärung unterschrieben.<br />

Doch die feierlichen Lippenbekenntnisse sind so viel wert wie die voreilige Feststellung<br />

des französischen Romanciers Victor Hugo (*1802+1885), der 1874 in Paris glaubte: "Die Folter<br />

hat immer aufgehört zu existieren." Hugos Optimismus entsprach dem Zeitgeist des 19.<br />

Jahrhunderts, der durch Aufklärung, Vernunft und menschlichen Fortschritt geprägt war. Liberale<br />

und humanitäre Ideen des aufsteigenden Bürgertums gewannen auf die Gesetzgebung ihres Länder<br />

großen Einfluss.<br />

In Frankreich waren schon während der Revolution von 1789 die Menschenrechte und<br />

die Abschaffung der Folter für immer proklamiert worden. Das französische Strafgesetz reihte den<br />

Folter in dieselbe Kategorie wie den Mörder, in dem es die Folter <strong>als</strong> Kapitalverbrechen<br />

qualifizierte. Und in Preußen gab Friedrich II. (*1712+1786) dem Drängen deutscher Juristen nach:<br />

Bereits 1740 wurde Folter verboten. Dies galt jedoch nicht bei Mord, Hochverrat und<br />

Majestätsbeleidigung.<br />

Folter ist in der Geschichte der Völker des Westens allgemein üblich gewesen; vor allem<br />

in Kriegszeiten und in Phasen sozialer Spannungen. Zwar untersagten die alten Griechen und<br />

Römer die Folter vor Bürgern, doch in Athen galt die Zeugenaussage eines Sklaven vor Gericht <strong>als</strong><br />

nicht vertrauenswürdig, wenn sie nicht herausgefoltert worden war. Und im republikanischen Rom<br />

gerieten immer mehr freie Bürger in die Daumen- und Beinschrauben eines tyrannischen Willkür-<br />

Regimes. Die Folterung der frühen Christen wurde angewandt, um die Gläubigen zum Widerruf<br />

ihres Glaubens zu zwingen. Nachdem das Christentum über die Tempelkaiser obsiegt hatte (313<br />

nach Christus), widersetzte sich die Kirche weitgehend der Folterpraxis.<br />

Doch Ende des 11. Jahrhunderts erlebte die Folter ihre Renaissance. Die vergessen<br />

geglaubten römischen Gesetze de quaestionibus (Befragungen) wurden aus der Schublade geholt.<br />

Im 13. Jahrhundert stand die Folter im Ruf, den "Beweis aller Beweise" hervorzubringen. Die<br />

"Befragung" war in verschiedenen Stufen klassifiziert: den gewöhnlichen, außergewöhnlichen,<br />

vorbereitenden und einleitenden Grad.<br />

267


Justizbeamte, die auch <strong>als</strong> öffentliche Henker fungierten, verhörten ihre Opfer in<br />

speziellen Kammern. Sie saßen mitten unter den zahlreichen Foltergeräten, notierten sorgfältig die<br />

Zeitdauer, Gewichte und Maße der Torturen. Zum Schluss fertigten die Staatsdiener peinlich genau<br />

ein Protokoll des Geständnisses an.<br />

Abweichende Lehrmeinungen (Häresie) vom Dogma der Römisch-Katholischen Kirche<br />

riefen auch den Klerus auf den Plan, sich an den grausamen Folterpraktiken zu beteiligen. Die<br />

Kirche argumentierte damit: Wenn schon der Staat seine gewöhnlichen Verbrecher foltere, warum<br />

sollte dann das viel schwerere Vergehen der Häresie nur mit einer geistigen Strafe (Buße) belegt<br />

werden, wie es der Heilige Augustinus (*354+430) gefordert hatte. Mit ihrem machtvollen<br />

Untersuchungsinstrument "Inquisitio" begann die berüchtigte Menschenjagd im Mittelalter.<br />

Papst Gregor IX. erklärte 1231 die Inquisition zu einer "päpstlichen Einrichtung" und<br />

bestellte Franziskaner- sowie Dominikaner-Mönche zu seinen Schergen. Sie folterten die<br />

sogenannten "Leugner" der römisch-katholischen Lehrmeinung, warfen die Verfolgten in Kerker<br />

oder schicken sie in den Feuertod. In Deutschland wurde die Inquisition 1484 auch auf das<br />

"Hexenwesen" ausgedehnt.<br />

Folter galt im alten Rom wie auch im 20. Jahrhundert <strong>als</strong> "legitime Verteidigung der<br />

souveränen Macht" gegen seine Widersacher, Folter sei nichts anderes <strong>als</strong> die direkteste Form der<br />

Herrschaft eines Menschen über den anderen, die das eigentliche Wesen der Politik ausmache.<br />

Heute arbeitet das weltweite Folterkartell effektiver und brutaler denn je. Um in ihren<br />

Diktaturen Macht und Privilegien zu verteidigen, schieben Staaten wie Chile, Brasilien, Südafrika<br />

und der Iran das zweifelhafte philosophische Argument des "geringeren Übels zum höheren Wohl"<br />

vor, für das sich jüngst sogar Niedersachsens CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht (1976-1990)<br />

erwärmen konnte.<br />

In seinem Buch "Der Staat - Idee und Wirklichkeit" hatte Albrecht dem Staat unter<br />

Umständen das Recht zugestanden, gegen das Verbot grausamer, unmenschlicher Behandlung und<br />

insbesondere der Folter zu verstoßen. Beispielsweise könne es sogar "sittlich geboten" sein, eine<br />

Information "durch Folter zu er-zwingen", sofern dies wirklich die einzige Möglichkeit wäre, ein<br />

namenloses Verbrechen zu verhindern". Nach heftiger Kritik von dem Schriftsteller Heinrich Böll<br />

(*1917+1985) nahm Christdemokrat Albrecht seine Buchpassage zurück. Er wollte nicht mit den<br />

Folter-Ländern in einem Atemzug genannt werden.<br />

Neue Technologien mit raffinierten Apparaten versetzen die Folterer heute in die Lage,<br />

den Willen eines Menschen in wenigen Stunden zu brechen. Führend in der Entwicklung neuer<br />

Foltermethoden ist Brasilien. Exportschlager seines Landes ist die mörderische Papageienschaukel,<br />

mit der es in allen faschistischen Ländern Furore machte. Nachdem vornehmlich in den siebziger<br />

Jahren des vergangenen Jahrhunderts fast der ganze südamerikanische Kontinent die<br />

brasilianischen Methoden kopiert hat, will auch der Iran seine mittelalterliche Foltermethode -<br />

Flaschen in den After schieben, Gewichte an den Hoden hängen - abschaffen und statt dessen die<br />

Papageienschaukel einführen.<br />

Es waren die Europäer, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Folter wieder salonfähig<br />

machten. Die Portugiesen in ihrem damaligen Kolonialgebiet Angola, die Franzosen im algerischen<br />

Befreiungskrieg. Der französische Oberbefehlshaber General Jacques Massu (*1908+2002) tönte<br />

dam<strong>als</strong>: "Dosierte Elektroschocks degradieren keineswegs die Persönlichkeit." Die Amerikaner<br />

begannen in den fünfziger und sechziger Jahren ihre Foltererfahrungen aus den Korea- und<br />

Vietnamkriegen wissenschaftlich zu analysieren. Sie hatten zum Beispiel in Vietnam Gefangene<br />

268


monatelang, manchmal jahrelang in sogenannte Tigerkäfige eingesperrt. Häftlinge wurden in<br />

Verliese gesperrt, in denen sie weder stehen noch sich bewegen konnten. Die Ergebnisse dieser<br />

Folteranalysen werden heute im kalifornischen Trainingslager Warner Springs für die eigenen<br />

Eliteeinheiten und im US-Ausbildungscamp "Fort Gullick" (bis 1984) in der damaligen Panama-<br />

Zone für die südamerikanischen Staaten ausgewertet. Nach Panama schickte Südamerika seinen<br />

Offiziersnachwuchs. Chiles Diktator Augusto Pinochet (1973-1990) und Argentiniens Junta-Chef<br />

Jorge Videla (1976-1981) zählen zu den besten Schülern des US-Drills.<br />

Aber auch vor Ort waren die US-Spezialisten noch vor einem Jahr aktiv. Sie fuhren zum<br />

Beispiel nach Rio de Janeiro, wo sie brasilianischen Armee-Offizieren Folterratschläge erteilten.<br />

Vietnam-Soldaten berichteten über Verhör- und Foltertechniken, Filme und Diapositive<br />

illustrierten Quälpraktiken.<br />

Die Perfektionierung tiefen-psychologischer Folter ist heute schon eine eigenständige<br />

Wissenschaft. Das klassische Manipulationsschema "DDD" -Dependency, Debility, Dread<br />

(Abhängigkeit, Erschöpfung und Schrecken) - ist die gängigste Gebrauchsformel, nach der der<br />

Folterer seine Opfer unter Kontrolle bekommt.<br />

Zunächst werden den Gefangenen Nahrungsmittel, Schlaf und jeder menschliche Kontakt<br />

entzogen. Die Folge: Der Peiniger wird in diesem anomalen Milieu zur einzigen Kontaktperson.<br />

Der Geschundene verliert jeden sozialen Bezug und seine Widerstandsfähigkeit. Für gelegentliche<br />

Ruhepausen, in denen der Folterer für kurze Zeit zum mitfühlenden Zuhörer wird, ist der<br />

Gefangene seinem Peiniger bald dankbar und fühlt sich ihm sogar verpflichtet. Gefälligkeiten ("ich<br />

werde für dich tun, was ich kann") oder scheinbare Vergünstigungen (Zigaretten) bewirken<br />

schließlich die totale Abhängigkeit vom Folterer.<br />

Iranische Augenzeugen, die anonym bleiben wollen, schilderten amnesty international eine<br />

Szene aus dem Ewin-Folterzentrum in Teheran. Ein dreizehnjähriges Mädchen, das verhaftet<br />

worden war, weil zwei ihrer älteren Brüder, Studenten an der Teheraner Universität, am Schah-<br />

Regime Kritik geäußert hatten, sah ihre Eltern nach einem halben Jahr zum ersten Mal wieder. Die<br />

Tochter war einkassiert worden, um mehr Informationen über ihre Eltern herauszubekommen. Als<br />

die Eltern im Besucherraum im Ewin-Gefängnis ihre Jüngste in Begleitung eines iranischen<br />

Soldaten erblickten, der nicht von ihrer Seite wich, stellte die 13jährige ihn mit den Worten vor:<br />

"Das ist mein Vergewaltiger." Für die Wissenschaft ist es inzwischen unstreitig, dass sich viele<br />

Schergen während ihrer "Laufbahn" zu Sexual-Pathologen entwickeln.<br />

Zur Abhängigkeit vom Folterer kommen tausend Ängste dazu - Angst vorm Tod, Angst<br />

vor Schmerzen, Angst, nicht wieder herauszukommen, Angst vor Verkrüppelung und auch Angst<br />

vor der eigenen Unfähigkeit, den Verhöranforderungen nicht weiter gewachsen zu sein. Nach dem<br />

Motto: "Lass uns an die Arbeit gehen" (Folterer zum Opfer) sind Elektroschocks, Ausreißen der<br />

Fingernägel oder Vergewaltigungen nur noch bei-läufige "Ergänzungen" dieser DDD-Methode.<br />

Elektroschocks, die auch durchs Gehirn geleitet werden können, schwächen nicht nur das<br />

Gedächtnis, sie führen zu so starken Hirnschädigungen, dass das Opfer wahnsinnig wird und die<br />

Kontrolle über sich selbst verliert. Der Geschundene glaubt, dass man ihm die Arme ausreißt, dass<br />

sein Kopf platzt, dass er seine eigene Zunge verschluckt. In diesem Moment wäre dem Gefangenen<br />

jede andere Folterart, zum Beispiel Prügel, lieber. Dann könnte er seine Aufmerksamkeit auf eine<br />

Körperstelle konzentrieren , sich und den Boden berühren. Beim Elektroschock hat er nichts mehr<br />

im Griff.<br />

269


Die pharmakologische Folter, die vor allem in der Sowjetunion angewandt wird, ist<br />

ebenso verheerend. Die Folterer erpressen dabei von den Gefangenen nicht nur Geständnisse,<br />

sondern sie richten ihre Opfer mit Hilfe von Medikamenten so ab, dass sie für alle Zeit<br />

unzurechnungsfähig bleiben können. Der amerikanische Soziologe Herbert Marcuse (<br />

*1898+1979): "Dies ist eine neue Form der Aggression, Menschen zu zerstören, ohne dass man<br />

sich die Hände schmutzig macht." So stellt sich auch der Schah von Persien in der<br />

Weltöffentlichkeit <strong>als</strong> "Saubermann" dar: "Wir müssen die Leute nicht mehr foltern, wir benutzen<br />

vielmehr die gleichen Methoden wie einige hoch entwickelte Länder.<br />

Die Folterer des brasilianischen Paters Tito de Alencar, der sich für enteignete<br />

Kleinsiedler eingesetzt hatte und verhaftet worden war, prophezeiten dem Priester: "Falls du<br />

überhaupt lebend hier rauskommst, wirst du keine körperlichen Spuren vorzeigen können. Doch<br />

innerlich wirst du zerbrochen sein." Nach seiner Freilassung ging der 28jährige Tito de Alencar ins<br />

Exil nach Frankreich. Das war Ende 1974. Im August 1975 nahm er sich das Leben. Jean Améry:<br />

"Wer der Folter erlag, kann in dieser Welt nicht mehr heimisch werden."<br />

Postscriptum. - Keine Bewusstseinskorrekturen, kein Bewusstseinswandel im Sinne der<br />

Menschenrechte. Folter wurde im Laufe der Jahrzehnte nicht eingedämmt oder gar abgeschafft;<br />

Lippenbekenntnisse vielerorts, ja gewiss. Im Gegenteil: Folter hat sich - unter den Augen einer<br />

kritischen Öffentlichkeit - zu einer Subkultur des Terrors und des Gegenterrors weiter entwickeln -<br />

verfeinern können. Im Hinblick auf internationalen Anschläge aus der islamischen Welt, den<br />

kriegerischen Intervention im Vorderen Orient, sind bestialische Torturen nahezu<br />

"gesellschaftsfähig" geworden; allen voran in und durch die Vereinigten Staaten von Amerika und<br />

der weltweit agierenden islamischen "Al Kaida Terror-Organisation".<br />

Einst waren die USA ein Eckpfeifer für Freiheit, Demokratie wie Unverletzbarkeit des<br />

Individuums. In der Ära unter Regie ihres Präsidenten Georg Bush junior, dem 43. Präsidenten<br />

(2000-2009), begannen die USA nach Bombenanschlägen in New York vom 11. September 2001<br />

ihre Feldzüge - "Kriege gegen den Terrorismus" gegen Afghanistan (2001) und gegen den Irak<br />

(2003).<br />

USA zum 21. Jahrhundert - Menschen werden wie Tiere in Käfigen gehalten, gequält,<br />

geschlagen, zu medizinischen Versuchen missbraucht, über Jahre in Lagern isoliert, ermordet - in<br />

den Selbstmord getrieben. Laut dem amerikanischen Historiker Alfred W. McCoy fanden im<br />

Rahmen des "Krieges gegen den Terror" von 2001 bis 2004 folgende Menschenrechts-<br />

Verletzungen durch US-Behörden und das Militär statt.<br />

• Etwa 14.000 irakische "Sicherheitshäftlinge" wurden harten Verhören und häufig<br />

auch Folterungen ausgesetzt.<br />

• 1.100 "hochkarätige" Gefangene wurden in Guantánamo und Bagram unter<br />

systematischen Folterungen verhört.<br />

• 150 Terrorverdächtige wurden rechtswidrig durch außerordentliche Überstellung in<br />

Staaten verbracht, die für die Brutalität berüchtigt sind.<br />

• 68 Häftlinge starben unter fragwürdigen Umständen.<br />

• Etwa 36 führende Al-Kaida-Mitglieder blieben jahrelang im Gewahrsam der CIA und<br />

wurden systematisch und anhaltend gefoltert.<br />

• 26 Häftlinge wurden bei Verhören ermordet, davon mindestens vier von der CIA.<br />

270


In seinem Buch "Foltern und Foltern lassen" (Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2005)<br />

belegt der Wissenschafler aus Wisconsin in Madison die Behauptung, dass Folter für die CIA kein<br />

"letztes Mittel", sondern ein systematisch eingesetztes Werkzeug ist. In diesem Kompendium<br />

spannt Alfred W. McCoy einen präzisen Bogen zu den Menschenversuchen in geheimen<br />

Forschungsprogrammen MKULTRA über die Unterstützung der südamerikanischen<br />

Militärdiktaturen der 70er und 80er Jahre bis hin zu den Übergriffen amerikanischer Soldaten im<br />

irakischen Abu-Ghraib-Gefängnis.<br />

Die "New York Times" veröffentlichte im Oktober 2007 geheime Memoranden des US-<br />

Justizministeriums, die bereits im Jahre 2005 verfasst worden waren. In diesen Dokumenten gelten<br />

folgende "Verhör-Methoden" des CIA <strong>als</strong> legal:<br />

-Schläge auf den Kopf<br />

-über mehrere Stunden nackter Aufenthalt in kalten Gefängniszellen<br />

-Schlafentzug über mehrere Tage und Nächte durch Beschallung mit lauter Rockmusik<br />

-Fesseln des Häftlings in unangenehmen Positionen über mehrere Stunden<br />

-Waterboarding: der Häftling wird auf ein Brett gefesselt, ein feuchtes Tuch auf seinen<br />

Kopf gelegt und mit Wasser übergossen. Durch den aufkommenden Würgereflex entsteht für ihn<br />

der Eindruck, er müsse ertrinken.<br />

Am 30. Mai 2007 wurde auf Guantánamo der 34jährige Saudi-Araber Abduk Rahman<br />

Maath Thafir ak-Amri tot in seiner Zelle aufgefunden. Er war im November 2001 in den Bergen<br />

von Tora Bora gefangen genommen worden, seit Februar 2002 in Guantanámo inhaftiert. - Einer<br />

von 41 Selbstmord-versuchen, die die Lagerleitung erst mit einer 18monatigen Verzögerung<br />

bekannt zu geben pflegt.<br />

In einem Brief schreibt der 33jährigen Juma Al Dossary aus dem Bahrein nach dem<br />

zehnten Selbstmord-versuch. "Ich will dieser psychischen und physischen Folter ein Ende setzen.<br />

Ich suche nach einem Ende für mein Leben."<br />

Barack Obama, mit seiner Wahl im Jahre 2009, der 44. Präsident der Vereinigten Staaten<br />

von Amerika, verfügte die Schließung des Gefangenenlagers Guantanamo innerhalb eines Jahres –<br />

und ein striktes Verbot von gängigen Folter- und Verhör-Methoden der US-Streitkräfte.<br />

271


ISRAEL: SIPPENHAFT IM LAND DER BIBEL<br />

Rückblicke auf Jahrzehnte, in denen Frieden, Völkerverständigung eine Utopie<br />

blieben - Retrospektiven auf Ursachen von Krieg, Terror, Folter und immer wieder Mord,<br />

Hass - Vergeltung, Unterdrückung, Ausgrenzung, Entwürdigung. Auge um Auge, Zahn<br />

um Zahn - Anschlag auf Anschlag. Ob nun der 29. oder gar der 60. Jahrestag zur Gründung<br />

des Staates Israel - aus dem Nahen Osten nichts Neues.<br />

stern, Hamburg 2. Juni 1977 7<br />

Der Unabhängigkeitstag begann für viele im Gefängnis. Während sich Folkloregruppen<br />

und Kampfgeschwader im Staates Israel für die große Feier des 29. Geburtstages am 21. April 1977<br />

rüsteten, sorgten Militär und Polizei für Ruhe. Im Großeinsatz schwärmten die Sicherheitskräfte<br />

am Vorabend des "Independence Day" aus und setzten ihnen verdächtige Personen hinter Gittern.<br />

Die Rechtsbasis für Massenverhaftungen waren Notstandsbestimmungen, die noch aus Zeiten der<br />

britischen Mandatsverwaltung vor der Gründung des Staates Israel stammten - dam<strong>als</strong> gegen<br />

jüdische Terroristen angewendet wurden.<br />

Jetzt waren die Festgenommenen fast ausnahmslos Araber. Allein im arabischen Teil<br />

Jerusalems verschwanden bei der Blitzaktion 200 Verdächtige in Präventivhaft. In der "Jerusalem<br />

Post" forderte der Polizeikommandant der Südregion Nitzav Iztzab, die Bürger dazu auf, "nach<br />

verdächtigen Objekten Ausschau zu halten".<br />

Die Häftlinge in den in den Stadtgefängnissen von Ramla, Nablus, Ramallah und<br />

Asqualon mussten noch enger zusammenrücken. Israels oberster Gefängnischef General Halm<br />

Levi räumte in einem Gespräch mit den Autoren ein, dass 3.200 politische Gefangene in insgesamt<br />

13 Anstalten interniert seien - allerdings erhebt der General Einspruch gegen die Bezeichnung<br />

"politische Gefangene", er spricht von "Security Prisoners", Sicherheitsgefangenen. Die PLO, die<br />

Palästinensische Befreiungsorganisation, beziffert die Zahl der politischen Gefangenen auf<br />

mindestens 6.000.<br />

Wie auch immer, es ist qualvoll eng in den israelischen Gefängnissen. Selbst in der<br />

Vorzeige-Haftanstalt von Ramla (wo auch Adolf Eichmann saß) müssen sich 80 Mann einen<br />

Zellenraum teilen, der für 30 Gefangene gebaut worden ist. Hinzu kommt, dass die Inhaftierten<br />

trotz des stickig heißen Klimas in den meisten Anstalten gezwungen sind, 23 Stunden am Tag in<br />

diesen Löchern zu leben. Vergebens haben das Rote Kreuz und die Vereinten Nationen dagegen<br />

protestiert, dass die Gefangenen auf durchschnittlich eineinhalb Quadratmeter Lebensraum<br />

zusammengepfercht sind.<br />

Mit seinen willkürlichen Verhaftungen und menschenunwürdigen Zuständen in den<br />

Gefängnissen, mit oft grausamen Verhörpraktiken und drakonischen Strafzumessungen ist das<br />

heutige Israel, das gegründet wurde, um den verfolgten Juden in aller Welt eine Heimstatt zu geben,<br />

ins Zwielicht geraten - fortwährend. Nur seine äußere Bedrohung und die ein gegerbte<br />

Erinnerungen an die millionenfachen Juden-Morde während der NAZI-Zeit haben die öffentliche<br />

Kritik, die Empörung über das Land bisher gedämpft.<br />

Immer häufiger wird die Frage gestellt, ob die von Israel verfolgten Palästinenser nicht<br />

einen Anspruch auf politische Selbstentfaltung haben. Selbst der Terror gegen die unschuldige<br />

7 Mit Peter Koch und Sebastian Knauer<br />

272


Zivilbevölkerung wird immer häufiger <strong>als</strong> eine nicht mehr ausreichende Legitimation für staatlichen<br />

israelischen Gegenterror anerkannt.<br />

Die Kritik an Israel wird lauter, und das nicht nur in den Vereinten Nationen, in denen<br />

sich nach israelischer Ansicht Kommunisten, Islamisten und Pro-Palästinenser zu einer<br />

Mehrheitsfront gegen den Judenstaat zusammengeschlossen haben. Schon hat auch der<br />

amerikanische Präsident Stellung bezogen. Jimmy Carter (1977 - 1981) forderte zwar einerseits<br />

Garantien für die Sicherheit Israels, andererseits aber bezeichnete er es <strong>als</strong> unvermeidbar, die<br />

derzeitigen Grenzen zu korrigieren, denn auch die Palästinenser hätten einen Anspruch auf ein<br />

Heimatland.<br />

Aber selbst solche gemäßigte Mahnungen rufen in Israel einen Sturm der Entrüstung<br />

hervor. Aus einem Gemisch alttestamentarischen Gebietsanspruch und zionistischer<br />

Staatsphilosophie, aus Notstandsrecht und apodiktischer Selbstgerechtigkeit haben sich die<br />

israelischen Juden eine perfekte Rechtfertigungs-Ideologie für die Unterdrückung der arabischen<br />

Minderheiten zurechtgezimmert.<br />

Unter Berufung auf die biblischen Königreiche Israels und Judäa erhoben europäische<br />

Juden Ende des vorigen Jahrhunderts Anspruch auf die Gründung eines eigenen Staates in<br />

Palästina und machten gegenüber den dort siedelnden Arabern eine Art Erstgeburtsrecht geltend.<br />

Bis zur endgültigen Gründung des Staates Israel war es ein langer, verwinkelter Weg. Seine<br />

wichtigsten Stationen:<br />

Am 2. November 1917 bekundet die britische Regierung ihr Wohlwollen für die<br />

Gründung einer "nationalen Heimstatt für das jüdische Volk in Palästina". Diese sogenannte<br />

Balfour-Deklaration, die ein Bestandteil britischer Machtsicherungspolitik im Nahen Osten war,<br />

wurde in jenen Text aufgenommen, mit dem der Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg<br />

Großbritannien das Mandat über Palästina übergab.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Schrecken der Judenverfolgung in Deutschland,<br />

teilten die Vereinten Nationen das britische Mandatsgebiet. In einem westlichen Streifen sollte der<br />

Staat Israel entstehen. Der andere Halbteil sollte ein arabischer Staat Palästina werden. Der<br />

Teilungsbeschluss führt schon im Gründungsjahr Israels zu einem israelisch-arabischen<br />

Waffengang. Er endet mit israelischen Gebiets-Annektionen und den Anschluss des restlichen<br />

arabischen Palästinas an Jordanien. Aus der Theorie des Zionismus, der Schaffung eines jüdischen<br />

Staates auf palästinensischen Boden, der "so jüdisch sein soll wie England englisch ist" (Israels<br />

erster Präsident Chaim Weizmann *1874 + 1952), entwickelt der neue Staat Israel die Praxis einer<br />

Unterdrückung, Verdrängung der in seinen Landesgrenzen noch wohnenden palästinensischen<br />

Arabern.<br />

Das Unterdrückungsinstrumentarium der israelischen Juden ist reich bestückt:<br />

Die Israelis schufen sich Gesetze, die ihnen die Beschlagnahme der Ländereien von<br />

"Abwesenden" erlauben. Solche "Abwesenheit" von Arabern wird im Einzelfall hergestellt, indem<br />

das Familienoberhaupt außer Landes gewiesen wird. Für pauschale Landübernahmen schalten die<br />

Israelis den Notstandsartikel 125 dazwischen: Eine Region wird zum militärischen Sperrgebiet<br />

erklärt, die Dörfer zwangsevakuiert und die Einwohner an der Rückkehr gehindert. Nach Ablauf<br />

einer gewissen Frist werden dann die Äcker und Wiesen des Dorfes <strong>als</strong> Eigentum "Abwesender"<br />

beschlagnahmt.<br />

273


Die Israelis gründeten Städte, in denen es Arabern verboten ist, zu leben oder ein<br />

Geschäft zu eröffnen. So wurde zum Beispiel in der 1965 gegründeten Stadt Carmiel nahe Haifa<br />

Arabern die Genehmigung für eine Geschäftseröffnung versagt, und die hebräische Zeitung "Ha'<br />

aretz" schrieb am 18. Februar 1972 in einem Kommentar: "Wenn die Behörden hier die<br />

Anwesenheit von Arabern zuließen, würden sie das Ziel zerstören, weswegen Carmiel gegründet<br />

wurde: die Judaisierung von Galiläa."<br />

Sie suchten schon in den dreißiger Jahren arabische Arbeit und Waren durch Wertbegriffe<br />

wie "Jüdische Arbeit", "Jüdische Waren" vom gemeinsamen Markt auszusondern. Heute heißt in<br />

Anlehnung an die Farben der Nationalflagge die Parole: ""Kauf Blau-Weiß!"<br />

Zum israelischen Repressions-Arsenal gehören kollektive Strafen - etwas das Sprengen<br />

von Häusern, in denen Araber wohnten, die <strong>als</strong> Terroristen verdächtig sind. Auf die Frage eines<br />

Abgeordneten: "Handelt das Verteidigungsministerium in solchen Fällen nach dem Grundsatz der<br />

kollektiven Verantwortlichkeit der ganzen Familie für eines ihrer Mitglieder?" antwortete der<br />

frühere Verteidigungsminister Mosche Dajan (1915-1981) vor dem Parlament kurz und bündig mit<br />

"Ja". - Sippenhaft in Israel.<br />

Das bei der Staatsgründung von der britischen Mandatsmacht übernommene und seither<br />

ununterbrochen angewandte Notstandsrecht - die "defense emergency regulations" - erlauben den<br />

Behörden willkürliche Verhaftungen ohne zeitliche Begrenzung, ohne Anklage, ohne Prozess.<br />

Heute sind nach offiziellen Angaben von den insgesamt 3.200 politischen Gefangenen über 1.000<br />

Personen aus den besetzten Gebieten ohne Anklage inhaftiert. Der Staat Israel, der sich noch<br />

immer um die weltweit verstreuten Juden bemüht, hat bisher auf eine Verfassung verzichtet, so<br />

dass es in diesem Land auch keine grundgesetzlich garantierten Bürgerrechte gibt.<br />

Mit bürokratischem Rassismus verfasste im Herbst 1976 der Gouverneur des<br />

Norddistrikts, Israel König, ein Gutachten für die Zurückdämmung des arabischen<br />

Bevölkerungsanteils: Er empfahl unter anderem, arabischen Jugendlichen zum Studium im Ausland<br />

zu ermuntern, ihre Rückkehr jedoch dann zu verbieten. Firmen sollte untersagt werden, mehr <strong>als</strong><br />

20 Prozent Araber zu beschäftigen. Den nachwuchsfreudigen Arabern sollte das Kindergeld<br />

gekürzt werden, um so die Geburtenziffer zu senken und so die bedrohte Mehrheit der Juden zu<br />

sichern. Um die gegenwärtige arabische Führungsschicht im Lande abzulösen, sollte parallel zur<br />

regierenden israelischen Arbeiterpartei eine "Araber-Partei" besetzt mit "loyalen" Spitzenleuten ins<br />

Leben gerufen werden. Die unbotmäßigen kommunistischen Araber wollte König durch eine<br />

Dreckkampagne politisch fertigmachen. "Es ist eine Sonderkommission zu ernennen, die die<br />

persönlichen Verhaltensweisen dieser Führer und anderer <strong>als</strong> negativ zu bezeichnenden<br />

Persönlichkeiten erforschen soll, um dann die Ergebnisse dieser Recherchen der Öffentlichkeit und<br />

den Wählern mitzuteilen." Generell empfahl König gegenüber den Arabern eine Erziehung "mit<br />

Lohn und Strafe". Originalton des Gouverneurs: "Der arabische Charakter ist levantinisch und<br />

oberflächlich, er besitzt keinerlei Tiefe. Seine Fantasie ist größer <strong>als</strong> das Bemühen, durch rationale<br />

Überlegungen zu einem Ergebnis zu kommen."<br />

Königs Vorschläge, durch eine Indiskretion bekannt geworden, wurden von der Mehrheit<br />

der Juden mit Beifall begrüßt. Als Barometer für die intolerante Stimmung der Mehrheit der<br />

israelischen Juden erwiesen sich die letzten Wahlen. Wahlsieger wurde der 64jährige<br />

Rechtsnationalist Menachem Begin ( *1913+1992). Der britische "Daily Express" taufte Begin<br />

wegen seiner blutigen Vergangenheit "Vater des modernen Terrorismus".<br />

274


Begin, 1913 in Brest-Litowsk geboren, absolvierte das Jura-Studium und war Anführer<br />

einer nationalistischen jüdischen Jugendbewegung, eher er im Jahre 1942 von Polen nach Palästina<br />

ging. Er kam <strong>als</strong> Angehöriger des Freien Polnischen Heeres innerhalb der alliierten Streitkräfte, die<br />

gegen Hitler kämpften. Doch in Palästina sprang Begin -wie viele andere Juden ab und ging in den<br />

Untergrund. Sein Kampf galt fortan der englischen Mandatsmacht und den Arabern. Jahrelang war<br />

Begin <strong>als</strong> Kommandant der Terrororganisation "Irgun Zvai Leumi" der meist gesuchte Kopf auf<br />

den britischen Steckbriefen. 10.000 Pfund Sterling hatten die Briten auf den Untergrundführer<br />

ausgesetzt. Zu den berüchtigten Aktionen von Begin und seiner Irgun gehörte im Jahr 1946 die<br />

Sprengung des noblen King David Hotels, in dem das Hauptquartier der britischen Armee<br />

untergebracht war. 91 Soldaten fanden den Tod. Noch blutiger hausten Begins Guerillas in dem<br />

arabischen Dorf Yassin, das in der Nähe des umkämpften Jerusalem lag. Am 8. April 1948<br />

metzelten sie die gesamte Dorfbevölkerung nieder, weil es in der Ortschaft Widerstand gegen die<br />

jüdische Miliz gegeben hatte. Das Rote Kreuz zählte nach der Bluttat 254 Leichen - Männer,<br />

Frauen, Kinder.<br />

Nach dem Wahlsieg zeigte Begin, dass er von unerbittlicher Härte seiner jungen Jahre<br />

noch einiges ins Alter gerettet hat. "Ich kenne keine besetzten Gebiete", erklärte er vor<br />

Journalisten, "ich kenne nur befreites Land. Was manche Westjordanien nennen, heißt in<br />

Wirklichkeit Judäa und Samaria. Das ist, wie Gaza, unser ureigenes Land. Wir haben es nicht<br />

besetzt, sondern befreit. Meine Ansichten sind nicht imperialistisch oder chauvinistisch, das ist<br />

Zionismus im reinsten und wahrsten Sinne."<br />

Durch die Abstimmungsergebnisse mochte sich Begin am Wahltag bestätigt fühlen. Wer<br />

hingegen in Israel zur Vernunft mahnt, wird und wurde ausgepfiffen. Der Universitätsprofessor<br />

Israel Shahak, 44, Vorsitzender der israelischen Liga für Menschenrechte und im Dritten Reich<br />

Insasse im KZ-Bergen-Belsen, wird nicht müde, seine Landsleute darauf hinzuweisen, dass sie sich<br />

nicht nur über die Verfolgungen in der früheren Sowjetunion kümmern müssten. In einem Artikel<br />

in der Zeitung "Ha'aretz" empfahl daraufhin der Dekan der juristischen Fakultät der Universität Tel<br />

Aviv, Amon Rubinstein, gegen Sharak solle der Artikel 11 des Staatsbürgerschaftsgesetzes<br />

angewendet werden: Danach kann Staatsangehörigkeit eines Bürger annulliert werden, wenn dieser<br />

"eine illoyale Tat gegen den Staat Israel begangen hat".<br />

Die Vollversammlung der Vereinten Nationen verurteilte diese Zustände mit einer<br />

Entschließung, in der es heißt, dass "der Zionismus eine Form von Rassismus und<br />

Rassendiskriminierung ist". Und für die Menschenrechtskommission der UN ist es inzwischen zu<br />

einer Daueraufgabe geworden, sich mit der Verfolgung der Araber in Israel zu beschäftigen.<br />

Allerdings: In der UNO schlossen sich pro-palästinensische Staaten der Dritten Welt und die<br />

kommunistischen Länder gegen Israel zusammen, für Israels Chefdelegierten Chaim Hertzog "eine<br />

Koalition von Diktatoren und Rassisten".<br />

Indem Israel von den Arabern die Beachtung einer Gesetzgebung verlangt, die sie<br />

außerhalb der Gesetze stellt, züchtet sich der Juden-Staat seine politischen Gefangenen ständig neu<br />

heran. In den besetzen Gebieten sind palästinensische politische Parteien verboten, ebenso<br />

Gewerkschaften, kulturelle Vereine und sogar Schülerorganisationen. Den in Israel wohnenden<br />

Palästinensern ist untersagt, zu demonstrieren oder zu streiken. Selbst wenn sie aus Protest ihre<br />

Läden schließen, handeln sie sich Strafen ein.<br />

Die zwangsläufigen Folgen nennt der jüdische Bürgerrechtler Professor Shahak: "Es ist<br />

nur natürlich, dass ein Volk, dessen Existenz verneint wird, dem die elementarsten Menschen- und<br />

Familienrechte verweigert werden, und dem jedes Recht, einen politischen Kampf zu führen,<br />

275


untersagt wird, andere Kampfmittel wählt, auch wenn einige Formen strengstens verurteilt werden<br />

müssen."<br />

Doch die Araber betreiben Opposition nicht nur mit Schüssen aus dem Hinterhalt oder<br />

Sprengstoffanschlägen. Im Askelon-Gefängnis sitzen zwar Dutzende palästinensischer Terroristen.<br />

Aber verhaftet wird auch, wer eine palästinensische Fahne hisst, Parolen gegen Israel auf eine<br />

Mauer pinselt, ein palästinensisches Lied singt oder den Familien politischer Gefangenen hilft. So<br />

jedenfalls fand es der Sonderausschuss der Vereinten Nationen heraus, der die Verletzung der<br />

Menschenrechte in den besetzten Gebieten durch die Israelis untersuchte.<br />

Die Strafen sind hart. Allein die Mitgliedschaft in einer der verbotenen Organisationen<br />

kann zehn Jahre Knast einbringen, und in Israel gibt es keine vorzeitige Haftentlassung, einzige<br />

Ausnahme. Arabische Jugendliche, die während der jetzt fast täglich abrollenden Demonstrationen<br />

in den besetzten Gebieten fest-genommen wurden, können von den Eltern freigekauft werden -<br />

pro Jungmann 3.000 israelische Pfund, etwa tausend Mark.<br />

Die UNO-Menschenrechtskommission sammelte zahlreiche Zeugnisse über Folterungen,<br />

mit denen vor Prozessbeginn Aussagen erpresst werden.<br />

Die jüdische Anwältin Felicia Langer sagte vor der Kommission aus, ihr Mandant<br />

Mohamed Atwan sei im Verhörzentrum Moscoviha so heftig geschlagen worden, dass er schwere<br />

Blutergüsse auch am Hodensack davongetragen habe.<br />

Die Gefangenen Suleiman Elk-Najab, Ghassan El Harb und Jamal Freteh aus der Anstalt<br />

Jallameh bei Hafia trugen laut UN-Bericht schwere Verbrennungen davon, nachdem eine ätzende<br />

Flüssigkeit auf ihre Körper gesprüht worden war. Mit diesem Säurespray wurde auch der ehemalige<br />

Gewerkschaftsführer Khalie Hijazi,42. gequält. Hijazi lebte in West-Jordanien, wurde aus Israel<br />

deportiert und verdient heute seinen Lebensunterhalt <strong>als</strong> Bauarbeiter für die PLO im Libanon. Die<br />

Israelis hatten ihn verdächtigt, Waffen verborgen zu haben. Doch Beweise fanden sie nicht. Sie<br />

sperrten Hijazi auf der Verhörstation Miscoviha mit Kriminellen ein, die dem Araber brennendes<br />

Papier zwischen die Fußzehen klemmten, ohne dass die Wärter dagegen einschritten.<br />

Weitaus grausamer behandeln die Juden jene Araber, denen sie tatsächlich aktiven<br />

Widerstand nachweisen können. Eines der Opfer, der 31jährige Ahmad el Hadhod, lebt heute in<br />

Beirut. Er wurde in Hafia geboren, doch seine Familie flüchtete 1948 bei der Gründung Israels ins<br />

nördlich gelegene Nablus, das bis zum Sechs-Tage-Krieg zu Jordanien gehörte. Der Vater eröffnete<br />

in der Altstadt von Nablus einen Süßigkeitenladen. Als die Israelis 1967 Nablus besetzten, trat der<br />

junge Ahmad el Hadhod der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) bei, einer marxistischleninistischen<br />

Splittergruppe der PLO - dam<strong>als</strong>. Ihr politisches Ziel war die Vernichtung des<br />

israelischen Staates. Ahmad erzählt: "Am 16. September 1968 wurde unser Laden umstellt,<br />

zwischen 10 und 11 Uhr stürmten israelische Geheimdienstler in das Gebäude. Ich kam die Treppe<br />

aus dem ersten Stock herunter, und die stürmenden Israelis fragten mich, wer Ahmad el Hadbod<br />

sei. Ich sagte: "Der ist draußen, ich hole ihn rein', rannte raus und flüchtete zu meinen Kameraden.<br />

Die wollte, dass ich mich stelle, damit sie nicht auch aufflogen."<br />

"Ich ging <strong>als</strong>o in den Laden zurück. Als ich mich ergab, fesselten mir die Israelis die<br />

Hände und Füße und schleppten mich zu einem wartenden Landrover. Im Wagen trampelten die<br />

Polizisten auf mir herum, bespuckten mich. Die Fahrt ging zum Gefängnis von Nablus, neben<br />

demauch das Verhörzentrum liegt, das ehemalige Rathaus von Nablus. Dort wurde ich freundlich<br />

empfangen, ein Offizier entschuldigte sich sogar für die Tritte im Landrover. Dann wurde ich<br />

verhört. Die Polizisten lockten mit dem Angebot, bei einem Geständnis bekäme meine Familie ein<br />

276


größeres Geschäft und ein größeres Haus. Als das nichts nützte, drohten sie, Haus und Laden<br />

meiner Eltern in die Luft zu sprengen. Am zweiten Tag nach meiner Verhaftung machten sie ihre<br />

Drohung wahr: Sie sprengten vor meinen Augen das Haus meiner Eltern, den Laden am Arjoun-<br />

Platz in der Altstadt von Nablus."<br />

"Später wurde ich Frauen gegenübergestellt, die mich bezichtigten, ihre Söhne in die<br />

PFLP gelockt zu haben. Als man mich zurück ins Verhörzentrum gebracht hatte und ich weiter<br />

stumm blieb, begann die richtige Folter. Zuerst knallten die Polizisten mir mit der hohlen Hand auf<br />

die Ohren, bis Blut kam und ich nichts mehr hören konnte. Dann zogen sie mich aus und legten<br />

mich mit dem Rücken auf einen Tisch. Ein Polizist nahm einen längeren Operationsfaden, wie ihn<br />

Chirurgen gebrauchen, und band das eine Ende stramm um meinen Hodensack. Das andere Ende<br />

spannte er an einen Nagel, der in das Tischende geschlagen war. Dann fragten die<br />

Geheimpolizisten abwechselnd solche Fragen: 'Willst du je noch Kinder kriegen?' oder 'Du<br />

brauchst gar nicht mehr zu heiraten, wenn du nichts sagst. Wir schneiden dir die Eier ab.' Dabei<br />

zeigte mir ein Geheimpolizist ein Messer. Damit fuchtelte er über meinen Genitalien herum. In<br />

dem Moment kam ein anderer Offizier in das Zimmer und flehte ironisch: "Schneidet es ihm nicht<br />

ab, ich garantiere euch, dass er aussagen wird.'<br />

Um nicht gefoltert zu werden, nannte ich diesem Offizier einige Namen von Genossen,<br />

die schon über den Jordan geflüchtet waren. Außerdem bekannte ich mich zur PFLP. Sie waren<br />

nun zufrieden und ließen mich einige Tage in Ruhe."<br />

"Doch mit der Zeit schnappten die Israelis Genossen, die von mir Sprengstoff erhalten<br />

hatten. Nicht alle blieben in den Verhören stumm. Ich kann ihnen keinen Vorwurf daraus machen,<br />

dass sie mich bezichtigten. Aber für mich begann damit wieder die Folter. Das beliebteste und<br />

immer wiederholte Mittel war, dass man mich - nackt mit gefesselten Händen an einen Flaschenzug<br />

hoch unter die Decke zog, so dass gerade sich meine Zehenspitzen auf dem Betonfußboden<br />

standen. Entweder wurde mir dann mit einem Gummischlauch auf den Rücken geschlagen oder,<br />

auch dafür gab es einen Spezialisten, man machte kleine Kratzer und Einschnitte in meine<br />

Zehenspitzen. Die bluteten und schwollen an, während ich so an der Decke hing. Um, wie sie<br />

sagten, meine Schmerzen zu lindern, ließen sie mich herab und steckten meine Füße in eiskaltes<br />

Salzwasser. Es schmerzte bestialisch."<br />

In diesen Monaten wurde ich häufig in andere Gefängnisse verlegt. Schließlich wurde ich<br />

im Ramla eingeliefert. Dort kam ich in die berüchtigte 'schwarze Zelle', in der Adolf Eichmann<br />

gesessen hatte und die ferngesteuert geöffnet und geschlossen wird. Und alle drei Tage wurde dann<br />

gefoltert. Nach und nach wurden mir die Zähne einzeln ausgerissen ohne Narkose und so, dass oft<br />

noch Splitter im Gaumen blieben, der vereiterte."<br />

"Vierzehn Monate nach meiner Verhaftung wurde mein Zustand immer schlimmer, ohne<br />

dass ich Medizin bekam. Deshalb trat ich in einen Hungerstreik. Am fünften Tag banden sie mich<br />

auf einen Stuhl und fütterten mich zwangsweise, Medizin erhielt ich trotzdem nicht. Ich magerte<br />

weiter an und schließlich konnte ich - nach einem Kreislaufkollaps -auch nicht mehr sprechen. Da<br />

verlegten mich die Wärter in den Irren-Trakt des Gefängnisses von Ramla. Erst sechs Wochen<br />

später kam ich in ein Krankenhaus. Mein rechtes Augen war inzwischen erblindet. Um mein linkes<br />

Auge zu retten, wurde ich operiert. Danach konnte ich mit diesem Auge verschwommen etwas<br />

sehen. Es erblindete freilich dann auch noch, denn am 15. Juli 1970, genau einen Tag vor der von<br />

einem Mitglied des Roten Kreuzes erwirkten Entlassung aus Krankheitsgründen schlug mir ein<br />

Polizist mit geballter Faust auf dieses Auge und zischte dabei. "Damit du nie wieder Sprengstoff<br />

sehen kannst!"<br />

277


Nach der Entlassung wurde Ahmad aus Israel abgeschoben. Er ist heute total erblindet. In<br />

seinem misshandelte Kiefer trägt er Prothesen. Weitere Spezialitäten israelischer Folter sind Zellen,<br />

deren Fußböden und Wände aus derart rauem Zement sind, dass sich die Gefangenen daran die<br />

Haut aufreißen. Ferner gibt es Zellen, die mit sinnenverwirrenden Leuchtfarbe gestrichen sind.<br />

Manchmal werden von Gefangenen unter Hypnose Aussagen herausgeholt. Der Psychiater Dr.<br />

Moritz Kleinhaus hat <strong>als</strong> Zeuge vor dem Militärgerichtshof in Lod am 7. Februar 1977 zugegeben,<br />

dass er diese Methode im Auftrage der Sicherheitskräfte praktiziert.<br />

Für Israels führende Politiker ist der UN-Report "ohne Substanz" und "wahrheitswidrig",<br />

die Aussagen von Palästinensern tun sie <strong>als</strong> "arabische Fantasieprodukte" ab. Andererseits aber<br />

verweigern die Israelis bis dato dem Sonderausschuss der Vereinten Nationen, Untersuchungen an<br />

Ort und Stelle vorzunehmen. Die UN-Rechercheure erhalten keine Einreisegenehmigung und<br />

müssen sich damit begnügen, die Anwälte von Häftlingen anzuhören oder des Landes verwiesene<br />

Palästinenser zu befragen.<br />

Persönlichkeiten in Israel bestätigen die Vorwürfe der UN-Kommission aus eigener<br />

Erfahrung. Dr. Antoine Dibsy, Chef der Inneren Medizin am Augusta-Victoria-Hospital in<br />

Jerusalem, behandelte arabische Studenten, die im März 1977 bei einer Demonstration von<br />

jüdischen Soldaten verhaftet worden waren. Sie hatten Knochenbrüche und zerquetschte<br />

Handgelenke: Die Soldaten hatten ihnen ihre Armbanduhren zertreten, die sich noch am<br />

Handgelenk befanden. Dr. Dibsy: "Das ist ja schon mehr <strong>als</strong> schlagen, wenn Knochen gebrochen<br />

sind."<br />

Auch der Bürgerrechtler Professor Shahak sieht die Regierung seines eigenen Landes im<br />

Unrecht: "Der schlagendes Beweis dafür, dass in Israel Tausende von Menschen gefoltert wurden,<br />

liegt doch in der Tatsache, dass weder Gericht noch Regierung eine unabhängige Untersuchung<br />

zugelassen haben."<br />

Wer nach Verhörphasen im Gefängnis landet. Ob mit oder ohne Folter, ob mit oder ohne<br />

Urteil, für den beginnt in jedem Fall ein jahrelanges Martyrium. Manche Gefängnisse, zum Beispiel<br />

die Anstalt von Nablus, sind so überbelegt, dass nur schichtweise geschlafen werden kann. In den<br />

meisten Haftanstalten fehlen Betten oder Matratzen. Die Gefangenen müssen auf dem Boden<br />

schlafen. Forderungen des Roten Kreuzes, für die Gefangenen Bettgestelle bereitzustellen, haben<br />

die Israelis bisher mit dem Argument abgelehnt, daraus ließen sich Waffen machen. Die<br />

medizinische Versorgung ist schlecht, das Essen miserabel. Aus Sicherheitsgründen werden den<br />

arabischen Gefangenen vitaminreiche Zitronen, ein Hauptbestand ihrer normalen Ernährung,<br />

gänzlich vorenthalten: Mit Hilfe von Zitronensaft lassen sich unsichtbare Kassiber schreiben.<br />

Selbst General Haim Levi, der Leiter der zentralen Gefängnisverwaltung in Israel, gibt zu,<br />

dass die Zustände in den Anstalten unzumutbar sind. Haim Levi ist ein alter Haudegen, die zwei<br />

farbigen Streifen an seiner Uniform weisen ihn <strong>als</strong> Teilnehmer an zwei israelisch-arabischen<br />

Kriegen aus. Er entschuldigt die Zustände in den Gefängnissen: "Wir haben das Problem der<br />

Überbelegung, aber das gilt auch für die kriminellen Gefangenen." - Seit Jahrzehnten ein<br />

Dauerzustand.<br />

278


IRAN - VON DEUTSCHLAND VERRATEN, VOM SCHAH<br />

VERFOLGT<br />

Nirgendwo wurde mehr gefoltert <strong>als</strong> in Persien unter Schah Mohammed Resa<br />

Pahlewi (*1909+1980). Seine Kritiker ließ er verhaften und systematisch vernichten. Mitte<br />

der siebziger Jahre saßen etwa 100.000 Menschen in seinen Kerkern. Weltweit wurden die<br />

meisten Todesurteile (1972: über 300) vollstreckt. An die drei Millionen Agenten des Schah<br />

erstickten jede Kritik im Volk. Selbst im Ausland mussten iranische Studenten Schergen<br />

Resa Pahlewis fürchten. Und der bundesdeutsche Verfassungsschutz lieferte die<br />

Verfolgten durch gezielte Informationen über ihr oppositionelles Verhalten an die SAVAK<br />

auch noch ans Messer. Seit am 1. April 1979 ist aus dem Pfauenthron eine islamische<br />

Republik, ein Gottesstaat geworden.<br />

stern, Hamburg - 26. Mai 1977<br />

Die geheime Mitteilung kam per Kurier. Bristol an Kamisb, Ordernummer 193/330:<br />

"Unsere Propagandapolitik muss darauf abgezielt sein, dass immer der Vergleich gezogen werden<br />

kann zwischen Aktivitäten abtrünniger Iraner mit deutschen und europäischen Terroristen." -<br />

Absender war der persische Geheimdienst SAVAK (Nationale Organisation für Sicherheit und<br />

Information) in Teheran, Empfänger das Kaiserlich-Iranische Generalkonsulat in Genf, hinter dem<br />

sich die SAVAK-Schaltzentrale für Europa verbirgt.<br />

Wenn "Bristol" (Teheran) einen Boten zu "Kamisb" (Genf) schickt, sind für die SAVAK-<br />

Agenten neue Einsatzpläne fällig. Wie immer speichert das Genfer Konsulat die verschlüsselten<br />

Geheimdirektiven aus Teheran und gibt sie auftragsgemäß an ihre Außenstellen in den jeweiligen<br />

europäischen Ländern weiter. Die Weisung 193/330 vom 1. August 1975 ging in die<br />

Bundesrepublik Deutschland.<br />

Die bundesdeutsche Dependance der SAVAK ist die Kaiserlich-Iranische Botschaft in<br />

Bonn, Kölner Straße 133-137. Die Schlüsselfigur heißt Dr. Hossein Amir-Khalili, ein<br />

Geheimdienstler, der <strong>als</strong> Presseattaché firmiert. Er soll "deutsche Freunde" in Presse und<br />

Rundfunk für eine simple Sprachregelung gewinnen: Wann immer der persische Studentenverband<br />

CISNU (Conföderation Iranischer Studenten), ein Sammelbecken der Schah-Opposition in Europa<br />

und Amerika in den Medien auftauche, müsse der Öffentlichkeit die Parallele zu den deutschen<br />

Bombenlegern à la Baader und Ensslin bewusst gemacht werden.<br />

Und für Medien, die nicht in diesem Sinne mitziehen, gibt das Teheran-Telex Nummer<br />

3/27/330 dem "Presseattaché Amir Khalili folgende Verhaltensregeln: "... veranlassen Sie, dass alle<br />

Gerüchte und übertriebenen Berichte, die über den Iran in der ... Presse gedruckt werden und aus<br />

denen hervorgeht, dass Elemente und Handlanger ausländischer Regierungen gegen die iranische<br />

Regierung hetzen ... mit der Übersetzung an die Zentrale geschickt werden, damit herausgefunden<br />

werden kann, wer die Drahtzieher sind."<br />

An den sogenannten "Drahtziehern" ist der Schah von Persien, Mohammad Rea Pahlewi,<br />

57 ( letzter Herr-scher auf dem Pfauenthron 1941-1979), brennend interessiert. Täglich erhalten<br />

seine SAVAK-Agenten in Europa gezielte Befehle aus Teheran, wie sie die Schah-Opposition im<br />

Ausland ausschalten soll. Wenn im Telex oder in der Kurier-Post von seiner Majestät die Rede ist,<br />

wird von "Mansur" (Sieger) oder "Niknam" (der einen guten Namen Genießende) gesprochen. Die<br />

279


Geheimpolizei-Stationen der SAVAK heißen "Lubija" (Bohnen) und die Agenten<br />

"Tamispandsche" (Sauberfinger).<br />

Doch die ganze Geheimhaltung nutzte nichts. Denn am 1. Juni 1976 drangen dreizehn<br />

junge Schah-Gegner am helllichten Tag in das Genfer Konsulat ein und erbeuteten 2.800 zum Teil<br />

streng geheime Dokumente. Aufgrund der Veröffentlichung dieser Unterlagen verwies die<br />

Schweizer Regierung den persischen Diplomaten Malek Mahdavi des Landes. Er soll unter dem<br />

Decknamen "Mahmudi" Chef der Genfer SAVAK-Außenstelle gewesen sein. Die Teheraner<br />

Regierung revanchierte sich und schickte den schweizerischen Botschaftssekretär Walter Gyger<br />

nach Bern zurück. Und in einer Rundfunksendung empörte sich ein Sprecher über die Berner<br />

Politik. Die Schweizer Regierung sei von Anfang an davon unterrichtet gewesen, dass Mahdavi zur<br />

SAVAK gehöre. Was sich denn jetzt geändert habe, fragte Teheran verwundert.<br />

Die gestohlenen Dossiers entlarvten Brutalität und Gerissenheit der SAVAK-Operationen<br />

im Ausland. Ihre Geheimdienst-Qualität steht außer Frage. Selbst "die Chefspione des Westens",<br />

so das amerikanische Nachrichtenmagazin "Newsweek", "geben den SAVAK-Agenten<br />

außergewöhnlich hohe Zensuren".<br />

Im Orientteppich-Handel von Hamburg und München, auf den Marine- und<br />

Heereslehrgängen der Bundes-wehr, auf den Fachhochschulen und Universitäten, in<br />

Krankenhäusern und Wartezimmern, überall, wo Iraner in Deutschland arbeiten oder sich<br />

ausbilden lassen - der SAVAK-Geheimdienst ist gegenwärtig. Denn, so hat es der Schah befohlen<br />

(Dossier Nr. 130/33o vom 23. Januar 1973), alle Iraner im Ausland müssen "zur Erfüllung der<br />

Informationsbedürfnisse" für den Geheimdienst arbeiten.<br />

Der Kaiser auf dem Pfauenthron kennt nämlich nur einen Staatsfeind, seine Kritiker.<br />

Wenn er 1971 zur 2.500-Jahr-Feier seines Reiches 25.000 Flaschen Château-Lafitte Rothschild (pro<br />

Stück 100 Dollar) aus Paris einfliegen lässt, dazu 165 Köche und Kellner aus der französischen<br />

Hauptstadt, und dafür von seinen im Ausland meist sehr bescheiden lebenden Studenten getadelt<br />

wird, dann sind sie für ihn "verkommene Iraner". Wer es wagt, ein Wort über seine<br />

Allmachtsvorstellungen zu verlieren "mein Volk", "mein Öl", "meine Bodenschätze," "meine<br />

petrochemische Produktion" -, ist für ihn ein "Kommunist".<br />

In der Bundesrepublik führen die 1.200 iranischen Studenten der CISNU ein unsicheres<br />

Leben, obwohl der frühere Berliner Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz (*1915+1993) und<br />

der Theologe Helmut Gollwitzer (*1908+1993) das Protektorat für sie übernommen haben. Denn<br />

die in unserem Lande arbeitende schlagkräftige SAVAK-Truppe erhielt aus Teheran Befehl<br />

(315/6826):<br />

"Bitte ordnen Sie an, ... dass sofortige Maßnahmen ergriffen werden: Feststellung der<br />

Adresse von Gleichgesinnten, Freunden, Verwandten, mit denen ein Briefwechsel besteht;<br />

Erkennung der Oppositionellen, ihre Familienmitglieder in politischer und nichtpolitischer<br />

Hinsicht; Bestimmung ihrer Wohnanschrift, jener ihrer Freunde und ihrer Ersatzadressen;<br />

Feststellung ihrer Charaktereigenschaften, ihrer Studienlage; Feststellung ihres Autokennzeichens,<br />

ihrer Telefonnummer, des Wohnsitzes und der Arbeitsstelle, Lageplan der Wohnung; Feststellung<br />

der Anschriften von nützlichen Informanten."<br />

Der iranische Schnüffelapparat schreckt auch nicht vor Wohnungseinbrüchen zurück. Am<br />

1. August 1973 erteilte die Teheraner SAVAK-Zentrale - Bristol 331 an Symin - ihren europäischen<br />

Agenten die Anweisung: "Dem geheimen Einbruch in die Häuser von Personen muss ein genauer<br />

Aktionsplan vorhergehen (genaue Informationen über den Betreffenden und seine Wohnstätte,<br />

280


wann er sein Haus verlässt und wann er zurückkehrt, die Fluchtwege im Falle des Eintretens<br />

unvorhergesehener Ereignisse). Auf jeden Fall bitten wir Sie zu veranlassen, falls in der Zukunft<br />

Einbrüche oder Diebstähle in Häusern von Personen geplant sind, muss zuerst der genaue<br />

Aktionsplan an die Zentrale geschickt werden, damit nach der Bewilligung die Durchführung<br />

freigegeben wird." Eingebrochen wurde nachweislich in die Wohnung oppositioneller Studenten in<br />

der Münchnner Heisloher- und Theresienstraße. Iranische Schreibmaschinen, Briefe und<br />

Ausweispapiere verschwanden.<br />

Unter dem Deckmantel der internationalen Terrorismusbekämpfung kommen die<br />

SAVAK-Geheimdienstler bei den deutschen Behörden immer besser ins Spiel. Mit präzisen<br />

"Tipps" präparieren die Schah-Gehilfen Bundesgrenzschutz, Verfassungsschutz und Ausländer-<br />

Behörden. Doch die SAVAK-Beflissenheit hat mehr mit der politischen Verfolgung ihrer<br />

Landsleute <strong>als</strong> mit einer handfesten Fahndung nach gefährlichen Anarchisten zu tun.<br />

Ein SAVAK-Hinweis beim Gießener Amt für öffentliche Ordnung reicht aus, um dem<br />

persischen Studenten Mamout Maschayekhi zu verbieten, das Stadtgebiet zu verlassen.<br />

Maschayekhis Vergehen: Er hatte mit einem anderen Studenten in Paris für kurze Zeit die Räume<br />

des Korrespondentenbüros der iranischen Rundfunk- und Fernsehanstalt besetzt. Gewaltlos waren<br />

sie eingedrungen, friedlich gingen sie wieder, <strong>als</strong> die Polizei anrückte. Ein Pariser Amtsgericht<br />

verurteilte den Studenten zu einer symbolischen Geldstrafe von einem Franc. Dieser "Vorgang"<br />

erschien den Gießener Lokalbeamten so wichtig, dass sie schon "die Beziehung zwischen der<br />

Bundesrepublik und dem Iran gefährdet" sahen, obwohl Maschayekhi in Deutschland noch keinen<br />

Mucks von sich gegeben hatte.<br />

Zum CISNU-Studenten-Kongress in Frankfurt am Main wollten Anfang 1977 wohl<br />

sechszehn persische Studenten aus Nachbarländern in die Bundesrepublik einreisen. An den<br />

Grenzübergängen verweigerte ihnen der Bundesgrenzschutz ohne Begründung die Weiterfahrt. Die<br />

Abgewiesenen schalteten telefonisch Rechtsanwälte ein, die vor den Verwaltungsgerichten in<br />

Schleswig und Saarlouis klagten. Im Schnellverfahren hoben die Richter die Rechtsbeugung des<br />

BGS auf. Ihr Befund: Die Zurückweisung sei unzulässig, weil es sich um keine verbotene<br />

Veranstaltung handele. Ähnlich wie die Gießener Bürokraten, sorgte sich auch der<br />

Bundesgrenzschutz um die deutsche Außenpolitik. Nach dem Motto, wir können unsere Grenzer<br />

im Winter nicht frieren lassen, wenn der Schah den Ölhahn zudreht, rechtfertigte das BGS-<br />

Kommando Koblenz seine Entscheidung vor dem Verwaltungsgericht: "In der Bundesrepublik<br />

durchgeführte Maßnahmen iranischer Staatsangehöriger gegen das Schah-Regime haben in der<br />

Vergangenheit zu schweren Belastungen unserer Beziehungen mit dem Schah geführt."<br />

In Wirklichkeit waren es wieder die SAVAK-Diplomaten, die dem<br />

Bundesinnenministerium recht-zeitig eine Namensliste von angeblichen Terroristen gesteckt<br />

hatten.<br />

Die Bundesregierung hat die enge Zusammenarbeit zwischen deutschen Fahndern und<br />

Schah-Geheimdienst jahrelang empört von sich gewiesen. So versuchte noch FDP-Politiker<br />

Gerhart Rudolf Baum (1972-1978 parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des<br />

Inneren, 1978-1982 Bundesinnenminister) im Juni 1976 vor dem Bundestag den Eindruck zu<br />

erwecken, <strong>als</strong> würden die deutschen Sicherheitsorgane de SAVAK-Agenten <strong>als</strong> ausländische Spione<br />

betrachten. Baum: "... es ist die Aufgabe (des Verfassungsschutzes), Unterlagen über sicherheitsgefährdende<br />

oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht im Bundesgebiet zu<br />

sammeln und auszuwerten." Von den SAVAK-Spitzeln unter denen auch Deutsche sein sollen, sei<br />

ihm nichts bekannt, beteuerte der Staatssekretär.<br />

281


Nachhilfe-Unterricht bekamen deutsche Politiker im Januar 1977 aus Teheran.<br />

Außenminister Abbas Ali Chalatbari erklärte vor ausländischen Journalisten, seine Regierung<br />

beziehe vom westdeutschen Geheimdienst Informationen über persische Studenten, die in der<br />

Bundesrepublik leben. Schnelle Dementis der Iraner konnten die unbedachte Enthüllung nicht<br />

mehr entkräften. Ihr Außenminister hatte zu viel geplaudert und die deutsche Regierung in eine<br />

peinliche Lage manövriert.<br />

Der liberale und eigentlich auf transparente Rechtsstaatlichkeit bedachte Innenminister<br />

Werner Maihofer (1974-1978) schickte seinen zweiten parlamentarischen Staatssekretär Andreas<br />

von Schoeler, 29, (1976-1982) vor den Bundestag. Der Regierungs-Benjamin musste unumwunden<br />

zugeben, dass SAVAK und Verfassungsschützer seit 18 Jahren zusammenarbeiten.<br />

Allein im Jahre 1976 registrierten die bundesdeutschen Staatsschützer über 50 "Ausgänge"<br />

an die SAVAK-Zentrale nach Teheran. Mit ihren Tipps bringen die deutschen Sicherheitsbehörden<br />

unschuldige Iraner in Lebensgefahr. Um ihre unliebsamen Studenten in Europa mundtot zu<br />

machen, praktiziert die SAVAK Sippenhaft. Ein f<strong>als</strong>cher Ton über den Schah, und<br />

Familienmitglieder werden im Iran verhaftet.<br />

Wie die SAVAK arbeitet, deckte die Londoner "Sunday Times" auf, die im Mai 1974<br />

folgende Affäre veröffentlichte: "Donnerstag, der 2. Mai, zu Geschäftsschluss: Auf dem Trottoir<br />

vor dem Pub 'King's Arms' in Chelsea wartet ein einzelner Mann, schwarz gekleidet, etwa 50, graumeliertes<br />

Haar; er sieht häufig auf die Uhr und steift nervös die Asche von seiner Zigarette ab.<br />

Unter dem Arm trägt er das persische Magazin Khandaniha. Er dient ihm <strong>als</strong> Erkennungszeichen.<br />

Denn Abdul Ali Jahanbin, offiziell erster Sekretär der persischen Botschaft in London, in<br />

Wirklichkeit aber Mitglied der persischen Geheimpolizei SAVAK, trifft sich mit einer neuen<br />

Kontaktperson. Es handelt sich um eine junge Frau, die ihm helfen könnte, eine Bewegung zu<br />

unterwandern, deren regimefeindliche Haltung dem Schah besonderen Ärger bereiten: die<br />

Vereinigung persischer Studenten in London.<br />

Um 17.35 Uhr erscheint eine junge Frau; sie ist groß und dunkel, trägt einen<br />

Schottenmantel und in der Hand eine Einkaufstasche. Mit einem schnellen Blick hat sie das<br />

Magazin, das der Diplomat unter dem Arm trägt, erkannt. Ohne ein Wort zu sagen, so <strong>als</strong> hätte sie<br />

ihn nicht einmal bemerkt, betritt sie das Lokal und setzt sich an einen Tisch. Ohne weitere<br />

Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, näher sich ihr der Mann in Schwarz: 'Dürfte ich mich zu Ihnen<br />

setzen?' Als sie die Frage bejaht, fährt er auf persisch fort: 'Ich heiße Ali. Ich weiß alles über Sie,<br />

über Ihre Freunde, Ihr Leben hier in London und Ihr Leben vorher in Teheran. Sie können es mir<br />

glauben: Bevor wir auf diese Weise mit jemanden, der uns interessiert, in Kontakt treten,<br />

beobachten wir ihn monatelang, Denn Sie interessieren uns, werte Damen, Sie interessieren uns<br />

sehr.'<br />

Eli Powey, von Geburt Perserin, hat 18 Monate zuvor aufgrund ihrer Heirat mit einem<br />

bekannten Mitglied des Exekutivkomitees des englischen Studentenverbandes die britische<br />

Staatsangehörigkeit erworben. Diese Organisation unterhält enge Verbindungen zur Vereinigung<br />

der persischen Studenten. Besonders Terry Powey, Elis Mann, hegt große Sympathien für die<br />

Gegner des Teheraner Regimes, deren Versammlungen häufig in seiner Wohnung stattfinden.<br />

'Wenn persische Studenten zu Ihnen kommen, so geschieht dies doch sicherlich nicht nur,<br />

um ein Glas Wodka zu trinken', beginnt Ali das Gespräch. Und er erklärt Mrs. Powey, was er von<br />

ihr erwartet: Es geht ganz einfach darum, ihren eigenen Mann zu bespitzeln und bei jeder sich<br />

bietenden Gelegenheit das Vertrauen ihrer Gäste zu missbrauchen, indem sie Ali alles berichtet,<br />

282


was sie über die Aktivitäten der persischen Studenten, über Ort, Zeit und Dauer ihrer<br />

Zusammenkünfte in Erfahrung bringen kann. Eli Powey stellt eine Frage: Was geschieht mit ihr,<br />

wenn sie dem Ansinnen der SAVAK nicht entspricht? - 'Nichts', erwidert Ali. 'Wenn Sie ablehnen,<br />

für uns zu arbeiten, muss ich Sie nur bitten, diese Unterredung zu vergessen.' Doch Mrs. Powey<br />

gibt nicht nach. Sie fragt, welche Gefahr ihrer in Persien zurückgebliebenen Familie drohen könnte.<br />

'Man kann natürlich nichts ausschließen', wird ihr geantwortet. 'Sie, ich, Ihre Familie, wer weiß - wir<br />

alle können in Gefahr sein.' Mrs. Powey hat konkrete Gründe, beunruhigt zu sein. Im Dezember<br />

1973 hatte ihr die Direktion der persischen Erdölgesellschaft, für die sie in London arbeitet,<br />

mitgeteilt, dass sie nach Teheran reisen müsse. Zwei Tage nach ihrer Ankunft wurde sie durch<br />

einen mysteriösen Anruf in ein dem Äußeren nach einfaches Haus in der Scharivar-Straße Nummer<br />

23 bestellt; der angebliche Grund hatte ganz offensichtlich nichts mit den Geschäften der<br />

Gesellschaft zu tun.<br />

Es handelt sich um ein Verhör, in dem sie über sich selbst, ihre Familie und ihre<br />

politischen Ansichten ausgefragt wurde. Und der Mann, der sie verhörte, hatte ihr nicht<br />

verheimlicht, dass dies im Auftrag der SAVAK geschah, dass er wusste, wo ihre Eltern, ihre Onkels<br />

und Cousins wohnen, ja, er war sogar darüber im Bilde, dass sie ihre letzten Ferien zusammen mit<br />

ihrer Familie am Kaspischen Meer verbracht hatte. Hieraus erklärt sich, warum sie - ohne im<br />

geringsten Lust zu haben, ihren Mann zu bespitzeln eingewilligt hat, einige Monate später in<br />

London mit Ali zusammenzutreffen.<br />

Um 18.05 Uhr ist die Unterredung beendet. Mrs. Powey hat um Bedenkzeit gebeten. Mr.<br />

Ali verlässt sie, ohne ihr auch nur die Hand zu geben, und steigt in einen blauen Mercedes mit dem<br />

Nummernschild YMI 260 H (diplomatisches Corps). Die nächste Unterredung zwischen ihm und<br />

Mrs. Powey wird ganz offiziell auf dem Konsulat stattfinden. Doch Mr. Ali weiß eines nicht: Mrs.<br />

Poweys Einkauftasche enthielt ein Tonbandgerät, mit dem die 30 Minuten andauernde<br />

Besprechung festgehalten wurde. Außerdem wurde er mehrfach fotografiert - beim Warten auf<br />

dem Trottoir, beim Betreten des Lok<strong>als</strong>, bei seiner Verabschiedung am Ende des Gesprächs und<br />

bei seiner Ankunft im persischen Konsulat, 50 Kensington Court. Nach Veröffentlichung des Artikels<br />

in "Sunday Times" wird das Telefon von Abdul Ali Jahanbin, Deckname Mr. Ali, nicht mehr<br />

abgenommen. Der SAVAK-Mitarbeiter war für niemanden mehr erreichbar.<br />

Der Fall des iranischen Studenten M. Kh. Tehrani. Ein Beispiel für die Zusammenarbeit<br />

zwischen Verfassungsschutz und der SAVAK. Am 15. Januar 1977 durchsuchte die Frankfurter<br />

Polizei seine Wohnung. Sie nahmen unter anderem Tehranis Sauna-Mitgliedskarte Nr. 230053 mit.<br />

Am 22. Januar berichtete die Teheraner Tageszeitung "Keyhan": "Diese Person (M. Kh. Tehrani)<br />

wurde am 6.10. 1975 Mitglied des westdeutschen Nacktenklubs. Seine Mitgliedskarte ist unter der<br />

Nummer 230053 ausgestellt worden. Tehrani, der sich augenscheinlich <strong>als</strong> so genannter<br />

Revolutionär versteht, hat seit Jahren ein Wohlstandsleben in Europa geführt."<br />

Beschlagnahmte persische Schriftstücke werden erst gar nicht dem Übersetzungsdienst<br />

des Auswärtigen Amtes zur Verfügung vorgelegt. Sie gehen <strong>als</strong> "Amtshilfe" gleich nach Teheran.<br />

Ob beim Hungerstreik persischer Studenten in Bonn oder auf dem CISNU-Kongress in Frankfurt:<br />

Es finden sich immer Leute, die dem Schah helfen. Im Frankfurter "Haus der Jugend" schnüffelte<br />

die deutsche Polit-Polizei nach sämtlichen Namen und Adressen der Studenten. Jugendleiter<br />

Gottfried Mohs, 41, der die persönlichen Daten herausrücken sollte, weigerte sich jedoch. Ihm war<br />

noch ein Münchner Beispiel präsent. Nach einer Demonstration und Besetzung des iranischen<br />

Konsulats in der bayerischen Landeshauptstadt verhaftete die Polizei 66 persische Studenten. Ihre<br />

Namen, behauptet amnesty international, habe die Polizei der SAVAK zugespielt. Denn ihre<br />

283


persönlichen Daten wurden in der Tageszeitung "Keyhan" veröffentlicht, und dabei ist den<br />

Agenten ein kleiner, aber folgen-schwerer Fehler unterlaufen: Die Reihenfolge der Namen wurde<br />

nach dem deutschen und nicht, wie sonst üblich, nach dem persischen Alphabet aufgezählt.<br />

Die Teheraner SAVAK-Zentrale an der neugebauten Ausfallstraße nach Chemiran, ein<br />

moderner Gebäude-komplex, von Antennenwäldern überragt, wirkt nach außen wie ein Privatclub.<br />

Die Telefonanschlüsse 77 65 55 oder 77 60 20 sind bis 14 Uhr Ortszeit für die europäischen<br />

Agenten anzuwählen. Dossier Nr. 704/315 vom 7. Oktober 1971 bestimmt, dass die SAVAK-<br />

Spitzel "jede kleinste Nachricht" sofort durchzugeben haben. Aufgrund dieser Spitzel-Meldungen,<br />

meist über in Europa studierende politisch engagierte Söhne und Töchter, durchkämen<br />

Geheimpolizisten Häuserblocks und Wohnungen, verhaften Eltern, Verwandte und Freunde. In<br />

Teheran herrscht Angst, die sich zur Neurose steigert. SAVAK-Agenten lauern überall. In<br />

angemieteten Wohnungen und Villen, in Schulen und Universitäten, in ausländischen Vertretungen<br />

und Gesellschaften, in Betrieben und Ämtern. Selbst in den Schlafsälen der Studentenheime oder<br />

in den Automaten-Restaurants. Und natürlich in den Nobelhotels "Intercontinental" und im "Royal<br />

Teheran Hilton" am Vanak Parkway im Norden der Stadt. Dort, wo das Geschäftsleben pulsiert<br />

und sich die obere Gesellschaftsschicht gern sehen lässt, sind Richtmikrofone, Mikros und<br />

Kameras installiert.<br />

Der französische Publizist Gérard de Villiers berichtet in seinem Buch "Der Schah" über<br />

ein SAVAK-Missgeschick, das den Agenten nachts im Hilton-Hotel passierte. "Ein Geschäftsmann<br />

hört eines Nachts, wie jemand an seine Tür klopft. Er öffnet und erblickt vor sich eine<br />

bezaubernde junge Dame, die sich sogleich entgegenkommend zeigt, ihm erklärt, dass sie auf<br />

demselben Flur wohne, dass er ihr im Speisesaal aufgefallen sei und dass sie sich etwas langweile.<br />

Dem Mann aber erscheint die Sache verdächtig; er komplimentiert die Dame hinaus und legt sich<br />

wieder ins Bett. Kurze Zeit später wird seine Tür plötzlich mit einem Nachschlüssel geöffnet,<br />

jemand stürzt herein, und der Geschäftsmann wird in seinem Bett vom Blitzlicht eines<br />

Fotoapparates geblendet."<br />

Die SAVAK (Kurzform von Sazeman-e Ettela'at va Amniat-e Keshar) ist der größte<br />

Geheimdienst der Welt. Über 60.000 Mitarbeiter stehen bei ihr fest im Brot. Drei Millionen Iraner ,<br />

so das amerikanische Magazin "Newsweek" verdingen sich gelegentlich und geben Tipps und<br />

Denunziationen. Auf jeden elften Iraner kommt ein Spitzel, an den Universitäten sogar auf jeden<br />

dritten. Wer heute zur SAVAK einen Vergleich sucht, muss schon in die Historie zurückgehen.<br />

Stalins (*1878+1953) allmächtiger NKWD wird dem Repressionsapparat Schah Resa Pahlewi am<br />

ehesten gerecht.<br />

Der Ölreichtum hat den Schah für die Realität blind gemacht. In jedem Verwaltungszimmer<br />

und in den Betrieben posiert er auf einem Foto <strong>als</strong> "Mann der Vorsehung, <strong>als</strong> ein Heiliger",<br />

so sein Hofminister Assadollah Alam. Die ganze Nation kriecht zu Füßen, ausländische<br />

Diplomaten und Geschäftsleute schließen sich devot an. Mohammad Resa Pahlevi liebt die<br />

neoklassizistischen Paläste, die sich die deutschen Könige im verflossenen Jahrhundert bauen<br />

ließen. Er ist felsenfest davon über-zeugt, dass nicht er den Göttern, sondern Gott ihm ein<br />

Denkmal setzen werde. Deshalb sagt er auch ohne Ironie. "Gott ist mein einziger Freund."<br />

Je mehr Öl-Dollars ins Land fließen, desto ehrgeiziger werden seine Projekte, doch desto<br />

dünnhäutiger und intoleranter wird er. Ein englischer Ingenieur beispielsweise musste innerhalb<br />

von 24 Stunden das Land verlassen. Er hatte auf der Straße einen Kater aufgelesen und ihn aus Jux<br />

"Schah" genannt. - Die SAVAK-Ohren waren dabei.<br />

284


Weniger zimperlich geht der Geheimdienst mit den eigenen Landsleuten um. In den<br />

Gefängnissen Ghezel Ghalee (Rote Festung), Zendane Moraghat (provisorisches Gefängnis),<br />

Ghaser Prison (Palast-Gefängnis). Ghezel Akhtar Prison (Gefängnis Roter Stern), im Eshart-Abad-<br />

Gefängnis und im Folterhaus Ewin fügen die SAVAK- Schergen unschuldigen Menschen die<br />

schlimmsten Schmerzen zu. Schläge, Ausreißen von Fingernägeln, Hineinstoßen von Flaschen in<br />

den Mastdarm, Elektroschocks, die nackten Körper der Opfer werden auf eine glühende heiße<br />

Eisenplatte, den "Toaster" gelegt.<br />

Die iranische Studentin Ashraf Deghani, die in den Folterkammern des SAVAK-<br />

Hauptquartiers und im Gefängnis von Ewin litt, berichtet im Dezember 1975 im "Iran-Report",<br />

einer Publikation persischer Studenten in Deutschland: "Mein Folterer hieß Leutnant Nik-tab.<br />

Seine Unteroffiziere halfen ihm, mich zu quälen. Die Peitsche ging von Hand zu Hand, sie<br />

schlugen auf meine Fußsohlen. Anschließend misshandelten sie meinen Körper mit einer Zange,<br />

um mir die Fingernägel auszureißen. Doch sie zerquetschten sie nur. Eine Frau kam herein und<br />

verband mir die Hand. - Wieder verhörte mich Niktab: 'Sag uns die Adresse des Hauses. Wir<br />

wollen euch doch nur rehabilitieren. Je schneller deine Genossen gefasst werden, desto weniger<br />

Verbrechen können sie begehen ...'.<br />

Ich hatte Angst, weitere Schmerzen nicht mehr durchstehen zu können. Ich sagte einfach,<br />

der Stadtteil hieße Khanie Abad, obwohl ich mir darüber im Klaren war, dass es nicht stimmte. Auf<br />

einmal wurden diese Schurken freundlich. Sie schlugen mich nicht mehr und befahlen mir, auf und<br />

ab zu gehen. Ich hatte seltsame Empfindungen, ein Gefühl, <strong>als</strong> ob man mir tausend Nadeln in den<br />

Körper gejagt hätte. Sie brachten mich in eine Zelle, wo ich etwas zu essen bekam.<br />

... ... Nach zwei oder drei Stunden wurde ich wieder in den Folterraum geführt. Ich ahnte<br />

es, Niktab und seinen Gehilfen war mitgeteilt worden, dass meine Ortsangabe eine Lüge war. Sie<br />

rissen mir die Kleider vom Körper. Niktabs Gesichtsausdruck war gemein und niederträchtig. Er<br />

fesselte mich bäuchlings an eine Bank, zog seine Hose aus und warf sich vor den Augen seiner<br />

Untergebenen auf mich. Ich ließ mir nichts anmerken. Er sollte spüren, wie wenig ich mir aus<br />

ihnen allen machte. Was ist schon der Unterschied zwischen Vergewaltigung und Peitsche? Beides<br />

ist Folter.<br />

Es wurde Nacht. Niktab und die anderen Folterknechte zerrten mich in einen<br />

Gefangenentransporter. Ich sollte verlegt werden. Vom Hauptquartier des Sicherheitsdienstes ins<br />

Ewin-Gefängnis. Im Ewin warf man mich auf ein Bett. Ich fragte, wo ich sei und wer die Leute<br />

sind, die mich umzingelten. Einer antwortete: 'Das sind alles meine Diener. Dem habe ich ein Ohr,<br />

dem da die Zunge abgeschnitten.' Er setzte sich auf mein Bett, schüttelte mich und sagte lüstern:<br />

'Schau mir in die Augen, meine Liebe.' Ich wandte den Kopf ab. Er wurde wütend, schüttelte mich<br />

weiter und wiederholte: 'Schau mir in die Augen, schau mich an!'<br />

Was bezweckte er? Wie, glaubte er, würde ich reagieren? Wieder redete er auf mich ein:<br />

'Kennst du mich? Ich bin Hosseinzadeh. Wir sind in Ewin, und ich bin Dein Folterexperte.' Sie<br />

banden mich ans Bett und brachten einen langen Holzstock. Und Hosseinzadeh sagte: 'Der wird<br />

Dich in Form bringen. Du weißt noch nicht, welche Folter auf dich wartet.' Sie rissen mir die<br />

Schlafanzugjacke, die ich schon im SAVAK-Hauptquartier anziehen musste, herunter und stießen<br />

mir den Stock in den Leib. Nach kurzer Zeit hörten sie mit der Stocktortur auf, aberm<strong>als</strong> wurde ich<br />

ausgepeitscht. Der Schmerz schnürte mir die Kehle zu ... Nach einigen Minuten ließen sie von mir<br />

ab. Hosseinzadeh ging aus dem Raum. Als ich allein war, wunderte ich mich, das alles ertragen zu<br />

haben."<br />

285


Die Studentin Asharf Dehghani überlebte die Folter im Ewin-Gefängnis, ihr Bruder<br />

Behrouis, der ebenfalls verhaftet worden war, nicht. Asharf Dehghani wurde ohne Prozess<br />

freigelassen und lebt heute <strong>als</strong> Mitglied der "Feddayan des Volkes", einer revolutionären<br />

Organisation im Untergrund von Teheran. Persische Studenten schmuggelten ihren Bericht nach<br />

Europa.<br />

Der persische Universitätsdozent Resa Bahareni schildert seine Erlebnisse im Comité-<br />

Gefängnis: "Am ersten Tag wurde mir der kleine Finger gebrochen. Der Cheffolterer sagte zu mir,<br />

wenn ich nicht reden würde, käme jeden Tag ein weiterer Finger dran. Man hielt mir eine Pistole an<br />

meine Schläfe und drohte abzudrücken. Als ich einen Schuss hörte, wurde ich bewusstlos."<br />

Bahareini, Autor von 26 Büchern, saß 102 Tage im Comité-Gefängnis, weil er im Ausland<br />

den kulturellen Verfall des Iran kritisiert hatte. Seine Entlassung und seine Ausreisegenehmigung<br />

verdankt der Wissenschaftler allein dem internationalen Druck, besonders dem Protest zahlreicher<br />

Schriftsteller und Dichter in den Vereinigten Staaten. Bahreni, der heute in den USA lebt, gab zu<br />

Protokoll:<br />

"Ich war in einer dunkeln Einzelzelle von 1,20 x 2,40 Meter untergebracht. Die<br />

Innenausstattung bestand aus einer alten und schmutzigen Decke. Das war alles. Es fehlte sogar<br />

eine Pritsche zum Schlafen. An manchen Tagen wurden sieben Gefangene in diese Zelle hineingestoßen.<br />

Wir mussten uns daran gewöhnen, im Stehen zu schlafen. Einige hatten aus Angst oder<br />

wegen der schlechten Verpflegung Durchfall. Andere konnten sich wegen der Wunden an den<br />

Füßen, wegen ihres versengten Rückens überhaupt nicht aufrecht halten. Wir atmeten uns<br />

gegenseitig ins Gesicht. Wir waren alle ohne Haftbefehl von der SAVAK gekidnappt worden.<br />

... In der Ecke des Folterraums befanden sich zwei Doppelstockbetten. Sie wurden, wie<br />

ich später erfuhr, benutzt, wenn es darum ging, das Gesäß des Opfers zu versengen. Man wird an<br />

das Oberbett gefesselt, und dann wird der Rücken der Hitze einer Fackel oder eines kleinen Ofens<br />

so lange ausgesetzt, bis der Gefangene redet. Manchmal wird auch das Rückenmark versengt, was<br />

zwangsläufig zur Lähmung führt."<br />

Ein Mullah, der heute im Exil in Amsterdam lebt, erzählte: "Beim Verhör, das den ganzen<br />

Tag dauerte, schlugen die SAVAK-Agenten mir immer ihren Pistolenknauf auf den Schädel. Sie<br />

sagten mir, sie würden mich schon 'weich' kriegen. Mit Elektroschocks haben sie es auch<br />

geschafft."<br />

Der 37jährige Mullah, der seinen Namen aus Angst vor der SAVAK der Öffentlichkeit<br />

nicht preisgeben will, weil seine Frau mit fünf Kindern noch in Persien lebt, war zwei Monate im<br />

Ewin-Gefängnis eingesperrt. Der Grund: Während seines Studiums in Österreich (1970) hat er sich<br />

der iranischen Exil-Opposition angeschlossen. Als er 1972 den Schlagbaum Bazarka an der<br />

türkisch-iranischen Grenze passierte, wurde er von den Schah-Agenten verhaftet. Die<br />

Geheimdienstler hatte Listen aller Abtrünnigen erstellt, die an allen Grenzstationen auslagen.<br />

Erst nachdem der islamische Geistliche ein umfassendes Geständnis unterschrieben hatte,<br />

setzten ihn die Schergen ohne Gerichtsverhandlung auf freien Fuß. Er hatte der SAVAK nämlich<br />

versprochen, künftig für sie Staatsfeinde ausfindig zu machen. Der Mullah erzählte: "Ich habe eine<br />

Telefonnummer bekommen, die ich jeden Tag anzurufen hatte. Ich sollte berichten über alles, was<br />

sich in meinem Haus, an der Universität und beim Kaufmann ereignete: Namen der Besucher,<br />

Autokennzeichen, ihre Äußerungen, möglichst viele Bekannte und Verwandte. In der Universität<br />

sollte ich vor allem den politischen Standort der Studenten ausfindig machen und von wem sie ihr<br />

Geld beziehen. Zwei Mal in der Woche wurde ich von SAVAK-Spitzeln im Auto abgeholt. Wir<br />

286


fuhren dann ein paar Stunden durch Teheran, vor allem ins Universitätsgebiet. Ich musste ihnen<br />

abtrünnige Studenten zeigen, die ich ausgespäht hatte. Da ich jedoch meinen Auftrag nicht erfüllt<br />

habe, drohten sie meine Frau zu vergewaltigen. Nach fünf Monaten hielt ich es nicht mehr aus. Ich<br />

besprach alles mit meiner Frau. Wir waren uns einig, dass es für mich nur noch eine Möglichkeit<br />

gab: die Flucht ins Ausland. Ich schlug mich nach Südpersien durch und traf dort Schmuggler, die<br />

mich über die Grenze brachten."<br />

Für oppositionelle Iraner ist es heute schwieriger denn je, ihr Land zu verlassen. Der<br />

Staatsapparat will ihre Kritik in seinen Gefängnissen ersticken, um sich die Jagd nach<br />

Regimegegnern im Ausland zu ersparen. Auf dem schwarzen Markt in Teheran werden deshalb<br />

besonders Ausweispapiere und Reisevisa teuer gehandelt. Der Deutsche Gerhard Klysch, der in<br />

Teheran in einem Straßenbau-Unternehmen arbeitete, saß zwei Jahre im Gefängnis zu Ewin. Er<br />

hatte mit f<strong>als</strong>chen Papieren in Bedrängnis geratenen Iranern zur Ausreise verholfen.<br />

Die Zahl der politischen Gefangenen im Iran kann nur geschätzt werden, weil niemand<br />

über präzise Zahlen verfügt. Seit dem Jahre 1972 lehnt es das Schah-Regime strikt ab, neutrale<br />

Beobachter zu den Prozessen zuzulassen. Nach Meinung der amnesty international-Beobachter<br />

sollen im Iran etwa 100.000 politische Gefangene eingekerkert sein. Ein einsamer Weltrekord, der<br />

nur durch einen anderen überboten wird: Der Iran hat die höchste Hinrichtungsquote. Seit 1972<br />

wurden über 300 Menschen von Militärgerichten zum Tode verurteilt und exekutiert. Und immer<br />

geschieht das nach der gleichen Methode: Die SAVAK foltert die "Geständnisse" heraus, die<br />

Richter sprechen ihr "Recht". Beweisanträge der Verteidigung und Folternarben lassen Persiens<br />

Richter unbeeindruckt. Iraner, die eine "kollektivistische Ideologie haben" oder "sich gegen die<br />

Monarchie stellen", müssen nach Artikel 1-7 des Strafgesetzbuches mit der Todesstrafe rechnen.<br />

Nachdem die Erschießungskommandos ihr Geschäft erledigt haben, informiert die<br />

SAVAK-Zentrale ihre europäischen Außenstellen. Dossier 331/1152 vom 24. Mai 1973: " ... zwei<br />

Offiziere wurden zur Hinrichtung, die restlichen fünf zu Gefängnisstrafen zwischen 18 Monaten<br />

und 15 Jahren verurteilt. Es muss dafür gesorgt werden, dass diese Information nicht an die<br />

Öffentlichkeit und Presse gelangt." Der SAVAK-Chef heißt General Nematollah Nassiri (1965-<br />

1978; *1911+1979). "Kargoscha", so sein Deckname, ist ein 70jähriger mittelgroßer Mann mit<br />

einem dicken, runden, pockennarbigen Gesicht und gelbbraunen Augen. Der General ist ein alter<br />

Gefolgsmann des Schah, mit dem er gemeinsam die Militärakademie besuchte und auch heute noch<br />

mit ihm im Palast Karten spielt. Nassiri, der sich kaum in der Öffentlichkeit zeigt und lieber im<br />

Hintergrund wirkt, ist dem Schah direkt unterstellt und braucht sich sonst vor niemanden zu<br />

verantworten. Selbst die Minister sind vor ihm nicht sicher. Es gibt nichts im Lande, seien es<br />

Bettgeschichten, Korruptionsaffären oder politische Abweichungen, was Nassiri nicht in seinen<br />

Akten mit Beweismaterial aufgearbeitet hat; für den Schah jederzeit abrufbar.<br />

Nassiri ist der dritte SAVAK-Chef. Als die SAVAK im Jahre 1957 gegründet wurde, war<br />

die Weltöffentlichkeit mit den Amouren des Schah beschäftigt. Seine Hollywood-Tänze mit Judy<br />

Garland (*1922+1969) und Yvonne de Carlo (*1922+2007), seine Liebesspiele mit "Dokki", Safieh,<br />

Elga Andersen (*1935+1994) und Maria Gabriella von Savoyen, seine nächtlichen Eskapaden in<br />

Teherans Colby-Bar oder an der Cote d'Azur, seine plötzliche Visite beim Papst in Rom - dies alles<br />

hielt das Publikum in Atem, während es Mitleid mit seiner zweiten Ehefrau Soraya Esfandiary<br />

Bakhtiari (*1932+2001) empfand. Mohammed Resa war der prominenteste Playboy der fünfziger<br />

Jahre -während in seinen Kellern grausam und bestialisch gefoltert wurde.<br />

Im Jahre 1953 hatte der amerikanische Geheimdienst CIA im Iran erfolgreich einen<br />

Putsch gegen den Ministerpräsidenten Mossadegh (*1892+1967; Premierminister 1951-1953)<br />

287


inszeniert (Kosten: 400.000 Dollar). Der Grund: Die amerikanische und englische Industrie wollte<br />

sich den Zugriff aufs verstaatlichte Erdöl sichern. Der Schah war zu jener Zeit lediglich eine<br />

Marionette und spielte im fernen Rom den Zaungast. Während sich CIA-Monarchisten und<br />

Sozialisten in Teherans Straßen-schlachten lieferten, saß er mit seiner Soraya im Hotel "Excelsior".<br />

Das "Herrscherpaar" hatte gerade Krabbencocktail und kaltes Huhn serviert bekommen, <strong>als</strong> ihm<br />

ein Reporter der amerikanischen Nachrichtenagentur "Associated Press" die Mitteilung überreichte,<br />

es dürfe wieder die "Macht" übernehmen.<br />

Resa Pahlewi dankte es den Amerikanern. Der CIA-Agent Kim Roosevelt (*1916+2000)<br />

der Hauptakteur, lief noch über Jahrzehnte mit dem Kaiser in St. Moritz Ski. Der Iraner Chabaham<br />

Bimor, ein notorischer Totschläger, der mit seinen 400 Leuten für den Schah auf die Sozialisten<br />

eindrosch, was ihm den Spitznamen "Mann ohne Gehirn" eintrug, durfte die ersten<br />

Sicherheitstruppen mit aufbauen helfen, die natürlich unter CIA-Regie standen. Heute ist der CIA<br />

mit einer eigenen Abteilung und die US-Armee in Persien gut im Geschäft. Über 3.500<br />

Militärberater bilden iranische Truppen aus. Und Amerikas Botschaft in Teheran war Richard<br />

Helms (*1913+2002), einst CIA-Chef in Washington. Der amerikanische Journalist Jack Anderson<br />

(*1922+2005), einer der Aufdecker des Watergate-Skand<strong>als</strong> (1972-1974), nannte die Beziehung<br />

zwischen den Schah, Nixon und Helms so eng, dass der Schah über Mexiko mehrere Millionen<br />

Mark für die Wiederwahl-Kampagne Richard Nixons (*19131994,, US-Präsident 1969-1974)<br />

ausgegeben habe.<br />

Doch die Spendierfreudigkeit des Schah hatte auch einen realen Hintergrund. Mit seinen<br />

Erdöl-Milliarden kaufte er sich mit 6.9 Milliarden Dollar bei der amerikanischen Rüstungsindustrie<br />

ein, die ihm fast alle modernen Waffensysteme unterhalb der atomaren Schwelle sichert. Bis ins<br />

Jahr 1980 werden im Iran mehr Jagdbomber stehen <strong>als</strong> in irgendeinem anderen NATO-Land außer<br />

der USA.<br />

Auch die Bundesrepublik Deutschland ist im Iran stark engagiert. Bislang schult die<br />

Bundeswehr iranische Soldaten auf ihren Akademien. Und 600 deutsche Ingenieure wie Techniker<br />

helfen den Persern Munition und Handfeuerwaffen herzustellen. Doch damit will sich die deutsche<br />

Rüstungsindustrie langfristig nicht zufriedengeben; neue Märkte werden gesucht, Absatzmärkte für<br />

eine Todesindustrie. Nachdem der Schah beim Waffenproduzenten Krupp Aktien gekauft hat und<br />

das Volkswagenwerk im Iran Autos bauen soll, will die Rüstungsbranche nun auch ihre<br />

modernsten Panzer Leo I und Leo II verkaufen.<br />

Falls die Arbeitslosigkeit sich in Deutschland nicht spürbar reduzieren lässt, wird Kanzler<br />

Helmut Schmidt (1974-1982) nicht das Machbare dem Moralischen unterwerfen. Die strengen<br />

Exportbedingungen für Kriegsgeräte außerhalb der NATO-Länder sollen dann gelockert werden.<br />

Helmut Schmidt: "Es ist denkbar, es ist im Einzelfall schon geschehen."<br />

Trotz des Ölreichtums und des raschen wirtschaftlichen Aufbaus können sechzig Prozent<br />

der Bevölkerung weder lesen noch schreiben. Trotz der vom Schah <strong>als</strong> beispielslos dargestellten<br />

"Weißen Revolution", die mehr sozialen Gerechtigkeit verwirklicht haben soll, sind sechzig Prozent<br />

der Landfamilien ohne Acker. Dafür verfügen von den 16 Millionen anbaufähigen Hektar 65<br />

Prozent der privaten Großgrundbesitzer <strong>als</strong> Eigentum. Ein Art kommt auf 22.000, ein Zahnarzt<br />

auf 150.000 Menschen. Zehn Prozent der Iraner leben in der Hauptstadt Teheran. Jeder vierte<br />

Einwohner dieser Stadt ist ohne Stromversorgung und fließendes Wasser. Ob in den städtischen<br />

Slums oder in den ländlichen Gebieten, an einem Drittel des 34-Millionen-Volkes ist das iranische<br />

Wirtschaftswunder bisher spurlos vorübergegangen.<br />

288


Die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und dem Iran, die die<br />

sozial-liberale Koalition (1969-1982) begrüßt, wurde von Krupp-Chef Bertold Beitz aufgegriffen.<br />

Beitz: "Wir werden verstärkt junge Leute aus dem Iran ausbilden und unseren jungen Leute in den<br />

Iran schicken." Und der hessische CDU-Landesvorsitzende Alfred Dregger (*1920+2002) hält den<br />

Iran für "eines der stabilsten Länder der freien Welt". Die Politik von Schah Resa Pahlewi sei "so<br />

überzeugend, dass er diese Politik offensiv vertreten sollte".<br />

Postskriptum. -Seit der islamischen Revolution des Ayatollah Khomeini (*1902 +1989)<br />

im Jahre 1979 - der Gründung des Gottesstaates -geht uneingeschränkte Macht - vom Obersten<br />

Rechtsgelehrten ("Revolutionsführer") aus. Er ernennt die obersten Richter und ist zugleich<br />

Oberkommandierender der Streitkräfte. Er wird vom sogenannten Expertenrat auf Lebenszeit<br />

gewählt. Dieser Expertenrat wird alle acht Jahre in einer geheimen Wahl bestimmt, wobei allerdings<br />

der Wächterrat die jeweiligen Kandidaten genehmigen muss. Der Regierungschef des Iran fungiert<br />

zugleich <strong>als</strong> Präsident des Landes. Ihm obliegt es, Minister zu ernennen, er bestimmt die Arbeit der<br />

Exekutive. Er wird für eine vierjährige Legislaturperiode gewählt. Seine Machtbefugnisse sind<br />

jedoch beschränkt. Alle zu wählenden Kandidaten, alle Regierungsprojekte oder<br />

Gesetzesmaßgaben bedürfen der Zustimmung des Wächterrates -der obersten Kontrollinstanz -<br />

der islamischen Republik. So ist der Wächterrat befugt, jedes Gesetzes, jeden unliebsamen<br />

Kandidaten - auch rückwirkend -für unwirksam zu erklären oder auch auszuschließen. Er setzt sich<br />

aus sechs Geistlichen und sechs weltliche Rechtswissenschaftlern zusammen. Sollte im Wächterrat<br />

bei einer Abstimmung keine Mehrheit zustande kommen, entscheidet der Revolutionsführer.<br />

Der Geheimdienst SAVAK wurde nach dem Machtantritt Ayatollah Khomeinis (Führer<br />

der islamischen Revolution 1978 und 1979 ) aufgelöst und durch einen neuen Nachrichtendienst<br />

VEVAK ersetzt. Praktisch konnte der neue islamische Kundschafter-Behörde, sämtliche<br />

Infrastrukturen, Agenten und auch inländische Nachrichtendienst-Ringe intakt übernehmen und<br />

noch ausbauen. Lediglich die SAVAK-Spitze mit ihren 23 Generälen und 30 Offizieren wurde<br />

sofort hingerichtet.<br />

Hoffnungen, auf eine Verbesserung der Menschenrechtsverletzungen im Iran, erfüllten<br />

sich nicht. Im Gegenteil. amnesty international berichtet im Jahre 2005 von 94 Exekutionen,<br />

darunter acht Minderjährige. Zudem wurde nach einem Urteil eine Frau zu Tode gesteinigt.<br />

Todesurteile werden in den islamischen Staaten traditionell durch teils öffentliche Enthauptung am<br />

Morgen bei aufgehender Sonne ausgeführt. Zudem zählen Steinigungen, Erhängen oder<br />

öffentliches Auspeitschen zum Unterdrückungs-Repertoire. Bei drei öffentlichen Kundgebungen<br />

im Jahre 2005 sorgten die Sicherheitskräfte für Friedhofsruhe mit 73 Toten und mehreren Hundert<br />

Verletzten. amnesty international schrieb in ihrem Jahresbericht 2007: " ... mindestens 177<br />

Menschen wurden hinge-richtet, drei von ihnen waren zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Tat und<br />

ein weiterer am Tag der Tötung noch nicht 18 Jahre alt. Ein Mann und eine Frau wurden Berichten<br />

zufolge zu Tode gesteinigt. Gerichte verhängten nach wie vor grausame Strafen wie die<br />

Amputation von Gliedmaßen, die Prügelstrafe und das Ausstechen der Augen.“<br />

289


BRASILIEN: FURCHTLOSE KIRCHE GEGEN FOLTER UND<br />

BARBAREI<br />

Gotteswort hinter Gittern. Im größten Gefängnis in Sao Paulo erteilt ein<br />

katholischer Priester einem Häftling den Segen. In Jahrzehnten der Militärdiktatur (1964-<br />

1985) war die katholische Kirche in Brasilien die einzige Institution des Landes, die ihre<br />

Kritik an Folterungen, Massenverhaftungen, Erschießungen öffentlich erhob. Für<br />

Tausende politischer Gefangener und verfolgter Indios waren Gotteshäuser <strong>als</strong><br />

Unterschlupf ihre letzte Hoffnung. In dem Terror- und Willkürstaat des früheren General-<br />

Präsidenten Ernesto Geisel leistete die Kirche Roms beachtlichen Widerstand. Geheime<br />

Todesschwadronen hatten dam<strong>als</strong> den Priestern ihren Kampf angesagt. Killer- und<br />

Folterkommandos entführten, quälten und erschossen Geistliche, nur weil sie für<br />

Menschenrechte eintraten. Seit 1985 ist Brasilien zur Demokratie zurückgekehrt.<br />

stern, Hamburg 21. April 1977<br />

Der ältere Mann auf dem Beifahrersitz des grauen VW-Busses könnte Landwirt oder<br />

Landvermesser sein. Unter dem lichten Silberhaar ein braun gebranntes Gesicht, über dem Kaki-<br />

Hemd ein abgewetzter Anzug aus grober Baumwolle, die derben Hände umklammern den<br />

Haltegriff. Mit schnellen, prüfenden Blicken mustert er die Straße geradeaus und die Böschungen<br />

am Rande links und rechts. Die zusammengekniffenen Augen verraten die Anspannung. Dom<br />

Adriano Mandarino Hypólito (*1918+1996) ist katholischer Bischof von Nova Iguacu, einer<br />

Diözese mit einer Million Einwohner, 50 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt. Seit September<br />

1976 weiß der 59jährige, dass selbst eine harmlose Überlandfahrt wie jetzt, da er sich von seinem<br />

20jährigen Neffen Fernando zur Inspektion der kirchlichen Wasserbohr-stelle chauffieren lässt,<br />

schrecklich enden kann.<br />

Über das, was an jenem 22. September 1976 geschah, redet Dom Adriano nicht gern.<br />

Nicht, weil ihn die Erinnerung an die Schmerzen noch quält, die ihm die Schergen dam<strong>als</strong><br />

zufügten. Nicht, weil er sich vor dem Neffen schämt, den er nicht vor den Schlägertrupp hatte<br />

schützen können. "Nein", sagt Dom Adriano, "das Schlimmste ist, sie haben meine Mutter<br />

beleidigt."<br />

Um 19 Uhr hatte der Bischof dam<strong>als</strong> sein Büro in der Diözesankurie im Zentrum von<br />

Nova Iguacu - Stadt und Provinz sind gleichnamig - verlassen. Auf dem Kirchplatz wartete sein<br />

Neffe Fernando in einem Volkswagen. Er hatte seine 18jährige Braut Pilar mitgebracht. Ehe<br />

Fernando seinen Onkel nach Hause brachte, wollte er schnell seine Verlobte bei ihren Eltern<br />

absetzen. Es war ein kurzer Weg. Der VW-Variant stoppte vor der Haustür.<br />

Als Pilar aussteigen will, sieht sie, wie zwei rote Volkswagen von der anderen Straßenseite<br />

heranrasen und den Bischofs-VW einkeilen. Sechs Pistolen bewaffnete Männer springen heraus. Sie<br />

tragen keine Uniformen. Einer schreit: "Das ist ein Überfall! Raus, sonst knallt's!"<br />

Dom Adriano ist so erschrocken, dass er sich nicht rühren kann. Einer der Männer reißt<br />

die Tür auf, zerrt den Bischof aus dem Wagen und stößt ihn auf das Straßenpflaster. Vier andere<br />

springen hinzu, packen den Geistlichen und prügeln ihn in den vorderen roten Wangen. Das<br />

Mädchen Pilar, das sich in den Eingang des Hauses geflüchtet hat, hört den Geistlichen noch rufen:<br />

"Mein Bruder, was habe ich dir getan?"<br />

290


Der Bischof kann zwei Kidnappern ins Gesicht sehen. Der eine trägt eine rahmenlose,<br />

quadratische Brille, der andere hat grobe Züge, die Wangen voller Narben. Dann stülpen ihm seine<br />

Peiniger eine Kapuze über den Kopf.<br />

Im rasenden Tempo kurvt der Wagen durch die Stadt, kommt in Außenbezirke, fährt über<br />

Pflaster- und Lehmstraßen. Dom Adriano verliert die Orientierung. Nach einiger Zeit reden die<br />

Gangster miteinander. Der eine zum anderen: "Das wird uns 4000 bringen." Noch im Wagen<br />

machen sie sich über den Bischof her. Sie boxen ihn ins Gesicht und in den Magen, sie schneiden<br />

ihm die Knöpfe seiner Soutane ab. Sie reißen ihm den Rosenkranz und zwei Notizbücher aus den<br />

Taschen.<br />

Dann bremst der Wagen, "Raus, du Hurenbock", kommentiert einer. Dom Adriano spürt,<br />

dass er auf einem Lehmweg steht. Ihm werden die Kleider vom Leib gezerrt. Nackt - nur die<br />

Kapuze auf dem Kopf - steht der 59jährige Jesuit vor seinen Schindern. Die machen sich über<br />

seinen Penis lustig. Sie brüllen, er habe mit Prostituierten Kirchengelder durchgebracht. Auch seine<br />

Mutter sei eine Nutte und habe sich im Hafen von Recife verkauft.<br />

Die Kidnapper setzen Dom Adriano eine Flasche Zuckerrohr-Schnaps an den Mund und<br />

zwingen ihn zu schlucken. Der Bischof bekommt keine Luft mehr, er wird für einen Moment<br />

ohnmächtig. Die Mannschaft aus dem zweiten Kidnapper-VW hat sich seinen Neffen Fernando<br />

vorgenommen.<br />

Als die Entführer sehen, dass der Bischof wieder bei Bewusstsein ist, brüllt ihn einer an:<br />

"Deine Stunde ist gekommen, roter Verräter." Ein anderer: "Für Kommunisten-Schweine kennen<br />

wir nur den Tod." Ein Dritter: "Gib zu, dass du ein Kommunist bist, elender Hund."<br />

Dom Adriano will den Schlägern antworten, er stammelt: "Ich bin kein Kommunist. Ich<br />

war keiner, ich werde auch nie einer sein. Ich verteidige nur mein Volk." Dom Adriano wird an<br />

Händen und Füssen gefesselt. Dann sprühen sie mit Spraydosen seinen nackten Körper ein. "Oh,<br />

wird das schön brennen", feixen sie. Dom Adriano betet. Er glaubt, sie würden ihn verbrennen.<br />

Doch er wird wieder ins Auto geschleift. Eine neue Irrfahrt beginnt. Als der Wagen stoppt, sagt<br />

einer der Entführer: "Der Chef hat angeordnet, dich heute noch nicht zu töten. Wir haben dir nur<br />

eine Abreibung gegeben, damit du aufhörst, Kommunist zu sein."<br />

Sie nehmen Dom Adriano die Kapuze ab, stoßen ihn aus dem Wagen, er fällt mit dem<br />

Gesicht auf den Bürgersteig. Nackt und gefesselt liegt der Bischof von Nova Iguacu auf dem<br />

Gehweg einer Ausfallstraße von Rio de Janeiro. Sein ganzer Körper ist rot gefärbt. In den<br />

Spraydosen war Farbe. Es ist 21.45 Uhr. Zweidreiviertel Stunden haben die Misshandlungen<br />

gedauert. Ein Autofahrer entdeckt den Bischof, bringt ihn zum nächsten Pfarrhaus. Seine erste<br />

Frage: "Wo ist Fernando?" Fernando lebt, die Gangster haben ihn zusammengeschlagen und<br />

ebenfalls aus dem Wagen geworfen.<br />

Dom Adrianos verlassener Volkswagen wird in derselben Nacht von den Entführern vor<br />

das Haus der Nationalen Bischofskonferenz im Stadtteil Gloria in Rio de Janeiro gefahren und dort<br />

in die Luft gesprengt. Ebenfalls in derselben Nacht explodiert in der Wohnung des katholischen<br />

Journalisten Roberto Marinho eine Bombe. Marinho ist Direktor des Medienkonzern "O Globo".<br />

Der Terror gegen katholische Geistliche in Brasilien hat System. Einige Wochen vorher<br />

war Pater Rudolfo Lunkenbein im Bundesstaat Mato Grosso erschossen worden. Er hatte sich für<br />

die Lebensrechte der von Ausrottung bedrohten Indianer eingesetzt. Sein Amtsbruder Joao Bosco<br />

Penido Burnier wurde auf der Polizeistation im Norden des Landes erschossen, <strong>als</strong> er dagegen<br />

291


protestierte, dass zwei Frauen seiner Gemeinde gefoltert worden waren. Immerhin: Der Gendarm,<br />

der ihn einfach mit der Pistole umgelegt hatte, wurde verhaftet. Dieser Mord war zu plump.<br />

Die meisten Morde oder Anschläge aber bleiben ungesühnt. Sie werden ausgeführt von<br />

Kommandos der "Antikommunistischen Allianz Brasiliens" -der AAB, die sich auch zu dem<br />

Attentat auf Dom Adriano bekannt hat. Niemand weiß genau, wer hinter dieser Organisation<br />

steckt, jeder kennt nur ihre Untaten: Todesschwadronen, zusammengewürfelt aus Soldaten und<br />

Polizisten , morden, plündern und brandschatzen im Namen der AAB. Es gibt zahlreiche Belege,<br />

dass die AAB und das in Brasilien allmächtige Militär zusammenarbeiten.<br />

Die ersten Todesschwadronen waren vor 20 Jahren aufgetaucht. Ihre Opfer waren<br />

zunächst hauptsächlich kriminell. Als Chef einer dieser "Esquadraos Da Morta" wurde ein<br />

Kriminalrat aus Sao Paulo, Sergio Fleury, vor Gericht gestellt. Obwohl es eindeutige Beweise gab -<br />

Mönche hatten Fleury und seine Todesschwadronen bei der "Arbeit" fotografiert - ging der Kripo-<br />

Boss straffrei aus. Sein Kommentar zu dem Foto: "Hier gibt es tatsächlich einen Hurensohn, der<br />

verdammte Ähnlichkeit mit mir hat."<br />

Seit etwa zehn Jahren richtet sich die Lynchjustiz der Freizeit-Mörder immer mehr gegen<br />

politisch Unliebsame. Die regierenden Militärs betrachteten diese "Aufgabenerweiterung" mit<br />

Wohlwollen, die Todesschwadronen nahmen ihnen in den Jahren bis 1972 im Kampf gegen die<br />

Stadtguerillas viel Arbeit ab.<br />

Gleichzeitig führten die Militärs ein Possenspiel auf, um "Rechtsstaatlichkeit" zu<br />

demonstrieren. Sie beauftragten einen Rechtsanwalt in Sao Paulo, eine Dokumentation über die<br />

Todesschwadronen auszuarbeiten. Er bekam mehr heraus, <strong>als</strong> seinen scheinheiligen Auftraggebern<br />

recht war: Staatsanwalt Helio Pereira Bicudo, ein liberaler Mann und unerschrockener<br />

Regimekritiker, ist inzwischen Bestseller-Autor. Seine Dokumentation hat die vierte Auflage<br />

erreicht.<br />

Dabei hatte es Bicudo zunächst schwer, einen Verleger zu finden. Denn die von ihm<br />

zusammengetragenen Dokumente bewiesen eindeutig, dass die Todesschwadronen mit Billigung<br />

der regierenden Militärs agieren. Erst die katholische Kirche von Sao Paulo wagte es, Bicudos Buch<br />

herauszugeben. Der Autor ist seither selbst Adressat von Drohbriefen der AAB. Über deren<br />

Zielgruppe sagt Bicudo: "Jeder, der Kritik äußert, ist für sie ein Kommunist." Die Gefangenen-<br />

Hilfsorganisation amnesty international verbuchte in den letzten zehn Jahren 3.000 Folterungen<br />

und Ermordungen auf das Konto der Todesschwadronen.<br />

Hinter der lebenslustigen Fassade von Zuckerhut, Copacabana-Strand und Samba-Shows<br />

hat sich in Brasilien eines der heimtückischsten Regime dieser Welt etabliert. Im Jahre 1964 hatten<br />

die Offiziere nach einem Putsch die Macht hin dem von Streiks und sozialen Unruhen<br />

erschütterten Land übernommen. Aus der einstigen Demokratie, flächenmäßig das fünftgrößte<br />

Land der Welt, wurde nun der Schrittmacher für die vornehmlich in den siebziger Jahren fast<br />

überall in Südamerika regierenden Militärs, in dem es mehr Gefängnisse <strong>als</strong> Spitäler gibt.<br />

Um sich von der Weltöffentlichkeit einen demokratischen Anstrich zu geben, schuf die<br />

Armee ein künstliches Parteiensystem. Fortan gab es <strong>als</strong> Regierungspartei die "Alianca Renovadora<br />

Nacional" (ARENA), ein williger Erfüllungsgehilfe des Gener<strong>als</strong>tabs. Die Rolle der Opposition<br />

sollte die "Movimento Democrático Brasileiro (MDB) spielen. Allerdings, die MDB hielt sich nicht<br />

an ihre Auflage, keine Wahlen zu gewinnen und immer in der Minderheit zu bleiben. Da mussten<br />

die amtierenden Generale nachhelfen. Beispiel: Als im Jahre 1974 die MDB bei den Senats- und<br />

Parlamentswahlen eine große Mehrheit bekam, schickte der Gener<strong>als</strong>-Präsident Ernesto Geisel<br />

292


(*1908+1996), Abkömmling eines aus Kronberg im Taunus kommenden protestantischen<br />

Missionars , so viele Oppositionspolitiker wieder nach Hause oder ins Gefängnis, bis die<br />

militärhörige ARENA-Partei die Mehrheit der Sitze hatte.<br />

Ernesto Geisel bediente sich dabei des Artikel 5 der neuen Verfassung. Dieser Artikel ist<br />

so etwas wie die Notbremse der Generale: Danach können einem Politiker Parlamentsmandat und<br />

bürgerliche Rechte bis zu 30 Jahren entzogen werden, wenn er unter dem Verdacht steht, Kontakte<br />

zu Kommunisten zu haben.<br />

Anfang April im Jahre 1977 schickte General Geisel den gesamten Kongress für<br />

unbestimmte Zeit nach Hause. Sein vorgeschobenes Argument: Er wolle die "Justizreform"<br />

verwirklichen, die vom Kongress mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt worden war. Tatsächlich<br />

will Diktator Geisel die für 1978 vorgesehenen Parlamentswahlen verhindern. Das amerikanische<br />

Meinungsforschungsinstitut Gallup sagte nämlich einen neuen Wahlsieg der Oppositionsparteien<br />

voraus.<br />

Zwar setzte Geisel den Kongress nach zwei Wochen wieder ein, doch in diesen Tagen<br />

veränderte der Präsident per Dekret das brasilianische Verfassungssystem fundamental. Erstm<strong>als</strong> in<br />

der 89jährigen Geschichte des Staates wird 1978 der Senat zu einem Drittel indirekt von einem so<br />

genannten „Kollegium“ gewählt, in das außer den jeweiligen Landtagsabgeordneten auch die<br />

Gemeinde-Parlamente ihre Delegierten entsenden. Durch diese Manipulation hat Ernesto Geisel<br />

seiner ARENA-Partei eine haushohe Mehrheit gesichert, da die ARENA natürlich im „Kollegium“<br />

die stärkste Gruppierung ist. Schon heute steht fest, dass von den 21 indirekt zu bestimmenden<br />

Senatoren 20 von der ARENA gestellt werden. Nur ein Senator darf der Oppositionspartei MDB<br />

angehören. Um auch bei den Direktwahlen keine neue Schlappe hinnehmen zu müssen, will<br />

Ernesto Geisel die Wahlbeteiligung, vor allem in den ländlichen Gebieten, wo die Opposition sehr<br />

stark war, herunterdrücken. Er verbot praktisch die Wahlpropanda in Funk und Fernsehen. Die<br />

Folge: Auf dem Lande ist die Bevölkerung vom Wahlkampf ausgeschaltet.<br />

In einem Land, in dem die staatsverordnete Opposition zur Fassade degradiert wurde,<br />

kommen auch die ruhig gestellten Gewerkschaften über ein Schattendasein nicht hinaus. Streiks<br />

sind im Brasilien der Generale verboten, obwohl 75 Prozent des 120-Millionen-Volkes am Rande<br />

der Hungergrenze leben. Die Inflationsrate kletterte im Jahre 1976 auf 46,3 Prozent. Die<br />

Gewerkschaften sind gleichgeschaltet. Lohnerhöhungen werden von oben dekretiert.<br />

Dafür ist für Geisels Minister der Staat ein Selbstbedienungsladen. Die „Elite des Landes“<br />

leistet sich drei Stadtwohnungen in Brasilia, Rio de Janeiro und Sao Paulo und natürlich eine Villa<br />

in der Provinz. Sie fährt mit Staatslimousinen zu großflächigen Golfplätzen, fliegt in Privat-Jets<br />

zum Einkaufen und tuckert auf Luxusjachten zu den Privatinseln. Arbeitsminister Prieto etwa<br />

beschäftigt in seinem Haushalt 28 Bedienstete, die der Staat bezahlt. Und der Gouverneur von<br />

Brasilia rechnete über die Staatskasse für einen Tag 17 Kilo Melonen, 23 Kilo Weintrauben, 21<br />

Kisten Pfirsiche, 16 Dutzend Bananen, 280 Liter Milch und 6.825 Brote <strong>als</strong> „Privatverbrauch“ ab.<br />

Für das Ausland wurde dieses "befriedete" Brasilien interessant. Allein aus Deutschland<br />

haben achthundert Firmen dort inzwischen Tochter-Unternehmen. Der Vorsitzende der Deutsch-<br />

Brasilianischen Handelskammer in Sao Paulo, Julius Zimmermann, ist voll des Lobes für die<br />

Generale: "Seit wir hier eine vernünftige Regierung haben. die für ruhige innenpolitische<br />

Verhältnisse sorgt, ist ein stabiles Klima für langfristige Investitionen entstanden." Nunmehr liefert<br />

die Bundesrepublik den Brasilianern acht Kernkraftwerke und macht damit ihr größtes<br />

Auslandsgeschäft.<br />

293


Nur die katholische Kirche haben die Generale nicht in den Griff bekommen. Der<br />

Wandel der Kirche setzte in den 60er Jahren ein. Der Klerus, täglich konfrontiert mit Massennot,<br />

begriff, dass es auch ein Leben vor dem Tod gibt, und nahm fortan immer stärker zu humanitären<br />

Problemen Stellung. Aus dem sozialen Engagement wurde mit dem Amtsantritt der Militärs ein<br />

politisches Engagement.<br />

Mittlerweile ist die katholische Kirche die einzige Opposition in Brasilien. Trotz aller<br />

Einschüchterungsversuche durch Mordkommandos, durch Folter auf Gefangenen-Inseln und trotz<br />

aller Militärauflagen - die Kirchenzeitungen unterliegen der Zensur, eine Radiostation der Kirche<br />

wurde geschlossen, kircheneigene Krankenhäuser und Schulen werden beschlagnahmt - klagen die<br />

Bischöfe und Priester immer wieder unerschrocken die Willkür der Generale an. Und nehmen<br />

dafür, wie Bischof Hypólito, Überfälle und Folter, Verhöre und lange Haftzeiten in Kauf. Viele<br />

Geistliche sitzen hinter Gittern und Stacheldraht.<br />

Zu den Mutigen gehört auch der Erzbischof von Sao Paulo, Paulo Kardinal Evaristo<br />

Arns. Der untersetzte Mann im maßgeschneiderten grauen Anzug, der am Revers ein kleines<br />

goldenes Kreuz wie ein Sportabzeichen trägt, hat nichts vom sakralen Habitus deutscher<br />

Oberhirten. Paulo Evaristo Arns ist so etwas wie ein Zehnkämpfer Gottes. Er kümmert sich um<br />

die Armen, um Arbeitslose, um Eingeborene, um die ungerechte Landverteilung zwischen<br />

Großgrundbesitzer und Kleinbauern, und er kümmert sich insbesondere um die Verteidigung der<br />

Menschenrechte gegen die Willkür der Generale. Sein unverbrüchliches Credo: Eine katholische<br />

Kirche könne nur dann nachhaltig den Armen das Evangelium vermitteln, wenn man ihr Freund<br />

ist. Deshalb unterstütze er bedingungslos die vom Vatikan über Jahrzehnte heftigst bekämpfte<br />

"Theologie der Befreiung". Sie hat er weniger <strong>als</strong> theoretische Lehre, sondern vielmehr <strong>als</strong> eine<br />

persönlich verpflichtende Haltung begriffen. So verkaufte Kardinal Arns etwa zu Beginn seiner<br />

Amtszeit (1966-1998) sein Bischofspalais und lies mit dem Erlös von 30 Millionen Euro<br />

Sozi<strong>als</strong>tationen im Elendsviertel bauen.<br />

Der Kardinal, dessen Vorfahren 1838 von der Mosel nach Brasilien kamen, gründete vor<br />

fünf Jahren die "Kommisson für Gerechtigkeit und Frieden". Außer Kirchenleuten gehören ihr<br />

regimekritische Anwälte, Journalisten, Professoren und sogar Staatsanwälte an. Der Autor des<br />

Buches über die Todesschwadronen, Bicudo, ist Kommissionsmitglied. Hauptsächliche Aufgabe<br />

dieser Gruppe ist die Verteidigung der politischen Gefangenen n Brasilien, gegenwärtig sind es<br />

5.000. An seiner Entschlossenheit, den Kampf um die Menschenrechte kompromisslos zu führen,<br />

lässt Arns keinen Zweifel: "Wenn in einem Land ein Gesetz gebrochen wird, dann werden alle<br />

gebrochen."<br />

In den jahrelangen Auseinandersetzungen mit dem Militärregime hat Kardinal Arns zwei<br />

merkwürdige Gesetzmäßigkeiten in der Technik und Methode der Unterdrückung entdeckt:<br />

• Die Militärs gliedern ihre Verhaftungswellen nach Berufssparten: Mal sind die<br />

Professoren dran, mal die Rechtsanwälte, mal Künstler, mal Journalisten.<br />

• Verhaftet wird mit Vorliebe am Freitagabend. Das verhindert Publizität in<br />

ausländischen Zeitungen.<br />

Es war auch ein Freitagabend, <strong>als</strong> der jüdische Fernsehjournalist Vladimir Herzog aus Sao<br />

Paulo von der Geheimdienstabteilung der Zweiten Armee abgeholt werden sollte. Herzog, der in<br />

dieser Nacht noch eine Kultursendung moderieren wollte, konnte einen Aufschub bis zum<br />

294


nächsten Morgen erreichen. Von seinen Kollegen verabschiedete er sich schließlich: "Ich gehe jetzt<br />

und werde wohl erfahren, was sie wollen. Ich habe nichts zu verbergen und nichts zu befürchten."<br />

Am Sonnabendmorgen um 8 Uhr 30 betrat er die Kaserne, am Sonnabendnachmittag um<br />

15 Uhr war er tot. Ein Journalist von der Zeitung "O Estado de Sao Paulo" hatte, <strong>als</strong> er unter<br />

Folter nach ihm bekannten Kommunisten befragt wurde, wahllos Namen aus dem Kollegenkreis<br />

genannt, um sich damit ein Ende der Schmerzen zu erkaufen. Herzogs Name war dabei gewesen.<br />

Als der Fernsehmann tot war, mühte sich das Militär, den Mord <strong>als</strong> Selbstmord<br />

darzustellen. Ein Armeefoto wurde veröffentlicht, das den Journalisten aufgeknüpft mit seiner<br />

Krawatte am Gitter der Zelle zeigte. Eine Obduktion der Leiche wurde allerdings nicht zugelassen.<br />

Die jüdische Gemeinde zögerte, Herzog auf dem jüdischen Zentralfriedhof von Sao Paulo<br />

ehrenvoll zu beerdigen. Daraufhin erklärte der katholische Kardinal Arns, er werde für den toten<br />

Journalisten die Messe lesen. Arns wusste, dass die Selbstmordversion nicht stimmte. Die Ärzte im<br />

Krankenhaus, in dem Herzog aufgebahrt worden war, hatten dem Kardinal genau die Folterspuren<br />

an der Leiche beschrieben.<br />

Außerdem hatte einer der Folterer geplaudert. Er erzählte einer Freundin, einer<br />

Prostituierten, Einzelheiten der Todestortur ("Wir sind besser <strong>als</strong> die Gestapo"). Die Dirne war<br />

erschüttert von dem, was sie da erfuhr. und informierte am nächsten Tag den Kardinal. Als Arns in<br />

seiner Kathedrale im Zentrum von Sao Paulo die Gedenkmesse für den Journalisten Vladimir<br />

Herzog vorbereitete, drohte Staatsgeneral Ernesto Geisel: "Bei Unruhen muss hart durchgegriffen<br />

werden."<br />

An einem Mittwochnachmittag um 15 Uhr sollte die Messe sein. Um 13 Uhr begann die<br />

Polizei die Zufahrtsstraßen zur Innenstadt Fahrzeugkontrollen vorzunehmen. Wagenpapiere<br />

wurden überprüft, Reifen und Beleuchtung kontrolliert. Der Einsatz hieß "Operation Gutenberg".<br />

In wenigen Minuten entstand in der nahezu Zehn-Millionen-Metropole ein solches Verkehrschaos,<br />

dass kein Fahrzeug mehr vorankommen konnte. Die Folge: Von den 30.000 Menschen, die sich<br />

aufgemacht hatten, um am Gottesdienst teilzunehmen, konnten nur 3.000 bis an die Kathedrale<br />

vordringen.<br />

Von der Kanzel herunter machte Arns die Messe zum Tribunal über die Generale: "Es ist<br />

ungesetzlich, bei Vernehmungen von Verdächtigen physische, psychologische oder moralische<br />

Folter anzuwenden. Vor allem, wenn sie soweit getrieben werden, dass Verstümmelungen oder gar<br />

der Tod die Folge sind. Die ihre Hände mit Blut beflecken, werden verdammt."<br />

Als die Messe beendet war, ermahnte der Kardinal seine Zuhörer, Ruhe zu bewahren.<br />

Zugleich gab er ihnen den Rat, nur in Gruppen den Heimweg anzutreten.<br />

Sao Paulo ist zum Zentrum der brasilianischen Opposition geworden. Im Mai 1977<br />

strömten aberm<strong>als</strong> 10.000 Studenten in die Innenstadt, um gegen die Verhaftung von<br />

Kommilitonen und Arbeitern zu protestieren. In einem offenen Brief forderten sie das Ende der<br />

Folterei, eine Generalamnestie und die Wiederherstellung der Demokratie. Die Regierung konterte<br />

mit einem Demonstations-Verbot. Justizminister Falcao : „Das Land braucht Ruhe und Stabilität,<br />

die durch extremistische Aktionen nicht gestört werden dürfen. Demonstrationen jeglicher Art sind<br />

im Grunde und ihrer Absicht nach subversiv.“<br />

In Wirklichkeit steckt Brasilien in einer tiefen Krise – Legitimations-Krise,<br />

Wirtschaftskrise: Die Ausland-Verschuldung hat eine Rekordhöhe von 70 Milliarden Mark<br />

erreicht, kostspielige Investitions-Programme mussten gestrichen werden, auf dem Finanzmarkt<br />

295


herrschen chaotische Spekulations-Verhältnisse. Allein im ersten Halbjahr 1977 ist der<br />

brasilianische Cruzeiro vier Mal abgewertet worden.<br />

Auf die Kritik weiß die Regierung Geisel nur eine Antwort: Repression. „Freiheit ist ein<br />

relativer Begriff. Alles ist relativ. Nur die Macht der Bürokraten ist absolut.“ (Journal do Brasil).<br />

296


URUGUAY: DAS KZ, DAS FREIHEIT HEIßT<br />

Wie im größten Konzentrationslager Südamerikas Menschen kaputtgemacht<br />

werden<br />

stern, Hamburg vom 7. April 1977 8<br />

Der Ausdruck Dorf wäre geschmeichelt. "Libertad", vierzig Kilometer von Uruguays<br />

Hauptstadt Montevideo entfernt, ist eine Ansammlung ärmlicher Krämerläden, schmieriger<br />

Tankstellen, verrotteter Reifenhandlungen und etlicher Kneipen. Die Straße 1, von Montevideo in<br />

die Hafenstadt Colonia del Sacramento, zerschneidet den Flecken. In seiner Trostlosigkeit gleicht<br />

"Libertad" Tausenden ähnlicher Ansiedlungen auf dem südamerikanischen Kontinent.<br />

Dennoch, "Libertad" - zu deutsch Freiheit - ist einmalig. Diese Exklusivität verdankt es<br />

einem auf Stelzen stehenden, fünf Stockwerke hohen, lang gestreckten Bau aus rotem Backstein. Er<br />

überragt das Kaff wie eine mittelalterliche Trutzburg. Der Koloss, in der Mitte unterteilt von einem<br />

Treppentrakt, ist das Hauptgebäude des größten Konzentrationslagers in Südamerika. In seinen<br />

500 Zellen und in sieben davor gelagerten Baracken sind zurzeit 1.342 politische Gefangene<br />

zusammengepfercht. Sie sitzen hier seit 1974. Die Militärs, die neuen Herren im Land, hatten<br />

dam<strong>als</strong> das einstige Resozialisierungszentrum für Kriminelle zu einem riesigen KZ für ihre<br />

gefangenen politischen Widersacher ausgebaut. Im günstigsten Fall wissen die Gefangenen nicht<br />

genau, wie lange sie noch sitzen werden. Sie wurden eingesperrt wegen Subversion - was immer das<br />

heißen mochte, oft nur ein zu viel gesprochenes Wort.<br />

Ihre vom Militärgericht zudiktierten Strafen sind dehnbar wie Kaugummi: sechs bis 18<br />

Jahre. Im günstigsten Fall wissen die Gefangenen exakt Bescheid: 30 Jahren Einzelhaft, daran<br />

anschließend weitere fünfzehn Jahre Sicherungsverwahrung. Diese Höchststrafe bekamen die<br />

militanten Vertreter der einstigen Tupamaro-Rebellen. Sie sind eingesperrt wegen Entführung,<br />

Bankraub, Mord. Doch die Gewalttäter sind die Ausnahme - die große Mehrheit der Gefangenen<br />

hat nicht mehr verbrochen <strong>als</strong> eine andere Meinung zu haben. Das Durchschnittsalter der Häftlinge<br />

liegt heute bei dreißig Jahren. Die Namensliste ist weitgehend identisch mit dem<br />

Immatrikulationsverzeichnis der Universität von Montevideo zu Beginn der siebziger Jahren.<br />

Auch das Lager heißt "Libertad". Schon die Nazis liebten den Zynismus. "Arbeit macht<br />

frei", schrieben sie über den Eingang von Auschwitz. Es ist nicht das Einzige, das uns an diesem<br />

Nachmittag an Auschwitz erinnern wird. Unser Wagen, ein klappriger Opel, den uns das<br />

uruguayische Außenministerium samt Fahrer und Dolmetscherin stellte, hat den Ortsausgang von<br />

"Libertad" erreicht und biegt langsam links in eine schmale Nebenstraße ein. Nach ein paar<br />

hundert Metern ein Feldweg, der Fahrer geht mit dem Tempo runter, die ersten beiden<br />

Wachtposten mit geschulterten Maschinenpistolen. Kurzer Blick, dann geben sie uns freie Fahrt -<br />

wir sind offiziell angemeldet. Schnurgerade geht's weiter. Wachtürme bauen ihre Silhouetten auf.<br />

Stacheldrahtverhaue und Gitterzäune zerschneiden die Dorfrandidylle aus Wiesen mit grasenden<br />

Kühen. Baracken buckeln sich. Wir erreichen den Haupteingang des Lagers. Kein Haupteingang<br />

eigentlich, eher eine Eingangsanlage: eine mehrfach gestaffelte Schleuse, wie sie an besonders<br />

gesicherten Grenzübergängen zu finden ist.<br />

8 Mit Peter Koch und Perry Kretz<br />

297


Vor der Menschenschleuse empfängt uns der Sicherheitschef des Lagers - gedrungene<br />

Gestalt in Khaki-Uniform, eine Tellermütze mit Offizierskordel auf pomadisiertem Haar,<br />

abweisende Augen unter buschigen Brauen und so sehr auf Sicherheit bedacht, dass er sogar seinen<br />

Namen geheim hält. Als erste Journalisten hat uns die Regierung erlaubt, das Camp "Libertad" zu<br />

besuchen. Die Machthaber in Uruguay wollen den immer lauter werdenden Anklagen<br />

entgegentreten, ihr Land habe ich zum Folterhaus Südamerikas entwickelt. Schon schlägt Uruguays<br />

schlechter Ruf direkt auf die Kasse durch: Die Amerikaner strichen die bisher gewährte Militärhilfe<br />

von drei Millionen Dollar. Das Land, an Fläche um ein Drittel kleiner <strong>als</strong> die Bundesrepublik, ist<br />

dünn besiedelt, es hat höchstens noch zwei Millionen Einwohner, weniger <strong>als</strong> Westberlin. Der<br />

gesamte Staatshaushalt liegt bei 400 Millionen, die Auslandsverschuldung beträgt aber schon jetzt<br />

1,2 Millionen Dollar.<br />

Da muss Vorsorge getroffen werden, dass das Beispiel der amerikanischen Regierung im<br />

eigenen Land nicht Schule macht und künftig auch noch Anleihen und Kredite aus den USA<br />

ausbleiben. Staatspräsident Aparîcio Mendez (*1904+1988, Präsident Uruguays von 1976-1981)<br />

und Innenminister General Hugo Linares Brum haben uns - nach einem Gespräch im<br />

Präsidentenpalast - dazu ausersehen, "Augenzeugen der tatsächlichen Verhältnisse" zu werden: uns<br />

vom physischen Wohlergehen der politischen Gefangenen zu überzeugen und die Unterlagen über<br />

deren medizinische Versorgung einzusehen.<br />

Der Lagerleitung ist unser Besuch nicht geheuer, daran ändert auch die Erlaubnis aus<br />

Montevideo nichts. Einzeln werden wir zur Durchsuchung in einen Nebenraum gebeten. Ein<br />

Soldat tastet uns sorgfältig ab. Unseren beiden Begleitern traut man noch weniger. Der Fahrer<br />

muss seine Hose ausziehen. Graciella, der Dolmetscherin, werden Kosmetika, Schuhabsätze,<br />

Bonbontüte und Ohrringe nach Strengstoff untersucht. Die Frau, immerhin Nichte des<br />

gegenwärtig amtierenden Vizepräsidenten und auf der Herfahrt unermüdliche Propagandistin des<br />

jetzigen Regimes, ist voller Einsicht: "Wir sind Uruguayer und deshalb besonders verdächtig." Wie<br />

in allen Diktaturen ist der gefährlichste Feind das eigene Volk.<br />

Lagerkommandant Jorge Olsina, ein Mittfünfziger, erwartet uns zum<br />

"Einweisungsvortrag" in seinem Büro. An der Wand hängt ein Bild des uruguayischen<br />

Nationalhelden Artigas, der 1814 die Uruguayer von der spanischen Herrschaft befreite. Auf dem<br />

Schreibtisch steht ein aus Karabinerpatronen gefertigter Pfeifenhalter. Gleich zu Beginn stellt der<br />

Oberst klar: "Hier gibt es keine Gefangenen." Es handelt sich vielmehr um "Insassen".<br />

Insassen in "Libertad" wird man nicht ohne weiteres. Der Oberst erzählt uns, dass eine<br />

gründliche Untersuchung durch zwei Militärärzte am Beginn der Aufnahmeprozedur stehe, ein<br />

gründliches Bad an ihrem Ende. "Für die medizinische Versorgung wird kein Aufwand gescheut."<br />

Ein inhaftierter Arzt, ein Militärarzt, ein Psychiater und ein Psychologe seien zur ständigen<br />

Betreuung eingesetzt. Sie haben viel zu tun. Osina greift ein Aktenbündel, das auf seinem<br />

Schreibtisch liegt, und liest vor: "Am 17. Januar 1977, 300 Fälle von Depressionen, 288 Fälle von<br />

Angstzuständen und Psychosen. In zwei Fällen drehten die Leute völlig durch."<br />

Während er aus einem Lederbeutel Tabakkrümel fingert und auf Zigarettenpapier verteilt,<br />

gibt er uns noch weiteren Einblick in den Zustand des Camps. Beruhigungstabletten seien die am<br />

häufigsten verwendeten Medikamente im Lager, sagt Solana, und er ist auf diesen Tatbestand so<br />

stolz wie ein statusbewusster Whiskytrinker, der Chinas Regal <strong>als</strong> Hausmarke angibt: "Nehmen wir<br />

einen x-beliebigen Tag, zum Beispiel den 24. Februar. Da geben wir 482 Valium aus. Am 28.<br />

Februar waren es sogar noch mehr, genau 500 Stück." Der Oberst hat eine Zigarette fertig gedreht<br />

und inhaliert genießerisch den ersten Zug. Die Perversion seiner Fürsorge ist ihm nicht bewusst.<br />

298


Der Einführungsvortrag ist beendet, wir dürfen ins Camp. Doch der Sicherheitschef, der<br />

uns am Lagereingang in Empfang genommen hatte und seither nicht mehr von unserer Seite<br />

gewichen ist, sorgt sich um das Geheimnis seiner ausbruchsicheren Festung. Er will kein einziges<br />

Foto erlauben. Nach kurzer Beratung gestattet der Lagerkommandant immerhin ein Bild. Es soll<br />

belegen, dass uns wirklich die Erlaubnis gegeben wurde, das Lager von innen zu besichtigen. Vom<br />

Bürokomplex der Lagerverwaltung sind es 300 Meter bis zum Hauptgebäude. Die Wachtürme<br />

schieben sich in den Vordergrund. Wir können Einzeleinheiten erkennen: Vier Mann stehen auf<br />

der Plattform, mit Feldstechern beobachten sie Gelände und Gefängnisfront, auf jedem Turm zwei<br />

Maschinengewehre.<br />

Wir erreichen das Hauptgebäude. Gitter werden ferngesteuert entriegelt und springen<br />

wieder ins Schloss, kaum, dass wir sie passiert haben. Schlüssel klappern. Beklemmung kriecht wie<br />

Nebel hoch. Die Besichtigungstour läuft wie die Szenenfolge in einem Gruselkabinett ab.<br />

Szene eins: Der Kommandant ist höflich, wir <strong>als</strong> seine Gäste haben Vortritt an der<br />

Gittertür. Sie gibt einen Gang frei, etwa zwei Meter breit, der wir die Kapitänsbrücke eines Schiffs<br />

hinausragt in eine tiefer liegende Halle, die Lagerküche. Auch dieser Gang ist durch Maschendraht<br />

abgegrenzt. Zum ersten Mal sehen wir die Lagerinsassen. Ihr Haar ist kurz geschoren. Ihre<br />

Gesichter sind wächsern. Sie tragen graue Arbeitsanzüge, manche auch Turnhosen mit T-Shirt. Alle<br />

haben sie auf Brusthöhe rechts eine Nummer, darunter einen Farbklecks und einen Buchstaben: A<br />

und B. Auf dem Rücken wieder eine Nummer. Die Männer, richtiger: Die Nummern stehen<br />

stramm. Manche, die ein Käppi tragen, reißen es vom Kopf. Mit Eintritt in das Lager haben sie die<br />

Identität ihres Namens verloren. Ihre Persönlichkeit verloren sie in den Monaten danach. Es<br />

herrscht Sprechverbot.<br />

In dem Gang, von dem wir auf die Küche sehen, stehen vier Bänke. Jede Bank teilen sich<br />

zwei Wachsoldaten, den Lauf ihrer Karabiner durch den Maschendraht auf die Männer gerichtet,<br />

Finger am Abzug. Neben sich Thermosflasche, Zigarettenschachtel und die kürbisartige<br />

Mateteeflasche mit dem Saugrohr. Ein Offizier gibt ein kurzes Kommando, die Gefangenen<br />

nehmen die Arbeit wieder auf. Nummer 1794 schiebt Brot in den Ofen. Nummer 517 und<br />

Nummer 491 schälen Karotten und werfen sie in einen steinernen Spültrog. Nummer 306 rückt<br />

seine dunkelrandige Brille zurecht. Nummer 130 kehrt mit einem langstieligen Besen den Boden,<br />

Nummer 898 formt Teig.<br />

Szene zwei: Im Fahrstuhl fahren wir in den fünften, den obersten Stock. Der<br />

Kommandant erklärt die Farbklekse und Buchstaben. Sie markieren die Unterbringung der<br />

Häftlinge. Schwarz ist erster Stock, Rot zweiter, Blau, Grün, Gelb die Folgenden. A ist dann die<br />

linke Flügelseite, B die rechte. Von oben blicken wir wie in einen riesigen Schacht. In der Mitte<br />

jedes Stockwerkes stehen Wärterhäuser, Panzerglas ermöglicht freien Rundblick. Aus dem<br />

Wärterhaus werden - teils mit Hebeln, teils mit Rädern - die Gitter geöffnet und geschlossen, die<br />

das Treppenhaus sichern. Galerieartige Gänge führen zu den Zellen. Je fünfzig auf jeder Flurhälfte.<br />

Auf den Galerien stehen Wachsoldaten.<br />

Von Galerie zu Galerie ist Maschendraht aufgespannt, einem riesigen Trampolin gleich.<br />

Ein Offizier erklärt: "Damit es keine Selbstmörder gibt." Es hat sie doch gegeben - ein Gefangener<br />

erhängte sich mit einem Strick aus seinem Bettlaken, andere sammelten 30 bis 40 Pillen, mit denen<br />

sie dann Selbstmord begingen. Manche schnitten sich mit Rasierklingen die Pulsadern auf, einer<br />

verbrannte sich mit seiner Matratze.<br />

299


Szene drei: Wir dürfen mit Gefangenen sprechen. Um den Verdacht auszuschalten, uns<br />

würden vorher instruierte Leute präsentiert, sollen wir eine Zelle wählen. Wir gehen auf die Galerie<br />

hinaus, vorbei an zwei offenstehenden Zellen. Die eine ist leer. Das sei das Behandlungszimmer.<br />

Ein Stuhl, ein Tisch, ein Schemel und ein Sinnspruch an der Wand: "te arrancaré los ojos y me los<br />

pondrés / me arrancaré los ojos y te los pondrés / asi yo te mirareré con tus ojos y te me mirarás<br />

con los míos." (ich werde mir die Augen ausreißen und sie dir einsetzen / so werde ich dich mit<br />

deinen Augen sehen, und du wirst mich mit meinen Augen sehen.")<br />

Die andere offene Zelle ist das Musikzentrum. Eine kleine Verstärkeranlage, ein Tisch mit<br />

Neonlampe. Nummer 135 legt eine Platte auf. Die Sechste von Beethoven, Pastorale. Im Flur<br />

scheppern vier Lautsprecher los. Ihre erbärmliche Qualität, dazu die Bahnhofshallen-Akustik der<br />

Gefängnisflure verzerren Wilhelm Furtwängler und die Wiener Philharmoniker zu<br />

Schießbudenlärm. Jeden Morgen und jeden Abend ist eine halbe Stunde Musik, auch zensierte<br />

Nachrichten werden verlesen, Nummer 135, eingesperrt auf unbekannte Zeit wegen Konspiration<br />

(Graciella sagt uns später, dass er einmal in Montevideo ein bekannter Discjockey war), hat ein<br />

bunt gemischtes Sortiment: West Side Story, Tschaikowsky, Beatles ("All You Need Is Love"). Am<br />

liebsten spiele er die Sechste, sagt er.<br />

Vor seiner Zellentür bleiben wir stehen. Sie wird aufgeschlossen. Es ist eine Zweierzelle,<br />

etwa acht Quadratmeter. Rechts zwei Feldbetten übereinander, links eine Tafel mit<br />

mathematischen Formeln, daneben an der Wand zwei Gitarren. Auf einem Bord zwei Brillen. Am<br />

Zellenende in Augenhöhe ein vergittertes Fenster. Nr. 827 und Nr. 1026 sitzen auf dem oberen<br />

Feldbett und spielen so etwas wie "Schiffe versenken". Bei unserem Eintritt springen sie auf den<br />

Boden runter und stehen stramm.<br />

Wir fragen sie nach Alter und Beruf. Der eine studierte Elektronik, der andere<br />

Mathematik. Sie sitzen seit drei Jahren, wie lange sie noch vor sich haben, wissen sie nicht.<br />

Subversion lautete die Anklage. Sie sind beide 28 Jahre alt, nicht verheiratet. Die Formeln auf der<br />

Tafel seien auch ein Spiel, sie hätten es sich selbst ausgedacht. Der Kommandant macht uns darauf<br />

aufmerksam, wie gut die beiden genährt seien. Es stimmt. Schon im Büro hat uns der<br />

Kommandant den nach genauen Ernährungswerten aufgestellten Speiseplan einsehen lassen. Für<br />

den 9. März las er sich so: "Reissuppe, 70 Gramm Knochen; Rostbraten, 220 Gramm;<br />

Reisbällchen, 45 Gramm."<br />

Die Augen der beiden ehemaligen Studenten sind glanzlos, gebrochen. Unsere Frage<br />

beantworten sie wie mechanisch. Es sind wohlgenährte Hülsen, Endprodukte des KZ-Alltags.<br />

Wecken ist morgens um sechs Uhr, die Gefangenen bekommen Kaffee. Bis zum späten<br />

Nachmittag dürfen sie sich weder hinlegen noch am Fenster stehen. Sie dürfen nur in der Zelle auf<br />

und ab gehen oder auf einer Bank sitzen. Zwischen den Gefangenen verschiedener Zellen gibt es<br />

keinerlei Kontakt. Keiner weiß den Namen des anderen, er hört nur seine Nummer. Auf den<br />

Korridoren, etwa beim Gang zur Gemeinschaftsdusche, dürfen sie nicht miteinander sprechen.<br />

Auch bei der Arbeit herrscht Redeverbot. Es gibt wenig ablenkende Arbeit. Nur für den<br />

Lagerbedarf werden die Häftlinge eingesetzt, zum Beispiel auf dem Feld oder in der Küche. Nach<br />

dem Mittagessen, um zwölf Uhr, ist für eine Dreiviertelstunde Hofgang. Die Gefangenen müssen,<br />

wie bei jedem Gang außerhalb der Zelle, die Hände auf dem Rücken tragen. Der Oberkörper ist<br />

dann vornübergebeugt. Manchmal während die Häftlinge Hofgang haben, üben die Soldaten<br />

Ausbruchsalarm. Auf ein Kommando hin müssen sich die Häftlinge auf den Boden werfen, Hände<br />

über den Kopf gefaltet - die Militärs feuern dann über ihren Köpfen Salven ab. Um neun Uhr gibt<br />

300


es Abendessen, um zehn Uhr Schlafenszeit. In vielen Nächten haben die Soldaten Schießtraining.<br />

Am nächsten Tag steigt der Valium-Konsum.<br />

Szene vier: Man werde uns einen Mörder zeigen, sagt der Sicherheitschef. Der sitze im<br />

zweiten Stock, der Etage der "Gefährlichen". Wir fahren runter. Hier haben die Zellen ein Extra.<br />

Im Oberlicht über der Zellentür ist eine Lampe eingebaut, die ständig -auch nachts - das Innere der<br />

Zelle anstrahlt. Eine der Türen wird entriegelt, der Sicherheitschef postiert sich im Türrahmen. Nr.<br />

704 nimmt Haltung an. Zu 30 Jahren Haft ist der Mann mit dem ernsten Gesicht verurteilt. Daran<br />

anschließend 15 Jahre Sicherungsverwahrung. Fünf Jahre davon hat er bisher abgesessen. Der<br />

Mann ist 33 Jahre alt, verheiratet. Wir fragen ihn, wie er sich bei dieser Zukunft fühlt. "Als ein<br />

Mann", sagt er, "<strong>als</strong> ein menschliches Wesen ...". Er unterbricht den Satz, sagt nur noch: "Nun<br />

physisch geht es mir gut."<br />

Wir wollen wissen, ob es stimmt, dass er - wie uns gesagt wurde - einen Kultusminister<br />

umgebracht habe. "Es stimmt", sagt der Mann, "ich habe einen Menschen getötet. Er war kein<br />

Kultusminister. Er war der Chef einer Hochschule. Und er war der Anführer einer<br />

Todesschwadron." Todesschwadronen, das sind Killer-Kommandos, deren Fußvolk sich aus<br />

dienstfreien Polizisten und Soldaten rekrutiert und die gegen geringes Honorar geheime<br />

Lynchjustiz üben. In Brasilien wurde das zuerst praktiziert, dort begannen vor Jahren die<br />

Feierabend-Mörder mit Jagd auf Kapitalverbrecher, später auch auf politische Gegner. Argentinien<br />

und Uruguay kopierten das brasilianische Modell (wie übrigens auch die Folter).<br />

Der Sicherheitschef bricht das Gespräch ab, schubst uns aus der Zelle. Nr. 704 sagt noch:<br />

"Es war kein geheimes Verbrechen, es war eine politische Tat." Hinter uns redet der<br />

Sicherheitschef mit gepresster Stimme erregt auf den Wachoffizier ein. Wir gehen die Treppe<br />

hinunter, erreichen durch mehrere Schleusen das Freie. Die Sonne ist untergegangen.<br />

Von unserem Standort aus, der nur eine Lagerhälfte überblicken lässt, zählen wir neun<br />

Wachtürme, die sich gegen den lilablauen Himmel abzeichnen. Eine Essenskarawane zieht an uns<br />

vorüber. Vorweg zwei Mann, die einen Suppenkessel tragen. Dann ein Einzelner mit einer hohen,<br />

zerbeulten Blechdose in beiden Händen, in ihr ist Vitaminsaft. Dann ein schwerer Karrer mit<br />

Essenströgen, zwei Mann stemmen sich in die Deichsel, vier schieben mit tief gebeugtem<br />

Oberkörper von hinten. Dann noch ein Karren, auf ihm stehen sechs Fässer mit Milch. Neben den<br />

Männern Soldaten mit Maschinengewehren und Knüppeln. Vorn bei den sieben Baracken stehen<br />

Wachposten mit Schäferhunden. Die Türen der Baracken sind geöffnet, an ihrer rechten<br />

Innenwand ist etwas erhöht ein vergitterter Käfig erkennbar, eine Eisenleiter mit vier Stufen führt<br />

hinauf. So ähnlich sahen einmal in manchen Tanzschuppen bei uns die Podeste der Go-Go-Girls<br />

aus. Hier steht in dem Käfig ein Soldat, die Maschinenpistole auf die 40 Baracken-Bewohner<br />

gerichtet. Wer in der Baracke lebt, sagt der Sicherheitschef, werde bald entlassen. Bald, fragen wir,<br />

wann? Na ja, vielleicht in zwei, drei Jahren.<br />

Krächzend sucht ein einzelner Vogel in der verlöschenden Dämmerung sein Nest. Grillen<br />

zirpen. Aus den Lautsprechern plärrt Tangomusik. Die Räder der schweren Karren quietschen,<br />

zermahlen den Sandboden. Die Kannen scheppern, Requiem auf die einstige Schweiz Südamerikas.<br />

- Uruguay.<br />

Bis Ende der sechziger Jahre war Uruguay die Musterdemokratie Südamerikas gewesen.<br />

Seine Bürger hatten die größten persönlichen Freiheitsrechte, die perfekteste Sozialversorgung<br />

(schon seit 1915 galten Acht-Stunden-Tag und 48-Stunden-Woche), ein unpolitisches Militär. Die<br />

301


Exportgüter des Landes - Fleisch, Wolle, Häute - bescherten Uruguay in beiden Weltkriegen und<br />

während des Koreakrieges ständig wachsenden Reichtum.<br />

Allerdings: Die herrschende Schicht Großgrundbesitzer kümmerte sich nicht darum,<br />

Industrie ins Land zu holen, um die wirtschaftliche Basis Uruguays zu verbreitern. Sie verpulverte<br />

lieber das Geld - etwa für den Bau einer Prachtavenue aus rosa Basalt in Montevideo, die locker<br />

den Gegenwert von vier Fabriken kostete - oder, was noch schlimmer war, sie deponierte ihr<br />

Kapital im Ausland.<br />

Der Zusammenbruch der Agrarpreise Ende der fünfziger Jahre des vergangenen<br />

Jahrhunderts und ständig steigende Preise für Importprodukte stürzten das Land in die Krise. Eine<br />

politische Linke bildete sich. Mit einem nationalistisch-sozialistischen Konzept wollte sie das Land<br />

retten: Vergesellschaftung von Boden und Fabriken, Zurückdämmung des Einflusses<br />

internationaler, insbesondere amerikanischer Konzerne. Zur linken Szene gehörten seit Mitte der<br />

sechziger Jahre auch die Tupamaros -Movimient de Liberación Nacional (Stadtguerilla) - allerdings<br />

nur eine Minderheit. Gegründet hatte sie der Jura-Student Raúl Sendic (*1925+1989), der sich <strong>als</strong><br />

Landarbeiter im Norden Uruguays verdingte und dort einen Hungermarsch der Zuckerrohrarbeiter<br />

nach Montevideo organisierte. Er wurde von 1972 bis 1985 - Rückkehr zur Demokratie -in<br />

Libertad interniert.<br />

In den ersten Jahren hatten die Tupamaros die Unterstützung der Bevölkerung. Ein<br />

Hauch von Robin Hood umgab sie. Sie überfielen Banken und verteilten das Geld an die Armen,<br />

fuhren mit Lastwagen voll Brot durch die Elendsquartiere. Sie kidnappten den Chef der<br />

Telefongesellschaft, der im Fernsehen die wirtschaftliche Not der Massen geleugnet und erklärt<br />

hatte, er komme mit 20 Dollar aus - zehn gingen für Miete ab, fünf für Verpflegung, fünf für<br />

Kleidung. Sie steckten ihn in eines ihrer "Volksgefängnisse", filmten ihn beim Reinigen seiner<br />

Zelle. Dann besetzten sie während der Vorstellung ein Kino in Montevideo und spulten ihren Film<br />

ab. Als Ton lief mit: "Wir zahlen ihm 20 Dollar. Davon behalten wir zehn für Miete, fünf für<br />

Verpflegung, fünf für Kleidung."<br />

Die Aktionen der Tupamaros und die Reaktionen der Regierung setzten eine<br />

verhängnisvolle Eskalation von Gewalt in Gang. Die Tupamaros verspielten ihren Kredit, <strong>als</strong> sie<br />

immer militanter wurden. Wahllos ermordeten sie Polizisten, die <strong>als</strong> Wachen vor Amtsgebäuden<br />

standen.<br />

Die Regierung rief im Jahre 1971 die Armee zu Hilfe. Innerhalb von drei Monaten<br />

konnten die Militärs die ganze Tupamaros-Bewegung ausheben. Einer der Tupa-Gründer, Héctor<br />

Amodio Perez, war mit sämtlichen Organisationsunterlagen übergelaufen. Die bürgerliche<br />

Regierung wurde die Geister nicht mehr los, die sie gerufen hatte. Die Armee blieb. Im Februar<br />

1973 putschte das Militär gegen den gewählten Präsidenten und erzwang die Aufnahme mehrerer<br />

Offiziere in die Regierung. Der Präsident, Juan Maria Bordaberry (1972-1976), durfte der besseren<br />

Auslandswirkung wegen im Amt bleiben. Die Militärs hatten Blut geleckt. Jetzt richteten sich ihre<br />

Aktionen gegen alle, die sich der Alleinherrschaft der Generale nicht unterwarfen. Die Offiziere<br />

erstickten jedes politische Leben. Nur eines schafften sie nicht: besser zu regieren. Inflation und<br />

Arbeitslosigkeit erreichten jedes Jahr im vergangenen siebziger Jahrzehnt neue Rekordhöhen.<br />

Vor der Fahrt nach Libertad besuchten wir Aparîco Mendez, seit September 1976 bis<br />

1981 von den Militärs <strong>als</strong> neuer Präsident eingesetzt. Mendez ist ein Mann von 72 Jahren. Er hat<br />

uns nicht viel zu sagen, weil er wenig zu sagen hat. Als er vor einigen Monaten in einem Interview<br />

mit der regierungsamtlichen Zeitung "la manana" etliche ausländische Staaten beschuldigten,<br />

302


Steigbügelhalter des Kommunismus zu sein, leugneten die ums Auslandsecho besorgten Militärs<br />

schlicht, dass dieses Interview stattgefunden habe. Die Zeitung musste ein Dementi drucken, das<br />

Tonband mit dem Gespräch half nichts. Immerhin, Mendez, einst Professor für Verwaltungsrecht,<br />

bewundert im Gespräch mit uns die Bundesrepublik: "Die deutsche Notstandsgesetzgebung ist in<br />

unseren Augen die fortschrittlichste der Welt. Wir haben einige Elemente daraus übernommen."<br />

Und: "Mir scheint, dass Deutschland das einzige Land der Welt ist, das heute gegen den<br />

Terrorismus und der Subversion das exakteste Konzept hat."<br />

Verbittert ist Präsident Mendez darüber, dass der amerikanische Präsident Jimmy Carter<br />

(1977-1981) die südamerikanischen Länder beschuldigt, ständig die Menschenrechte zu verletzen.<br />

Mendez hält Carter für das Opfer einer "billigen Propaganda". Heftig setzt er sich zur Wehr: "Die<br />

Anschuldigung, wir würden die Menschenrechte verletzten, wird von denen vorgebracht, die sie<br />

selbst verletzen." Und "Wer uns beschuldigt, dient der Subversion und dem Terror“. Mendez ist<br />

enttäuscht, dass die westlichen Demokratien nicht im Gegenteil bereit sind, von Uruguay zu lernen.<br />

"Wir hatten die Hoffnung", sagt er, "dass unsere Erfahrungen den anderen Völkern dienlich sein<br />

würden." In den Ordnungsvorstellungen des uruguayischen Präsidenten heiligt der Zweck die<br />

Mittel. Sein Denken, das Denken der herrschenden Clique enthüllt sich in dem Satz: "Freie Wahlen<br />

würden Südamerika dem Kommunismus ausliefern." Zum Abschied erklärt uns Mendez die<br />

Blumen und Bäume im Park seines Amtssitzes. Er sagt: "Wenn Sie so wollen, bin ich auch ein<br />

politischer Gefangener." - Sollte das ein Scherz sein?<br />

Das war mittags. Jetzt ist es zwanzig nach sieben, seit mehr <strong>als</strong> zwei Stunden sind wir im<br />

Lager Libertad. Das Licht flammt auf, riesige Halogenlampen zerren die Dunkelheit vom<br />

Gefängniskoloss. Der Kommandant hat noch ein Anliegen. Er möchte uns den Raum zeigen, wo<br />

die Gefangenen Besuch empfangen dürfen, zwei Mal im Monat, 45 Minuten. "Sie können sich<br />

diese Zeit einteilen wie sie wollen", sagt er, "etwa eine Minute für die Schwiegermutter und den<br />

Rest für die Frau." Der Kommandant lächelt. Vor uns der Besucherraum, unterteilt in fünf<br />

längliche Kabinen. Sie wirken wie abgeschnittene Zugabteil-Gänge älterer Bauart. Auf der einen<br />

Seite der Kabine sitzen die Gefangenen, auf der anderen die Besucher. Direkt miteinander reden<br />

aber können Gefangene und Besucher nicht, eine Glasscheibe trennt sie. Sie können nur über<br />

Telefone miteinander sprechen. Jedes Wort wird mitgeschnitten. Eine Wandschrift gleich neben<br />

einer Alarmglocke mahnt: "Sprechen Sie langsam, ohne zu schreien. Sonst gefährden Sie Ihren<br />

Besuch und den der anderen." Beim Auf-Wiedersehen-Sagen darf eine kleine Klappe in der Scheibe<br />

geöffnet werden - Gefangener und Besucher dürfen für Sekundenbruchteile einen Kuss<br />

austauschen.<br />

Nein, erklärt der Kommandant, Geistliche dürfen nicht nach Libertad. Zu Weihnachten<br />

allerdings könnten Gefangene und Angehörige ohne Trennscheibe für eine halbe Stunde<br />

zusammensitzen. Und wer von den Gefangenen Kinder habe, dürfe mit ihnen spielen. Auch ohne<br />

Trennscheibe. Der Kommandant hat uns vor die Tür begleitet, er zeigt nach links: Wippschaukeln,<br />

Rutschbahn und Sandkasten sind in einem Gittergeviert erkennbar. Die Zeit, die ein Gefangener<br />

mit seinen Kindern spiele, sagt der Kommandant, gehe allerdings von der Zeit ab, die er für das<br />

Gespräch mit seinen anderen Angehörigen habe. 45 Minuten, zwei Mal im Monat.<br />

Wir sagen auf Wiedersehen und werden wieder ausgeschleust. Gitter rucken, Schlösser<br />

rasseln, Türen schnappen. Jeder von uns Dreien hat automatisch mitgezählt. Acht Sperranlagen<br />

müsste ein Gefangener überwinden wollte er fliehen. Nimmt man seine Zellentür dazu, sind es<br />

neun. Früher waren noch auf dem Dach des Hauptgebäudes MG-Nester eingerichtet. Und die<br />

Gefangenen mussten auf der linken Seite in Herzhöhe einen weißen Stofffetzen tragen, vorn und<br />

303


auf dem Rücken. Beides ist inzwischen abgeschafft. Aber noch immer ist der Luftraum über<br />

Libertad im Umkreis von zehn Meilen Sperrgebiet. Ein verirrtes Sportflug-zeug wurde erst<br />

vierzehn Tage vor unserem Besuch durch MG-Feuer zur Landung gezwungen. Die Zahl der<br />

Soldaten wollte der Kommandant nicht nennen. "Genug, um die Sicherheit zu gewährleisten." Es<br />

ist inzwischen tiefe Nacht. Graciella, unsere Dolmetscherin, ist merkwürdig still geworden. "Die<br />

Gefangenen hatten so traurige Augen", sagt sie. Wir fahren an den letzten Posten vorbei. Die Läufe<br />

ihrer Maschinenpistolen zeigen auf uns.<br />

Postscriptum. – Im Jahre 1985 ist Uruguay nach zwölf Jahren Militärdiktatur zur<br />

Demokratie zurück-gekehrt. In diesem Zeitraum "verschwanden" 200 uruguayische Staatsbürger<br />

spurlos. Darunter befanden sich auch Kinder, die zusammen mit ihren Eltern verschleppt oder von<br />

entführten Frauen in geheimen Haftzentren geboren wurden. Zehntausende Menschen sind unter<br />

der Militärdiktatur gefoltert und misshandelt worden; nahezu jede dritte Familie des Landes hat ein<br />

Folteropfer zu beklagen. Zudem war einer von fünfzig Einwohnern mindestens zeitweise<br />

inhaftiert. Gemessen an der Einwohnerzahl (3,3 Millionen) galt Uruguay <strong>als</strong> der Staat mit den<br />

meisten politischen Gefangenen. Nur - auch Jahrzehnte nach der Horror-Herrschaft - eine<br />

systematische gerichtliche, intellektuelle, schonungslose Aufarbeitung jener<br />

Menschenrechtsverbrechen im Wechselspiel zwischen Ursache und Wirkung - die hat nicht<br />

stattgefunden.<br />

Von einigen kurzzeitigen Inhaftierungen abgesehen, wurde kein verantwortlicher Politiker<br />

oder Militär für Mord, Folterung, Verschleppung in jenen Schreckensjahren vor Gericht zur<br />

Verantwortung gezogen. Grundlage für die Straffreiheit war ein Gesetz aus dem Jahre 1986 "über<br />

die Hinfälligkeit des Strafanspruchs des Staates" nicht zur Verantwortung gezogen. Die sterblichen<br />

Überreste von insgesamt 25 Verschwundenen, die seit 1973 sterben mussten, sollen bereits schon<br />

im Jahre 1984 ausgegraben und daraufhin verbrannt worden sein. Die Asche sei in der Nähe eines<br />

Stadtrandviertels von Montevideo in den Rio de la Plata geschüttet worden. - Paradebeispiel,<br />

Spurenvernichtung, Vergangenheitsbewältigung in Uruguay.<br />

In Dorf Libertad, im Departement San José, 51 Kilometer von Montevideo entfernt,<br />

wurde gleichsam eine unscheinbare Kontinuität gewahrt. Aus dem einstigen KZ für politische<br />

Gefangene wurde ein Sicherheitstrakt für Schwerstverbrecher. Allein im Jahr 2002 erhöhte sich die<br />

Anzahl der Todesfälle innerhalb von fünf Monaten auf 14 Häftlinge. Nummer 13 wurde erhängt<br />

am Gefängnis-Fenster gefunden, Nummer vierzehn lag erstochen auf seiner Pritsche. Weitere vier<br />

Inhaftierte sind nach einer Revolte umgekommen. Sie protestierten gegen Überfüllung, gegen<br />

fortwährende Misshandlungen. Zerstörung in Libertad. Behörden schalteten daraufhin den Strom<br />

ab, stellten Wasser- und Nahrungsmittelversorgung der Gefangenen ein. Nach Berichten von<br />

amnesty international wurden in Libertad vier weitere Tote gesichtet. Dem zuständigen<br />

Innenminister Guillermo Stirling (1998-2004) zufolge hätten sie Selbstmord begangen oder seien<br />

umgekommen, <strong>als</strong> die Insassen "alte Rechnungen untereinander beglichen". Von den Medien<br />

befragt, verwechselte der Minister ein Gefängnis mit einem anderen. "Aber letztendlich", so befand<br />

er <strong>als</strong> Rechtfertigung sozusagen, "was soll's, ob alte oder auch moderne Sicherheitsgebäude tun<br />

nichts zur Sache, weil sich überall die Wärter nur noch in die Zelle trauen, wenn die Gefangenen<br />

gerade ihre Runden auf dem Hof drehen."<br />

304


1978<br />

Freiheit in Deutschland – Die Feinde der Verfassung<br />

Sowjetunion (1) Staatspräsident in Prag ist geisteskrank<br />

Sowjetunion (2) „Ich schäme mich, ein Psychiater zu sein“<br />

Sowjetunion (3) Leidensweg des Generalmajors Pjotr Grigorenko<br />

305


FREIHEIT IN DEUTSCHLAND - "DIE FEINDE DER<br />

VERFASSUNG"<br />

Im Ausland geschätzt, im Inland verhetzt: Der Schriftsteller und Nobelpreisträger<br />

Heinrich Böll (*1917+1985) befürchtet, dass in der Bundesrepublik "Freiheit und<br />

Demokratie" langsam im Namen von Freiheit und Demokratie" erstickt werden.<br />

Ungestraft darf Heinrich Böll <strong>als</strong> "geistiger Bombenwerfer" und <strong>als</strong> Sympathisant der<br />

Terroristen genannt werden. Der vom Radikalen-Erlass geweckte Ungeist vergiftet das<br />

ganze Land: Schüler bespitzeln ihre Lehrer, Bürger denunzieren ihre politischen Gegner<br />

von nebenan. Betriebe durchleuchten die politische Haltung ihrer Arbeiter. Und selbst<br />

Linke verpfeifen andere Linke.<br />

"Verfassungsfeind" - das ist Mitte der siebziger Jahre ein neuer Begriff, den kein<br />

deutsches Gesetz kennt oder unter Strafe stellt. Der Verfassungsschutz hat ihn erfunden<br />

und seit 1972 zum Bestandteil des deutschen Alltags gemacht: Millionen junger Leute<br />

wurden seither auf ihre politische Gesinnung überprüft; über viertausend blieben auf der<br />

Strecke. Sie wurden mit einer in der freien Welt einzigartigen Maßnahme belegt - dem<br />

Berufsverbot.<br />

stern , Hamburg - 27. Juli 1978<br />

Seinen Lebensweg hatte sich Fritz Güde einmal ganz anders vorgestellt. Er wollte ein<br />

passionierter Pauker sein, der seine Schüler erfolgreich zum Abitur führt und die Eltern von seinem<br />

pädagogischen Fähigkeiten überzeugt.<br />

Wenn um acht Uhr morgens im Lessing-Gymnasium in Karlsruhe die Schulglocke läutet,<br />

kann sich Studienrat Fritz Güde in der Wohnung gegenüber noch einmal umdrehen und eine<br />

Runde weiterschlafen. Denn seit vier Jahren hat der Lehrer für Deutsch, Geschichte und<br />

Gemeinschaftskunde - Berufsverbot. Der 42jährige Wohlbeleibte mit Stirnglatze und Kassenbrille<br />

kann sich damit trösten, dass es dem Namensgeber der Oberschule auch nicht viel besser ergangen<br />

ist: Gotthold Ephraim Lessing (*1729+1781), der in allen Schulbüchern gefeierte Dichter bekam<br />

1765 vom Preußenkönig Berufsverbot. Er durfte auf Anordnung des "Alten Fritz" wegen bissiger<br />

Äußerungen nicht mehr Bibliothekar in Berlin werden.<br />

Fritz Güde, der nach dem Studium vor 14 Jahren sein Elternhaus verlassen hatte, ist in<br />

sein Kinderzimmer zurückgekehrt. "Er ist selbstverständlich aufgenommen worden", sagt sein<br />

76jähriger Vater, der ehemalige Generalbundesanwalt und konservative Unions-Abgeordnete in<br />

Bonn Max Güde (*1902+1984). "Mein Sohn", erklärt der alte Güde dem Autor, "ist ein Idealist, ein<br />

Gerechtigkeitsfanatiker und Weltverbesserer. Natürlich ist er ein Linker, aber links zu sein ist nicht<br />

strafbar."<br />

Vater Güde ist aktiver Katholik, Sohn Fritz hielt mehr vom französischen Chanson "Je<br />

suis pour Mao, c'est ma nouvelle philosophie" (Ich bin für Mao, das ist meine neue Philosophie).<br />

1973 engagierte sich der Sohn im China orientierten Kommunistischen Bund Westdeutschland<br />

(KBW), einer militanten, aber unbedeutenden ultralinken Splittergruppe von heute vielleicht etwa<br />

2.500 Mitgliedern. Obwohl er im Januar 1975 aus der Mao-Partei wieder austrat und sich seither<br />

306


politisch nicht mehr rührt, reichten schon diese 15 Monate aus, ihm Berufsverbot zu erteilen. Aber<br />

anderes kam hinzu.<br />

Sein Sündenregister, so das Oberschulamt Freiburg: Als Mitglied der Gewerkschaft<br />

Erziehung und Wissenschaft (GEW) habe er sich 1972 (Güde war bereits zehn Jahre Beamter) für<br />

einen gefeuerten Kollegen eingesetzt. In einer von ihm verantworteten Dokumentation zu diesem<br />

Fall hätte er dienstliche Schreiben des Oberschulamtes Freiburg veröffentlicht. Im März 1973 sei er<br />

in Karlsruhe bei der Gründungsversammlung eines "Komitees gegen Berufsverbote" gesehen<br />

worden und solle von einer "politischen Entrechtung im öffentlichen Dienst" gesprochen haben.<br />

Im November 1973 habe Güde junior in der Karlsruher Innenstadt vor dem Haupteingang des<br />

Kaufhauses Schneider zwischen 16 und 17 Uhr mehrere Exemplare der "Kommunistischen<br />

Volkszeitung verkauft - und zwar die Nummer 6/73.<br />

1974 suspendierte das Stuttgarter Kultusministerium den Zeitungsverkäufer Güde. Drei<br />

Jahre später wurde der Studienrat durch das Verwaltungsgericht Karlsruhe endgültig aus dem<br />

Staatsdienst gefeuert. Der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof begründete <strong>als</strong> oberste<br />

Verwaltungsinstanz des Landes: Güde habe gegen die Dienst- und Treuepflicht des<br />

Landesbeamtengesetzes verstoßen. Außerdem hätte er die Verfassungsfeindlichkeit des KBW<br />

erkennen müssen. Güde ging in die Revision und konnte damit seinen Fall in der Schwebe halten;<br />

bis zur endgültigen Klärung bekommt Güde reduzierte Bezüge von rund 1.300 Mark brutto.<br />

Um diesen Richterspruch zu begreifen, reicht selbst der juristische Sachverstand des<br />

früheren Chefanklägers der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr aus. Max Güde: "Bestraft<br />

werden kann man nicht wegen einer vermuteten Gesinnung, sondern nur wegen einer durch<br />

Handlung bewiesenen Gesinnung." Schlimmer noch: Güde junior wurde für eine politische<br />

Überzeugung bestraft, die er schon zwei Jahre nicht mehr hatte.<br />

Aus dem Staatsdienst verbannt, machte sich Fritz Güde auf Stellensuche. Er schrieb<br />

Privatschulen an, telefonierte, sprach persönlich vor. Die Bilanz: 50 Bewerbungen, 50 Absagen. Es<br />

dauerte lange, ehe er herausbekam, wer dahintersteckte: Das Stuttgarter Kultusministerium. Ein<br />

Beispiel für die Macht des Amtsarms: Eine jesuitische Privatschule in St. Blasien, die es gewagt<br />

hatte, Güde ohne Rücksprache zu engagieren, musste ihn nach einer Woche wieder entlassen.<br />

Sonst hätte die Schule ihre Existenz aufs Spiel gesetzt: Den Jesuiten wären öffentliche Zuschüsse<br />

gestrichen und staatliche Anerkennung entzogen worden.<br />

So schreibt Güde weiter Bittbriefe um Anstellung und führt sonst "das Leben eines<br />

bürgerlichen Rentiers des 19. Jahrhunderts, das mich seelisch fertigmacht". Am liebsten würde<br />

Güde junior ins Ausland "emigrieren", doch Güde senior will den Fall bis vors<br />

Bundesverfassungsgericht treiben. Denn, so sagt der konservative CDU-Vater, „ich habe nichts in<br />

meinem Leben mehr gehasst <strong>als</strong> Gesinnungszwang. Ich habe mit niemanden gestritten wegen<br />

seiner Religion, wegen seiner politischen Anschauungen – ich habe diskutiert, den anderen aber<br />

niem<strong>als</strong> <strong>als</strong> Feind gesehen.“<br />

Applaus bekam Einzelkämpfer Max Güde nicht nur von links. Der Fernsehjournalist<br />

Franz Alt von "Report" Baden-Baden schrieb in einem couragierten Brief an seinen Parteichef<br />

Helmut Kohl (1973-1998): Der Radikalen-Erlass "erinnert mich fatal an eine entsprechende Praxis<br />

in Osteuropa. Dort sollen Christen nicht Lehrer werden dürfen ... ... Warum wird Fritz Güde der<br />

Weg zurück zur politischen Vernunft so schwergemacht?<br />

Aber Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn der Fall Güde nicht noch eine andere -<br />

altbekannte - Qualität hätte: links gefeuert, rechts geheuert.<br />

307


Dieselben Richter, die Fritz Güdes Rausschmiss damit begründeten, er hätte die<br />

verfassungsfeindlichen Ziele des KBW erkennen müssen, waren drei Monate vorher in einem<br />

anderen Fall ganz anderer Meinung gewesen.<br />

Dam<strong>als</strong> hatten die Juristen über einen NPD-Lehrer entschieden, der durch radikale<br />

Sprüche Aufsehen erregt hatte; den Oberstudienrat Günther Deckert, Bundesvorsitzende der<br />

NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten".<br />

Deckert, der für die NPD im Weinheimer Stadtrat sitzt, hatte auf einer Wahlveranstaltung<br />

seiner Partei in Frankfurt losgelegt, dass das "Herrenrassentum unter SPD- und CDU-Vorzeichen"<br />

ein neues Herrenrassen-Denken entwickelt hat – und er – ausgerechnet Deckert auf Begriffe wie<br />

"deutsches Vaterland" auf "Nigger" und "Gastarbeiter" verzichten müsse.<br />

Die Disziplinarkammer entschied: Der 37jährige Deckert kann weiter am Mannheimer<br />

Tulla-Gymnasium Englisch und Französisch unterrichten. Denn es sei nicht sicher, "ob die NPD<br />

überhaupt eine verfassungsfeindliche Ziele verfolgende Partei ist". Aus ihrem Programm gehe das -<br />

im Gegensatz zu denen linksextremer Gruppierungen - nicht hervor. Deckert selbst, so die Richter<br />

weiter, habe glaubhaft versichert, dass er die NPD für eine demokratische Partei halte. Deshalb sei<br />

ihm kein schuldhaftes Dienstvergehen vorzuwerfen.17 Jahre später bescheinigte dem Holocaust-<br />

Leugner Deckert das Mannheimer Landgericht gar, er sei eine „charakterstarke,<br />

verantwortungsbewusste Persönlichkeit mit klaren Grundsätzen. (…)“<br />

Ganz im Gegenteil: Deckert sei <strong>als</strong> „engagierter Lehrer“ bekannt, der „trotz straffer<br />

Führung der Klasse und Betonung des Leistungsprinzips bei Schülern und Eltern beliebt und bei<br />

den Kollegen geschätzt werde“. Auch dürfe nicht außer acht gelassen werden, dass „seine<br />

Dienstauffassung und sein dienstliches Verhalten völlig korrekt“ seien.<br />

Bemerkenswert an der rechtlichen Würdigung der Fälle Güde und Deckert ist, wer da so<br />

feine Unterschiede zu machen versteht: Der Vorsitzende Richter Dr. Helmut Fuchs ist "<strong>als</strong> Jurist<br />

ein sehr guter Mann" (so das Stuttgarter Justizministerium). Ein Mann, der freiwillig in die Waffen-<br />

SS eintrat, der kürzlich mit Billigung des Nazirichters Hans Filbinger (*1913+2007) zum<br />

Präsidenten des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofes in Mannheim avancierte.<br />

Freiheit Mitte der siebziger Jahre - nahezu drei Jahrzehnte nach Hitler-Deutschland - das<br />

ist immer noch die Freiheit alter Nazis, über mögliche Jugendsünden von heute zu richten,<br />

auszusperren, auszugrenzen - über die politische Gesinnung der ersten Nachkriegsgeneration, die<br />

politisch nicht vorbelastet ist. So verbauten der frühere Blut-und-Boden-Richter Edmund<br />

Chapeaurouge und der ehemalige SS- und Polizeiführer in der Ukraine <strong>als</strong> Richter am Berliner<br />

Bundesverwaltungsgericht der Junglehrerin Anne Lehnhart die berufliche Zukunft, nur weil sie<br />

Mitglied der DKP ist.<br />

Das Hamburger Nachrichten-Magagin Der Spiegel schrieb über die deutschen Richter:<br />

„Eine Justiz, die gerade noch fähig war, >Rassenschande< zu verfolgen und abzuteilen, hat<br />

zurückzuschrecken , hat aufzuwachen, wenn ihr schon wieder eine Minorität vorgeführt und<br />

behauptet wird, diese Personengruppe gefährde die ,<br />

so wie 1933 bis 1945 behauptet wurde, die Juden bedrohten das .“<br />

Freiheit im Jahre 1978 - das ist auch die Zwischenbilanz einer sechsjährigen<br />

Berufsverbotspraxis, die selbst im Mekka des Antikommunismus, in den USA, undenkbar ist. Über<br />

zwei Millionen junge Bundesbürger sind bisher von den Staatsorganen auf ihre Verfassungstreue<br />

308


hin durchleuchtet worden - bespitzelt, verhört und schikaniert. Über 4.000 Bewerber für den<br />

öffentlichen Dienst wurden von Ämtern und Gerichten mit Berufsverboten belegt. Die<br />

Dunkelziffer kennt man nicht, denn viele der Abgelehnten protestieren erst gar nicht, weil sie die<br />

10.000 Mark für mögliche Gerichts- und Anwaltskosten bis zur letzten Instanz nicht haben - kaum<br />

aufbringen können.<br />

Mit der Gesinnungsüberprüfung von jungen Leuten, die Lehrer beim Land, Lokführer bei<br />

der Bundesbahn, Fernmeldetechniker bei der Post, Friedhofsgärtner bei der Stadt oder Müllmänner<br />

bei der Gemeinde werden wollten, sind nach Schätzungen des SPD-Bundestagsabgeordneten<br />

Rudolf Schöfberger (1972-1994) bundesweit rund 10.000 Beamte beschäftigt. Für diesen Apparat<br />

liefern rund 20.000 Spitzel des Bundesamtes und der Landesämter für Verfassungsschutz sowie der<br />

Politischen Polizei Informationen.<br />

Das Modell I der Überprüfung, das harmlosere, wird in Hamburg und Bremen<br />

angewandt: Die Einstellungsbehörden fragen beim Landesamt für Verfassungsschutz nach, was<br />

über den Kandidaten an politischen Informationen vorliegt. Die Verfassungsschützer sieben das<br />

vorliegende Material und geben nur weiter, was ihnen relevant erscheint - etwa: ob der Bewerber<br />

Mitglied der DKP oder einer anderen roten Sekte ist.<br />

Modell II läuft im Rest der Republik: Die Landesämter für Verfassungsschutz übergeben<br />

den Einstellungsbehörden alles Material. Ein Beispiel für die Folgen solcher Praktiken: Der<br />

Münchner Student Franz Hubmayer wurde 1976 <strong>als</strong> Aushilfsbriefträger für die Semesterferien<br />

abgelehnt, nachdem der Verfassungsschutz mitgeteilt hatte, Hubmayer habe 1969 an einer<br />

Hausbesetzung teilgenommen.<br />

Weitere Erfolge: In Tübingen lehnte das Oberschulamt den Sportstudenten Josef Enenkel<br />

<strong>als</strong> Referendar für ein Gymnasium an. Begründung: Enenkel sei DKP-Mitglied. Als Beweis legten<br />

die Oberpädagogen Fotos vor, die den Sportstudenten beim Verkauf von Büchern der<br />

renommierten DDR-Schriftstellerin Anna Seghers (*1900+1983) zeigten.<br />

In Braunschweig feuerte die Bundeswehr ihren Koch Norbert Spröer. Der Militärische<br />

Abschirmdienst (MAD) hatte ermittelt, dass der Soldat in seiner frühen Jugend einmal Mitglied der<br />

DKPnahen "Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend" (SDAJ) gewesen war. Obwohl Spröer<br />

schon sieben Jahre in der Bundeswehr diente und es bis zum Stabsunteroffizier gebracht hatte,<br />

reichte die frühere Mitgliedschaft zur fristlosen Entlassung. Im Bundestag fragte der SPD-<br />

Abgeordnete Peter Conradi (1972-1998) die Bundesregierung, ob der "Bundeswehr-Koch seine die<br />

Sicherheit der Armee gefährdende Gesinnung dadurch ausgedrückt habe, dass er auffällig oft rote<br />

Grütze, Rotkohl oder rote Bete serviert hat?"<br />

In seiner Antwort dementierte Staatssekretär Andreas von Bülow (1976-1980) eine interne<br />

Anweisung der Wehrbereichsverwaltung II in Hannover nicht. Danach haben Personen, „deren<br />

Gesinnung und ideologisches Bewusstsein erwiesenermaßen anders geartet ist, in der Bundeswehr<br />

keinen Platz“. Im offiziellen Kündigungsschreiben an Norbert Spröer hieß es unter anderem<br />

folglich, er habe „in allgemeinen Gesprächen in Frühstückspausen anlässlich der Olympischen<br />

Spiele 1976 die Erfolge der DDR-Sportler auf eine im Vergleich zur Bundesrepublik wirksamere<br />

Jugend und Sportförderung zurückgeführt.“<br />

Im schleswig-holsteinischen Elmshorn praktizierten die Kultusbürokraten sogar schon<br />

Sippenhaft. Die parteilose 29jährige Lehrerin Jutta Kommnick sollte von der Re<strong>als</strong>chule fliegen,<br />

weil ihr Ehemann <strong>als</strong> Betriebsrat auf einer Liste der maoistischen KPD/ML kandidiert hatte. Zum<br />

Beweis ihrer eigenen "Anfälligkeit" wurde Jutta Kommnick vorgehalten, ihr Auto sei vor einem<br />

309


Fördehotel in Kiel-Friedrichsort gesichtet worden, in dem gerade eine Tagung der KPD/ML Rote<br />

Garde stattfand. Auch hätte die staatliche Observation ergeben, dass die Lehrerin an mehreren<br />

Sitzungen des KBW und sogar an einer Kundgebung für den von den Nazis im KZ liquidierten<br />

KPD-Chef Ernst Thälmann (*1886+1944) teilgenommen habe.<br />

In der rheinland-pfälzischen Gemeinde Annweiler blieb die 23jährige Angelika Boppel auf<br />

der Strecke. Sie hätte, so lautete der Vorwurf, "auf dem Schulhof des neusprachlichen Gymnasiums<br />

in Pirmasens die von einem 'sozialistischen Arbeitskreis' herausgegebene Schülerzeitschrift<br />

'Knüppel aus dem Sack' verteilt". Es half ihr nichts, dass sie die Anschuldigung widerlegen konnte.<br />

Als der Mainzer Verfassungsschützer Hugo Schröpfer den Irrtum endlich zugab, waren alle in<br />

Frage kommenden Posten besetzt.<br />

Verschärft wurden Überprüfung und Ausspähung linksverdächtiger junger Leute durch<br />

eine deutsche Erfindung besonderer Art: die sogenannte Anhörung.<br />

Da laden Beamte, häufig noch in Treue fest zu reaktionären Staatsvorstellungen aus<br />

Kaisers und Hitlers Zeiten, junge Leute vor und verhören sie wie früher die Inquisitoren der<br />

katholischen Kirche. Sie fragen auch nach allem, was sie nach dem Grundgesetz nichts angeht,<br />

etwa nach der Intimsphäre.<br />

Diese Erfindung ist so bürokratisch wie unnütz: Unerfahrene junge Leute lassen sich<br />

durch die Beamten-Fragen oft provozieren und werden für eine unbedachte Äußerung verfolgt;<br />

geschulte und getarnte Kommunisten, die es darauf anlegen, in den Staatsdienst zu kommen,<br />

spielen auf der Klaviatur der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO) und schlüpfen<br />

durchs Netz wie etwa der Kanzleramts-Spion Günter Guillaume (*1927+1995) bei der<br />

Sicherheitsüberprüfung, <strong>als</strong> er Sprüche des rechten SPD-Flügels klopfte.<br />

In den meisten Fällen kommt das unwürdige Frage-und-Antwort-Spiel nicht an die<br />

Öffentlichkeit. Denn über die Bewerber wird in der undurchsichtigen Grauzone der Bürokratie<br />

entschieden. Ist ein Kandidat erst einmal von einer Behörde <strong>als</strong> "Verfassungsfeind" gebrandmarkt,<br />

rufen viele erst gar nicht die Gerichte an, und wenn, wird es dem Betroffenen schwerfallen, die<br />

Richter vom Gegenteil zu überzeugen - schließlich hat er die Beweislast. Dieses Verfahren vom<br />

SPD-Bundesparteitag 1973 in Hannover gefordert, sollte eine individuelle, rechtsstaatliche<br />

Überprüfung sicherstellen. In der Praxis wurde aber damit die Entscheidungsbefugnis den<br />

Gerichten genommen und der Verwaltung zugeschustert.<br />

Ein Prüfungs-Profi ist der niedersächsische Ministerialrat Gottfried Jakob. Seit drei Jahren<br />

ist für den 43jährigen Spitzenbeamten jeder Dienstag ein FDGO-Tag. Jeweils vier Stunden lang<br />

verhört er einen Bewerber - Jakob nennt das "Interview". Nachmittags diktiert er seine bis zu 15<br />

Seiten langen Gutachten aufs Band. Die Aufregung über den Radikalen-Erlass kann er überhaupt<br />

nicht verstehen. Der hochgewachsene Brillenträger mit der kahlen Stirn und den Skeptikerfalten<br />

um Nase und Mund kümmert sich seit 1965 um Personaleinstellungen. Seit dem Radikalen-Erlass,<br />

meint er, sei alles rechtsstaatlicher geworden: "Früher bekamen die Bewerber ihre Ablehnung nur<br />

schriftlich mitgeteilt, heute werden sie noch einmal angehört." Jakob ist Chef der Zentralen<br />

Anhörkommission in Niedersachsen. Mit Hunderten von Radikalen hat er schon "die gesamte<br />

Palette verfassungsrechtlich relevanter Dinge" durchgenommen, "ganz persönlich und ganz<br />

individuell". Wenn Jakob von "persönlich" oder "individuell" spricht, meint er seine siebenköpfige<br />

Kommission, die dem Betroffenen gegenübersitzt und in der er nach seinem Routine-Raster fragt:<br />

"Würden Sie bitte Ihr Verhältnis zur DKP erläutern? –<br />

310


"Haben Sie einmal bei den Konventswahlen auf einer Liste Spartakus kandidiert?" –<br />

"Sind Sie Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft" –<br />

"Waren Sie Mitglied der sozialistischen Falken?" -"Haben Sie 1969 an einer DKP-Weihnachtsfeier<br />

teilgenommen? Und wenn ja, warum ... ...?"<br />

Die DKP ist eine rechtmäßige Partei, der Spartakus, ihre Studenten-Organisation. Die<br />

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ist eine der 16 Einzelgewerkschaften im DGB mit<br />

173.000 Mitgliedern. Die Falken sind eine SPD-nahe Jugendorganisation mit 150.000 Mitgliedern.<br />

Der Ministeriale Jakob und seine Kollegen stellen die gleichen Fragen wie ihre Vorgänger nach<br />

1932 - sie fragen nach der grundgesetzlich genehmigten Mitgliedschaft in Parteien oder Verbänden<br />

, die links von der CDU stehen.<br />

Beim Regierungspräsidenten in Köln, Dezernat 44, Zimmer 426, beantwortete die<br />

32jährige Lehrerin Irmgard Cipa bei der Anhörung Fragen von Regierungsdirektor Werner mit<br />

einem Passus aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts: "Das bloße Haben einer<br />

Überzeugung und die bloße Mitteilung, dass man sie habe, ist niem<strong>als</strong> eine Verletzung der<br />

Treuepflicht." Im Klartext: Sie lasse sich nicht über ihre einstigen Aktivitäten im Asta der<br />

Universität Bonn ausforschen. Regierungsdirektor Werner konterte: Er habe hier die "Gesinnung<br />

zu überprüfen" und nach "seinem pflichtgemäßen Ermessen alle hierzu erforderlichen Fragen zu<br />

stellen" - selbst nach Irmgard Cipas "erstem Geschlechtsverkehr, wenn ich dies für erforderlich<br />

halte".<br />

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Manfred Coppik (er trat 1982 aus der SPD aus), der <strong>als</strong><br />

Rechtsanwalt Frau Cipa begleitet hatte, beschwerte sich nach "dieser beschämenden Vernehmung"<br />

bei seinem Parteifreund, dem Düsseldorfer Kultusminister und Ostermarschierer Jürgen<br />

Girgensohn (*1924+2007). Der Minister in seiner Antwort: "Der Prüfungsbeamte ... ... erinnert<br />

sich nicht mehr an die hypothetische Frage nach dem ersten Geschlechtsverkehr." Dennoch: Frau<br />

Cipa habe die "Zweifel an ihrer Verfassungstreue" nicht ausräumen können. Sie ist arbeitslos.<br />

In Augsburg erklärte 1976 der Pädagoge Ilja Hausladen aus Fürth, der sich um eine Stelle<br />

<strong>als</strong> Volksschullehrer bemühte, seinen Vernehmern, warum er Antifaschist sei. Aus dem Protokoll<br />

seines Anwalts: "Mein Großvater kämpfte gegen die Nazis. Er war elf Jahre im<br />

Konzentrationslager Dachau interniert und starb kurz nach der Befreiung. Meine Großmutter<br />

gehörte ebenfalls zur Widerstandsbewegung und saß deshalb über sechs Jahre im KZ Ravensbrück.<br />

Mein Vater konnte noch rechtzeitig emigrieren, wurde später von der Gestapo in Frankreich<br />

gefangen genommen und inhaftiert."<br />

Oberregierungsrat Herzer <strong>als</strong> erster Vernehmer: "Das tut uns leid, was Ihrer Familie zugestoßen<br />

ist. Eine andere Frage ist, ob man Sie deswegen gleich Beamter werden lassen soll."<br />

Regierungsdirektor Krüger <strong>als</strong> zweiter Vernehmer: "Sie sagen, dass Sie ein Antifaschist sind -<br />

bekämpfen Sie aus dieser Überzeugung heraus die Ostblock-Staaten?"<br />

Hausladen: "Ich kenne den Faschismus aus der deutschen Geschichte und aus Erzählungen<br />

meiner Familie. Einen Faschismus wie im Dritten Reich kenne ich in den Ostblockländern nicht.<br />

Ich bin jedenfalls für gute Beziehungen zu allen Staaten. Dazu gehört auch die Nichteinmischung,<br />

zu der sich alle UN-Mitglieder verpflichtet haben."<br />

Regierungsdirektor Krüger: "Wie finden Sie den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in<br />

die CSSR?"<br />

311


Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schmitt-Lermann antwortet für Hausladen: "Das gehört überhaupt<br />

nicht zum Gesprächsgegenstand. Sonst müssten wir jetzt den Begriff der Intervention klären. Wir<br />

müssten die Interventionsrechte der Westmächte nach dem Deutschlandvertrag genauer<br />

anschauen. Wir müssten von Vietnam und den vielen anderen amerikanischen Interventionen<br />

reden. Wollen Sie das?"<br />

Oberregierungsrat Herzer: "Wenden wir uns einem anderen Thema zu. Wo sehen Sie die<br />

Kritikpunkte an der DDR?"<br />

Hausladen: "Es gibt bestimmt in jedem Land und an jedem System Punkte, die zu<br />

kritisieren sind. Ich habe mich aber mit den Gesetzen der DDR nicht beschäftigt, und ich kann nur<br />

Dinge kritisieren, über die ich mich eindeutig informiert habe.<br />

Regierungsdirektor Krüger: "Sie wissen ganz genau, worauf wir hinauswollen. Aber Sie wollen<br />

sich dumm stellen. Im ganzen Wahlkampf (Bundestagswahl 1976) war von der Bedrohung durch<br />

die kommunistische Gefahr die Rede. Aber da haben Sie offenbar immer weggehört."<br />

Oberregierungsrat Herzer: "Was verstehen Sie unter 'Diktatur des Proletariats'?"<br />

Hausladen: "Das ist für mich ein wissenschaftlicher Begriff, mit dem ich mich nicht<br />

beschäftigt habe."<br />

Oberregierungsrat Herzer: "Sie müssen doch etwas darüber aussagen können - der Begriff<br />

gibt noch viel her. Sie wollen doch Lehrer werden und müssen dazu was wissen."<br />

Hausladen: "Also dieser Begriff kommt vor allem bei Marx und Lenin vor, und zwar ... ".<br />

Oberregierungsrat Herzer: " ... ... da kommen wir der Sache schon näher. Frau Teichmann,<br />

schreiben Sie auf: Ich bejahe die Diktatur des Proletariats im Sinne von Marx und Lenin ..."<br />

Hausladen: "... ... nein, das habe ich überhaupt nicht gesagt. Wenn ich den Begriff Diktatur<br />

nehme, bin ich natürlich gegen jede Art von Diktatur, ob in Ost oder West."<br />

Oberregierungsrat Herzer: "Welche Gründe hatten Sie, mit Ihren Kindern in die DDR zu<br />

fahren?"<br />

Hausladen: "Eines meiner Bildungsziele, die ich in dieser Schülergruppe verfolgt habe, war<br />

die Erziehung des Einzelnen zur Gemeinschaft. Die Schüler dieser Gruppe kamen hauptsächlich<br />

aus kinderreichen und finanziell schwächeren Familien. Wenn man bedenkt, dass ein dreitägiger<br />

Aufenthalt in einer Jugendherberge ca. 50 Mark pro Kind kostet, nahmen wir natürlich einen<br />

dreiwöchigen Aufenthalt für 30 Mark (in der DDR) gerne an."<br />

Oberregierungsrat Herzer: "Wenn das nichts weiter gekostet hat, können Sie sich dann nicht<br />

vorstellen, dass die dabei einen Hintergedanken, zum Beispiel der Beeinflussung der Kinder, gehabt<br />

haben?"<br />

Hausladen: "Ich bin der Meinung, dass jeder Aufenthalt in einem anderen Land und jeder<br />

zwischenmenschliche Kontakt einen Einfluss auf Kinder und Erwachsene ausübt."<br />

Oberregierungsrat Herzer: "Glauben Sie nicht, dass da bei den Kindern Propaganda betrieben<br />

wurde?"<br />

Hausladen: Nein, davon habe ich nichts bemerkt. Da ich das Vertrauen der Eltern und<br />

damit die Verantwortung für die Kinder hatte, wäre ich bestimmt sofort abgereist, wenn dieser<br />

Aufenthalt für propagandistische Zwecke missbraucht worden wäre."<br />

312


Zwei Monate nach seiner FDGO-Vernehmung bekam Hausladen vom FDGO-<br />

Vernehmer Herzer schriftlich den Negativ-Bescheid (Geschäftsnummer 110.600/1). Dem<br />

Pädagogen, der nicht Mitglied der DKP ist, wurde die Reise mit Schülern in die DDR angelastet.<br />

Ferner hätte Hausladen in der "Roten Kinderzeitung" der DKP Nürnberg vom Februar 1974 "<strong>als</strong><br />

Kontaktperson für Interessenten von Wandertagen und für Musikinstrumente" gestanden. Die<br />

Schlussfolgerung: "Wenn die DKP in ihren Presseerzeugnissen Kontaktadressen angibt, so sucht<br />

sie sich hierfür mit Sicherheit nicht Personen aus, die ihren Zielen und ihrer Ideologie ablehnend<br />

gegenüberstehen." Radikalen-Erlass - Freiheit in Deutschland.<br />

Das Entstehen der Neuen Linken der 60er Jahre, die der Studentenführer Rudi Dutschke<br />

(*1940+1979) "zum Marsch durch die Institutionen" aufgerufen hatte, und die Neuorganisation der<br />

orthodoxen Kommunisten in der DKP 1968 waren der Auslöser für den Radikalen-Erlass. Mit<br />

dieser strikten Abgrenzungspolitik gegenüber Kommunisten wollten SPD-Kanzler Willy Brandt<br />

(1969-1974) und sein Fraktionschef Herbert Wehner (1969-1983) innenpolitischen Spielraum für<br />

die Ostpolitik gewinnen und sich von den Anwürfen der CDU/CSU befreien, insgesamt<br />

Volksfrontpolitik zu betreiben.<br />

FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher (1974-1985) plädierte für eine noch schärfere<br />

Gangart. Der liberale Genscher wollte entweder die DKP verbieten lassen oder den Radikalen-<br />

Erlass zum Grundgesetz-Artikel erheben. Der frühere Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau<br />

(*1911+1991) präzisierte: "Genscher wollte am liebsten das Härteste vom Harten gegen Radikale<br />

machen. Wenn er mit Fabrikanten gesprochen hatte, kam er immer daher und erzählte von den<br />

vielen Kommunisten in den Betrieben. Das war natürlich alles Quatsch und es dauerte lange, bis<br />

ich ihm das ausgeredet hatte." Nollau, der von Amts wegen den besten Überblick über die "linke<br />

Gefahr" hatte, sagt weiter: "Es gab auch keine Entwicklung, die ein systematisches Eindringen von<br />

Verfassungsfeinden in den öffentlichen Dienst anzeigte."<br />

Von früh an wurde mit f<strong>als</strong>chen Argumenten gearbeitet. Da hieß es zum einen, der<br />

Radikalen-Erlass sei eine rechtlich zwingende Notwendigkeit aufgrund der Verfassung. Dazu der<br />

Bonner Jura-Professor Gerald Grünwald: "Wenn es vom Grundgesetz geboten wäre, hätten wir bis<br />

1972 in einem permanent verfassungs-widrigen Zustand gelebt: denn bis dahin gab es keine<br />

systematische Überprüfungen." Da wurde außerdem, von allen Spitzenpolitikern argumentiert, der<br />

Radikalen-Erlass sei auch für die Rechtsextremisten geschaffen worden. Indes: Als der<br />

Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik erstarkte und die NPD ab 1966 mit Bundeswehr-<br />

Hauptleuten, Lehrern und Verwaltungsjuristen in die Landtage einzog, hatte in Bonn niemand nach<br />

einem Radikalen-Erlass gerufen.<br />

Das Bundesverfassungsgericht bestätigte mit einem Grundsatzurteil vom Mai 1975 die<br />

Rechtmäßigkeit des Radikalen-Erlasses. Der Versuch des Gerichts, einheitliche<br />

Beurteilungsmaßstäbe für Behörden und Verwaltungsgerichte aufzustellen, ging daneben:<br />

Verfassungsrichter Hirsch sieht den Richterspruch heute <strong>als</strong> ein Gummi-Bandurteil: "Jeder kann<br />

das rauslesen, was er meint." Im Spannungsfeld zwischen der Mitgliedschaft in einer<br />

verfassungsgemäßen, aber unerwünschten Partei und dem geforderten besondere, Treueverhältnis<br />

des Beamten zum Staat löste dieses Urteil die größte Rechtsverwirrung in der Nachkriegsgeschichte<br />

aus:<br />

• Der Mannheimer Verwaltungsgerichtshof lehnte die Einstellung des Tübinger<br />

Musiklehrers Harald Schwaderer ab, weil er Zweifel an dessen Verfassungstreue<br />

hatte. Der Pädagoge Schwaderer durfte den Eid auf die Verfassung nicht ablegen,<br />

313


obwohl er <strong>als</strong> DKP-Gemeinderat den Amtseid auf die Verfassung bereits<br />

geschworen hatte.<br />

• Dagegen ordnete der IV. Senat des Verwaltungsgerichts Mannheim die Einstellung<br />

des Lehrers Klaus Lipps, 36, aus Bühl an, weil die bloße Mitgliedschaft in der DKP<br />

keinen Grund für ein Berufsverbot darstelle.<br />

• Ebenso erlebte es Klaus Pilshofer, 26, aus Suzbach-Rosenberg in der Oberpfalz, der<br />

auf einer Wahlliste der Studentenvertretung der Universität Nürnberg-Erlangen<br />

zusammen mit Kommunisten kandidiert hatte. Die Richter des Verwaltungsgerichts<br />

in Augsburg meinten, Pilshofer sei nicht verpflichtet gewesen, sich von solchen<br />

Organisationen pauschal zu distanzieren.<br />

Der in die Öffentlichkeit drängende und durch viele Politik-Salons bekannte<br />

Hannoveraner Jura-Professor Hans-Peter Schneider hat in dieser Rechtsverwirrung den<br />

neuerlichen Trend erkannt, "dass die Oberinstanzen mehrheitlich zu einer konservativen<br />

Auslegung des Bundesverfassungsgerichtsurteils neigen, während die jüngeren Richter eher den<br />

Bewerbern recht geben". Das wiederholte er fortwährend bis hin zu den Kanzler-Sommerfesten im<br />

Palais Schaumburg zu Bonn - nur keiner wollte ihm so recht zuhören. Dabei ziehen sich die<br />

Verfahren um Berufsverbote oft Jahre hin. Die Betroffenen werden in ihrer Karriere, in ihrem<br />

Berufsziel oder auch in ihrem Berufswunsch um Jahre zurückgeworfen, selbst wenn sie schließlich<br />

vor Gericht obsiegen. Verlieren sie aber, droht ihnen nun sogar die Vernichtung ihrer bürgerlichen<br />

Existenz. Der Re<strong>als</strong>chullehrer Hans Schaefer, 35, aus Stuttgart war schon Beamter auf Probe, <strong>als</strong> er<br />

1975 wegen seiner DKP-Mitgliedschaft und einer DDR-Reise suspendiert wurde. Schaefer klagte.<br />

Jetzt fordert das Land Baden-Württemberg das gezahlte Gehalt während des dreijährigen<br />

Rechtsstreits zurück: 50,198,4o Mark.<br />

Der Ansbacher Verwaltungsrichter Siegfried Sporer, 49, kann sich zugute halten, mit dem<br />

1964. Urteil seiner Richterlaufbahn in die Geschichte der Berufsverbote <strong>als</strong> der deutsche McCathy<br />

einzugehen. Wie der amerikanische Kommunistenjäger machte auch Sporer nicht mehr die<br />

Loyalität des Einzelnen, sondern das "Risiko" einer möglichen Beeinflussung durch Kommunisten<br />

zum Maßstab der Ablehnung. In der mittelfränkischen US-Garnisonstadt Ansbach verwehrte<br />

Sporer dem Lehrer Heinrich Häberlein den Zugang zum öffentlichen Dienst. Dem 29jährigen<br />

parteilosen Häberlein bestätigte Richter Sporer nach einer sechsstündigen Verhandlung<br />

ausdrücklich: "Häberlein ist <strong>als</strong> Christ kein Verfassungsfeind."<br />

Warum darf Heinrich Häberlein, der in der evangelischen Jugendarbeit aufwuchs, den<br />

Wehrdienst aus christlich-pazifistischen Gründen verweigerte und dafür 18 Monate lang alte<br />

Menschen pflegte, sich im zweiten Bildungsweg vom Feinmechaniker zum Hochschul-Assistenten<br />

hochrackerte, warum <strong>als</strong>o dieser kritische Christ kein Volksschullehrer werden darf? Achelszucken<br />

vielerorts. Dafür ist allein seine Mitgliedschaft in der "Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte<br />

Kriegsdienstgegner" ausschlaggebend. In dem Dachverband aller westdeutschen<br />

Kriegsdienstverweigerer arbeiten - ob Häberlein will oder nicht - auch eine Handvoll<br />

Kommunisten mit. Richter Sporer verlangte von Häberlein ausdrücklich, eine "antikommunistische<br />

Einstellung". Nur so könne "der gefährliche Einfluss von Kommunisten auf die Tätigkeit im<br />

öffentlichen Dienst in Krisensituationen vermieden werden".<br />

Der Nutzen des Radikalen-Erlasses, den sich seine Befürworter von Brandt bis Sporer<br />

von ihm erhofft haben, ist nicht messbar. Keiner kann beurteilen, ob die 4.000 abgelehnten<br />

Beamten-Bewerber, wären sie tatsächlich in die Schulen, Rathäuser und Gerichte gekommen, eines<br />

314


Tages aus der westdeutschen Bundesrepublik die Volksrepublik Westdeutschland gemacht hätten.<br />

Keiner kann aber auch garantieren, dass jetzt der Staatsdienst immer gegen Extremisten ist.<br />

Die Erfahrung lehrt, dass überall dort, wo eine parlamentarische Demokratie durch ein<br />

totalitäres System abgelöst wurde, 80 Prozent der Beamten übergelaufen sind. Ein Klassiker ist die<br />

Weimarer Republik (1918-1933). Der Staat vom Weimar ist nicht an zu vielen Radikalen im<br />

öffentlichen Dienst gescheitert. Als Adolf Hilter die Macht übernahm, gab es nur wenige Nazis<br />

unter den Beamten. Selbst unter den Offizieren der Reichswehr waren nur wenige NSDAP-<br />

Anhänger. Weimar scheiterte an Radikalen, die von keinem Erlass erfasst wurden. Den deutschen<br />

Beamten, die in Massen zu den Nazis überliefen, um ihre Karriere nicht zu gefährden; und an der<br />

Bereitschaft von Honoratioren, die Demokratie zu verleugnen.<br />

Der Schaden der Überprüfungspraxis dagegen ist erkennbar, nicht zuletzt auch im<br />

Ausland. Der Name Silvia Gingold steht für eine jüdische Familie, die 1933 nach Frankreich<br />

emigrieren musste, in der französischen Résistance gegen die deutschen Besatzer kämpfte und nach<br />

dem Krieg in die Bundesrepublik zurückkam. Die inzwischen 32jährige Silvia engagierte sich auf<br />

der Seite, wo ihre Eltern Zeit ihres Lebens zu finden waren: bei den Kommunisten.<br />

Vier Jahre galt ihre Arbeit an der Steinwald-Schule im hessischen Neukirchen <strong>als</strong><br />

vorbildlich. Ein Versetzungsgesuch lehnte der Kasseler Regierungspräsident ab, weil Frau Gingold<br />

"mit ihren gewonnenen Erfahrungen der Modellschule auch weiterhin zur Verfügung stehen"<br />

sollte. Der Radikalen-Erlass machte die Versetzung dann doch möglich - auf die Straße. Hessische<br />

Verfassungsschützer hatten "Erkenntnisse in staatsabträglicher Hinsicht" gesammelt, die "Zweifel<br />

an Silvia Gingolds Verfassungstreue" aufwarfen: DKP-Mitglied, Teilnahme an einem Deutschland-<br />

Treffen in Ost-Berlin, Vietnam-Demonstration vor dem Frankfurter US-Konsulat und eine linke<br />

Rede <strong>als</strong> 16jährige in der Aula ihrer Schule.<br />

Während für den französischen Sozialistenführer François Mitterrand (*1916+1996) der<br />

Fall Gingold den Ausschlag gab, in Paris ein "Komitee gegen die Berufsverbote in der BRD" zu<br />

gründen, stieg in Würzburg über Nacht ein Mann zum Fernsehstar in Ost und West auf, der die<br />

amerikanischen und englischen Sender CBS und BBC vorher nicht einmal vom Hörensagen<br />

gekannt hatte: der Lokführer Rudi Röder von der Deutschen Bundesbahn. Nun kamen die<br />

Reporter sogar zu ihm nach Hause, und Vater Valentin und Sohn Rudi gaben Interviews um<br />

Interviews. Vater Valentin wurde 1933 aus der Reichsbahn gefeuert, den Sohn Rudi will die<br />

Bundesbahn seit 1976 loswerden. Beider Vergehen: Beide sind Kommunisten. Verkehrsminister<br />

Kurt Gescheidle (*1924+2003) : "Ein Beamter, der aktives Mitglied der DKP ist, fliegt raus. Das ist<br />

die Situation."<br />

"Westdeutschland leidet an einem leichten Anfall von Autoritarismus", formulierte die<br />

erzkonservative "Financial Times" vornehm. Das Schwesternblatt "Times": "Eine der<br />

zuverlässigsten anti-extremistischen Wählerschaften der Welt hat Politiker hervorgebracht, die<br />

ihren Bürgern nicht zutrauen, einer möglichen Unterwanderung durch eine Handvoll radikaler<br />

Lokomotivführer oder Lehrer zu widerstehen." Beide Zeitungen präsentieren ihren Lesern im<br />

Originalton einen neuen deutschen Begriff im internationalen Sprachgebrauch: nach "Ostpolitik"<br />

jetzt "Berufsverbot". Sie reihen sich nahtlos hinter „Kindergarten“, „Sauerkraut“, und „Blitzkrieg“<br />

ein.<br />

Aber auch im Inland wächst die Kritik. Alt-Bundespräsident Gustav Heinemann (1969-<br />

1974) schrieb kurz vor seinem Tod im Jahr 1975: „Es muss Alarm geschlagen werden, wenn<br />

radikale Kritik an der Verfassungswirklichkeit mit verfassungsfeindlichen Extremismus in einen<br />

315


Topf geworfen wird.“ Sein Nachfolger Walter Scheel (1974-1979) sieht inzwischen die Gefahr, "<br />

dass der Radikalen-Erlass zu rigoros gehandhabt wird".<br />

Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch (*1911+1991) fragte auf dem SPD-<br />

Bundesparteitag 1977 in Hamburg die Delegierten, was noch alles passieren müsse, damit „die<br />

Zukunft nicht der Angst gehört.“ Und der Berliner Theologie-Professor Helmut Gollwitzer (<br />

*1908+1993) glaubt gar, dass die Bundesrepublik „die Maulkorb-Insel Europas“ wird.<br />

Auch zwei renommierte Richter sind auf Distanz zum Radikalen-Urteil gegangen. Für die<br />

vom Land Bayern abgelehnte Juristin Charlotte Niess übernahm Walter Seuffert (*1907+1989) die<br />

Verteidigung gegen den Freistaat. Seuffert war Vorsitzender jenes Senats des<br />

Bundesverfassungsgerichts, der 1975 die Berufsverbotspraxis absegnete. Verfassungsrichter<br />

Helmut Simon "schämt sich, dass die Leuchtkraft der bundesdeutschen Verfassungsordnung durch<br />

eine Gesinnungsschnüffelei verdunkelt wird". Eine Ausweitung der Radikalenhatz ist indes nicht<br />

ausschlossen.<br />

Ungeachtet der Kritik aus dem In- und Ausland ist eine Ausweitung der Radikalenhatz<br />

nicht mehr ausgeschlossen. Unter dem Vorwand der Terrorismus-Bekämpfung nennt der CDU-<br />

Bundestagspräsident Karl Carstens (*1914+1992) in einem Drei-Punkte-Interview mit der Bild-<br />

Zeitung („Wie man den Terror bekämpfen kann“) die schlimmen Gewaltverbrechen à la Baader-<br />

Meinhof mit dem in einem Atemzug. CDU-<br />

Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg (*1928+2001 ) erklärt im Saarländischen Rundfunk:<br />

„Durch das Aufkommen militanter terroristischer Organisation gibt es für den Extremisten-<br />

Beschluss heute noch triftigere Gründe <strong>als</strong> dam<strong>als</strong>.“ Und Hessens Landeschef Alfred Dregger<br />

(*1920+2002) will aus dem “Radikalen-Erlass ein Radikalen-Gesetz“ machen, weil er „einen neuen<br />

Adolf Hitler verhindern will. Bayern Kultusminister Hans Mayer ( 1970-1986 ) erklärte sogar:<br />

„Unser Land hat nicht nur ein Recht auf treue Beamte, sondern auch auf treue Bürger.“<br />

Im Jahre 112 nach Christi Geburt ging es im Vergleich zur deutschen Bundesrepublik des<br />

Jahres 1978 ausgesprochen liberal zu. Dam<strong>als</strong> fragte Plinius der Jüngere, seines Zeichens Statthalter<br />

von Bithynien, seinen Kaiser Trajan, wie er sich bei der Verfolgung von Christen zu verhalten<br />

habe. Die Antwort des römischen Kaisers: „Man soll ihnen nicht nachspüren. Falls sie gemeldet<br />

und überführt werden, sind sie zu bestrafen. Anonym vorlegte Listen dürfen jedoch bei keiner<br />

Anklage Verwendung finden, denn dies ist von äußerst schlechtem Beispiel und unserer Zeit nicht<br />

würdig.“<br />

316


SOWJETUNION - STAATSPRÄSIDENT IN PRAG IST<br />

GEISTESKRANK (TEIL 1)<br />

Mitte der siebziger Jahre war Ludvik Svoboda (*1895+1979) Staatspräsident der<br />

CSSR. Für viele seiner Landsleute war Svoboda eine Vaterfigur, der letzte Repräsentant des<br />

Prager Frühlings aus dem Jahre 1968. Den Sowjets war er deshalb seit langem ein Dorn im<br />

Auge. Im Auftrag des Geheimdienstes KGB reiste der Moskauer Chefpsychiater Georgij<br />

Morosow nach Prag, um dort Ludvik Svoboda auf seinen "Geisteszustand" zu<br />

untersuchen. Aufgrund dieses "Gutachtens" wurde Svoboda drei Jahre vor Ablauf seiner<br />

Amtszeit im Jahre 1975 zum Rücktritt gezwungen.<br />

stern, Hamburg 27. April 1978 * 9<br />

Die Patienten fürchteten ihn, die jungen Ärzte erschreckte er mit seiner herrischen Art,<br />

und selbst die altgedienten Professoren wagten kaum, in seiner Gegenwart ihre Meinung zu sagen:<br />

Georgij Wassiljewitsch Morosow, 57, Direktor des "Serbskij-Instituts", ist ein machtsüchtiger<br />

Mensch. Seit 1957 leitet er diese höchste gerichts-psychiatrische Instanz in der Sowjetunion ganz<br />

im Sinne des Geheimdienstes KGB.<br />

Professor Morosow hat keine Freunde im "Serbskij", die meisten Kollegen haben sein<br />

Chefzimmer nie betreten. Weshalb Morosow ausgerechnet mich, Dr. Juri Novikov, ins Vertrauen<br />

zog, ist mir nie ganz klar geworden. Er machte mich 1975 zu seinem jüngsten Abteilungsleiter und<br />

sorgte dafür, dass ich zum Sekretär des mächtigen sowjetischen Psychiaterverbandes avancierte.<br />

An einem Januarmorgen 1977 ließ er mich zu sich rufen. Wie immer tat Morosow auch<br />

diesmal ganz geheimnisvoll: "Wir stehen vor einem der wichtigsten Kongresse der nächsten Jahre.<br />

Du musst mir helfen. Wir müssen den Kollegen in unseren sozialistischen Bruderländern erklären,<br />

wie sie sich gegenüber dem Westen zu verhalten haben. Bereite alles vor, morgen fahren wir nach<br />

Berlin."<br />

Ich wusste sofort, wovon Morosow sprach. Westliche Ärzte und die Presse in den USA,<br />

England sowie in der Bundesrepublik hatten unsere psychiatrischen Methoden heftig angegriffen.<br />

Besonders beunruhigt war Morosow, <strong>als</strong> in England ein Buch über die sowjetische Psycho-Politik<br />

von Sidney Bloch und Peter Reddaway angekündigt wurde. ("Dissidenten oder geisteskrank?<br />

Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion". Piper-Verlag, München 1978).<br />

Mein Chef befürchtete nicht zu Unrecht, dass die Sowjetunion auf dem Weltkongress für<br />

Psychiatrie im September 1977 in Honolulu wegen "Missbrauch der Psychiatrie für politische<br />

Zwecke" verurteilt werden würde. Außerdem schien uns nicht einmal sicher, ob wir uns in<br />

Honolulu auf die anderen Ostblock-Delegationen hundertprozentig verlassen könnten. Deshalb<br />

wollte Morosow, bevor es im Herbst in Honolulu losging, die Ostberliner Konferenz der<br />

führenden Ostblock-Psychiater dazu benutzen, seine Kollegen auf eine gemeinsame Linie<br />

festzulegen. Zwar stand die Tagung offiziell unter dem Generalthema "Vorbeugungsmaßnahmen<br />

gegen Alkoholismus und Drogenabhängigkeit". Doch intern war sie eine Generalprobe für<br />

Honolulu.<br />

9 Mit Erich Follath<br />

317


Meine Aufgabe war es, tagsüber im Tagungshotel "Newa" und abends im Hotel "Stadt<br />

Berlin" am Alexanderplatz die Meinungen und Standpunkte der Konferenzteilnehmer unauffällig<br />

zu erkunden. Jeden Abend, so gegen 21. 30 Uhr, musste ich Morosow Bericht erstatten. Mein Chef<br />

bestand darauf, dass ich zum Rapport nie in seinem Zimmer oder in einem anderen Raum des<br />

Ostberliner Diplomaten-Hotels erschien. "Hier sind überall Wanzen und Richtmikrofone<br />

installiert", sagte Morosow. "Unsere Genossen aus der DDR sind so perfekt, die hören jeden ab."<br />

Also trafen wir uns abends nach den Sitzungen vor dem Hotel, schlenderten durch die<br />

Ostberliner Innenstadt und diskutierten die Neuigkeiten. Die Situation war alles andere <strong>als</strong><br />

erfreulich. Die rumänischen Delegiertenwaren gar nicht erst nach Ostberlin gekommen, obwohl sie<br />

ihre Teilnahme zugesagt haben. Und die Kollegen aus Polen und Ungarn machten in Gesprächen<br />

unter vier Augen keinen Hehl aus ihrer Kritik an unserem System der Zwangseinweisung in die<br />

psychiatrischen Kliniken.<br />

Professor Morosow war außer sich. "Das wird persönliche Konsequenzen haben", sagte<br />

er und machte eine wegwerfende Handbewegung, so <strong>als</strong> wisse er schon ganz genau, wie die<br />

sozialistischen Bruderstaaten auf Vordermann zu bringen seien. Und in der Tat hatte Morosow die<br />

Mittel dazu, denn <strong>als</strong> "Serbskij"Chef ist er einflussreicher <strong>als</strong> mancher ranghohe Politiker und<br />

Diplomat der UdSSR. Der Versuch in Ostberlin, untergeordnete Kollegen zu beeinflussen, gehörte<br />

zu den Ausnahmen. Gewöhnlich schwebt er nur in höheren Regionen. Eine Einladung, in der<br />

sowjetischen Botschaft in Ostberlin einen Vortrag zu halten, ließ er einfach unbeantwortet. "Für<br />

wen halten die mich eigentlich? Wenn ich über Psychiatrie berichte, fange ich unter dem<br />

Zentralkomitee gar nicht erst an."<br />

Professor Morosow hat exzellente Verbindungen zu den mächtigsten Männern der<br />

Sowjetunion. Beim KGB-Chef Jurij Andropow geht er ein und aus. So wusste er schon Monate im<br />

voraus, dass sein Freund Konstantin Rusakow Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU werden<br />

würde. Auch hat Morosow ganz offenkundig das uneingeschränkte Vertrauen des Politbüros<br />

besessen. Denn er wird immer wieder für Auslandsaufträge mit der höchsten Geheimhaltungs-stufe<br />

herangezogen. In Ostberlin erzählte er mir, <strong>als</strong> wir wieder einmal abends unsere Runde machten,<br />

von einem besonders brisanten Auftrag.<br />

Ende 1974 war Morosow auf Befehl des Politbüros nach Prag gefahren. Er sollte den<br />

tschechoslowakischen Staatspräsidenten Ludvik Svoboda auf seinen Geisteszustand untersuchen.<br />

Svoboda, mit den höchsten sowjetischen Orden ausgezeichnet, war für die Prager Parteiführung<br />

und damit für Moskau zu einem Problemfall geworden. Der 79jährige Staatspräsident galt bei<br />

vielen Tschechen und Slowaken nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1968 in Prag <strong>als</strong><br />

die letzte verbliebene Symbolfigur ihrer nationalen Souveränität und damit des Prager Frühlings.<br />

Keine Frage, Morosows Gutachten fiel so aus, wie es die sowjetische Parteiführung<br />

erwartet hatte: "Stark fortschreitende Arteriosklerose mit Demenz-Erscheinungen" (Demenz =<br />

ausgeprägter Abbau von Intelligenz bei Greisen). Aufgrund dieses Gutachtens wurde Ludvik<br />

Svoboda gezwungen zurückzutreten, obwohl seine Amtszeit erst im Jahre 1978 abgelaufen wäre.<br />

Ich war betroffen, mit welchem Zynismus Morosow mir diese Geschichte erzählte.<br />

Wenige Minuten später, so <strong>als</strong> sei nichts gewesen, plauderte mein Chef schon wieder wie<br />

ein Tourist über das ostdeutsche Wirtschaftswunder. Er war beeindruckt, wie viele Waren in den<br />

Schaufenstern auslagen. Zwei Mal zog ich mit ihm los, um zwanzig Zimmermannstifte für seinen<br />

Werkzeugkasten und fünf bunte Emaillentöpfe einzukaufen. "So gut und billig bekomme ich diese<br />

Sachen in Moskau nicht, deshalb nehme ich gleich Vorrat mit", sagte er. Und etwas nachdenklich<br />

318


fügte er hinzu: "Den Krieg haben wir gewonnen, doch der Lebensstandard der Verlierer ist heute<br />

schon wieder viel höhe <strong>als</strong> bei uns. Na ja, wir Russen gewöhnen uns ja an alles."<br />

Auf unseren Spaziergängen durch Ostberlin fiel mir auf, wie interessiert Morosow<br />

Westautos nachschaute. Ich fragte ihn, ob er sich nicht auch einmal einen schnellen, modernen<br />

Wagen anschaffen wolle. "Für unsere Straßen ist der robuste Wolga doch viel besser", antwortete<br />

er ein bisschen unwirsch. Meine Frage war ihm wohl zu direkt.<br />

Skeptisch waren wir nach Ostberlin gekommen, unzufrieden verließen wir die DDR-<br />

Hauptstadt. Denn nur die Bulgaren und die DDR-Vertreter hatten sich uns gegenüber in<br />

gewohnter Weise devot verhalten, keinen Widerspruch gewagt. So lieferte uns der DDR-Professor<br />

Kurt Seidel eine Handvoll Adressen von Psychiatern in der Schweiz und in Österreich, von denen<br />

er glaubte, Professor Morosow könne das Abstimmungsverhalten dieser westlichen Kollegen in<br />

Honolulu noch positiv beeinflussen.<br />

Morosow wartete nicht lange und machte sich auf den Weg zu den Kollegen in Österreich<br />

und der Schweiz. Als er nach zehn Tagen heimkehrte, glaubte er gute Arbeit geleistet zu haben.<br />

"Für Honolulu ist alles noch offen", sagte er mir zuversichtlich. Er machte sich selber etwas vor,<br />

wie sich ein halbes Jahr später in Honolulu herausstellen sollte.<br />

Mich beauftragte Morosow dann, ihm für den Weltkongress eine Expertise über die<br />

Psychiatrie in den westlichen Ländern zu erarbeiten. Besonderen Wert legte er auf Informationen<br />

über die Bestimmungen für Zwangseinweisungen und über die gesetzlichen Voraussetzungen für<br />

die Begutachtung von vermeintlich geistesgestörten Patienten.<br />

Er hoffte, mit diesem Material bei den Diskussionen in Honolulu den Westen in die<br />

Defensive drängen zu können.<br />

Aus der westlichen Presse habe ich dann erfahren - ich hatte mich zwei Monate vor dem<br />

Beginn des Kongresses in Honolulu in den Westen abgesetzt -, wie die sowjetische Delegation<br />

meine Materialien ins Plenum einbrachte, um die berechtigten Attacken zu neutralisieren.<br />

Delegationssprecher Dr. Eduard Babajan beklagte in leidenschaftlichen Statements das mangelhafte<br />

Niveau der psychiatrischen Versorgung in der westlichen Welt.<br />

Doch Babajans Rhetorik brachte der sowjetischen Delegation nicht den erwünschten<br />

Erfolg. Der Weltkongress votierte für die amerikanische Resolution, in der "die missbräuchliche<br />

Anwendung psychiatrischen Wissens zum Zwecke der Unterdrückung abweichender Meinung"<br />

abgelehnt wird. Peinlicher war es für die Sowjetunion, dass dieser Antrag durchkam. Denn mit 90<br />

zu 88 Stimmen prangerte die Generalversammlung den Missbrauch der Psychiatrie in einem<br />

bestimmten Land an - in der UdSSR. Zum ersten Mal wurde damit Moskau vor der<br />

Weltöffentlichkeit verurteilt, die Psychiatrie gegen die Interessen der Menschen einzusetzen.<br />

Diese Grundsatzentscheidung hat im Westen viel zu wenig Beachtung gefunden. Die<br />

sowjetische Regierung nahm das Honolulu-Ergebnis immerhin so ernst, dass ihre großen<br />

Massenblätter nicht darüber berichten durften: Lediglich einige medizinische Fachzeitschriften<br />

lobten, ohne auf die Ergebnisse einzugehen, die "sachliche Atmosphäre auf dem Weltkongress".<br />

Und sie machten ihren Lesern weis, die sowjetische Delegation hätte in Honolulu den Versuch<br />

einer Wiederbelebung des Kalten Krieges erfolgreich abgewehrt.<br />

Natürlich werden die psychiatrischen Behandlungsmethoden und die sogenannten bunten<br />

Pillen (Psychopharmaka), wie sie in der Sowjetunion an der Tagesordnung sind, auch in den USA,<br />

der Bundesrepublik und allen anderen westlichen Ländern abgewandt und verabreicht. Nicht diese<br />

319


psychiatrischen Behandlungsmethoden sind verwerflich, sondern dass sie gegen gesunde Menschen<br />

angewandt werden, die den politischen Machthabern unbequem sind.<br />

Schlimmer noch <strong>als</strong> die Behandlungsart empfinden viele Regimekritiker in den Kliniken<br />

der Sowjetunion, dass sie über ihre Situation im Unklaren gelassen und damit systematisch<br />

verunsichert werden.<br />

Mit widersprüchlichen Informationen, die der Psychiater seinem Patienten ständig<br />

vermittelt, wird allmählich jede psychische Widerstandskraft gebrochen. Außerdem wechseln<br />

besonders geschulte Psychiater im Serbskiij-Institut häufig ihre Taktik. Mal zeigen sie Verständnis<br />

für die Situation des Dissidenten und bieten ihm sogar freundlich eine Zigarette an, und im<br />

nächsten Moment drohen sie unvermittelt mit der Einweisung in eine psychiatrische Sonderklinik.<br />

In der Wissenschaft gibt es für diese Interaktions-Technik einen Fachausdruck: Doublebind,<br />

die sogenannte Zweigleisigkeit. Diese "Double-bind" verhindert, dass der Patient<br />

Abwehrmechanismen entwickelt, die er braucht, um sich eine Überlebensstrategie aufzubauen. Er<br />

weiß einfach nicht mehr, wo er ist, wann er eingeliefert wurde, wann er Besuch bekommt und wie<br />

viel Mal er bereits dieselbe Frage beantwortet hat. Oft wissen die Patienten nicht einmal mehr, an<br />

welchen Tagen sie untersucht werden.<br />

Diese subtile Psychofolter ist genau so schrecklich wie die körperliche Misshandlungen, zu<br />

denen es - wie häufig auch in westlichen Anstalten - immer wieder kommt.<br />

All das geschieht unter Staatsaufsicht. Um in der UdSSR in eine psychiatrische Anstalt<br />

eingewiesen zu werden, genügt es schon, wenn Arbeitskollegen oder Nachbarn das Verhalten eines<br />

Bekannten ungewöhnlich vorkommt. Unter dem Vorwand einer sozialen Gefährdung der<br />

Gesellschaft kann jeder zur Untersuchung bestellt werden, der sich nicht "normgerecht" verhält.<br />

Und "normgerecht" heißt, nicht aus der Reihe tanzen und keine andere Meinung zu haben <strong>als</strong> die<br />

Partei, obwohl die sowjetische Verfassung jedem Bürger formal Meinungs- und Religionsfreiheit<br />

garantiert.<br />

Der zweite Weg, jemanden für seine Überzeugung in eine Nervenheilanstalt einzuliefern,<br />

führt direkt über das Gesetz. Wer Agitation und Propaganda gegen die Politik der KPdSU<br />

verbreitet, wird nach sowjetischem Recht (Artikel 70 bzw. 190/1) <strong>als</strong> Staatsfeind angeklagt und in<br />

vielen Fällen dann von Richtern oder Staatsanwälten zur Begutachtung seines Geisteszustandes den<br />

Psychiatern ausgeliefert.<br />

Ähnliche Rechtspraktiken bestehen in allen Ländern des Ostblocks. So genügt<br />

beispielsweise in der DDR der bloße Verdacht auf geistige Erkrankung zur Zwangs-einweisung in<br />

eine Klinik. Lediglich in Ungarn und in Polen sind die Bürger rechtlich vor derartigen Übergriffen<br />

der Staatsorgane geschützt. Dort reicht die Denunziation von Nachbarn nicht aus, um unliebsame<br />

Bürger in einer Anstalt verschwinden zu lassen.<br />

Der entscheidende Unterschied zwischen Ost und West bleibt, dass in der Sowjetunion<br />

jede oppositionelle Meinung ein Staatsverbrechen ist, und dass die Psychiatrie dazu missbraucht<br />

wird, den Widerstand politisch Andersdenkender zu brechen.<br />

Ich halte es deshalb für besonders bedenklich, ja sogar für gefährlich, wenn sich in der<br />

Bundesrepublik die Meinung durchsetzen sollte, die Terroristen hierzulande seien "psychiatrische<br />

Fälle", und man sollte sie, wenn sie verhaftet werden, einfach in eine Nervenheilanstalt einweisen,<br />

anstatt ihnen ordnungsgemäß den Prozess zu machen. Käme es eines Tages dazu, würde sich die<br />

Bundesrepublik in ihrer rechts-staatlichen Praxis kaum noch von der Sowjetunion unterscheiden.<br />

320


Doch ich kann mir im Ernst nicht vorstellen, dass sich meine deutschen Kollegen dafür<br />

hergeben würden. Die Probleme der Psychiatrie in der Bundesrepublik liegen auf einem ganz<br />

anderen Gebiet. Die medizinische Versorgung der etwa eine Million Menschen, die der<br />

psychiatrischen Behandlung bedürfen, hat viele Mängel. Für die ambulante Betreuung dieser<br />

Patienten stehen insgesamt nur elf psycho-therapeutische Polikliniken und nicht mehr <strong>als</strong> 3.000<br />

Fachärzte für Psychiatrie zur Verfügung. Auch die stationäre Versorgung in den Krankenhäusern<br />

ist dürftig. Auf 1.000 Einwohner kommen laut Statistik 1,6 Betten für psychisch Kranke (<br />

Schweden 3,5; Niederlande 2,9; Schweiz 2.7; Dänemark 2,3; Frankreich 2,3 Betten).<br />

Das sind wenig ermutigende Zahlen in einem technisch und sozial hoch entwickelten<br />

Land wie der Bundesrepublik. Doch von wirklich guten und engagierten Medizinern können diese<br />

schwierigen Zustände auch <strong>als</strong> eine Herausforderung empfunden werden. Ich jedenfalls bin froh,<br />

nach meiner Flucht hier in der Bundesrepublik eine neue Aufgabe <strong>als</strong> Arzt gefunden zu haben.<br />

321


SOWJETUNION - "ICH SCHÄME MICH, EIN PSYCHIATER<br />

ZU SEIN" (TEIL 2)<br />

stern, Hamburg 20. April 1978 10<br />

Für viele mag es wie eine Übertreibung klingen: Wo immer ich <strong>als</strong> Gerichtspsychiater<br />

hinkam, wo immer ich Patienten begutachtete, der KGB war schon da und wartete auf mich. Selbst<br />

am Ende der Welt.<br />

Die Provinzstadt Lesnoje liegt im Norden der Sowjetunion, fast zwei Tagesreisen mit dem<br />

Zug von Moskau entfernt. Im Dezember 1976 schickte mich das Moskauer "Serbskij-Institut" für<br />

Gerichtspsychiatrie in diese abgelegene Gegend. Ich hatte den Auftrag, die gerichtspsychiatrische<br />

Versorgung in diesem Landstrich zu überprüfen.<br />

Schon am ersten Abend in Lesnoje bekam ich unerwarteten Besuch im Hotel. Gegen 22<br />

Uhr - ich hatte mich gerade ins Bett gelegt -klopfte es an meine Tür. Vor mir stand ein etwa<br />

45jähriger Mann. Er grüßte knapp und ging mit einer Selbstverständlichkeit in mein Zimmer, <strong>als</strong><br />

seien wir verabredet. Ich hatte ihn nie gesehen. Aber mir war klar, warum er sich nicht auszuweisen<br />

brauchte: Schaftstiefel, weite graue Hose, drei Sterne am Revers, Tellermütze mit breitem blauen<br />

Band - er trug die Uniform eines KGB-Offiziers.<br />

In der Mitte meines Hotelzimmers blieb er stehen, drehte sich abrupt zu mir um und sagte<br />

ohne Um-schweife: "Genosse Novikov, Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie! Sie kommen<br />

vom "Serbskij-Institut", und Sie können uns helfen, ein Problem zu lösen."<br />

Ich erwiderte nichts und wartete ab. Der KGB-Offizier holte ein versilbertes Etui aus<br />

seiner Jackentasche, bot mir eine Zigarette an, nahm sich auch eine, zog den Rauch tief ein und<br />

kam dann zur Sache: "Unser Problem heißt Woronin. Der Mann wurde vor zwei Monaten wegen<br />

seiner paranoiden Reformideen in die psychiatrische Klinik von Lesnoje eingewiesen. Vom ersten<br />

Tag an hat er sich über alles beschwert und Patienten aufgehetzt. Sogar an das Zentralkomitee in<br />

Moskau hat er schon geschrieben. So einen gefährlichen Irren können wir hier nicht gebrauchen.<br />

Der darf nicht in einer normalen psychiatrischen Anstalt bleiben. Der muss in eine Sonderklinik<br />

eingewiesen werden. Dafür brauchen wir Ihr Gutachten."<br />

Der KGB-Mann sah mich prüfend an. Ich schwieg. Eine Spur ungeduldiger fügte er<br />

hinzu: "Sie verstehen doch, was ich meine?"<br />

Ich nickte. Denn ich wusste, ich hatte keine andere Wahl. Der Rest war Routine. Der<br />

KGB-Offizier gab mir die Zimmernummer Woronins und nannte mir die Uhrzeit für die<br />

Exploration: Raum 308, Abteilung G, morgen zwölf Uhr.<br />

Soviel ich auch überlegte, ich sah keine Möglichkeit, aus diesem Dilemma<br />

herauszukommen. Ich musste Igor Nikolaj Woronin untersuchen. Schon nach den ersten Minuten<br />

der Exploration war mir klar, dass dieser Mann kein Kranker war, sondern ein politischer Fall.<br />

Der 36jährige Facharbeiter gehörte einer kleinen Bürgerrechtsbewegung an und hatte mit<br />

seinen Freunden Flugblätter gegen die "neue Ausbeuterklasse in der Sowjetunion" verteilt. Nach<br />

Artikel 190/1, der die "systematische Verbreitung antisowjetischer Hetzschriften" unter<br />

10 Aufgezeichnet mit Erich Follath<br />

322


Androhung von Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr verbietet, war er verhaftet worden. In der<br />

Gerichtsverhandlung gegen ihn verlangten die Richter dann ein psychiatrisches Gutachten und<br />

schickten ihn wegen des Verdachts auf Schizophrenie in die psychiatrische Klinik.<br />

Ich konnte Woronin nicht gesundschreiben, weil ich wusste, was der KGB von mir<br />

erwartete. Ich sah nur eine Chance, mich persönlich aus der Sache herauszuhalten. Ich erklärte, der<br />

Fall sei medizinisch so schwerwiegend, dass der Patient auf jeden Fall im "Serbskij-Institut" in<br />

Moskau stationär behandelt werden müsse. Als ich von der Dienstreise heimgekehrt war, fertigte<br />

ich im Institut ein Zwischengutachten über Woronin an und überließ den Rest der Bürokratie. Ich<br />

sah Woronin nicht mehr wieder.<br />

Ganz wohl war mir bei dieser Sache nicht zumute, und ich mache mir auch keine<br />

Illusionen darüber, was mit dem politischen Gefangenen Woronin geschehen sein wird. Einer<br />

meiner Kollegen vom "Serbskij-Institut" wird ihn nachexploriert haben, zum selben Ergebnis<br />

gekommen sein wie ich - und dann dennoch dem KGB die Einlieferung des Mannes in eine<br />

psychiatrische Sonderklinik ermöglicht haben. Ich hatte Woronin nicht geholfen, sondern die<br />

Verantwortung nur weitergeschoben.<br />

Die Entscheidung von Lesnoje war nicht mein erster Gewissenskonflikt, Ausreden waren<br />

bald aus meinem Berufsleben nicht mehr wegzudenken. Oft schämte ich mich, ein Arzt zu sein.<br />

Denn meine Ohnmacht, auf den Inspektionsreisen selbst die ban<strong>als</strong>ten Unzulänglichkeiten zu<br />

beheben, wurde mir von Tag zu Tag bewusster. Fast alle Krankenhäuser waren total überbelegt,<br />

Medikamente fehlten überall, frisches Gemüse oder Fleisch waren oft über Monate nicht zu<br />

bekommen. Als mich in Lesnoje bei einem Inspektionsgang ein Kranker um Medizin anbettelte,<br />

weil er offensichtlich wusste, dass ich aus Moskau kam, wimmelte ich ihn mit einer Lüge ab: "Ich<br />

kann nichts für Sie tun. Ich bin von der Baukommission."<br />

Manchmal wünschte ich mir tatsächlich, ein einfacher Arbeiter in einer Brigade Mörtel zu<br />

mischen. Denn die Genossen Arbeiter können sich im Sowjetsystem weit-gehend aus der Politik<br />

heraushalten, und außerdem werden sie wirtschaftlich enorm bevorzugt. Für die westliche Welt ist<br />

es kaum vorstellbar, dass der Arzt in der UdSSR am untersten Ende der Lohnskala rangiert. Das<br />

durchschnittliche Monatseinkommen eines Mediziners beträgt 104,50 Rubel (313,50 Mark). Ein<br />

Bauarbeiter verdient dagegen 185 Rubel (555 Mark) und ein Seemann 226 Rubel (678 Mark).<br />

Gesellschaftliches Ansehen hängt auch in der Sowjetunion vom Geld ab;<br />

dementsprechend niedrig ist das soziale Prestige des Mediziners. Ich habe es oft erlebt, wie<br />

Facharbeiter, die zu einer obligatorischen Routine-Untersuchung geschickt wurden, ihre Ärzte<br />

verhöhnten. Mit Händen in den Hosentaschen standen sie vorm Doktor. "Wratschischka<br />

(Doktörchen), was willst du denn von mir? Mach schnell, ich habe nicht viel Zeit."<br />

Aus vielen Gesprächen mit Kollegen weiß ich, dass eine große Zahl von Ärzten über<br />

ihren gesellschaftlichen Status verbittert ist. Viele kommen auch mit ihrem Geld nicht aus. Die<br />

gekränkte Eitelkeit der Ärzte und ihre finanziellen Probleme sind die Hauptgründe dafür, dass es<br />

dem Innenministerium - und dem KGB - leicht gelingt, Psychiater für ihre Zwecke in den<br />

Sonderkliniken einzuspannen. In diesen zwölf Aufbewahrungsanstalten für psychisch Kranke<br />

werden hoffnungslose Fälle abgeschoben - auch die politischen.<br />

Wer sich bereit erklärt, in diesen Kliniken, die dem Innenministerium unterstehen, zu<br />

arbeiten, verdient ein Drittel mehr <strong>als</strong> die anderen Kollegen, hat 60 Tage Urlaub im Jahr und darf<br />

kostenlos alle sowjetischen Verkehrsmittel benutzen. Außerdem müssen die "Sonder-Psychiater"<br />

323


längst nicht so viel arbeiten wie die "normalen" Psychiater. Ihre Patienten sollen ja nicht mehr<br />

behandelt, sondern nur noch "ruhig-gestellt" werden.<br />

Der Preis für diese privilegierte Psychiater-Klasse: Die Ärzte in den Sonderkliniken<br />

müssen die Uniform des Innenministeriums tragen, und sie haben überhaupt keinen<br />

Entscheidungsspielraum mehr. Was im Innenministerium und im Hauptquartier des KGB<br />

beschlossen wird, muss von ihnen sofort vollstreckt werden. Mit diesem Zwei-Klassen-System wird<br />

jegliche Solidarität unter den Ärzten verhindert. Diskussionen über die Reformen werden im Keim<br />

erstickt.<br />

Obwohl mir in den letzten Jahren immer klarer wurde, dass auch ich <strong>als</strong> Arzt im "Serbskij-<br />

Institut" von Politikern missbraucht wurde, kam für mich eine Anstellung in einer Sonderklinik<br />

nicht in Frage. Diese Ärzte brechen meiner Meinung nach ihren Eid <strong>als</strong> Mediziner. Sie verraten<br />

ihren Beruf.<br />

Ich habe mich oft gefragt, ob das nicht jeder Psychiater tut. Denn eines zeigt die<br />

Geschichte der Psychiatrie: Dieser Zweig der Medizin ließ sich immer besonders gut für die<br />

Zwecke der Machthaber einspannen. Und das gilt nicht nur für die Sowjetunion und nicht nur für<br />

Diktaturen. Bis vor wenigen Jahren wurden in den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik<br />

Homosexuelle für krank erklärt und psychiatrisch behandelt. Die Theorie, dass Homosexualität<br />

eine Krankheit sei, wurde von Kirche und Gesellschaft auch im Westen zur Unterdrückung jener<br />

Menschen eingesetzt, deren Sexualität der gesellschaftlichen Norm nicht entspricht. In der UdSSR,<br />

wo die Strafbarkeit der Homosexualität nach der Oktoberrevolution abgeschafft wurde, griff die<br />

Partei 1934 auf die bürgerlichen Vorurteile von Moral und Sitte zurück - mit den strafrechtlichen<br />

Konsequenzen.<br />

Überall in der Welt steht der Psychiater in einer außergewöhnlichen Konfliktsituation:<br />

Einerseits will er dem Patienten, der sich ihm anvertraut hat, helfen, andererseits wird er von einer<br />

Institution bezahlt, die bestimmte Ergebnisse erwartet - beispielsweise von einer<br />

Gesundheitsbehörde, einer Gefängnisverwaltung oder einer Armee. So muss ein Militärpsychiater<br />

die Kampfkraft der Truppe im Auge behalten und dabei jene Soldaten aussortierten, die den<br />

militärischen Anforderungen nicht genügen. Es gehört wenig Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie<br />

dabei banale Disziplinarvergehen zu "seelischen Störungen" uminterpretiert werden können.<br />

Dieser Grundwiderspruch hat in der Sowjetunion eine besondere Variante: Die<br />

Psychiatrie wird zum System der politischen Unterdrückung - zur Strafmedizin. Viele Ärzte<br />

machen es sich einfach. Weil sie wissen, welche Ergebnisse die Partei bei "politischen Fällen" von<br />

ihnen erwartet, machen sie die psychiatrische Untersuchung zum Verhör. Bei ihren Fangfragen hat<br />

der Patient keine Chance.<br />

So schildert der Biologe Jewgenij Nikolajew in seinem heimlich angefertigten<br />

Gedächtnisprotokoll, wie er von meinem Kollegen Dr. Wladimir Dmitriewskij in der<br />

psychiatrischen Abteilung des Moskauer Kaschtschenko-Krankenhauses "behandelt" wurde.<br />

Auszüge aus der Vernehmung:<br />

Dmitriewskij: "Ich interessiere mich für Ihre Ansichten. Die Klinik, die Sie hier<br />

herschickte, hat mich von Ihren merkwürdigen Auffassungen über unsere Gesellschaft informiert."<br />

Nikolajew: "Was immer ich für Ansichten haben mag - das kann doch kein Grund für<br />

eine psychiatrische Untersuchung sein."<br />

Dmitriewskij: "Wenn das so wäre, wären Síe nicht hier."<br />

324


Nikolajew: "Sagen Sie mir doch einmal, wer mich überhaupt angezeigt hat. Sagen Sie mir,<br />

wem mein Verhalten unangenehm aufgefallen ist."<br />

Dmitriewskij: "Es hat keine Klagen über Ihr Benehmen gegeben. Nicht Ihr Verhalten ist<br />

sozial gefährlich, es sind Ihre Ansichten."<br />

Nikolajew: "Das kann ich nicht glauben. Was immer ich über diese Gesellschaft denke, sie<br />

wird sich nicht ändern. Wenn ich sie verdamme, wird sie nicht schlechter. Wenn ich sie lobe, wird<br />

sie nicht besser. Deshalb können meine Ansichten für diesen Staat gar nicht gefährlich sein."<br />

Dmitriewskij: "Und das ziehen Sie vor - die Gesellschaft zu loben oder sie zu<br />

verdammen?"<br />

Nikolajew: "Ich möchte gern bei meinem Prinzip bleiben, dass mich das nichts angeht."<br />

Dmitriewskij: "Diese Haltung gegenüber der Gesellschaft stellt eine soziale Gefahr dar. Sie<br />

waren doch schon drei Mal über längere Zeit in psychiatrischen Anstalten. Sie sollten unsere<br />

Staatsmaschinerie kennen. Wir alle sind bestimmten Organen unterstellt. Und wenn wir eine<br />

Direktive erhalten, so sind wir verpflichtet, sie zu befolgen. Alexander Solschenizyn (Der Archipel<br />

Gulag, 1974; *1918+2008)) wurde wegen seiner politischen Auffassungen ausgewiesen. Doch Sie<br />

sind nicht so bekannt wie er. Sie wird man in eine psychiatrische Klinik sperren."<br />

So geschah es. Nikolajew, dessen Gedächtnisprotokoll Freunde 1974 in den Westen<br />

schmuggelten, wurde in eine Sonderklinik eingeliefert. Keiner weiß, ob er noch lebt.<br />

Die Personen sind austauschbar, die Methode bleibt dieselbe - auch wenn es um die<br />

Verfolgung von Christen geht. Der Fall des Gennadij Schimanow ist für mich ein Paradebeispiel.<br />

Der Moskauer Lehrer wurde in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, weil er seine Nachbarn von<br />

der Existenz Jesus überzeugen wollte und deshalb von einem Spitzel beim KGB angeschwärzt<br />

worden war.<br />

Der Psychiater Dr. Schafran redete Schimanow bei der Exploration ins Gewissen: "Ein<br />

Mensch, der sich so fanatisch für seine Religion einsetzt wie Sie, muss krank sein. Vielleicht bleiben<br />

Sie dabei sogar innerhalb des gesetzlichen Rahmens, aber faktisch schaden Sie dem Staat, indem Sie<br />

verlorene Schafe in den Schoss der Kirche zurückführen wollen."<br />

Als Schimanow sich auf die sowjetische Verfassung berief, die jedem Bürger ausdrücklich<br />

Religionsfreiheit zusichert, wurde der Psychiater noch deutlicher: "Begreifen Sie denn nicht, dass<br />

sich der KGB den Teufel um die Gesetze schert? Sie werden vernichtet, unweigerlich. Sie sind<br />

nicht der Einzige, aber das wird Ihnen nur ein geringer Trost sein. Es betrübt mich mit anzusehen,<br />

wie Sie sich eine Märtyrer-Krone flechten."<br />

Schimanow kam glimpflich davon. Sein Fall wurde in allen Einzelheiten im Ausland<br />

bekannt, und nach einem dreiwöchigen Hungerstreik setzte man ihn aufgrund internationaler<br />

Proteste wieder auf freien Fuß.<br />

Wie sehr sich im Westen die Öffentlichkeit über solche Praktiken der sowjetischen<br />

Psychiatrie auch erregen mag, für den, der in der UdSSR aufgewachsen ist, erscheint dies alles<br />

normal, geradezu alltäglich. Widerstand gegen die Staatsgewalt und Zweifel an der Staatsideologie<br />

ist in den Sowjetrepubliken so etwas Undenkbares, dass viele Bürger in der Tat glauben, einer<br />

müsse geistesgestört sein, der auf dem Roten Platz in Moskau Flugblätter verteilt oder in Leningrad<br />

für die Bürgerrechte demonstriert.<br />

325


Zu tief sitzt obrigkeitsstaatliches Denken im Sowjetbürger. Es ist nicht nur die Angst vor<br />

dem Zugriff des KGB, der die Russen hindert, sich aufzulehnen, sondern viel häufiger ein durch<br />

ein durch Erziehung und durch Erfahrungen im Beruf geprägten Fatalismus, ja doch nichts ändern<br />

zu können.<br />

Und dennoch gibt es immer Menschen, die sich über all diese "Vernunftgründe"<br />

hinwegsetzen. Auch unter den sowjetischen Psychiatern sind einige couragierte Kollegen, die sich<br />

ohne Rücksicht auf ihre Person auflehnten und für ihre Überzeugung hohe Gefängnisstrafen in<br />

Kauf nahmen. Einer von ihnen ist der Kiewer Psychiater Dr. Semjon Guzman, 32,<br />

Seit über fünf Jahren sitzt Guzman im Straflager Nr. 35 nahe der Stadt Perm in den<br />

Bergen des Ural. Vor ihm liegen noch fast zwei Jahre Arbeitslager und weitere drei Jahre sibirische<br />

Verbannung. Ob er diese Jahre überstehen wird, ist mehr <strong>als</strong> zweifelhaft. Von Hungerstreiks<br />

geschwächt und von verschärften Haftbedingungen zermürbt, erlitt Glusman schon mehrere<br />

Herzattacken.<br />

Dabei hatte Glusman eine außergewöhnliche Karriere <strong>als</strong> Psychiater vor sich. Mit 23<br />

Jahren promovierte der Sohn eines jüdischen Medizin-Professors in Kiew. Auf den begabten<br />

Jungpsychiater wurde die Partei bald aufmerksam. Sie bot ihm eine Vertrauensstellung <strong>als</strong> leitender<br />

Arzt in der Sonderklinik von Dnjepropetrowsk an. Doch Glusman lehnte ab. Er hatte gehört, dass<br />

gerade in dieser Klinik viele politische Fälle <strong>als</strong> "Geisteskranke" festgehalten werden. Die Partei<br />

reagierte repressiv: Glusman fand in der Ukraine keine Stellung <strong>als</strong> Psychiater mehr und jobbte<br />

schließlich <strong>als</strong> Notarzt in einer Unfallklinik in Kiew.<br />

Im März 1972 durchsuchten KGB-Beamte sein Haus und stellten oppositionelle Schriften<br />

sicher, darunter ein vervielfältigtes Rohmanuskript von Solschenyzins "Krebsstation". Zwei<br />

Monate später wurde Glusman verhaftet. In einem Prozess, zu dem die Öffentlichkeit nicht<br />

zugelassen war, verurteilte ihn ein Gericht in Kiew zu sieben Jahren Arbeitslager und weiteren drei<br />

Jahren Verbannung - ein selbst für sowjetische Verhältnisse ungewöhnlich hartes Urteil.<br />

Der wahre Grund für die hohe Strafe war die Rache des KGB an dem Psychiater. Denn<br />

Glusman hatte es nicht nur gewagt, eine von der Partei angebotene Stelle abzulehnen, er hatte es<br />

sogar gewagt, ein dem KGB höchst wichtiges Gutachten des "Serbskij-Instituts" zu widerlegen.<br />

Semjon Glusman und zwei Psychiater, deren Namen er nie verriet, analysierten die<br />

widersprüchlichen Expertisen über den Geisteszustand des Sowjet-Gener<strong>als</strong> und Dissidenten Pjotr<br />

Grigorenko.<br />

Ärzte in Taschkent hatten Grigorenko für gesund erklärt, der "Serbskij"-Psychiater von<br />

der 4. Abteilung hingegen beharrte darauf, dass der Bürgerrechtler geisteskrank sei. Glusman<br />

schrieb in seiner Kollegen-Kritik, die er im Untergrund verteilen ließ: "Wir betrachten unser Papier<br />

nicht nur <strong>als</strong> einen Versuch, die Wahrheit im Fall Grigorenko wiederherzustellen, sondern auch <strong>als</strong><br />

professionellen Protest gegen das System. Psychiatrie ist ein Zweig der Medizin und nicht ein<br />

Zweig des Strafgesetzes. Die Praxis, politische Dissidenten unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu<br />

verurteilen und sie in psychiatrische Kliniken zu stecken, darf nicht fortgesetzt werden. Die Ärzte,<br />

die wissentlich so unmenschlich handeln, sollten nach den Normen des internationalen und des<br />

sowjetischen Gesetzes verfolgt und bestraft werden."<br />

Im Arbeitslager von Perm traf Semjon Glusman auf den Regimekritiker Wladimir<br />

Bukowski, der inzwischen in den Westen abgeschoben worden ist. Mich hat zutiefst beeindruckt,<br />

was Bukowski zusammen mit Glusman im Lager zustande brachte. Nachts, wenn die Wärter ihren<br />

letzten Rundgang beendet hatten, schrieben sie im Schein einer Gaslaterne auf Zeitungsschnipseln<br />

326


einen der seltsamsten Führer der Weltgeschichte: das "Psychiatrische Handbuch für den<br />

Dissidenten". In dieser Schrift, die bald darauf in den Westen gelangte, gaben Glusman und<br />

Bukowski Verhaltenstipps an all diejenigen, die in die gleiche Lage kommen wie sie selbst - die vor<br />

Psychiaterkommissionen Rede und Antwort stehen müssen.<br />

These 1: "Denken Sie daran, der Psychiater wird versuchen Sie einzukreisen, Sie<br />

einzuschüchtern, Aussagen von Ihnen zu erpressen und bei der Zusammenstellung Ihres Dossiers<br />

die Untersuchungsvorschriften gegen Sie auszuspielen. Besonders gefährlich ist dabei der<br />

Psychiater vom kleinbürgerlichen Typ. Seine Anpassungsfähigkeit ist extrem ausgeprägt. Wenn Sie<br />

über surrealistische Kunst sprechen, wird er Sie fragen: 'Können Pferde denn wirklich fliegen?' Bei<br />

der modernen Poesie wird er die Reime vermissen. Wir raten Ihnen, mit einem solchen Psychiater<br />

nicht über abstrakte Dinge wie Philosophie zu diskutieren. Versuchen Sie, sich seinem Niveau<br />

anzupassen. Bedenken Sie: Er hält Sie wirklich für geistesgestört, denn sein wichtigstes Argument<br />

ist: 'Sie hatten doch eine Wohnung, eine Familie, einen Beruf. Warum zum Teufel haben Sie das<br />

getan?' "<br />

These 2: "Denken Sie daran, Sie sind niem<strong>als</strong> in der Lage, der Kommission zu beweisen,<br />

dass Sie Opfer von Tricks und Provokationen geworden sind. Wenn Sie darauf bestehen, werden<br />

die Psychiater ihrer Diagnose noch hinzufügen: 'Leidet an Verfolgungswahn!' Versuchen Sie nicht,<br />

entsprechend Ihrer persönlichen Erfahrung zu argumentieren, sondern berufen Sie sich auf<br />

anerkannte Autoritäten und literarische Quellen. So vermeiden Sie, dass in Ihrem Gutachten der<br />

Begriff 'Überschätzung der eigenen Ideen' auftaucht."<br />

These 3: "Denken Sie daran, alles in Ihrem Leben war normal. Die Schwangerschaft Ihrer<br />

Mutter und Ihre Geburt sind planmäßig verlaufen. Sie haben rechtzeitig gelernt, sich aufzusetzen,<br />

zu gehen und Mama zu sagen. Sie haben niem<strong>als</strong> gern allein gespielt, waren nie Schlafwandler und<br />

sind so gern oder ungern zur Schule gegangen wie jeder andere. Sie haben sich für das andere<br />

Geschlecht in der Pubertät zu interessieren begonnen, und Ihre Sexualität hat auch später nicht den<br />

Rahmen des Anständigen gesprengt. Je normaler Ihr Leben und Ihre Herkunft erscheinen, desto<br />

schwieriger wird es Ihrem Psychiater fallen, Ihnen anormales Verhalten und frühzeitige Anzeichen<br />

von Geisteskrankheit zu unterstellen."<br />

These 4: "Denken Sie daran, Sie müssen die wahren Motive für Ihr oppositionelles<br />

Verhalten verschweigen. Am besten ist, Sie sagen: 'Ich wollte einfach berühmt werden.' - 'Ich habe<br />

nicht an so schwerwiegende Folgen gedacht.' - 'Ich habe nicht mitgekriegt, dass ich zu weit<br />

gegangen bin.' Diese Argumentation mag Ihnen unwürdig vorkommen, und sie ist sicher<br />

unerfreulich. Tatsache ist: Sie wird Sie bei Ihrem Psychiater ins beste Licht rücken."<br />

Ich habe noch nirgendwo eine so präzise und zutreffende Darstellung über die Denk- und<br />

Verhaltensweise der im Auftrage des KGB arbeitenden Psychiater gelesen wie in diesem<br />

"Handbuch". So nützlich diese Ratschläge auch sind. Bukowski und Grigorenko dämpften<br />

übertriebene Erwartungen: "Von dem Gewissen der Ärzte ist leider wenig zu erhoffen."<br />

327


SOWJETUNION - DER LEIDENSWEG DES<br />

GENERALMAJORS PJOTR GRIGORENKO (TEIL 3)<br />

stern, Hamburg 13. April 1978 11<br />

Dr. Jouri Novikov ist der führende Psychiater der Sowjetunion, dem die Flucht in den<br />

Westen gelang. Er erlebte jahrelang, wie seine Kollegen im Auftrage des KGB Bürgerrechtler in<br />

Irrenhäuser verbannten. Besonders infam behandelten KGB-Psychiater den früheren Generalmajor<br />

Pjotr Grigorenko.<br />

Andere rissen sich darum, mir waren sie ein Gräuel: die Überlandfahrten in die Provinz.<br />

Aber diese Inspektions-reisen zur Kontrolle psychiatrischer Kliniken gehörten zu meinen Pflichten<br />

<strong>als</strong> Abteilungsleiter im "Serbskij"-Institut, der obersten Instanz für Gerichtspsychiatrie in der<br />

Sowjetunion. Meine Stippvisiten liefen fast immer nach demselben Schema ab. Begrüßung durch<br />

das örtliche Partei-Komitee am Bahnhof. Abendessen mit dem Anstaltsleiter im Hotel, meist floss<br />

der Wodka reichlich. Am nächsten Morgen Rundgang durch die Anstalt - altvertraute Bilder,<br />

immer dieselben Klagen: zu viele Patienten, zu wenig Betten, fehlende Medikamente. Für die<br />

Inspektion des "Kollegen aus Moskau", wie sie mich nannten, war nicht einmal der Flur geschrubbt,<br />

geschweige die Toilette gereinigt worden.<br />

Ich schrieb seitenlange Berichte, prangerte die Missstände an, machte konkrete<br />

Vorschläge für das Gesundheitsministerium. Professor Georgij Wassiljewitsch Morosow, Direktor<br />

des "Serbskij"-Instituts, sprach mich einmal auf diese Berichte an: "Jouri, du kannst ruhig ein paar<br />

Seiten weglassen. Die Russen gewöhnen sich an alles. Die da draußen an ihren Notstand, die im<br />

Ministerium an die Beschwerden." Auch ich stumpfte ab. Ich musste es <strong>als</strong> unumstößliche<br />

Tatsache hinnehmen: Je weiter die Klinik von Moskau entfernt war, desto katastrophaler war die<br />

medizinische Versorgung. Daran änderten auch die Fünf-Jahres-Pläne des Ministerrats nichts, die<br />

der Medizin Vorrang einräumten und die Bettenzahl in allen psychiatrischen Krankenhäusern in<br />

den letzten fünfzehn Jahren von 220.000 auf das Doppelte erhöhen sollten.<br />

Das Geld aus Moskau versickerte auf dem Weg in die Provinz. Für die örtlichen<br />

Parteikomitees gab es immer etwas, was noch dringender war. Auf der Strecke blieben die<br />

Krankenhaus-Neubauten. So zum Beispiel in der Provinzstadt Karkaralinsk in Kasachstan, wo in<br />

einer feierlichen Zeremonie 1975 zwar der Grundstein gelegt wurde, wo aber bis heute noch nicht<br />

einmal die Außenmauern hochgezogen worden sind. Bei psychiatrischen Sonderkliniken allerdings<br />

gibt es keine Neubauprobleme. Diese Aufbewahrungsanstalten, von denen es zwölf in der<br />

Sowjetunion gibt, sind fast ausnahmslos in alten Gefängnissen untergebracht. Hinter Stacheldraht<br />

und dicken Mauern sitzen Patienten, die auch nach westlichen Maßstäben geisteskrank sind und die<br />

man nicht mehr frei herumlaufen lassen kann. Es werden in diesen Sonderkliniken aber auch<br />

politische Dissidenten <strong>als</strong> "Geisteskranke" interniert, obwohl sie geistig gesund sind.<br />

Die Psychiater des "Serbskij"-Instituts dürfen den Gerichten zwar die Einweisung von<br />

Patienten in die Sonderkliniken empfehlen, ihnen selbst ist der Zutritt zu den Anstalten jedoch<br />

verwehrt. Diese Psycho-Sonderkliniken sind die geheimnisvollsten Krankenhäuser der<br />

Sowjetunion. Sie sind auch die Einzigen, die nicht dem Gesundheitsministerium, sondern den<br />

11 Aufgezeichnet mit Erich Follath<br />

328


mächtigen Bonzen vom Innenministerium unterstehen. Und die sind Spezialisten, wenn es darum<br />

geht, Leute aus dem Verkehr zu ziehen und von der Umwelt zu isolieren.<br />

Ich kann mir bis heute nicht erklären, warum gerade mir die Gelegenheit gegeben wurde,<br />

die psychiatrische Sonderklinik in Minsk besuchen zu dürfen. Jedenfalls rief mich während einer<br />

Inspektionsreise durch Weißrussland eines Abends der Direktor der Minsker Sonderklinik an und<br />

lud mich für den nächsten Morgen ein.<br />

Es war im November 1973. Morgens gegen 10 Uhr holte mich ein schwarzer Moskwitsch<br />

vom Hotel ab, ein Chauffeur brachte mich in die Stadtmitte zum Untersuchungsgefängnis, auf<br />

dessen Gelände sich die Sonderklinik befindet. Der Lagerkomplex war unüberschaubar. Eine vier<br />

Meter hohe Backsteinmauer, zwischen zwei Wachtürmen ein Tor. Über der Einfahrt, für jeden<br />

unübersehbar, stand in riesigen Lettern der Glaubenssatz der Klinik geschrieben: "Obratno na<br />

swobodu s tschistoi sowestju" -Zurück in die Freiheit nur mit reinem Gewissen.<br />

Ausweiskontrolle am schweren Stahlschiebetor. Zwei Soldaten, Kalaschnikows auf dem<br />

Rücken. Scharfe Schäferhunde, die an ihrer Laufleine zerrten. Wagendurchsuchung,<br />

Leibesvisitation. Der Moskwitsch hielt auf einem lehmigen Vorhof. Am Haupteingang wartete<br />

schon ein Direktor, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere. Er war ein älterer Arzt, 60<br />

Jahre etwa, mit einem rötlich runden Gesicht. Er leitete die Sonderklinik seit zwei Jahren - ohne<br />

vorher psychiatrische Erfahrung gesammelt zu haben. Er war Hautarzt, hatte sich frühzeitig um die<br />

Partei verdient gemacht und durfte sich hier am Ende seiner Laufbahn <strong>als</strong> Direktor noch seine<br />

Pension aufbessern.<br />

Auf dem ersten Flur, den wir passieren, hing ein gerahmter Spruch an der grauen<br />

Kalkwand: "Trud - uniwersalnoje sredstwon narodnogo wospitanija" - Arbeit ist ein universelles<br />

Mittel zur Erziehung des Volkes. - Das erste Krankenzimmer, das ich zu sehen kriegte, war ein<br />

ziemlich verrottetes Loch. In dem 16 Quadratmeter kleinen Raum waren acht Betten<br />

zusammengepfercht, je zwei übereinander. Aber nicht jeder Kranke hatte seine eigene Liege. Einige<br />

kauerten auf den Ritzen zwischen den Bettkanten. Die meisten lagen völlig phlegmatisch da,<br />

vollgepumpt mit Psychopharmaka, die Gesichter leer und ausdrucklos. Ein Jugendlicher, dessen<br />

bekleckerter Anstaltspyjama keine Knöpfe mehr hatte, machte sich gleich an den Wärter ran. "Ich<br />

hab' noch Tabak", flüsterte er. "Du kannst ihn haben, wenn du mich aufs Klo lässt." Der Wärter<br />

schlug wortlos die Tür zu.<br />

Vom Direktor erfuhr ich später, dass es in der psychiatrischen Sonderklinik Minsk ein<br />

Privileg ist, aufs Klo gehen zu dürfen. Denn nur zwei Mal am Tag, um 10 Uhr morgens und um 18<br />

Uhr abends, sieht die Anstaltsordnung einen "Gang zur Verrichtung der Notdurft" vor. Ziffer 3<br />

dieser Verordnung stellt es ins eigene Ermessen der Wärter, weitere Toilettengänge zu gestatten.<br />

Diese Vergünstigung lassen sie sich honorieren: mit Tabak, Süßigkeiten, Obst - Mitbringsel von<br />

Angehörigen, die einmal im Monat die Patienten besuchen dürfen. Der Gang zur Toilette ist ein<br />

Stück Freiheit, nach der jeder Kranke sich sehnt. Dieser Ort - ein kreisrundes Loch, mit zwei<br />

Wasserhähnen in der Wand - ist die einzige private Zuflucht in der Klinik. Drei Minuten erlauben<br />

die Wärter, die selbst gedrehte Zigarette oder die gestopfte Pfeife zu rauchen. Sonst, und das wird<br />

strikt eingehalten, darf nirgends im Hospital gepafft werden.<br />

Nach dem Rundgang saß ich beim Chef im Zimmer und trank Tee. Dann erzählte er mir,<br />

wer die Wärter sind. Ihre Vergangenheit haben die meisten nicht auf den Sanitätsschulen, sondern<br />

<strong>als</strong> "Seki" (Kriminelle Häftlinge) gemeistert. Ihre Delikte waren Mord, Vergewaltigung, schwerer<br />

Raub. Als Internierte in den Arbeitslagern begannen sie eine neue Laufbahn, im Auftrag der<br />

329


Verwaltung und des KGB bespitzelten und denunzierten sie andere Lagerinsassen, vor allem<br />

politische und religiöse Häftlinge. Dafür wurden sie belohnt. In Psycho-Kliniken, wie hier in<br />

Minsk, genießen sie <strong>als</strong> Krankenwärter im weißen Kittel nun ihren "gesellschaftlichen Aufstieg". Sie<br />

beuten die Kranken aus - auch sexuell.<br />

Wer keinen Besuch bekommt und infolgedessen keine Zigaretten <strong>als</strong> Tauschobjekt<br />

anbieten kann, hat nur eine Chance, sich bei den Wärtern beliebt zu machen: Er muss sich<br />

prostituieren. Je nach Lust und Laune holen sich manche Krankenwärter vor allem jüngere Männer<br />

aus den Zimmern heraus und treiben es mit ihnen in ihren Diensträumen. Wie viele Menschen in<br />

der Sonderklinik von Minsk schon in die Intensivstation gekommen sind, wollte der Direktor mir<br />

nicht sagen. Er gab jedoch zu, die Verpflegung sei so schlecht, dass die Widerstandskräfte der<br />

Patienten sich im Laufe der Zeit auf ein Minimum reduzierten. Die Hauptmahlzeit besteht meist<br />

aus einem Teller Kohlsuppe. Morgens und abends gibt es einen Löffel Hafergrütze, ab und zu eine<br />

kleine Kartoffel mit Gemüse. Die einseitige und mangelhafte Ernährung erreicht niem<strong>als</strong> die<br />

vorgeschriebenen 1.300 Kalorien am Tag. Patienten, die sich beschweren wollen, bekommen weder<br />

Kugelschreiber noch Papier. Denn schon diese Dinge werden in den staatlichen Aufbewahrungsanstalten<br />

wie Minsk <strong>als</strong> Sicherheitsrisiko betrachtet.<br />

Das Innenministerium hat für Psycho-Sonderkliniken eine doppelte Hierarchie, ein<br />

doppeltes Kontrollsystem aufgebaut. Da sind einmal der Chefarzt, die Abteilungsleiter, die<br />

behandelnden Psychiater - alles vom Innenministerium ausgesuchte Mediziner. Und da sind auf<br />

der anderen Seite die Funktionäre des Innenministeriums in Uniform: der Oberverwalter der<br />

Klinik, gleichberechtigt mit dem Chefarzt, der Hausverwalter, die Aufseher. Auf der untersten<br />

Stufe der Leiter steht der Wärter. Seine Vorgesetzten sind die Aufseher, die keinerlei medizinische<br />

Kenntnisse haben. Auf diese Weise wird das Misstrauen geschürt, einer bespitzelt den anderen.<br />

Als ich mich vom Direktor der Sonderklinik in Minsk verabschiedet hatte, fragte ich mich,<br />

warum er mit trotz seines Missmutes so viel erzählte. Vielleicht, um meine Reaktion zu testen.<br />

Vielleicht hatten sie mich in Moskau schon für eine höhere Aufgabe in einer Sonderklinik<br />

vorgesehen. Vielleicht sollte ich sogar Nachfolger des Direktors in Minsk werden. Albträume<br />

plagten mich in dieser Nacht. Ich hatte noch nicht einmal den Mut gehabt, den Direktor nach<br />

"politischen Fällen" zu fragen. Nach meinen Erfahrungswerten kann man annehmen, dass jeder<br />

zehnte Patient in einer Sonderklinik wegen "paranoider Reformideen", wegen "mangelnder<br />

Anpassungsfähigkeit an seine soziale Umgebung", wegen "Überschätzung seiner Person"<br />

eingewiesen wird. Für Minsk heißt das: etwa 30 politische Gefangene, für die Sowjetunion<br />

insgesamt 350. Die Mehrzahl der politischen Häftlinge, wohl an die 10.000 sind in Arbeitslagern<br />

interniert.<br />

Lange Zeit konnte ich mir nicht vorstellen, dass KP-Chef Leonid Breschnew (1964-1982)<br />

in der Außenpolitik für Entspannung sorgte und in der Innenpolitik die Repression verschärfte.<br />

Mein politischer Verstand wurde erst richtig geweckt, <strong>als</strong> ich 1973 selbst eine wichtige Rolle bei der<br />

bewussten Täuschung westlicher Psychiater und Journalisten spielen sollte. - Am 14. Oktober 1973<br />

gegen zwei Uhr nachmittags rief mich mein Chef, Professor Morosow, zu sich ins Büro. Er war<br />

seltsam nervös. "Ich habe gerade einen Anruf aus dem Ministerium bekommen. Morgen müssen<br />

wir deutsche Journalisten im "Serbskij"-Institut herumführen, und wenn die danach fragen, müssen<br />

wir ihnen sogar einige Krankenakten zeigen. Ich brauche dich <strong>als</strong> Übersetzer."<br />

Ich fragte mich, was dieser Sinneswandel im Ministerium zu bedeuten habe. Schon einen<br />

Tag vorher waren der englische Psychiater Dr. Denis Leigh und sein schwedischer Kollege Dr.<br />

Carlo Perres in unserem Institut und hatten anschließend die psychiatrische Klinik in Troizkoje<br />

330


esichtigt. Das hatte es noch nicht gegeben, dass westliche Ärzte eine unserer Psycho-Kliniken<br />

besuchen durften. Diese neue KGB-Politik konnte nur einen Grund haben: der zunehmenden<br />

westlichen Kritik an der russischen Psychiatrie offensiv entgegen zu wirken. Und nun auch noch<br />

westdeutsche Journalisten! Am nächsten Morgen lernte ich die stern-Journalisten Robert Lebeck<br />

und Klaus Lempke kennen. Sie waren schon bei Morosow im Zimmer, <strong>als</strong> ich dazukam. Die<br />

Atmosphäre war gelockert, es gab Kaffee, Konfekt und Kekse. Das Chefzimmer, sonst chaotischunordentlich,<br />

war aufgeräumt wie selten. Morosow spielte souverän seine Rolle.<br />

Ich übersetzte: "Kein Bürger der Sowjetunion darf verurteilt werden, wenn er geisteskrank<br />

ist ... Der Patient hat das Recht, einen Gutachter abzulehnen ... Berichte über Zwangseinweisungen<br />

angeblicher politischer Dissidenten muss ich schlicht <strong>als</strong> Verleumdung bezeichnen ...". - Doch die<br />

westdeutschen Journalisten begnügten sich nicht mit solchen Glaubensbekenntnissen. Sie wollten<br />

General Pjotr Grigorenko sehen, den das "Serbskij"-Institut mehrm<strong>als</strong> für unzurechnungsfähig<br />

erklärt hatte. Auf diese Bitte, das merkte ich Morosow an, hatte er schon gewartet. Er war<br />

keinesfalls verblüfft und sagte: "Wir werden Sie anrufen." - Am nächsten Morgen ließ er die<br />

Journalisten wieder ins "Serbskij"-Institut kommen und begrüßte sie mit der Bemerkung: "Ich habe<br />

mir überlegt, wenn ich Ihre Zweifel ausräumen will, muss ich Ihnen Handfestes bieten." Mit diesen<br />

Worten überreichte er den beiden bedeutungsvoll eine Handvoll vergilbter Blätter: die Krankengeschichte<br />

des ehemaligen dam<strong>als</strong> siebzigjährigen Generalmajors Pjotr Grigorenko.<br />

Mit war klar: Das kann nur eine Fälschung sein. Denn nicht einmal ich <strong>als</strong> Oberarzt,<br />

geschweige denn andere Professoren des Instituts, hatten bis dahin eine Krankheitsgeschichte aus<br />

der vierten Abteilung gesehen, in der Grigorenko untersucht worden war. Als der Fotograf die<br />

Blätter ablichtete, und ich den Text übersetzte, bestätigte sich meine Vermutung: Grigorenkos<br />

Krankengeschichte mit all ihren Symptomen war teilweise wörtlich aus dem "Handbuch der<br />

Psychiatrie" abgeschrieben und mit persönlichen Lebensdaten des Gener<strong>als</strong> vermengt. Die<br />

Erklärung seiner Wahnvorstellung kennt jeder Student auswendig. Über diese Manipulation<br />

konnten auch die vergilbten Formulare nicht hinwegtäuschen, die nicht einmal aus dem "Serbskij"-<br />

Institut stammten. Die stern-Reporter, die <strong>als</strong> erste westliche Journalisten in unserem Institut<br />

waren, hatten nicht den Hauch einer Chance, die KGB-Fälschung zu durchschauen. Zumindest ist<br />

ihnen eines geglückt: Am nächsten Tag konnten Robert Lebeck für einen Augenblick Grigorenko<br />

in seiner Zelle in der psychiatrischen Klinik in Troikoje sehen, die 62 Kilometer von Moskau<br />

entfernt ist.<br />

Ich habe selber Jahre gebraucht, ehe ich begriff, wie die sowjetische Psychiatrie zu<br />

politischen Zwecken missbraucht wird. Der Besuch der westdeutschen Journalisten war für mich<br />

ein Schlüsselerlebnis, aus dem ich die Konsequenzen zog: Seit Oktober 1973 stand mein<br />

Entschluss fest, bei der ersten Gelegenheit aus der Sowjetunion zu fliehen. Ich bemühte mich, so<br />

viel wie möglich über das Schicksal der Dissidenten zu erfahren, die in psychiatrischen Kliniken<br />

festgehalten wurden.<br />

Am Schicksal des Gener<strong>als</strong> Pjotr Grigorenko lässt sich am besten verdeutlichen, wie der<br />

KGB Gesetze bricht, wie Zeugen in Gerichtsverfahren zu Lügen gezwungen werden, und wie<br />

gesunde Menschen mit Hilfe von Medikamenten gequält werden. Meine Recherchen in der<br />

Sowjetunion und die Materialien, die ich im Westen vorfand, ergeben zusammen ein lückenloses<br />

Bild. Hier der Fall des Pjotr Grigorenko:<br />

General Grigorenko war ein Held der Sowjetunion. Mit 32 Jahren wurde der Sohn armer<br />

ukrainischer Bauern Offizier. Er kämpfte an der Westfront gegen die Deutschen und wurde zwei<br />

Mal verwundet. Anschließend nahm er an dem Krieg gegen Japan teil. Grigorenko wurde zwei Mal<br />

331


verwundet, erhielt den Lenin-Orden, die zwei Orden des Roten Banners und den Roten Stern.<br />

1959 avancierte er zum General. Gleichzeitig übernahm Grigorenko einen Lehrstuhl an der<br />

Frunse-Militärakademie in Moskau. Er veröffentlichte 67 wissenschaftliche Arbeiten.<br />

Grigorenkos Karriere endete abrupt, <strong>als</strong> er auf einer Parteikonferenz im September 1961<br />

in Moskau den damaligen KP-Chef Chruschtschow scharf angriff. Er warf ihm vor, dass noch<br />

immer nicht, wie Chruschtschow es auf dem XX. Parteitag 1956 versprochen hatte, die<br />

stalinistischen Funktionäre ihrer Ämter enthoben worden waren, und er forderte außerdem, die<br />

hohen Gehälter der Parteisekretäre zu reduzieren und Schluss zu machen mit den Repressalien<br />

gegen reformfreudige Kommunisten. Grigorenko, selbst ein überzeugter Kommunist, glaubte, mit<br />

legalen Mitteln eine Demokratisierung der Partei und Gesellschaft erreichen zu können. Sein<br />

Auftreten auf der Parteikonferenz hatte schwerwiegende Folgen. Auf Betreiben Chruschtschows<br />

wurde der General aus dem Militärdienst entlassen und verlor seinen Lehrstuhl.<br />

Vorerst blieb Pjotr Grigorenko noch ungebrochen. Im Herbst 1963 organisierte er einen<br />

Freundeskreis und gründete eine politische Arbeitsgemeinschaft mit dem Namen "Kampfbund für<br />

die Wiederherstellung des Leninismus". Auf dem Vorplatz des Kasaner Bahnhofs in Moskau<br />

verteilte er Flugblätter mit der provozierenden Frage: "Warum gibt es bei uns nicht genügend<br />

Brot?" Damit war Grigorenkos Weg in die psychiatrische Klinik vorgezeichnet. Am 1. Februar<br />

1964 verhaftete der KGB Grigorenko und seine Freunde. Grundlage war Artikel 70 des<br />

sowjetischen Strafgesetzbuches: "Wer Agitation oder Propaganda betreibt, um den sowjetischen<br />

Staat zu schwächen oder zu unterwandern oder, in besonderem, gefährliche Verbrechen gegen<br />

diesen Staat zu begehen, wer zu demselben Zweck gefälschte Nachrichten in Umlauf bringt,<br />

anfertigt oder für sich behält, oder Schriften dieses Inhalts besitzt, soll mit einer Freiheits-strafe<br />

zwischen sechs Monaten und sieben Jahren belegt werden."<br />

Nur einige Wochen verbrachte Grigorenko im Moskauer Lubjanka-Gefängnis. Am 12.<br />

März 1964 verlegte ihn die Staatsanwaltschaft ins "Serbskij"-Institut, um ihn auf seinen<br />

Geisteszustand untersuchen zu lassen. Die Kommission unter Leistung des Klinikchefs Professor<br />

G.W. Morosow kam zu dem Ergebnis, der ehemalige General sei für seine Taten nicht<br />

verantwortlich und benötige eine Behandlung in einer psychiatrischen Sonderklinik. In dem<br />

"Serbskij"-Gutachten heißt es: "Grigorenkos psychologische Situation charakterisieren seine<br />

reformistischen Ideen, insbesondere seine Vorstellungen von der Neu-Organisation des<br />

Staatsapparates. Diese Ideen sind verbunden mit einer Überschätzung seiner Person, die<br />

messianische Ausmaße angenommen hat. Er berichtete von seinen Erfahrungen mit ausgeprägten<br />

Emotionen und war unerschütterlich von seinen Handlungen überzeugt." Das Gericht hielt sich an<br />

Morosows Maxime: "Warum sollen wir uns mit politischen Prozessen plagen, wo wir doch<br />

psychiatrische Sonderkliniken haben!" Und schickte Grigorenko in die Leningrader Sonderklinik<br />

für Geisteskranke.<br />

Um Grigorenko zum Schweigen zu bringen, brachen Richter, Staatsanwälte und die Partei<br />

das sowjetische Recht. Kein Rechtsanwalt durfte den Generalmajor verteidigen, er selbst durfte am<br />

Prozess nicht teilnehmen, und nicht einmal das Urteil durfte er lesen. Zwei Wochen nach seiner<br />

Klinik-Einweisung warf ihn das Zentralkomitee der KPdSU aus der Partei, stufte ihn rechtswidrig<br />

vom General zum einfachen Soldaten zurück und strich ihm rechtswidrig seine Pension. Nach dem<br />

Gesetz stehen einem Militärangehörigen, der geisteskrank wird, die vollen Pensionsbezüge seines<br />

letzten Dienstgrades zu. Im März 1965 musste sich Grigorenko noch einmal untersuchen lassen.<br />

Die Ärzte in Leningrad bestätigten die "Serbskij"-Diagnose, hielten aber eine stationäre<br />

332


Behandlung nicht mehr länger für nötig. Grigorenko kam unter der Auflage frei, sich in<br />

regelmäßigen Abständen in der psychiatrischen Klinik in Leningrad zu melden.<br />

Grigorenko bewies bald, dass er alles anders <strong>als</strong> geisteskrank war. Unerschrocken wie eh<br />

und je engagierte er sich noch stärker und wurde einer der führenden Bürgerrechtler in der<br />

Sowjetunion. Am Grab des Schriftstellers Alexej Kosterin, der sich vor allem für die nationalen<br />

Minderheiten eingesetzt hatte, hielt Grigorenko eine leidenschaftliche Rede für die "wahre<br />

leninistische Demokratie und für die Entlarvung des Totalitarismus, der sich hinter der Maske der<br />

so genannten Sowjet-Demokratie verbirgt". Mit Flugblättern demonstrierte er gegen den<br />

Einmarsch der Sowjets in der CSSR. Als Grigorenko im Mai 1969 in Taschkent, wohin er von<br />

Moskau fuhr, vor Gericht für die unterdrückten Krimtataren starkmachen wollte, wurde er<br />

aberm<strong>als</strong> verhaftet.<br />

Der KGB beauftragte Professor Fjodor Detengow, den Chefpsychiater der Usbekischen<br />

Republik, ein Gutachten anzufertigen. Doch das fiel ganz anders aus, <strong>als</strong> es der Geheimdienst<br />

erwartet hatte: "Grigorenkos Handlungen basieren auf seinen persönlichen Überzeugungen und<br />

haben keine krankhaften und hysterischen Züge. Seine intellektuellen Fähigkeiten sind ausgeprägt,<br />

er hat sich in seiner Umgebung <strong>als</strong> Führer und Erzieher etabliert. Es gibt keinen Zweifel an<br />

Grigorenkos geistiger Normalität. Eine Behandlung in einer Klinik hätte schwerwiegende negative<br />

Folgen für den Patienten und würde seinen körperlichen Gesundheitszustand verschlechtern."<br />

Mit dieser positiven Diagnose wollte sich der KGB nicht abfinden. Wieder musste das<br />

"Serbksij"-Institut ran. Zwei Wochen nach der Taschkenter Begutachtung flog der KGB den U-<br />

Häftling nach Moskau zurück. Die Gutachter-Kommission unter Leitung von Morosow und des<br />

Chefs der politischen Abteilung vier, Lunz, enttäuschten ihre Abtraggeber nicht. Sie formulierte,<br />

was von ihr erwartet wurde: "Die Reformideen Grigorenkos haben einen widerspenstigen<br />

Charakter angenommen und beherrschen sein Denken vollständig. Eine paranoide Entwicklung<br />

seiner Persönlichkeit hat stattgefunden. Deshalb kann sich die Kommission der Empfehlung des<br />

Taschkenter Gutachtens nicht anschließen und rät dringend, den Patienten in eine psychiatrische<br />

Sonderklinik einzuweisen." -Zwischen dem Gutachten der Psychiater von Taschkent und dem der<br />

Psychiater des "Serbskij"-Instituts lagen nur vier Wochen.<br />

Natürlich setzte sich das "Serbskij"-Institut mit seinem Gutachten durch. Pjotr<br />

Grigorenko wurde im Februar 1970 in Taschkent von einem Gericht für unzurechnungsfähig<br />

erklärt und in die psychiatrische Sonderklinik Tschernjachowsk eingeliefert. Über drei Jahre blieb er<br />

dort. Grigorenko musste sich die Zelle mit einem Mörder teilen. In seinem Tagebuch schildert der<br />

die Methoden seiner Wärter: "Sie zwingen mir Essen auf, sie schlagen mich, sie würgen mich. Sie<br />

drehen mir den Arm um, prügeln absichtlich auf mein verletztes Bein ... Dann stecken sie mich in<br />

eine Zwangsjacke. Ich wehre mich, so lange die Kräfte reichen. Sehr oft breche ich unter<br />

furchtbaren Herzschmerzen zusammen. Die Wärter versprachen, mich nicht weiter zu quälen,<br />

wenn ich meine Reformideen widerriefe. Ich sagte ihnen: Überzeugungen sind nicht wie Handschuhe.<br />

Man kann sie nicht jeden Tag wechseln."<br />

Man braucht nicht im "Serbskij"-Institut gearbeitet zu haben, man braucht nicht einmal<br />

Psychiater zu sein, um zu ermessen, dass Grigorenko trotz aller Standhaftigkeit nach drei Jahren<br />

Sonderklinik ein gebrochener Mann war. Erst <strong>als</strong> der KGB glaubte, der Ex-General sei für die<br />

Sowjetunion keine Gefahr mehr, und <strong>als</strong> der internationale Druck für seine Freilassung immer<br />

stärker wurde, verlegte man Grigorenko in eine normale psychiatrische Klinik - nach Troizkoje.<br />

Dort durften ihn 1973 dann auch die ersten westlichen Psychiater, der Engländer Leigh und der<br />

Schwede Perres, besuchen. Grigorenko sagte ihnen, es ginge ihm jetzt besser. Die Ärzte konnten<br />

333


ihn jedoch nicht untersuchen, weil sie nur eine zehnminütige Ge-sprächserlaubnis hatten. Leigh<br />

und Perres weigerten sich deshalb, über Grigorenkos Gesundheitszustand ein Urteil abzugeben.<br />

Doch in Moskau wurde das Schweigen der westlichen Ärzte <strong>als</strong> Zustimmung gewertet. Die<br />

Nachrichtenagentur Tass schrieb: "Die Professoren bezeugen, dass der frühere General<br />

Grigorenko tatsächlich krank ist, und sie bestätigen damit die Diagnose ihrer sowjetischen<br />

Kollegen."<br />

Am 24. Juni 1974 wurde Pjotr Gigorenko überraschend entlassen. Das geschah zwei Tage<br />

vor dem Staatsbesuch des US-Präsidenten Richard Nixon (1969-1974); ge-wissermaßen ein<br />

Gastgeschenk in Sachen Menschen-rechte. Anfang Dezember 1977 - ich lebte bereits ein halbes<br />

Jahr in der Bundesrepulblik, las ich erstaunt in der Zeitung, dass Grigorenko eine auf sechs Monate<br />

befristete Ausreisegenehmigung in die USA erhalten hat. Mit seiner Frau Sinaida flog er nach New<br />

York, um seinen Stiefsohn zu besuchen und sich einer Prostata-Operation zu unterziehen. Wie ich<br />

inzwischen hörte, hat er sie gut überstanden.<br />

Als Grigorenkos Freunde den General und seine Frau im Dezember auf dem Moskauer<br />

Flughafen verabschiedeten, haben sie ihm ein kleines Päckchen Heimaterde in die Hand gedrückt.<br />

Sie befürchteten, dass Pjotr Grigorenko sowjetischen Boden nicht wieder betreten darf.<br />

Nachtrag -Pjotr Grigorenko ist im Alter von 79 Jahren 1987 in seinem New Yorker Exil<br />

gestorben. Die sowjetische Staatsbürgerschaft ist dem früheren Generalmajor der Roten Armee<br />

und russischen Bürgerrechtler bereits im Jahre 1979 aberkannt worden. Die Urkaine - seine Heimat<br />

- hat er nicht mehr wieder gesehen.<br />

334


1979<br />

Einwanderung: „Wir wollen Deutsche werden“<br />

Bundeswehr: Die Bierfahnen der Armee<br />

Revolution des Règis Debray mit einer Amour foux<br />

Psychiatrie : In den Alsterdorfer Anstalten zu Hamburg zerbrochen<br />

Mörder unter uns – Aus deutschen Landen<br />

335


EINWANDERUNG: WIR WOLLEN DEUTSCHE WERDEN -<br />

SCHICKSALE<br />

Weltweit sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts 190 Millionen Menschen <strong>als</strong><br />

Auswanderer unterwegs. Rund drei Millionen standen schon in den siebziger Jahren<br />

Schlange für einen deutschen Pass. Durch verschärftes Asyl- und Aufenthaltsrecht in<br />

Europa wird der Weg mühsam -demütigend.<br />

ZEITmagazin, Hamburg vom 21. September 1979<br />

Die 15jährige Jasmina kauert im Sessel und liest die Partitur von Rachmaninows zweiten<br />

Klavierkonzert. Derweil blättert ihre Mutter Anastasia in vergilbten Dokumenten. Beide sind ein<br />

wenig nervös. Eine Dame vom Jugendamt Berlin-Charlottenburg hat sich zum Hausbesuch<br />

angesagt. Für Mutter und Tochter geht es darum, dass die Behörden-Visite positiv ausfällt. Nur<br />

dann können sie erreichen, was für Bundesbürger selbstverständlich ist: deutscher Nationalität zu<br />

sein.<br />

Obwohl die Dame vom Jugendamt die Akten der Samssulis kennt, lässt sie sich nochm<strong>als</strong><br />

ausführlich die beiden Lebenswege erzählen. Schließlich komme es ja auch auf den "persönlichen<br />

Eindruck" an, bemerkt sie dezent.<br />

Die 39jährige Anastasia Samssuli wurde in Griechenland geboren. Während der<br />

Bürgerkriegswirren im Jahre 1948 nahmen flüchtende Partisanen das dam<strong>als</strong> neunjährige Mädchen<br />

mit über die Grenze nach Bulgarien. Anastasia wuchs mit Exilgriechen in Sofia auf und bestand<br />

dort ihr Abitur. In der DDR ließ sie sich 1964 zur medizinisch-technischen Assistentin ausbilden.<br />

Im selben Jahr wurde Jasmina in Potsdam geboren. Sie ist das Kind einer kurzfristigen, da offiziell<br />

unerwünschten Liaison zwischen ihrer Mutter und einem nigerianischen Studenten, der sich schon<br />

bald nach der Geburt nach Afrika abgesetzt hatte und seither nichts mehr von sich hören ließ. Als<br />

die Griechin Samssuli gedrängt wurde, DDR-Bürgerin zu werden, blieb sie nach einer Urlaubsreise<br />

im Westen.<br />

Seit acht Jahren leben Anastasia und ihre Tochter Jasmina nunmehr in West-Berlin. Die<br />

Mutter arbeitet in einer Krebs-Klinik, Jasmina geht auf das humanistische Goethe-Gymnasium,<br />

spielt Klavier, paukt Mathematik und Latein. Die Samssulis sprechen akzentfreies Deutsch. Sie<br />

zählen Deutsche zu ihren Freunden, die Mutter könnte sich "gar keinen besseren Job wünschen",<br />

die Tochter will nach bestandenem Abitur Mathematik und Musik studieren.<br />

Dennoch sind die Samssulis für die Behörden eine Rarität. Die Mutter ist eine Weiße, ihre<br />

Tochter eine Farbige, die Mutter eine Griechin ohne Papiere ihres Landes, die Tochter staatenlos.<br />

So ziemlich alle gängigen Vorurteile treffen auf die beiden zu. Heimatlos und aus dem Osten,<br />

unehelich und schwarz noch dazu. "Kommunistische Weltenbummler mit einem bundesdeutschen<br />

Fremdenpass", spottet Jasmina.<br />

Sie möchte "dieses unerträgliche Stigma" endlich verlieren. Sie möchte wie jeder<br />

Bundesbürger ohne Visum durch Westeuropa reisen können, nicht an jeder Grenze durchsucht<br />

werden, nicht immer das Geraune einer wartenden Touristenschlange ertragen müssen - nicht<br />

selten mit dem Zusatz: Wann es denn endlich weiterginge oder ob die Schwarze immer noch nicht<br />

wüsste, was ein gültiger Ausweis sei. Dass Kinder ihr auf der Straße "Kaba, Kaba" nachrufen, daran<br />

336


hat sie sich mittlerweile gewöhnt, ebenso an die stereotype Frage, ob sie überhaupt Deutsch<br />

spräche.<br />

Doch die Fürsorgerin interessierte sich mehr für das Verhältnis zwischen Mutter und<br />

Tochter. "Verstehen Sie sich eigentlich?" fragt sie prüfend. Immerhin sei das Zusammenleben ja<br />

nicht so einfach. "Ja, wenn Sie das meinen", antwortete Frau Samssuli, "wegen der<br />

unterschiedlichen Hautfarbe gibt es zwischen uns keine Probleme." Zwar habe sich Jasmina <strong>als</strong><br />

Siebenjährige einmal gewünscht, so weiß wie ihre Spielgefährtinnen zu sein. "Da habe ich dem<br />

Kind gesagt", fährt die Mutter fort, "die Weißen sehen doch so krank und käsig aus. Braun ist viel<br />

gesünder und schöner. Nicht umsonst liegen so viele Leute am Strand." Seither existiert dieses<br />

Thema nicht mehr bei ihnen.<br />

Die Sozialarbeiterin scheint nach der einstündigen Unterhaltung zufrieden, schaut flüchtig<br />

durch die Wohnung, bleibt kurz vor Jasminas Bücherregal stehen, lässt sich noch die eine oder<br />

andere Lektüre zeigen und verabschiedet sich behördengerecht: höflich, aber distanziert. Als sich<br />

die Haustür hinter der Besucherin geschlossen habe, so erzählt Anastasia Samssuli später, habe sie<br />

erst einmal durchgeatmet und gedacht: "Gott sei Dank, dass meine Tochter keine Micky-Mouse-<br />

Hefte liest."<br />

Drei Wochen später lässt das Vormundschaftsgericht der Mutter die<br />

"Bestallungsurkunde" zustellen. Das bedeutet , dass sie auch <strong>als</strong> angehende Deutsche weiterhin für<br />

ihre Tochter das Sorgerecht wahrnehmen darf. Der erste Schritt zur Einbürgerung ist gemeistert.<br />

Der Zweite folgt prompt. Vom Ausländeramt meldet sich ein Herr zur Wohnungsinspektion an.<br />

Aber der hagere Mann um die vierzig will gar nichts vom Interieur wissen. Er notiert sich lieber die<br />

Namen der Nachbarn und fragt, ob sie alle Deutsche seien. Da dem so ist, drängt sich für ihn das<br />

Problem auf, ob mit den beiden nicht ab und zu das Temperament durchginge, ob sie im Haus<br />

nicht die Ruhe empfindlich stören würden. Unangenehm berührt, aber beherrscht genug, entgegnet<br />

Frau Samssuli, er könne sich ja bei den deutschen Anwohnern erkundigen. Das habe er ohnehin<br />

vor, sagt der Beamte trocken.<br />

Wie die zu den Deutschen stünden, ist sein nächster Fragenkomplex. Und Frau Samssuli<br />

erklärt. "So ein Land wie die Bundesrepublik gibt es kein zweites Mal. Wer hier etwas leistet, der<br />

kommt auch voran." Dabei zeigt sie auf ihren kleinen Balkon, den sie mit Topfpflanzen und einem<br />

üppigen Gladiolenstrauß geschmückt hat. Einmal, so erzählt sie, sei Jasmina weinend von einer<br />

Ferienreise aus Brasilien heimgekehrt. Dort wären die Menschen weitaus offener und herzlicher <strong>als</strong><br />

in Deutschland, habe ihre Tochter berichtet. Aber sie habe dem Mädchen dam<strong>als</strong> gesagt, was sie<br />

jetzt vor dem Behördenvertreter wiederholt. "Jasmina, wenn du einen guten und zuverlässigen<br />

Freund brauchst, dann werden die Südländer nicht da sein. Die Deutschen fressen zwar viel in sich<br />

hinein, aber auf sie ist Verlass."<br />

Eine Meinung, der sich der Herr vom Ausländeramt mit einem stummen Nicken<br />

anschließt. Jedenfalls ist für ihn damit die Frage "Hinwendung zum Deutschtum", wie er es<br />

formulierte, positiv beantwortet.<br />

Einige Monate darauf bekamen Anastasia und Jasmina Samssuli von der Ausländer-<br />

Behörde ihre Einbürgerungszusicherung; Deutsche werden sie aller Voraussicht nach schon im<br />

nächsten Jahr.<br />

Hausbesuche wie bei den Samssulis, dazu peinlich-penetrante Bürokraten-Fragen über<br />

Nachbarn und Nation, provozieren bei der Einbürgerungsprozedur nicht selten schwülstige<br />

Auslassungen über vermeintlich hervorragende deutsche Eigenschaften. Nur zu genau wissen<br />

337


assimilierte Ausländer, dass sie mit einem antrainierten deutschen Über-Ich vor Behördenvertretern<br />

den Weg des geringsten Widerstands gehen und damit ihre Chancen erhöhen, Deutsche zu werden.<br />

Denn einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung in die Bundesrepublik haben nur ehemalige<br />

Volksdeutsche und in der Nazi-Zeit emigrierte jüdische Mitbürger. Ausländer hingegen - ob aus<br />

Übersee oder aus den EU-Staaten - sind letztendlich auf das Wohlwollen der Verwaltung<br />

angewiesen. In jedem Fall haben Inspektoren und Amtsmänner einen gesetzlich konzedierten<br />

"Ermessensspielraum". In jedem einzelnen Fall können sie ein mangelndes des Staates an diesem oder jenem Bewerber geltend machen.<br />

Wer dennoch Deutscher werden will, muss <strong>als</strong> Junggeselle mindestens zehn, <strong>als</strong><br />

Verheirateter fünf Jahre im Lande leben, dazu müssen vorschriftsgemäß die "freiwillig Hinwendung<br />

zu Deutschland, Grundkenntnisse unserer staatlichen Ordnung und ein Bekenntnis zur<br />

freiheitlichen demokratischen Grundordnung" verbürgt sein. Ferner muss der Aspirant die Sprache<br />

beherrschen, "wie dies von Personen seines Lebenskreises erwartet wird". Weitere Kriterien nach<br />

den Einbürgerungsrichtlinien sind wirtschaftlich geordnete Verhältnisse und ein "unbescholtener<br />

Lebenswandel". Danach sind Alkoholiker, Heroinsüchtige, Playboys mit unehelichen Kindern, aber<br />

auch Arbeitslose und Kommunisten von vornherein chancenlos.<br />

Tatsächlich hat die Bundesrepublik wenig Interesse, immer mehr Ausländer mit dem für<br />

sie begehrten grünen Reisepass auszustatten. Ähnlich wie die meisten kontinental-europäischen<br />

Staaten betonte auch das Bonner Innenministerium in seinen Einbürgerungsrichtlinien vom 2.<br />

Februar 1978 zum wiederholten Male: "Die Bundesrepublik Deutschland ist kein<br />

Einwanderungsland; sie strebt an, die Anzahl der deutschen Staatsangehörigen gezielt durch<br />

Einbürgerung zu vermehren." Allenfalls dürfe von einem gesprochen werden, "die in der Regel<br />

nach einem mehr oder weniger langen Aufenthalt aus eigenem Entschluss in ihre Heimat<br />

zurückkehren".<br />

Dennoch kam die sozial-liberale Regierung nicht umhin, im November 1981 eine<br />

Gesetzesvorlage ausarbeiten zu lassen. Danach sollen<br />

• Kinder ausländischer Arbeitnehmer, die älter <strong>als</strong> 16 Jahre sind, die Einreise<br />

grundsätzlich untersagt werden;<br />

• die Nachzugerlaubnis für Familienangehörige vom Nachweis einer angemessenen<br />

Wohnung abhängig gemacht werden;<br />

• Jungvermählte aus der Türkei nur noch dann einreisen dürfen, wenn der Ehepartner<br />

in der Bundesrepublik eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und einen<br />

Arbeitsplatz hat;<br />

• der Familienachzug dann nicht erlaubt werden, wenn sich der Ausländer zu Aus- und<br />

Fortbildungszwecken in der Bundesrepublik aufhält.<br />

• Lediglich Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren soll die lang ersehnte<br />

Einbürgerung erleichtert werden. Sie müssten allerdings schon acht Jahre in der<br />

Bundesrepublik leben und sich ohne Murren zur Bundeswehr einziehen lassen.<br />

Trotz solcher Deklarationen und restriktiven Gesetzesvorlagen ist aus der Bundesrepublik<br />

längst ein Einwanderungsland geworden. Seit Kriegsende haben es über 200.000 Ausländer<br />

verstanden, Bundesbürger zu werden. Dabei tauchen politische Umsiedler, ehemalige<br />

338


Volksdeutsche und DDR-Flüchtlinge in dieser Statistik gar nicht auf. Und neuerdings, von der<br />

Öffentlichkeit kaum registriert, strebt ein Heer von Gastarbeitern und politisch Verfolgten die<br />

Einbürgerung an. Anfang der achtziger Jahre, so vermuten Experten in den Ausländerbehörden,<br />

werde auf die Bundesrepublik eine neue Antragsflut zu schwappen.<br />

Allein von den 4,6 Millionen Gastarbeitern wollen nach Schätzungen von Heinz Kühn<br />

(*1912+1992), ehemaligem Bundesbeauftragter für Ausländerfragen und früherem nordrheinwestfälischer<br />

Ministerpräsidenten, etwa drei Millionen in der Bundesrepublik bleiben.<br />

Bereits heute leben mehr <strong>als</strong> sechzig Prozent der Ausländer länger <strong>als</strong> fünf Jahre in diesem<br />

Land; damit haben sie nach dem noch geltenden Recht einen Anspruch auf eine unbefristete<br />

Aufenthaltserlaubnis. Heinz Kühn: "Sicherlich sind wir kein Einwanderungsland im Sinne von<br />

Kanada, Australien oder Brasilien. Aber für die aus den Anwerbeländer sind wir ein<br />

Einwanderungsland, auf jeden Fall für die junge Generation."<br />

So sieht es auch die FDP-Politikerin Liselotte Funke (Ausländer-Beauftragte 1981-1991),<br />

die nunmehr <strong>als</strong> Kühn-Nachfolgerin die Bundesregierung in Sachen Ausländer berät. Sie will<br />

entgegen den Vorstellungen der CDU/CSU und ebenfalls der Bundesregierung das<br />

Aufenthaltsrecht für Ausländer, damit den Betroffenen endlich eine Lebensplanung ermöglicht<br />

wird. Denn die allermeisten könnten nicht mehr in ihre Heimat zurück - sei es aus politischen<br />

Gründen oder einfach deshalb, weil es in ihren Ursprungsländern auch in Zukunft nicht genügend<br />

Arbeit gibt.<br />

Auch die Anzahl der Asylanträge ist innerhalb von zwölf Monaten sprunghaft gestiegen.<br />

Im Jahre 1978 wurden 33.136 Asylbewerber notiert, 1977 waren es lediglich 16.419. Den einsamen<br />

Rekord hält bislang das Jahr 1980 - über 108.000 Ausländer suchten in der Bundesrepublik eine<br />

neue Bleibe. Kommen sie nun aus Pakistan, Chile, Argentinien oder Vietnam -heimatlos sind sie<br />

allemal, und für die meisten dürfte es nur eine Frage des Wartens sein, bis ihr<br />

Einbürgerungsbegehren erfüllt wird.<br />

Für Manfred Sog, Regierungsdirektor im Hamburger Ausländeramt, geht es bei den<br />

Bewerbern "oft um eine endgültige Absicherung dessen, was sie hier schon erreicht haben". Viele<br />

seien mit deutschen Frauen verheiratet und hätten es beruflich zu etwas gebracht. Da reiche ihnen<br />

eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung nicht mehr, die von der Behörde jederzeit widerrufen<br />

werden könnte.<br />

So wollten 1978 nach Schätzungen der Ämter über 100.000 Ausländer Bundesbürger<br />

werden. Zwei Jahre später waren es bereits 150.000. Zwei Drittel fielen wegen der restriktiven<br />

Einwanderungspolitik durch. Aber die Bevölkerung wuchs 1978 wieder um die Einwohnerzahl<br />

einer Kleinstadt -nämlich um 31.500 Neu-Deutsche. Die Wege zu der erwünschten Einbürgerung<br />

sind freilich lang, beschwerlich - allzu oft auch demütigend.<br />

Der 47jährige Apotheker Chahedi zeigt nicht ohne Stolz die erst kürzlich ausgestellte<br />

Einbürgerungszusicherung der Behörde. Überhaupt ist er stolz darauf, was er in der<br />

Bundesrepublik bisher geleistet hat. Der Ausblick von seiner großräumigen Terrasse im vierten<br />

Stock eines Penthouse an der Ostseeküste von Scharbeutz hat die Qualität einer Ansichtskarte.<br />

Abends schauen der melancholische Chahedi und seine blonde Frau Eva oft aufs Meer, wo<br />

Motorjachten ankern. "Für mich", sagt Chahedi auf der Terrasse, "ist Deutschland mein<br />

Heimatland. Ich bin deutscher <strong>als</strong> es manche Deutsche je sein können“. Unaufgefordert, <strong>als</strong> wolle<br />

er einen Ulk machen, zitiert er aus Goethes Osterspaziergang: "Zufrieden jauchzet groß und klein,<br />

hier bin ich Mensch, hier darf ich sein."<br />

339


Dabei waren die 18 Jahre, die er in der Bundesrepublik lebt, alles andere <strong>als</strong> ein<br />

Spaziergang. Das belegen Leitz-Ordner in Sachen Einbürgerung, die sich in seinem Bücherregal<br />

neben Heinrich Bölls "Katharina Blum" und der John O'Haras "Träume auf der Terrasse" stapeln.<br />

Als Iraz Chahedi 1962 auf dem Frankfurter Flughafen landete, hatte er gerade fünf Jahre<br />

<strong>als</strong> Forstingenieur im Wüstengebiet 2.000 Kilometer südwestlich von Teheran gearbeitet - eine<br />

Strafversetzung durch den iranischen Geheimdienst, weil Chahedi dem Schah-Regime <strong>als</strong><br />

"Sicherheitsrisiko" galt. Der Apotheker heute: "Ich wollte in der Wüste nicht stumpfsinnig werden,<br />

ich wollte nicht wie viele meiner Freunde in Teheran am Opium verrecken. Ich wollte in ein Land<br />

mit Zukunft." In der Bundesrepublik glaubte er es, gefunden zu haben. Ein Sparkassen-<br />

Werbespruch aus den fünfziger Jahren wurde zu seinem Leitmotiv. "Haste was, biste was."<br />

Chahedi wiederholte sein Abitur und beendete nach vier Jahren sein Pharmazie-Studium<br />

in Kiel. In seiner Freizeit sortierte er auf dem Fischmarkt Kisten, las in Häusern Gas ab oder half in<br />

Apotheken. Schon 1971, Schähend hatte sein Examen <strong>als</strong> approbierter Apotheker bestanden,<br />

wollten ihn die deutschen Behörden in den Iran abschieben. Denn nach dem<br />

Entwicklungshilfeabkommen zwischen beiden Ländern müssen die an den bundesdeutschen<br />

Universitäten ausgebildeten Iraner die erworbene Qualifikation in ihrem eigenen Land einbringen.<br />

Chahedi weigerte sich jedoch zurückzukehren. Er war der Meinung, "ein Land, das mir nichts<br />

gegeben hat, nicht einmal en Stipendium, ist für mich keine Heimat mehr".<br />

Mit der tatkräftigen Unterstützung des Plöner CDU-Kreisvorsitzenden Wolf-Dieter<br />

Krause - auch er Apotheker - gelang es Chahedi, seine Aufenthaltsdauer zwei Mal um zwei Jahre zu<br />

verlängern. Doch sein Wunsch, in dieser Zeit <strong>als</strong> approbierter Apotheker selbstständig arbeiten zu<br />

können, blieb Illusion. Lediglich <strong>als</strong> "Helfer" bekam er eine Arbeitserlaubnis. Sie kam ihm einem<br />

"Berufsverbot" gleich. "Das ist doch genauso, <strong>als</strong> wenn ein Arzt im Krankenhaus zum Pfleger<br />

degradiert wird."<br />

Dennoch verkaufte er beim Apotheker Krause fleißig Tropfen und Tinkturen. Um seine<br />

für 1975 angekündigte Ausweisung zu unterlaufen, hatte er bereits 1974 einen Asylantrag gestellt.<br />

Darin machte er geltend, ein politisch Verfolgter zu sein, der in der nationalen Jugendbewegung<br />

des früheren sozialistischen Ministerpräsidenten Mossadegh gekämpft habe.<br />

Er sei ein Mann, der 1961 vom Geheimdienst verhaftet und drei Mal bewusstlos<br />

geschlagen worden sei, den die Teheraner Presse gar <strong>als</strong> flüchtig vermeldet habe. Ein Mitarbeiter<br />

des westdeutschen Bundesnachrichtendienstes (BND), der ihn daraufhin im Schleswig-<br />

Holsteinischen besuchte, riet Chahedi dringend ab, auf seinem Antrag zu bestehen. Sein Gesuch<br />

hätte ohnehin wenig Chancen, zudem würde der persische Geheimdienst SAVAK kontinuierlich<br />

über Asylbegehren seiner Landsleute unterrichtet. Chahedi ließ sich nicht beirren, aber sein Antrag<br />

wurde abgelehnt, und die Behörden forderten ihn 1975 auf, unverzüglich die Bundesrepublik zu<br />

verlassen.<br />

Doch Chahedi ("ich bin ein Löwe") wäre nicht Chahedi, hätte er nicht eine neue Variante<br />

parat gehabt. Kurzerhand ging er mit einer Helferin aus der Krause-Apotheke eine Ehe ein und<br />

präsentierte die Heiratsurkunde dem Plöner Kreisordnungsamt. Der Ordnungsbeamte zu Chahedi:<br />

"Was wollt ihr denn eigentlich hier, warum geht ihr nicht nach Hause. Ihr wollt doch nur unsere<br />

Mädchen kaputtmachen." Chahedi zum Ordnungsbeamten: "Das machen die Belgier und<br />

Franzosen wohl nicht. Nein, die machen eure Mädchen glücklich." Die neue<br />

Aufenthaltsgenehmigung jedenfalls war ihm sicher, die eingegangene Vernunftehe, "die größte<br />

psychische Belastung in meinem Leben".<br />

340


Dessen ungeachtet schien Iraz Chahedis Aufstieg in der Provinz unaufhaltsam. Sein Chef<br />

Krause versprach ihm eine Beteiligung am Umsatz, Chahedi orderte einen Ford Mustang in den<br />

USA, seine Tweedanzüge ließ er sich an Hamburg maßschneidern - denn das Stangengeschäft war<br />

für ihn seither passé. Bei der Kölner Kreditbank bekam er sogar ein 100.000-Mark-Darlehen zu<br />

einer Verzinsung von 9,5 Prozent, die erste Eigentumswohnung war gekauft. Parallel beantragte er<br />

seine Eindeutschung, sein Chef trat mit einem Kameraden aus der schlagenden Verbindung in Plön<br />

<strong>als</strong> Bürge auf.<br />

Doch die Weltläufigkeit nahm in der norddeutschen Provinz jäh ein Ende, <strong>als</strong> Apotheker<br />

Krause sich nicht mehr erklären konnte oder wollte, woher sein Mitarbeiter das ganze Geld nehme.<br />

Krause hegte den Verdacht, dass sein Kompagnon Scheine aus der Drogerie- und Apothekenkasse<br />

verschwinden lasse. Gefängnis und Abschiebung drohte er ihm an, und einen Einblick in Chahedis<br />

Konten forderte er. Schließlich habe er, der Plöner Vize-CDU-Kreisvorsitzende, für ihn gebürgt,<br />

damit er überhaupt Deutscher werden könne. Nach elfjähriger Zusammenarbeit trafen sich die<br />

Freunde von einst vor dem Arbeitsgericht wieder. Dazu Chahedi: "Die Sachlage war klar. Er sah in<br />

mir neuerdings einen Konkurrenten. Er wollte verhindern, dass ich deutscher Staatsbürger werde<br />

und mich selbstständig mache. Denn siebzig Prozent seiner Kunden wären zu mir gekommen.<br />

Krause kümmerte sich fast nur um seine Politik, in der Apotheke war er kaum zu sehen."<br />

Wolf-Dieter Krause, der derartige Motive bestritt, zeigte Chahedi bei der<br />

Staatsanwaltschaft in Kiel wegen Unterschlagung an, zog die Bürgschaft zurück, seine<br />

Mitarbeiterin, die mit Chahedi die Ehe eingegangen war, löste flugs das Bündnis auf. Kurzum: Iraz<br />

Chahedi sah sich gezwungen, wieder dort anzufangen, wo er 1973 kurz vor seiner Ausweisung<br />

aufgehört hatte. Er besorgte sich zwei neue Bürgen - diesmal einen Oberstleutnant a. D. und einen<br />

Präsidenten der Oberpostdirektion a.D. - heiratete zum zweiten Mal ("Endlich meine Liebe") und<br />

wartete acht Monate auf das Ermittlungsergebnis, bis die Staatsanwaltschaft das Verfahren<br />

(Az:52Js65/78) ohne großes Aufheben einstellte. Weitere vier Monate vergingen, ehe sich das<br />

Kieler Innenministerium nun endgültig entschließen konnte, dem unbescholtenen Chahedi die<br />

Einbürgerungszusicherung auszuhändigen.<br />

Oft genug kommen politische Motive ins Spiel, wenn Beamte mit einem<br />

Einbürgerungsfall ihre Vorstellung von "ehrbaren Deutschen" verknüpfen - natürlich<br />

paragrafentreu.<br />

In Berlin lehnten sowohl der Innensenator <strong>als</strong> auch die XI. Kammer des<br />

Verwaltungsgerichts 1977 die Einbürgerung des Engländern Alan Posener, 30, ab. Der Pädagoge,<br />

Sohn des Architekturhistorikers Julius Posener, wurde 1949 in England geboren, wohin sein Vater<br />

1933 wegen "rassischer Verfolgung" emigriert war. Als die Poseners 1962 nach Berlin umsiedelten,<br />

ließ sich der Vater wieder einbürgern. Der gleiche Antrag wurde freilich abgewiesen, <strong>als</strong> ihn der<br />

Sohn stellte. Da nützte es auch nichts, dass Posener Junior ein deutsches Domizil vorweisen<br />

konnte, mit einer Deutschen über fünf Jahre verheiratet ist und sein erstes Staatsexamen "mit<br />

Auszeichnung" an einer deutschen Universität bestanden hat.<br />

Der Grund für den Negativ-Bescheid: Nach dem noch geltenden "Reichs-und<br />

Staatsangehörigkeitsgesetz", das im wesentlichen aus dem Jahre 1913 stammt, müssen Ausländer<br />

"einen unbescholtenen Lebenswandel" nachweisen können. Posener , nach eigenem Bekunden<br />

parteiloser Maoist, ist jedoch wegen KPD-naher Aktivitäten zu zwei Bagatellstrafen von jeweils 300<br />

Mark verurteilt worden. So hatte er mit einer Spraydose an eine Berliner AEG-Mauer den Satz<br />

gesprüht: "Weg mit dem Staatsschutzgesetz gegen die KPD." Das Verwaltungsgericht meinte,<br />

derlei Graffiti-Malereien seien "Ausdruck einer gewissen Gesinnung, die zu Straftaten führt".<br />

341


In Frankfurt am Main musste der von den Nation<strong>als</strong>ozialisten verfolgte<br />

Schallplattenhändler Peter Philipp Gingold mit seiner Familie sechs Jahre um seine Einbürgerung<br />

bangen. Gingold, jüdischer Kommunist, hatte in Frankfurt aktiv in der Widerstandsbewegung<br />

gegen die Nazis gekämpft. Nach langen Auseinandersetzungen bekam er schließlich 1974 von der<br />

VI. Kammer des Frankfurter Verwaltungsgerichts sein Anrecht zugesprochen, Deutscher sein zu<br />

dürfen. Das Bundesinnenministerium hatte zuvor eine Einbürgerung mit dem Hinweis strikt<br />

abgelehnt, sie setze "ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung unserem<br />

Staate gegenüber" voraus. Im Falle Gingold lasse es "sich mindestens nicht ausschließen", dass<br />

dieses Engagement fehle. Ein "staatliches Interesse" an der Aufnahme Gingolds und seiner Familie<br />

"in den deutschen Staatsverband kann nicht bejaht werden", entschieden die Hausjuristen aus dem<br />

Bonner Ministerium.<br />

Dagegen bejahte die bayerische Landesregierung in München außerordentlich lebhaft die<br />

Einbürgerung des Otto von Habsburg, Sohn des letzten österreichischen Kaisers. Dass das<br />

Kabinett des Franz Josef Strauß (*1915+1988) mit der „Lex Habsburg“ gegen die gültige<br />

Rechtsverordnung verstieß, wonach die bayerische Landesregierung sowohl beim<br />

Bundesinnenministerium <strong>als</strong> auch beim Auswärtigen Amt hätte um Zustimmung nachsuchen<br />

müssen (Paragraf 3 der Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit vom 5. Februar 1934),<br />

war in diesem scheinbar hochrangigen Fall unerheblich.<br />

Auch Habsburgs Einstellung zur "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" erschien<br />

den CSU-Ministern offenbar makellos. Dabei machte der Neu-Deutsche nicht nur von sich reden,<br />

<strong>als</strong> er den Friedensnobelpreis auch für den früheren ugandischen Massenmörder Idi Amin forderte,<br />

weil Willy Brandt und Henry Kissinger diese Auszeichnung erhalten hätten. Er empfahl der<br />

bundesdeutschen Bevölkerung gar eine "Diktatur auf Zeit". Im Falle einer terroristischen<br />

Erpressung mit einer "Atombombe aus der Waschküche", so von Habsburg, müsse "alle Macht<br />

ohne Verzug auf neun Monate an eine einzige Person übertragen" werden. Und weiter: "Dieser<br />

Mann sollte, nur für die Zeit des Notstands, das Recht haben, sämtliche Gesetze zu suspendieren ...<br />

Mit dem Staatsnotstand tritt automatisch er an die Stelle des Kanzlers." Nur so könne den<br />

Terroristen deutlich gemacht werden, dass im entscheidenden Moment "nur ein einziger Finger am<br />

Abzug sein wird". Im Münchner Landtag, lobte der frühere bayerische Innenminister Alfred Streibl<br />

die Notstandsphilosophie der "Kaiserlichen Hoheit". Seine Überlegungen hätten doch gerade zum<br />

Ziel, die Verfassungsordnung zu erhalten.<br />

Einbürgerung auf Bayerisch ist ohnehin nicht mit dem Rest der Republik vergleichbar.<br />

Das zeigt sich, wenn bayerische Behörden bei Ausländern "Kenntnisse der staatlichen Ordnung der<br />

Bundesrepublik Deutschland" abfragen. Original-Ton aus dem Donau-Ries-Kreis nach einem<br />

Fragebogen:<br />

• "Geben Sie wenigstens die erste Verszeile der bayerischen Nationalhymne an."<br />

• "Wissen Sie, welche Tage der Freistaat Bayern <strong>als</strong> solche der Arbeitsruhe gesetzlich<br />

geschützt hat?"<br />

• "Woran ist ein deutscher Volkszugehöriger zu erkennen?<br />

• "Nennen Sie die deutschen Gebiete, die nach dem Zweiten Weltkrieg an<br />

Nachbarstaaten fielen."<br />

Da wundert's eigentlich niemanden, wenn ein deutscher Schriftsteller beim Landratsamt in<br />

Hinterpfaffenhofen von einem Amtmann nach einem zweistündigen Gespräch gefragt wird:<br />

342


"Sagen Sie mal, woher kommt es, dass Sie so gut Deutsch daherreden?" Gemeint ist Manfred Bieler<br />

(*1934 - +2002) -"Maria Morzek", "Der Mädchenkrieg", "Der Kanal"), der sich nach seiner Flucht<br />

aus Prag im August 1968 um die deutschen Staatsbürgerschaft bemühte. Er war ein Deutscher<br />

ohne deutschen Pass.<br />

Der DDR-Bürger Bieler war 1967 nach Prag übergesiedelt, um seine Frau Marcella<br />

heiraten zu können. Zehn Monate konnte er in der CSSR ein Tschechoslowake sein, dann war er<br />

nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Deutschland - im bundesdeutschen<br />

Hinterpfaffenhofen. "Ja, da haben Sie halt Pech, wenn Sie mal Deutscher waren, jetzt sind Sie eben<br />

Tschechoslowake", murmelte der Amtmann vor sich hin.<br />

Fünf Jahre sollte er auf die deutsche Staatsangehörigkeit warten, seine tschechische Frau<br />

zehn Jahre. Und für die Einbürgerung ist das Deutsch-Diktat zwingende Voraussetzung; auch für<br />

einen deutschen Schriftsteller. Um sich wenigstens dieser Peinlichkeit zu entziehen, brachte der<br />

Bestseller-Autor dem Herrn vom Amt einige seiner Werke mit. So diktierte eine Sekretärin lediglich<br />

Bielers Frau eine kurze Passage - aus einem Münchner Boulevard-Blatt.<br />

Konzilianter gaben sich die Beamten erst, <strong>als</strong> Druck von oben kam. Im Jahre 1971 erhielt<br />

Manfred Bieler nämlich den bayerischen Förderungspreis für Literatur - eine Auszeichnung, die nur<br />

an Deutsche verliehen werden kann. Ähnlich wie die CSSR-Eishockey-Spieler, die nur mit einem<br />

deutschen Personalausweis in der deutschen Nationalmannschaft spielberechtigt sind, wurde Bieler<br />

im Hauruck-Verfahren zum Deutschen gemacht.<br />

Allerdings blieben die bayerischen Beamten in Sachen Volksverseuchung penibel. Prag<br />

hin, Literatur her - erst <strong>als</strong> "ein Löffelchen der Bielerschen Exkremente" (Bieler) im<br />

Gesundheitsamt analysiert worden war, durfte der Familie die Einbürgerungsurkunde ausgehändigt<br />

werden. Dam<strong>als</strong> hatte Manfred Bieler "einen gelinden Schock", heute erheitert ihn die Episode nur<br />

noch. Dam<strong>als</strong> war die Bundesrepublik für ihn auch noch ein "fremdes Land", heute ist er<br />

wenigstens in München heimisch geworden.<br />

Heimat, hat ihm einmal ein Freund gesagt, sei für ihn dort, wo er einen Stuhl finde. Für<br />

Bieler könnte die in San Franzisco, Paris, Venedig, Rom, oder auch wieder Prag sein.<br />

Für die bundesdeutschen Gastarbeiterkinder steht dieser Stuhl auf den Hinterhöfen von<br />

Berlin-Kreuzberg, in den Getto-Verliesen des Ruhrgebietes und in Hamburg-Altona. Über 500.000<br />

sind in Deutschland geboren sprechen die Sprache des Landes, aber kaum die ihrer Väter, über<br />

900.000 gehen hier zur Schule und wollen, wenn möglich, einen Beruf erlernen, nur Deutsche<br />

können sie nach dem bisherigen Ausländerrecht schwerlich - noch immer nicht werden. Stillstand<br />

seit Jahrzehnten. Das Abstammungsprinzip, wonach in der Bundesrepublik Deutsche von Nicht-<br />

Deutschen unterschieden werden, steht ihnen im Wege: Wer keinen deutschen Vater und keine<br />

deutsche Mutter hat, ist Ausländer ohne sonderliche Rechte. – Blutstropfen.<br />

Aber es regt sich Widerstand. Für den türkischen Lyriker Aras Ören ("Was will Niyazi in<br />

der Naunynstraße", "Deutschland, ein türkisches Märchen") sollen die Gastarbeiter "nicht ihre<br />

Haare blond färben, um hier bleiben zu können". Die Deutschen müssten sich vielmehr damit<br />

abfinden, dass, sozial und historisch betrachtet, keine Arbeitskraft an ihren geografischen<br />

Ausgangspunkt zurückkehrt. Ören, der in Berlin lebt und dort auch bleiben will, sieht bei der<br />

zweiten Gastarbeitergeneration kein Sprachproblem mehr, dafür aber tief greifende<br />

Identitätsschwierigkeiten.<br />

343


Hier liegt ein sozialer Sprengsatz, den das Bundeskriminalamt (BKA) schon vorsorglich<br />

untersuchen lässt. Ein geheim gehaltenes Forschungsinstitut einer deutschen Universität soll die<br />

"Entstehungsbedingungen erfragen und analysieren. Dabei interessiert vor allem die Frage, warum<br />

manche Gastarbeiter-Jugendliche "sich zu kriminellen Banden zusammenschließen. Denn solche<br />

"Gangs, so die Vermutung der BKA-Kriminologen, könnten der Ausgangspunkt für eine Mafia in<br />

der Bundesrepublik sein.<br />

Dass es zu solchen Entwicklungen kommt, möchte der einstige "Gastarbeiter-<br />

Beauftragte" Heinz Kühn durch eine Revision des Ausländergesetzes verhindern: Per Postkarte, so<br />

verlangt der SPD-Politiker, sollen in der Bundesrepublik geborene Ausländer ihre deutsche<br />

Staatsangehörigkeit abrufen können. Denn zur viel zitierten Integration gehöre zunächst einmal die<br />

rechtliche Gleichstellung mit deutschen Kindern und damit auch die Gewissheit, zu diesem Land<br />

zu gehören.<br />

Wird <strong>als</strong>o der Weg zu einem deutschen Ausweis wenigstens für die Kinder der<br />

Gastarbeiter kürzer? Bisherige Erfahrungen stimmen wenig optimistisch. Und wie sagte noch Bert<br />

Brecht ( *1896+1956): "Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtinnigste Art. Ein<br />

Pass niem<strong>als</strong>."<br />

344


SUFF BEIM BUND – DIE BIERFAHNEN DER ARMEE<br />

Sonntagabend ist in manchen Schnellzügen der Teufel los. In Rudeln kehren<br />

junge Soldaten nach dem Wochenende in ihre Standorte zurück. Sie lassen sich in Abteilen<br />

und Gängen mit Bier volllaufen. Im Speisewagen des "Intercity 618" von Stuttgart nach<br />

Hamburg bot sich am 20. Mai dieses fatale, dem Zugpersonal jedoch gewohnte Bild.<br />

Randalierende Rekruten grölen: "Wir scheißen auf die Bundeswehr." Auch im Dienst<br />

macht sich, obwohl verboten, der Suff in den Streitkräften gefährlich breit. Die Pest dieser<br />

Jahrzehnte heißt "Alkoholismus", von dem 4,3 Millionen Menschen befallen - erkrankt<br />

sind. In den Kasernen der Armee tobt eine verschärfte "Flaschen-Schlacht".<br />

ZEITmagazin, Hamburg vom 27. Juli 1979<br />

Der Tag ist wie jeder andere im schleswig-holsteinischen Lütjenburg, aber er endet <strong>als</strong> ein<br />

schwarzer Freitag. Schon am frühen Nachmittag wirkt das Garnisonsstädtchen nahe der Ostsee wie<br />

ausgestorben; abends sind die beiden Diskotheken "68" und "Why not" wie leer gefegt. Zu<br />

Wochenendbeginn hält es keinen der über tausend Soldaten freiwillig in der abseits gelegenen<br />

Kleinstadt. Sie alle hasten, ob per PKW oder per Bahn nach Hause - meist ins über vierhundert<br />

Kilometer entfernte Ruhrgebiet. Ein gewöhnlicher Wochenend-Exodus, im Bundeswehr-Jargon<br />

kurz "Nato-Rallye" genannt.<br />

Nur für das 8. Bataillon des Flugabwehrregiments 6 aus der Lütjenburger Schill-Kaserne<br />

ist Ausgangssperre verhängt worden. Feindbeobachtung und Nachtalarm stehen auf dem<br />

Programm. Das jedenfalls sagte Oberfeldwebel Soboll am Freitagmorgen um 8.30 Uhr in der<br />

Kaserne an. Keine zwölf Stunden später sagt er auf dem Übungsgelände Hohensasel den<br />

Nachtalarm wieder ab, Lagerfeuer müssen gelöscht, Zelte eilig zusammengepackt werden, die etwa<br />

dreißig Soldaten sollen sich im Galopp marschfertig machen. Für die 18- bis 20jährigen, die gerade<br />

erst vier Wochen beim Bund dienen, ist Unvorstellbares geschehen. Manche heulen laut vor sich<br />

hin, andere schreien fassungslos: "Das kann doch nicht wahr sein."<br />

Auf dem Boden liegt reglos Wilfried Klauber aus Oberhausen. Sein Kopf ist knallrot<br />

unterlaufen, Todesangst steht in seinen Augen; niedergestreckt durch eine 9-Millimeter-Partone aus<br />

dem Lauf einer P-38-Pistole. - Der ärgste Feind der westdeutschen Armee hat an diesem Freitag<br />

das 8. Bataillon des Lütjenburger Flugab-wehrregiments 6 außer Gefecht gesetzt: der Alkohol, dem<br />

inzwischen 92 Prozent aller Gewalttätigkeiten bei der Bundeswehr zuzuschreiben sind.<br />

Mit dem Suff hatte es schon in den frühen Morgenstunden begonnen. Statt Tee oder<br />

Kaffee füllten sich manche Rekruten ihre Feldflaschen mit Whisky oder Gin. Auf dem<br />

Übungsgelände in Hohensasel machten dann die Alkoholika <strong>als</strong> "stille Post" die Runde. Aber auch<br />

die Unteroffiziere nippten heimlich mit. Rekrut Hermann Steinert: "Das war zwischen uns eine<br />

unausgesprochene Abmachung. Entweder wir heben unseren Vorgesetzten etwas ab, oder die<br />

erstatten Meldung."<br />

Gegen 18 Uhr tauchten die ersten Biere und eine Kornflasche auf. Ein Vorrat, den sich<br />

Unteroffiziere und ihr Oberfeldwebel vorsorglich mitgebracht hatten. Kaum waren die Flaschen<br />

geleert, wurde unter den Soldaten die "obligate Suffkollekte" veranstaltet. Drei Mann marschierten<br />

los, um aus dem Gasthof "Gut Rantzau" für Nachschub zu sorgen.<br />

Locker und feucht-fröhlich hockten Hermann Steinert und seine Kameraden vorm<br />

Lagerfeuer sangen: "Wir lagen vor Madagaskar und hatten unser Bier an Bord;" und empfanden die<br />

345


abendliche Atmosphäre "so ein bisschen wie früher im Schulland-heim". Jedenfalls bis zu jenem<br />

Augenblick, <strong>als</strong> Unteroffizier Jürgen Bethke, mit Bierpulle und P-38Pistole bewaffnet zu ihnen<br />

stieß. Großzügig bot der 24jährige Bethke "seinen Jungs", wie er sie oft unter starkem<br />

Alkoholeinfluss nannte, den Restaufschnitt vom Abendbrot an. Allerdings nur, wenn man sich bei<br />

ihm persönlich Salami und Schinken abholen würde. Dies wurde für den 20jährigen Betonmauer<br />

Wilfried Klauber zum Verhängnis. Als der arglose Klauber vor seinem angetrunkenen Unteroffizier<br />

stand, hatte dieser den Aufschnitt schon hastig heruntergewürgt. Statt dessen fischte er sich das<br />

Schiffchen des Rekruten und schmiss es ins Feuer. Nunmehr wollte sich Klauber das Schiffchen<br />

des Vorgesetzten angeln. Zunächst schwankte der Unteroffizier noch tänzelnd hin und her, zog<br />

dann aber blitzartig seine Pistole. Zeuge Steinert: "Erst hantierte Bethke mit dem Ding in der<br />

Gegend herum, nahm eine Patrone aus dem Magazin, zeigte sie uns stolz, steckte sie darauf wieder<br />

ein. Ich sah, wie Bethke aus zweieinhalb Metern Entfernung einen Schuss auf den hilflosen<br />

Klauber abfeuerte."<br />

Auf dem morastigen Übungsplatz Hohensasel kam keiner auf die Idee, einen<br />

Rettungshubschrauber zu rufen. Bloß keine Feldjäger, Zeit gewinnen hieß die Devise. Minuten um<br />

Minuten verstrichen. Als der Krankenwagen, ein geländeuntüchtiger Ford Transit, der mehrere<br />

Male im Sumpf stecken blieb, endlich Hohensasel erreicht hatte, lag keine Bierflasche mehr herum.<br />

Selbst der inzwischen angekommene Kisten-Nachschub aus dem Gasthof "Gut Rantzau" war<br />

eiligst vergraben worden. "Alle waren wie genervt", erinnert sich Steinert. "Vor allem, <strong>als</strong>o noch so<br />

ein paar Kopflose den schwerverletzten Klauber f<strong>als</strong>ch herum in den Krankenwagen schoben."<br />

Erst gegen 23 Uhr klingelt bei der Familie Klaubert in Oberhausen das Telefon. Am<br />

Apparat die Universitätsklinik Kiel: "Bitte kommen Sie sofort. Ihr Sohn ist angeschossen worden.<br />

Er wird den nächsten Tag wohl nicht mehr überleben."<br />

Unterdessen hat Hauptmann Rommel, der in Zivil in die Kaserne geeilt war, das bereits<br />

zurückgekehrte 8. Bataillon im Unterrichtsraum versammelt. "Der Zustand ist nicht<br />

lebensgefährlich, sondern lediglich lebensbedrohlich", bemerkt der Hauptmann beschwichtigend.<br />

Gleichzeitig ermahnt Rommel seine Sprösslinge: "Machen Sie Ihren Dienst so wie bisher, und<br />

gehen Sie Ihren Pflichten weiterhin gewissenhaft nach." Das war die erste und auch die letzte<br />

Verlautbarung, die den Soldaten in Sachen ihres Kameraden Klaubers mitgeteilt wurde.<br />

Fünf Tage rang Wilfried Klauber auf der Intensivstation der Kieler Universitätsklinik mit<br />

dem Tode. Als er ihm schließlich getrotzt hatte, wurde dem 20jährigen zur Gewissheit, dass er<br />

querschnittsgelähmt sein Leben lang an einen Rollstuhl gefesselt bleiben würde. Klauber ist kein<br />

Einzelfall.<br />

346<br />

• In Leck bei Flensburg versetzte der stellvertretende Kommodore vom<br />

Aufklärungsgeschwader 52, Gerhard Ladewig, nachts um 2.50 Uhr zweitausend<br />

Soldaten, Beamte und Arbeiter in den Nato-Ernstfall. Piloten liefen in ihre<br />

Staffelunterkünfte, Sicherungssoldaten bezogen Stellungen, Stahltüren der<br />

Betonschutzbunker wurden geöffnet und die schweren Phantom-Aufklärer ins Freie<br />

geschleppt. Über eine halbe Stunde saßen 18 Piloten und Kampfbeobachter<br />

angeschnallt in ihren Maschinen, Feuerwehren hatten sich postiert, Wetterfrösche<br />

registrierten Wind- und Sichtbedingungen, Radarspezialisten beobachteten ihre<br />

Schirme, die ersten Urlauber wurden zurückgerufen, Befehlstand war jedoch nicht die<br />

Kaserne, sondern die Dorfkneipe "Kupferkanne". Dort hatte Oberstleutnant<br />

Ladewig eine Nacht mit Freunden durchgezecht. Per Telefon gab er lallend das


entsprechende Kodewort zum Befehl der Ernstfall-Übung an die Bereitschaft durch -<br />

die "Aktion Kupferkanne" begann.<br />

• In Zweibrücken wollte der Rekrut Friedrich Reinstadler nach einem Pinten-<br />

Rundgang den Zapfenstreich um 22 Uhr nicht einhalten und im Bereitschaftsraum<br />

der Niederauerbach-Kaserne weiter bechern. Der Unteroffizier vom Dienst befahl<br />

ihm drei Mal, auf die Stube zu "gehen". Doch Reinstadler verweigerte den<br />

Gehorsam. Die Folge: Arrest in der Zelle. Die Strafe löste bei Reinstadler eine<br />

verhängnisvolle Kurzschlussreaktion aus. Mit seinen Stiefelschnüren erhängte er sich<br />

am Fenster-kreuz. Er war gerade 20 Jahre alt geworden, <strong>als</strong> ihn die Wachpatrouille tot<br />

auffand.<br />

• Soldaten der schleswig-holsteinischen Marinefliegergeschwader 1 und 2 glaubten<br />

besonders pfiffig zu sein. In Ersatzteilkisten und Raketenhülsen ihrer vier Transall-<br />

Maschinen hatten sie auf dem Rückflug von Sardinien insgesamt 50.000 Zigaretten,<br />

1.000 Flaschen Sekt und 30 Flaschen Cognac deponiert. Erst <strong>als</strong> mehrere Flaschen<br />

zerbrochen waren und Cognac aus den olivgrünen Ersatzteilkisten durchsickerte, flog<br />

der Coup auf.<br />

Drei Beispiele aus dem Alltag der Bundeswehr, die an Traditionen verflossener<br />

Soldatenzeiten erinnern. Denn Alkohol ist seit eh und je reichlich in den deutschen Garnisonen<br />

geflossen. Das Motto "nur ein kräftiger Schlucker ist auch ein guter Soldat" hat beide Weltkriege<br />

überlegt. Schon zu Kaisers Zeiten mussten die Fahnenjunker emsig trinken, um auch noch im Suff<br />

den älteren Offizieren ihre Contenance zu beweisen. Aber auch in Hitlers Wehrmacht blieben<br />

Maßhalteappelle der Kommandeure ohne die erhoffte Resonanz.<br />

Die Alkoholwelle, die seit Jahren in die Bundeswehr schwappt, ist ernster zu nehmen, <strong>als</strong><br />

es viele Militärs auf der Bonner Hardthöhe für möglich gehalten haben. Noch im Jahr 1973<br />

präsentierte das Verteidigungsministerium den Medien eine soziologische Untersuchung, wonach<br />

Bundeswehr-Soldaten mehr an Sport und Sex, Flippern und Schach <strong>als</strong> am Bier interessiert seien.<br />

Fazit der Studie: Selbst in Kasernen werde nicht viel getrunken. Tatsächlich lagen dem<br />

Führungsstab schon zur damaligen Zeit - 1971 bis 1974 - alarmierende Zahlen unter "besondere<br />

Vorkommnisse" vor:<br />

• 25 Tote und Schwerverletzte bei Kraftfahrzeugunfällen unter Alkoholeinfluss im<br />

Dienst;<br />

• 161 Tote bei Unfällen mit Privatautos nach Trinkgelagen;<br />

• 23 Selbstmorde und 402 Selbstmordversuche im Promillerausch 0 764 Soldaten<br />

verweigern aufgrund ihres Alkoholkonsums den Gehorsam und griffen ihre<br />

Vorgesetzten tätlich an.<br />

Dies sind Fakten, die Aussagen des Psychiaters Brickenstein vom Bundeswehr-<br />

Krankenhaus Hamburg-Wandsbek stützen: "Sie ertränken ihren Kummer über die Trennung von<br />

ihrer Freundin, Braut, Ehefrau oder Lieblingsbeschäftigung." Aber auch der damalige<br />

Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, der Weltkrieg-II-Major Fritz-Rudolf Schultz<br />

(*1917+2002), warnte das Parlament eindringlich vor dem rapide steigenden Alkoholkonsum in der<br />

Armee.<br />

347


Immerhin glaubt die Bundeswehr-Führung, durch strikte Befehle den Bierdurst<br />

einschränken zu können. Bereits dam<strong>als</strong> war man sich jedoch auf der Bonner Hardthöhe klar, "dass<br />

alle getroffenen Maßnahmen und geltenden Vorschriften nicht ausreichen; nicht einmal die<br />

Zunahme des Alkoholmissbrauchs ist verhindert worden", heißt es in dem vertraulichen Vermerk<br />

(Fü S I5 Az.: 35-20-17-o2). Und in den "Richtlinien für das Verhalten gegenüber betrunkenen<br />

Soldaten" räumt das Ministerium ein: "Es hat sich gezeigt, dass bei der Behandlung betrunkener<br />

Soldaten schwere Fehler gemacht werden ... Soldaten bedürfen dringend des kameradschaftlichen,<br />

gegebenenfalls sogar ärztlichen Beistandes ... ".<br />

Der inzwischen verstorbene Generalinspekteur, Admiral Armin Zimmermann<br />

(*1917+1976), ordnete daher ein absolutes Alkoholverbot während der Dienstzeit an.<br />

Zimmermann im Jahre 1974: "Der Alkoholmissbrauch hat ein Ausmaß erreicht, das ein energisches<br />

Eingreifen aller zuständigen Vorgesetzten erforderlich macht." Im selben Jahr segnete Georg<br />

Leber, Verteidigungsminister in den Jahren von 19721978, einen vertraulichen Vermerk für die<br />

Personalführung bei den Streitkräften ("Fü S I 4") ab. Darin heißt es: "Die steigende Zahl der<br />

Selbstmordfälle und -versuche besonders bei der Jugend verpflichtet auch die militärischen<br />

Vorgesetzten zu besonderer Aufmerksamkeit ... süchtige Bindungen an Alkohol, Arzneimittel oder<br />

Drogen ... gefährden den Soldaten. Eine straffe Führung, ein ausgewogener Dienst-plan ... und das<br />

Angebot an Freizeit können vorbeugend helfen. Herum gammeln führt nicht selten zu<br />

übermäßigen Alkoholgenuss."<br />

Dam<strong>als</strong> war Karl Wilhelm Berkhan (*1915+1994) noch parlamentarischer Staatssekretär<br />

im Bonner Verteidigungsministerium. Auf zahllosen Standortbesuchen bemühte er sich um engen<br />

Kontakt zu den Soldaten. Als Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages reiste der umsichtige<br />

Berghan wiederum von Garnison zu Garnison. Seine alte Sorge war fortwährend die alte geblieben:<br />

Suff beim Bund - und kein Ende in Sicht. Eingebettet im gesellschaftlichen Sog - im Jahre 1950<br />

waren es 200.000, mittlerweile leben in der Bundesrepublik über zwei Millionen Alkoholiker -stellte<br />

Berghan in seinem Jahresbericht für 1978 fest, "dass der Alkoholmissbrauch schwer-wiegende<br />

Beeinträchtigungen der militärischen Ordnung und Disziplin bewirkt."<br />

Dass nun ausgerechnet ein intimer Kenner der Bundeswehr-Szene Bier-und Korn-sucht<br />

der Soldaten schonungslos in der Öffentlichkeit rügt, wurde wie eine Rufschädigung des<br />

Unternehmens Armee empfunden. In der Parlamentsdebatte zum Bericht des Wehrbeauftragten<br />

warnte der damalige Verteidigungsminister Hans Apel davor, die Armee <strong>als</strong> "eine Horde von<br />

Saufbolden und Schindern" abzustempeln. Nach seinen Angaben sind die Verstöße unter<br />

Alkoholeinwirkung von 1977 auf 1978 um 27 Prozent zurückgegangen. Auch der CDU-<br />

Wehrexperte Leo Ernesti bescheinigte der Truppe, "besser <strong>als</strong> ihr Ruf" zu sein. Und sein Kollege<br />

Erwin Horn erklärte: Die Bundeswehr sei nun mal keine "Heilsarmee".<br />

Die aufschlussreicheren Zahlen über disziplinargerichtliche Verfahren (in der Debatte<br />

ging es um harmlose Dienstvergehen) ließ Minister Hans Apel aus gutem Grund im Ministerium:<br />

<strong>als</strong> "Verschlusssache" und "nur für den Dienstgebrauch". Unter der Rubrik "Alkoholmissbrauch,<br />

Trunkenheit am Steuer" stieg danach die Zahl der Verfahren von 1976 auf 1978 um 138,7 Prozent<br />

und damit auf 74 Anklagen. Unter der Rubrik "Sittlichkeitsdelikte, Ungehorsam, Mord, Totschlag,<br />

Drogen" etc. stiegen die disziplinarrechtlichen Verfahren von 1976 auf 178 um 179 Prozent und<br />

damit auf 53 Anklagen. Und unter der Rubrik "unerlaubtes Fernbleiben" stiegen die<br />

disziplinarrechtlichen Verfahren von 1976 auf 1978 um insgesamt 257 Prozent und damit auf 50<br />

Verfahren.<br />

348


Dabei hatte Karl Wilhelm Berkhan gar keine Debatte um Prozente entfachen wollen.<br />

Alkoholexzesse in den Reihen der Bundeswehr sah er vielmehr <strong>als</strong> ein Führungsproblem an. Dort,<br />

wo es drunter und drüber geht, "greifen die Vorgesetzten selbst zur Flasche". Berkhan runzelt die<br />

Stirn: "Ein geordnetes militärisches Gehirn wird einen Befehl nicht vom Barhocker geben, nicht<br />

einmal von einer Theke."<br />

Ein Kompaniechef im Majorsrang, so der Berkhan-Bericht, sah das anders. Am Abend<br />

vor einer Übung betrank er sich derart, dass er am nächsten Morgen seine Kompanie nicht führen<br />

konnte. Am selben Abend ließ er sich - trotz Alkoholverbot - wiederum volllaufen und weigerte<br />

sich, die Gaststätte zu verlassen. Die Kompanie wurde daraufhin von einem Hauptfeldwebel auf<br />

den Übungsplatz geführt. Als der Major am dritten Abend vom Schirrmeister aus der Kneipe<br />

geholt wurde, war er wiederum betrunken.<br />

Derselbe Major, alarmierte zwei Monate nach diesen Vorfällen gegen 0.45 Uhr die<br />

Kompanie, so dass ein Teil der Unteroffiziere - es war Spätherbst - bei Nebel und Reifglätte zur<br />

Unterkunft fahren musste. Als die Unteroffiziere im Kompaniegebäude auf die Befehle warteten,<br />

weigerte sich der Major das Offiziersheim zu verlassen. Er betrank sich bis morgens um 4 Uhr.<br />

Einem Zugführer, der sich höflich nach weiteren Befehlen erkundigte, bedeutete er zunächst<br />

"Mittagspause" und danach "Dienst in den Funktionen".<br />

Nicht selten führt solches Fehlverhalten von Offizieren zu privaten Zerwürfnissen, die<br />

Berkhan so beschrieb: "Vier Leute am Tisch, jeder zwölf Schnäpse. Ich, Unteroffizier, bin doch ein<br />

richtiger Kerl, ich muss auch mittrinken. Und hinterher, wenn sie nach Hause gehen, gerät er mit<br />

seinem Oberstleutnant aneinander. Dann sagt der Oberstleutnant noch in seinem Suff, ich erteile<br />

Ihnen einen Befehl. Da sagt der Unteroffizier, du kannst mir gar nichts befehlen, und haut ihm eine<br />

in die Schnauze. Und dann stehen sie vorm Richter. Es ist ein unerträglicher Zustand."<br />

Ein wichtiger Seismograf für die Bierfahnen in der deutschen Armee sind die<br />

Wochenendzüge zwischen Norddeutschland und Rhein/Ruhr. Genervt vom Wochen-Drill, vom<br />

gottverlassenen Nest in der Heide oder an der Ostsee, ohne sinn-volle Freizeitmöglichkeiten (der<br />

Bund gibt für die außerdienstliche Betreuung seiner Soldaten jährlich sieben Mark pro Mann aus),<br />

nur sich selbst oder der Kneipe überlassen, empfinden die Wehrpflichtigen jeden Freitag wie einen<br />

Befreiungstag, auch wenn sie die Hälfte des Wochenendes auf der Heimfahrt in der Eisenbahn<br />

verbringen.<br />

Mit zwei Paletten Dosenbier, das Stück zu 45 Pfenning, und dem Kassettenrekorder mit<br />

dem Amanda-Lear-Band in der Reisetasche geht's in den Zug; neuerdings in den schnelleren<br />

Intercity, seitdem das Prunkstück der Bundesbahn auch die zweite Wagenklasse führt. Meist sind<br />

die Waggons brechend voll, die "BWs", wie sie sich nennen, sitzen dann auf dem Gang, liegen in<br />

der Gepäckablage oder kabbeln sich mit dem Schaffner, warum sie nicht erster Klasse fahren<br />

dürfen. "Ich bin BW, du bist BW, dann die Tassen hoch."<br />

Anders dagegen sieht es auf der Rückfahrt am Sonntagabend aus. Da ist die<br />

Grundstimmung weitaus aggressiver. Da geht schon mal ein Speisewagen wie der des Intercity-<br />

Zuges "Kommodore" bei einer Massenschlägerei zu Bruch, da brennen Toiletten, da werden<br />

Scheiben zertrümmert da werden auch Fahrgäste am Aus-steigen gehindert - nach dem Motto "die<br />

nächste Station kommt bestimmt".<br />

"Wir, von der ersten Kompanie, wir sind besoffen wie noch nie", grölten etwa Rekruten<br />

im Speisewagen des Intercity-Zuges "Heinrich Heine", den sie gern in "Landser-Express" umtaufen<br />

würden. Zwischen Bremen und Hamburg steigen sie auf den Tisch, schreien "Bundeswehr<br />

349


scheiße", einer zieht die Hose runter, ein anderer schon seine Uniform ab, denn soeben hatte der<br />

Schaffner über Lautsprecher mit Gong signalisiert: "Meine Damen und Herren, in wenigen<br />

Minuten erreichen wir Hamburg-Hauptbahnhof."<br />

Dazu Karl Wilhelm Berghan: "Wir müssen wirklich andere Wege gehen." Während<br />

Bundeswehr und Bundesbahn in vertraulich vereinbarten Gesprächen herumrätseln, wie<br />

Bierkonsum und Brutalität zumindest in der Öffentlichkeit eingedämmt werden können - etwa mit<br />

rollenden Feldjägerkommandos in der Bahn -, hatte Karl Wilhelm Berghan gezielte Vorstellungen,<br />

wie sich die sinnlose und ruinöse Sauferei reduzieren ließe. Er empfahl, die Wehrpflichtigen<br />

"heimatnäher" einzuziehen. Auch sollten die gerade erst Achtzehnjährigen nach dem Fünfuhr-<br />

Dienstschluss nicht Abend für Abend ihre Probleme mit sich allein ausmachen. Vielmehr sollten<br />

die Vorgesetzten mit ihren Rekruten auch in der Freizeit Arbeitsgemeinschaften für Schach,<br />

Fußball, Politik usw. aufziehen.<br />

Dem Bonner Führungsstab empfahl Berkhan quasi <strong>als</strong> Vermächtnis seiner Zeit <strong>als</strong><br />

Wehrbeauftragter: "Schleunigst einen Forschungsauftrag zu vergeben", der die Ursachen von<br />

Angst-, Alkohol- und Aggressionsschüben in den Streitkräften durchleuchtet. Geändert hat sich<br />

über all die Jahre - Jahrzehnte - nichts. Es wird weiter gesoffen. Einen solchen Schub durchlebten<br />

etwa zwei Gefreite, die angezecht und aggressionslustig einen 28 Tonnen schweren Schützenpanzer<br />

"Marder" entführten und zweihundert Kilometer über die Autobahn jagten. Polizei und Feldjäger<br />

hatten eine unruhige Nacht. ehe sich die beiden 19- und 2ojährigen Amokfahrer schließlich in der<br />

Nähe von Hannover festnehmen ließen - bierselig lächelnd.<br />

350


REGIS DEBRAY: MIT EINER "AMOUR FOUX " VOR<br />

VIELEN, VIELEN JAHREN REVOLUTION GEMACHT<br />

Der französische Intellektuelle Régis Debray, Sohn einflussreicher Eltern aus dem<br />

Großbürgertum, wurde 1967 Bolivien gemeinsam mit dem Revolutionär Che Guevara im<br />

Dschungel von Militärs gefasst. "Che" (*1928+1967) wurde einen Tag später - am 9.<br />

Oktober 1967 - ohne Gerichtsverfahren erschossen. Régis Debray hingegen blieb die<br />

Hinrichtung erspart, weil er Ausländer war. Ein Militärtribunal verurteilte Debray zu einer<br />

30jährigen Haftstrafe. - Märtyrer-Zeiten. Nach vorzeitiger Entlassung zählte er zum<br />

Beraterkreis des 1973 umgekommenen chilenischen Staatspräsidenten Salvador Allende<br />

(*1908 +1973). Zurück in Paris vermarktete Debray u. a. persönliche Guerilla-Erlebnisse zu<br />

einem Schlüsselroman. - Ein Epos, in dem er seiner Geliebten, der deutschen Partisanin<br />

Monika Ertl, (*1937+1973) ein höchst zweifelhaftes literarisches Denkmal setzte.<br />

Romantiker-Jahre. Für dieses Werk "La neige brûle" (Der Schnee brennt) über Mord und<br />

Liebe im Guerilla-Milieu erhielt Régis Debray im Jahre 1977 den renommierten Prix<br />

Femina Literaturpreis in Frankreich. In den achtziger Jahren fungierte Debray <strong>als</strong><br />

außenpolitischer Berater des da-maligen französischen Staatspräsidenten François<br />

Mitterrand (*1916+1996). - Legenden verflossener Epochen.<br />

ZEITmagazin, Hamburg vom 24. Mai 1979<br />

Nur ein schmaler, gewundener Dienstbotenaufgang führt auf den Dachboden eines<br />

verwinkelten Appartementhauses an der Pariser Place Dauphine. Hinter einer antiken Holztür<br />

ohne Namensschild liegt eine schmale Mansarde. Bücher stapeln sich kreuz und quer auf dem<br />

Boden, halb leere Rosé-Flaschen zieren verstaubte Regale, Bierdosen stehen mitten im Zimmer,<br />

Aschenbecher quellen über. Der winzige Balkon, der aus dem Gipfel ragt, eröffnet dem Hausherrn<br />

der Mansardenwohnung ein Weitwinkelpanorama über Alt-Paris, vornehmlich über die<br />

großbürgerlichen Häuser im Universitätsviertel Saint Michel, das auf der anderen Seite der Seine<br />

liegt.<br />

Hausherr Régis Debray trägt einen grell-gelben Schal; zwei Mal um den H<strong>als</strong> gewickelt,<br />

reicht er immer noch bis zu den Knien, darunter en königsblaues Hemd, darüber eine abgewetzte<br />

schwarze Samtjacke - und eine Hose aus grauem Flanell.<br />

Er, der Aristokraten-Sohn mit Landsitz in der Normandie, der Elitestudent der Ecole<br />

Normale Supérieure, der Jungphilosoph aus dem Dunstkreis Jean-Paul Sartres, der Revolutionär,<br />

der mit Che Guevara im Dschungel kämpfte, Chiles Präsident Salvador Allende beriet und noch<br />

über Jahrzehnte mit Fidel Castro befreundet war. - Der Theoretiker und Praktiker des<br />

Guerillakrieges, der im Jahre 1965 auszog, Südamerika zu revolutionieren und 1973, zurück in<br />

Europa, zu den engsten Beratern des damaligen französischen Sozialistenchefs und späteren<br />

Staatspräsidenten François Mitterrand (*1916 + 1996) avancierte - er kauert bei unserem Gespräch<br />

hinter seinem Schreibtisch wie ein gelangweilter Internatsschüler.<br />

Das Charisma des legendären Che Guevara-Dschungelgefährten ist längst vergilbt; eher<br />

unbeholfen und unsicher sitzt er mir gegenüber. Seine Gesichtshaut zwischen schulterlangem<br />

brünettem Haar und Schnäuzer ist blässlich. Seine wiesenflinken blauen Augen halten sich immer<br />

wieder an einem Detail seiner Wohnung fest, <strong>als</strong> ob ihm der an der Wand hängende Sombrero<br />

Sicherheit geben könnte.<br />

351


"Interviews", erklärt Debray, "habe ich schon seit über drei Jahren nicht mehr gegeben.<br />

Schließlich hat in Lateinamerika die Konterrevolution gesiegt." Überhaupt will der mittlerweile<br />

38jährige nicht mehr in seine "heldenhaft-revolutionäre Vergangenheit" zurückgeholt werden. In<br />

jene Zeit, da er "den Zeigefinger am Abzug hatte und verblüfft war, den Knall aus nächster Nähe<br />

zu hören", und wie er sah, "dass zwischen den Bäumen ein Fremder in meiner Visierlinie<br />

zusammensackte".<br />

Zu viele Tote markieren seinen Weg, "wie kleine schwarze Steine" (Debray). Von seinen<br />

alten Companeros aus dem bolivianischen Urwald und den Stadtguerillakämpfern in der<br />

Hauptstadt La Paz überlebte keiner.<br />

Régis Debray wurde nur deswegen nicht auf der Stelle von der Geheimpolizei exekutiert,<br />

weil er Ausländer war. Ein bolivianisches Militärgericht verurteilte ihn zu dreißig Jahren Gefängnis.<br />

1970, nach dreijähriger Haft, erreichten Papst Paul VI. (*1897+1978) und Charles de Gaulle<br />

(*1890+1970) seine Freilassung.<br />

So blieb ihm <strong>als</strong> einzigen aus dem Che Guevara-Kreis das Privileg, sich vom Revolutionär<br />

zum Reformer zu wandeln, die Maschinenpistole mit der Schreibmaschine zu vertauschen und aus<br />

den Untergrund-Erlebnissen von einst nun literarisches Kapital zu schlagen.<br />

In seinem ersten Roman "Der Einzelgänger" (deutsch 1976) sann er weinerlich seinem<br />

Gringo-Dasein in der lateinamerikanischen Revolutionsbewegung nach. Noch sentimentaler, wenn<br />

auch spektakulärer geriet ihm sein Opus zwei, das der Classen-Verlag soeben mit einer Bestseller-<br />

Auflage von 20.000 Exemplaren auslieferte.<br />

Sechs Jahre nach Debrays Rückkehr aus Lateinamerika und zu einem Zeitpunkt, da die<br />

Militärdiktaturen auf dem Kontinent schon lange - seit Mitte der sechziger bis weit hinein ins<br />

siebziger Jahrzehnt - für Friedhofsruhe gesorgt haben, gar die Massengräber im argentinischen<br />

Cordoba zubetoniert und die Konzentrationslager in Uruguay überfüllt sind, liest sich das Buch wie<br />

ein Schlüsselroman mit unverwechselbaren autobiografischen Zügen. "Ein Leben für ein Leben" ist<br />

Selbstbezichtigung und Offenbarungseid eines Genossen, der sich 1971 auf Kuba in eine<br />

Revolutionärin deutscher Herkunft verliebt und mit ihr gemeinsam einen politischen Mord in<br />

Hamburg vorbereitet. Ein Vergessener packt scheinbar Vergessenes aus.<br />

Boris heißt der Mann im Roman, aber er hat zu viele Ähnlichkeiten mit Régis, <strong>als</strong> dass an<br />

der Austauschbarkeit der Namen Zweifel aufkommen könnten. Wie Régis war Boris in Bolivien<br />

inhaftiert, wie Régis reiste er nach seiner Freilassung erst nach Chile, dann aber unverzüglich nach<br />

Kuba und wie Régis lernte er dort, in Miramar, eine Frau kennen, die ihn aus der Fassung brachte.<br />

Boris/Régis, der zaudernde Romantiker, dem seine starke Mutter stets Rationalität<br />

gepredigt hatte, war fasziniert von jenem "großen blonden Mädchen", das im Roman Imilla heißt<br />

und <strong>als</strong> Praktikerin "im offenen Visier, ohne Angst besiegt zu werden", charakterisiert wird.<br />

Eifersüchtig beobachtete Boris, wie Imilla nur den damaligen Verteidigungsminister Raúl<br />

Castro grüßte, ihn aber links liegen ließ. Trotzdem betete er die Genossin an, weil er glaubte, in ihr<br />

das Original gefunden zu haben, "von dem ich nur eine Fälschung war: die leibhaftige<br />

Verkörperung all dessen, was mir fehlte: diese Fähigkeit, für sich selbst verantwortlich zu sein, sich<br />

dem Zufall auszusetzen und seine eigenen Schwierigkeiten nicht sonderlich ernst zu nehmen".<br />

Eine Göttin der Résistance -ob beim Fälschen von Pässen oder bei Schießübungen.<br />

Debray schreibt: "Sie gewann bei den Maschinenpistolen auf fünfzig Meter Entfernung. Ich siegte<br />

bei den Pistolen auf 25 Meter, vor allem mit dem Colt 45, der ihr aus der Hand sprang."<br />

352


Selbst Staatschef Fidel Castro gratulierte seinerzeit Imilla zu ihrer Präzision. Sie errötete<br />

vor Stolz. Anschließend wurde Dosenbier auf der Terrasse getrunken. Und Boris erlebte ein<br />

Hochgefühl, das er nur <strong>als</strong> Pennäler zum Beginn der großen Ferien empfunden hatte.<br />

Doch trotz aller Geschäftigkeit, mit der sich Boris und Imilla auf den neuen Guerillakrieg<br />

vorbereiteten, trotz nächtelanger Diskussionen über ihre Vergangenheit, Che-Philosophie und<br />

Guerilla-Fakten - von Boris' untertäniger Liebe wollte Imilla nichts wissen. Denn: "Sie mochte<br />

keine unentschlossenen Leute, keine Lichter im Nebel, keine undurchschaubare Situation ..." -<br />

kurzum keinen Mann mit Minderwertigkeitskomplexen.<br />

Statt dessen vergnügte sie sich in Kubas Nächten mit "der Macht der Männlichkeit". Je<br />

mehr Boris sich ihre flüchtigen Amouren bewusst machte, desto geringer wurde seine<br />

Selbstachtung. Sie war "die Hure", die er hasste; er fühlte sich <strong>als</strong> sexueller Versager, <strong>als</strong> "zweite<br />

Garnitur", ein Mann von "geringer Brauchbarkeit" und "strohdumm".<br />

Als auch noch der Chef eines Kommandos, Carlos der Schakal, wieder auf Kuba<br />

auftauchte - er war einige Monate in Europa konspirativ unterwegs gewesen - und Imilla sogleich<br />

ein Kind machte, konnte Boris kein Spanisch mehr hören.<br />

Nur einmal raffte er sich auf, spanisch zu sprechen - im Arbeitszimmer des damaligen<br />

Staatspräsidenten Salvador Allende (*1908+1973). Der Doktor, wie Allende immer respektvoll<br />

genannt wurde, saß leger in seiner grünen Joppe an einem rustikalen Schreibtisch. Gemeinsam mit<br />

Boris/Régis versuchte Allende , Imilla und Carlos davon zu überzeugen, dass es zweck-und sinnlos<br />

war, von Chile aus neuen Guerillakampf nach Bolivien zu tragen. "Sie verstehen uns nicht,<br />

Präsident", sagte Imilla zu Allende, "in den Kampf zu ziehen ist ein Eid, den wir halten müssen.<br />

Che hätte uns verstanden."<br />

Allende antwortete: "Das sind Kinder. Sie spielen Husar, aber sie haben keine Rüstung."<br />

Der Bruch zwischen Imilla und Boris war perfekt. Boris bekam Heimweh nach seiner<br />

alten Bude, seinem "verzauberten Schloss" in Paris. Die Seine-Metropole hatte ihn dann auch bald<br />

wieder.<br />

Aber nur für kurze Zeit. Denn es meldete sich Imilla aus London. In einer kleinen<br />

Pension an der Tynemouth Road in London N 15 fand er sein "unwiderstehliches Ungeheuer" . Ihr<br />

linker Arm war - nach einem Guerilla-Kommando in Bolivien - zusammengeflickt worden, die<br />

linke Hand steif, Brandflecken übersäten den ganzen Körper, ihr Kind musste per Kaiserschnitt tot<br />

aus dem Unterleib geboren werden.<br />

Systematisch hatten Geheimpolizei und Militärs in La Paz Block für Block durchkämmt,<br />

Waffenlager für Waffenlager ausgehoben, Frauen vergewaltigt, gefoltert, ihre Männer mit MP-<br />

Salven niedergestreckt. Alle waren tot - auch der allgegenwärtige Commandante Carlos, der Imilla<br />

ständig versichert hatte, dass seine Heimat dort sei, wo es Waffen gibt.<br />

Nur durch Zufall und Geistesgegenwart hatte Imilla sich in eine katholische Kirche retten<br />

können. Nachts war sie dann heimlich in die italienische Botschaft gebracht und operiert worden.<br />

Kaum auf den Beinen, hatten Helfer sie außer Landes geschleust - mit f<strong>als</strong>chen Papieren natürlich.<br />

Zunächst blieben Imilla und Boris in London, gingen dann aber nach Paris. Für<br />

Schwärmer Boris, so schien es, sollte die gescheiterte Liebe aus dem lateinamerikanischen<br />

Untergrund doch noch Wirklichkeit werden. Imilla gestand ihm: "Ich habe nur noch dich, Boris."<br />

Und ein Kind wollte sie auch von ihm haben.<br />

353


Boris, vom großzügigen Leben wieder fasziniert, entdeckte auch bei Imilla eine Vorliebe<br />

für die feinen Stoffe von Paris, für Mousselin, Batist, Crêpe de Chine. In der Küche - und für einen<br />

Großbürgersohn wie Boris ist dies wichtig - bewies sich die Genossin ebenfalls. Sie wusste zu<br />

unterscheiden, ob Entenpastete aus Amiens oder Gänseleberpastete aus den Cevennen,<br />

Hasenpastete aus der Bresse in Butter oder in Zwiebeln gebraten waren. - Glücksmomente in<br />

Rebellen-Jahren.<br />

Boris genoss es, Imilla ganz ohne revolutionäre Reflexionen einfach sexy zu finden, Er<br />

ahnte nicht, dass die vielseitige Gefährtin längst wieder im Einsatz war.<br />

Bereits in London hatte sie von Raúl Castro, dem kubanischen Verteidigungsminister, eine<br />

chiffrierte Information bekommen. Sie enthielt die Mitteilung, dass der Chef der politischen Polizei<br />

Boliviens, ein gewisser Anaya, an das Generalkonsulat nach Hamburg versetzt worden sei. Über<br />

ihn hatte Boris schon auf Kuba gesagt: "Wenn man Sadisten gegenübersteht, muss man sie wohl<br />

oder übel ausschalten." Und Imilla hatte geantwortet: "Es wäre an der Zeit, ihn zu erwischen."<br />

Wenige Monate später sollte sie ihre Worte wahr machen. Sie überredete Boris, mit ihr<br />

nach Hamburg zu fahren. Während sie mit einem Leihwagen, Marke Opel, über Belgien und<br />

Holland reiste, Colt und Pistole im Handgepäck, startete er mit dem Jet in Paris-Orly,<br />

Hamburg war für sie eine "männliche und exakte Stadt, die beinahe soviel Uhren wie<br />

Bäume hat". Man machte eine Hafenrundfahrt, flanierte über die Landungsbrücken, ging ins<br />

Övelgönner Fährhaus A<strong>als</strong>uppe essen, wollte sich gar in der Staatsoper Alban Bergs "Wozzeck"<br />

ansehen - ein französisches Pärchen in den Flitterwochen, ein-quartiert im Nobelhotel "Atlantik".<br />

Zwischendurch zog Imilla sich in einer St. Pauli-Absteige um, verkleidete sich <strong>als</strong><br />

Pastorenfrau oder rechtschaffene Dame eines Wohltätigkeitsvereins mal mit, mal ohne Perücke,<br />

stellte ihr Auto am Hauptbahnhof ab, fuhr mit der U-Bahn bis zum Klosterstern, eruierte<br />

Kreuzungen und Straßenzüge bis hin zur vornehmen Heilwigstraße 125, dem Sitz des<br />

bolivianischen Konsulats, stoppte mit ihrer Uhr die Sekunden, prägte sich den dreistöckigen<br />

Backsteinbau ein.<br />

Alles lief nach Plan: Mit dem Leihwagen begab sich das konspirative Paar auf die<br />

Autobahn E 4 Richtung Hannover. Die Abzweigung Undeloh führte zu einem kleinen Kiefernwald<br />

im Wilseder Naturschutzgebiet. Auf der Hinfahrt nach Hamburg hatte Imilla hier die Waffen<br />

vergraben. Immer wieder schärften sich die beiden ein: "Alles berücksichtigen, nie vergessen, schon<br />

einem unbedeutenden Detail kann man ausgeliefert sein." Sie verschossen eine Kiste Munition im<br />

Übungsstil wie einst in Havanna. Nur mit dem Unterschied, dass in der Nordheide ein<br />

Tannenbaum ihre Zielscheibe war.<br />

Am nächsten Tag stand Imilla im Sekretariat des Generalkonsuls Anaya. Sie gab sich <strong>als</strong><br />

australische Ethnologin aus, die vom "Herr Konsul" eine Empfehlung für ein Institut in La Paz<br />

benötigte. Eine halbe Stunde musste Imilla warten. Dann, kurz nach zwölf, stand sie vor dem<br />

Diplomatenschreibtisch. Sie lächelte: "Guten Tag, Herr Oberst!"<br />

Imilla fackelte nicht lange. Drei Revolverschüsse feuerte sie auf den Konsul ab. Zu den<br />

Füssen des blutüberströmten Opfers legte sie einen Zettel: "Victoria o Mauerte" - Sieg oder Tod.<br />

Als Sekunden später die Frau des Generalkonsuls ins Büro stürzte, kam es zu einem<br />

Handgemenge. Imilla versetz Senora Anaya zwei Karateschläge und ließ in der Eile Perücke und<br />

Revolver am Tatort zurück.<br />

354


Noch bevor die Hamburger Polizei am Tatort eintraf, saß das Flitterpaar Boris und Imilla<br />

schon wieder in seinem Mietwagen und erreichten gerade Ohlsdorf, den größten Friedhof Europas.<br />

Gemächlich umfuhren sie den Flughafen Fuhlsbüttel, steuerten um das Stadtzentrum herum und<br />

über die Kieler Autobahn Richtung Hannover.<br />

Am nächsten Morgen erreichten sie Salzburg. Imilla wollte eine Freundin besuchen, Boris<br />

ein paar Besorgungen machen. Als er zum Wagen zurückkehrte, fand er auf dem Vordersitz eine<br />

kleine Notiz, geschrieben mit violettem Filzstift: "Danke für alles. Warte nicht auf mich. Es gibt<br />

kein nächstes Mal. Victoria o muerte - Ruth (meinen richtigen Namen behalte ich für mich)."<br />

Hundertdreizehn Tage danach wird Imilla in Bolivien von Polizisten erschossen.<br />

So endet der Roman von Régis Debray. Wer Imilla und der von ihr ermordete<br />

Generalkonsul in Wirklichkeit waren, bleibt verborgen.<br />

Fest steht jedoch: Zu der Zeit, da der Roman spielt, war der einstige bolivianische<br />

Geheimdienstchef Roberto Quintanilla Generalkonsul in Hamburg. In seiner Heimat galt er <strong>als</strong><br />

meistgefürchteter Guerilla-Jäger, der 1967 Che Guevara und zwei Jahre später dessen Stellvertreter<br />

Inti Peredo zur Strecke gebracht hatte. Die Regierung in La Paz hatte ihn aus dem Schussfeld<br />

gezogen, nachdem alle Guerillabasen im Lande ausgehoben und ihre Besatzungen ermordet<br />

worden waren. Hamburg, so dachte man, sei für den <strong>als</strong> besonders blutrünstig bekannten<br />

Geheimdienstchef ein ruhiger Platz. Das traf auch zu - bis zum 29. März 1971, <strong>als</strong> ihn eine junge<br />

Frau in seinem Büro erschoss.<br />

Im Laufe unseres Interviews in der kleinen Pariser Mansarde bejahte Règis Debray, dass<br />

er die Attentäterin - in seinem Buch Imilla - persönlich kannte. Ihren wahren Namen will er aber,<br />

obwohl er ein Verhältnis mir ihr hatte, erst nach ihrer Ermordung erfahren haben, <strong>als</strong> Fotos von<br />

ihr in der europäischen und der amerikanischen Presse veröffentlicht wurden: Sie hieß Monika Ertl,<br />

war 1937 in München geboren worden und mit ihrem Vater, dem bekannten Kameramann Hans<br />

Ertl, 1951 nach Bolivien ausgewandert. Nach gescheiterter Ehe mit einem Industriellen namens<br />

Hans Harjes hatte sich Monika Ertl der bolivianischen Guerillabewegung angeschlossen.<br />

Régis Debray holt zwei ausgewaschene Senfgläser aus dem Regal und schenkt Cognac ein.<br />

Die Tat, die sein Roman beschreibt, verteidigt er noch heute <strong>als</strong> "politische Tat aus Liebe zum<br />

Menschen", wie er vor mehr <strong>als</strong> einem Jahrzehnt für Che Guevara formulierte. Unterstellt man,<br />

dass sich Debray in Boris selbst porträtiert hat, dann bezichtigt er sich mit seinem Buch indirekt<br />

der Beihilfe zum Mord - Mindeststrafe drei Jahre Freiheitsentzug. Dazu sagt er lakonisch: "Wer<br />

kann beweisen, dass ich Boris war?"<br />

Schließlich wäre Debray der einzige Überlebende dieses Dramas. Denn neben Monika<br />

Ertl gab es in Europa nur noch einen Mitverschwörer, einen Mann, der in Guerillakreisen Tonio<br />

hieß und für die Polizei mit dem Mailänder Linksverleger Giangiacomo Feltrinelli identisch ist. Er<br />

hat am 18. Juli 1968 in Mailand einen amerikanischen Colt"Cobra 38 Special" gekauft, wie ihn das<br />

FBI benutzt. Durch eine Kugel aus der Waffe (Registriernummer 212.607) wurde der bolivianische<br />

Generalkonsul Quintanilla, den Ermittlungen der Hamburger Staatsanwaltschaft zufolge,<br />

erschossen. Feltrinelli sprengte sich 1972 in die Luft.<br />

Nach dem Tod des Verlegers gab es für Régis Debray keine Ursache mehr, irgendwelche<br />

an dem Hamburger Mord Beteiligten zu schützen; der Weg war für ihn frei, seine Untergrund-<br />

Geschichte Tantiemen bewusst zu vermarkten. Das Buch "Ein Leben für ein Leben" ist erst der<br />

Anfang. Den großen Durchbruch erhofft sich Régis Debray von der Verfilmung. Costa Gavras<br />

355


("Z") soll Regie führen, und auch die ideale Darstellerin der Imilla haben sie schon im Auge: Romy<br />

Schneider.<br />

356


IN DER PSYCHIATRIE ZERBROCHEN – DAS SCHICKSAL<br />

DES ALBERT HUTH IN DEN ALSTERDORFER ANSTALTEN<br />

ZU HAMBURG<br />

Schlangengruben in Deutschland. Im Rahmen des national-sozialistischen<br />

Euthanasie Programms wurden mehr <strong>als</strong> 100.000 psychisch kranke Menschen getötet. Dies<br />

war nur mit Billigung zahlreicher Ärzte und Kliniken möglich. Verbrechen, die über<br />

Jahrzehnte nicht aufgearbeitet, verdrängt, vergessen wurden. Wie gleichsam der Fall des<br />

entmündigten Halbjuden Albert Huth. Er war unbequemer Zeuge zahlreicher<br />

verbrecherischer Nazi-Euthanasie Aktionen. Warum er bis heute in der Pflegeanstalt<br />

bleiben musste, mit Psychopharmaka "ruhig" gestellt wird -vermag niemand zu<br />

begründen. Ein Fall für die Justiz war die Lebensgeschichte des Albert Huth allemal.<br />

Zeitmagazin, Hamburg 20. April 1979<br />

Wenn in den Alsterdorfer Anstalten die Girlandenfeste steigen, ist Albert Huth stets<br />

dabei. Mit seiner Ziehharmonika schmettert er Shanties von hoher See, mit seiner Mundorgel bläst<br />

er "be-ba-ba-loovar, she is my baby". "Das ist swinging Alsterdorf", sagt Pfarrer Hans-Georg<br />

Schmidt frohgestimmt. "Und das ist unser Albert Huth", fügt er nicht ganz ohne Stolz hinzu. Der<br />

Pfarrer leitet die Anstalten im nördlichen Hamburg, eines der "größten Werke der Diakonie in der<br />

Bundesrepublik". Albert Huth macht nicht nur leidenschaftlich gern Hausmusik, für die 1.300<br />

psychisch Kranken und geistig Behinderten von Alsterdorf, er schreibt auch Gedichte, die der<br />

Pfarrer in die Anstaltszeitung wir leben festgedruckt einrücken lässt; mal dichtet er über die<br />

Berliner Mauer, mal über die Verkehrstoten in der City.<br />

Doch Albert Huth ist alles andere <strong>als</strong> ein Normaler. Er ist ein Alsterdorfer - und das<br />

schon im dritten Jahrzehnt. Ein "Schizophrener", bedauert Pfarrer Schmidt. "Ein Schwachsinniger,<br />

ein Psychopath", urteilt die Chefärztin Charlotte Preußner-Uhde, kurz vor der Pensionierung, im<br />

Anstaltsjargon kurz P.U. genannt. Die Psychiaterin glaubt zu wissen, wovon sie reden. Ein Kinder-<br />

Intelligenztest ergab bei dem 53jährigen lediglich einen Quotienten von 80. Und schließlich,<br />

bemerkt die Dame im weißen Kittel, sei Albert Huth auch "genetisch vorbelastet". Eigentlich heißt<br />

er gar nicht Huth, sondern Heimann. Er ist ein uneheliches Kind von hutzlig-kleiner Gestalt.<br />

Außerdem, erklärt die Chefpsychiaterin, hat die Schwester seiner Großmutter ihren Lebensabend<br />

hier verbracht - "von Kretin wegen".<br />

Derlei Diagnosen und Biografien wiegen in Alsterdorf schwer. Aber noch erschwerender<br />

ist die Tatsache, dass Albert Huth <strong>als</strong> "Lügenbold" und "Querulant" eingestuft wird, der "zwischen<br />

Dichtung und Wahrheit nicht zu unterscheiden vermag" (Pfarrer Schmidt). Und Ärger gibt's fast<br />

täglich mit ihm. Huth ist einer, der nicht ohne weiteres in die melancholisch-depressive<br />

Alltagsschablone einer Heilanstalt passt. Selbst die "sozialtherapeutischen Maßnahmen zur<br />

Förderung der Persönlichkeit und Individualität" (Preußner-Uhde) lehnt er rundweg ab. Was soviel<br />

heißt wie: Huth hat keine Lust mehr, Tag für Tag Räume zu kehren und Klosetts zu schrubben -<br />

immerhin macht er das schon seit 20 Jahren. Ein chronischer "Sammler" ist er noch dazu. So<br />

werden die Behinderten bezeichnet, die ihre wenigen Habseligkeiten, ob Briefe, Talismann oder<br />

Transistorradio unter dem Kopfkissen oder Matratze verstecken. Ein Verhalten, das die Pfleger<br />

nicht dulden wollen. Denn Ordnung gilt in Alsterdorf <strong>als</strong> erste Stufe zur Sozialisation.<br />

357


Statt dessen macht Albert Huth etwas "völlig Abnormes" (Preußner-Uhde): Meistens<br />

meldet er sich krank und verzichtet damit auf sein monatliches "Gehalt" von 40 Mark. Dafür sitzt<br />

er dann tagsüber im kargen Schrankraum und schreibt auf einem Fensterbrett vor sich hin. "Auf<br />

Seite 146 ist er schon", lächelt der Pfarrer dezent. Doch sein "Geschreibsel ist nicht zeugnisfähig",<br />

versichert Pastor Schmidt. In der Tat ist Albert Huth ja entmündigt. Da zählt es wenig, dass der<br />

debile Huth Pastor und Personal in jene Vergangenheit zurückreißt, die viele schon verdrängt<br />

haben - die Ausrottung "unwerten Lebens" im Dritten Reich: Ein Thema, das in Alsterdorfer<br />

Gesprächen unter'm Personal tabu ist. "Die Zeit dafür ist einfach noch nicht reif", formuliert<br />

Pfarrer Schmidt. Die Alsterdorfer Tradition besagt: Wir haben geholfen, wo wir helfen konnten,<br />

wir haben Menschen gerettet, wo nur irgend jemand zu retten war. In zwei Schüben wurden aus<br />

den Alsterdorfer Anstalten zwischen 1941 und 1943 genau 570 Menschen im Rahmen der "T-4-<br />

Aktion" abtransportiert - nach Theresienstadt beispielsweise.<br />

Albert Huth war 14 Jahre alt, <strong>als</strong> er 1940 in die Alsterdorfer Anstalten kam. Körperlich<br />

ausgemergelt, "geistig zurückgeblieben", hatte der Junge schon Waisenhäuser und Kinderheime<br />

hinter sich gebracht. Für seine Mutter, erinnert sich Huth, war er drei Jahre lang ein lästiges<br />

Überbleibsel mit einem Juden namens Heimann. Für Stiefvater Huth galt er <strong>als</strong> Halbjude, den er<br />

nicht mit durchfüttern wollte. Die Behörden schickten Albert Huth 1940 in den "Wachsaal"<br />

Alsterdorf. Die Gründe seiner Einweisung finden sich nicht in seinen Alsterdorfer Akten - wo sie<br />

eigentlich sein müssten.<br />

Im Wachsaal konnte dam<strong>als</strong> geschehen, was auch wollte - nichts drang nach draußen.<br />

Schilldichte Mauern, vergitterte Fenster, Pfleger <strong>als</strong> Gefängniswärter. Vier Wochen blieb der<br />

Vierzehnjährige dort, "zur Eingewöhnung", wie es dam<strong>als</strong> hieß. Heiß- und Kalt-Wasser-Bäder<br />

wechselten einander ab. Cistyl- und Truxal-Drogen gab's zur Besänftigung und die Paral-Spritze -<br />

ein Pflanzenschutzmittel - <strong>als</strong> Strafmedizin, so Huth in seinem Lebensbericht. Das Tagebuch des<br />

Albert Huth zeigt in erschreckender Art und Weise nachempfindend, hautnah auf, welches Milieu<br />

innerhalb der Anstalt im Nation<strong>als</strong>ozialismus herrschte. Es dokumentiert minutiös, wie genau<br />

Pfleger wussten, wohin die Transporte gingen.<br />

Albert Huth schreibt: "Wenn ein Junge im Bett gepinkelt hatte, wo er nicht dafür konnte,<br />

der wurde mit dem Knüppel geschlagen und nicht gebadet. Die ganze Urinsäure fraß sich in den<br />

Körper ein und es war am Tisch sehr unangenehm, wenn andere Kameraden den Geruch einatmen<br />

mussten. Um Ekzeme herauf zu beschwören, bekam der Junge den eingenässten Spreusack um den<br />

Rücken gebunden und musste auf dem Hof herumlaufen, bis der Sack trocken war."<br />

Nach seiner Konfirmation kam Albert Huth zur Alsterdorfer Station "Heinrichshöhe".<br />

Hatte ein Junge eine Erkältung", berichtet er, "dann bekam er ein Abführmittel anstatt Hustensaft."<br />

Magenkrämpfe und Durchfall waren die Folgen. Und "bei einem Zeugappell hatte ein Pfleger einen<br />

Jungen dermaßen mit dem Knüppel auf die Fußsohlen geschlagen, dass er vor lauter Schmerzen<br />

nicht mehr gehen konnte."<br />

Albert Huth schreibt: "Otto A. war ein großer NS und hatte für die Kirche nichts über.<br />

Was Otto A. getrieben hat, war immer nur Hohn und Spott. Zu meinem Erstaunen kam ich nicht<br />

mehr in die Schule und blieb immer mehr im Rückstand. Otto A. hatte mit einem Knüppel, den er<br />

"Onkel Lehmann" nannte, auf die Kinder geschlagen, die ein Blasenleiden hatten. Auch da hatte<br />

man die Jugendlichen nicht gebadet. Freizeit hatte man dort sehr wenig. Am meisten mussten wir<br />

Jugendlichen auf dem Hof marschieren. Wenn zum Beispiel still gestanden ertönte und ein<br />

Epileptiker einen Anfall bekam, dann ließ er ihn fallen, ohne Hilfe zu leisten. Am Abend mussten<br />

die Jugendlichen auf dem Flur antreten. Dann wurde das Lied "Oh Jesu, meine Freude" gesungen.<br />

358


Danach folgte ein Abendgebet: 'Lieber Gott mit starker Hand, schütze unser Vaterland, gib' dem<br />

Führer Weisheit, Stärke; segnet ihn bei seinem Werke, auf das Deutschland wieder werde groß und<br />

mächtig auf der Erde. Amen.'<br />

Kannten die Jugendlichen nicht diesen Spruch, dann wurden sie dazu gezwungen. Hatte<br />

ein Junge nach dem gesprochen, der musste auf dem Flur Liegestütze und Kniebeuge machen.<br />

Waren die Jugendlichen krank und hatten eine Erkältung, dann bekamen sie Rizinusöl, um die<br />

Erkältung zu unterdrücken. Zu dieser Zeit hatte Oberarzt Dr. Kreyenberg zwei Häuser in Beschlag<br />

genommen. Pfleglinge wurden verschleppt, die die Anstalt nicht mehr wiedersahen."<br />

"Wittenberg" hieß die nächste Alsterdorfer Abteilung. Inzwischen schrieb man 1941.<br />

"Wahllos", so Huth, "hatten die Ärzte kranke Pfleglinge sterben lassen. Sie hielten ihnen vor: 'Du<br />

markierst'." Huth erkrankte selbst an Ruhr und wurde nach "Hohenzollern" abgeschoben - zurück<br />

in einen berüchtigten Wartesaal. Die Alsterdorfer Stationen tragen noch heute ihren hehren Titel.<br />

Albert Huths Erinnerungen stimmen mit der historisch festliegenden "TR-4-Aktion" im großen<br />

und ganzen überein.<br />

Das Alsterdorfer "Paul-Stritter-Haus" wurde für den Zögling Albert Huth zum<br />

Schlüsselerlebnis. Hier belauschte er ein Gespräch zwischen einem Anstaltspfarrer B., einen Dr. C.,<br />

seinerzeit ein Beauftragter der Gesundheitsbehörde, und dem Alsterdorfer Arzt D. "Hier sind viele<br />

Juden und Geisteskranke. Wann gedenken Sie die Pfleglinge abzuholen?" fragte D. Huth: "Am 29.<br />

Juli 1943 war es dann soweit. Um vier Uhr morgens waren sechs Autobusse in der Anstalt<br />

erschienen. Sie nahmen 329 Mädchen, 89 Kinder und 28 Babys mit. Drei Autobusse hielten auf<br />

dem weiblichen, drei weitere auf dem männlich Gebiet. Heraussprangen aus dem Bus die Gestapo.<br />

'Wie viel Vögel habt Ihr', wollte sie wissen. Antwort: 'Es befinden sich eine hier eine ganze<br />

Portion', sagt einer zu seinem Kollegen. Antwort: Dann her mit den Schweinen." Insgesamt waren<br />

es 478 Pflegeinsassen, darunter Geisteskranke, Schwachsinnige, Epileptiker, Krüppel, Frauen und<br />

Kinder.<br />

Fast alle Pfleglinge trugen vorne vor der Brust ein Schild. Darauf stand geschrieben:<br />

'Sklaven, gestorben am 3. August 1943, Heil Hitler. Wirklich, wie Schweine wurden die Pfleglinge<br />

in die Busse verladen, Schwestern hatten sie noch zurückhalten wollen, aber die Gestapo hatte<br />

mehr Macht ... Als ich um 12.1o Uhr im Lindenhof 2 und im Eichenhof sowie in den Knabenhort<br />

kam, waren alle Räume leer. Nicht einen Einzigen hatten sie hier behalten. Dafür blieben in der<br />

Anstalt einige Häuser frei bis nach dem Krieg 1945 ... ... Sie kamen mit der Begründung, wegen der<br />

pausenlosen Luftangriffe mussten die Pfleglinge in Sicherheit gebracht werden. Diese Sicherheit<br />

endete im Konzentrationslager."<br />

Albert Huths Weg führte derweil zum Krankenhaus Barmbek, in die Abteilung CH 4. Er<br />

war gerade erst 17 Jahre alt, <strong>als</strong> er dort sterilisiert wurde - und zwar ohne Narkose. Huth: "Ich habe<br />

gelitten unter qualvollen Schmerzen. So waren mein Schicksal und meine Existenz besiegelt. Nicht<br />

einmal meine Angehörigen wussten etwas."<br />

Zurück in Alsterdorf machte Huth die Bekanntschaft mit einem Pfleger namens Egon<br />

Gerner, einem ausgedienten Wehrmachts-Unteroffizier mit "Nahkampfspange in Gold und Silber".<br />

Er kam verwundet von der Front zurück und hatte, wie Huth meint, es von vornherein auf die<br />

"Juden-Mistkröte" Huth abgesehen. Weil er ein paar Äpfel geklaut hatte, schickte ihn Gerner<br />

aberm<strong>als</strong> in den Wartesaal. "Ich bekam eine Glatze geschoren und blaugraues Zeug verpasst und<br />

Wasser für drei Tage. Als meine Mutter kam, erkannte sie mich nicht mehr wieder."<br />

359


Für den evangelischen Pfarrer Schmidt - er wurde nicht ganz unfreiwillig 1982 in den<br />

Ruhestand verabschiedet - ist die sonderbare Huth-Erzählung die larmoyante Lebensgeschichte<br />

eines Debilen, "mit dem", so die Chefpsychiaterin Preußner-Uhde, "die Fantasie laufend durchgeht,<br />

der sich und seine Umwelt nicht einzuschätzen weiß, der selbstsüchtige Thesen über die<br />

Vergangenheit herbei konstruiert und so gar <strong>als</strong> Dr. med. Albert Huth tituliert". - "Nein", bedeutet<br />

der Anstaltsleiter, "was wir brauchen, das sind Pfleger von Format, die solche Patienten wie Albert<br />

Huth leiten und lenken können. Und die Chefpsychiaterin schiebt sogleich ihr Bekenntnis<br />

ungefragt hinterher: "Wir Alsterdorfer sind schon objektiv. Das können Sie mir ruhig glauben."<br />

So wundert es in Alsterdorf heute eigentlich niemanden, dass Albert Huth auch nach dem<br />

Kriege dort blieb, wo er zuvor gewesen war: hinter Anstaltsgittern.<br />

Denn was sollte sich bei dieser dezidierten Diagnose für Pflegling Huth auch ändern? Der<br />

Anstaltsarzt Kreyenberg, ein überzeugter Nation<strong>als</strong>ozialist und Rassist, hatte ihm schon 1940<br />

"totalen Schwachsinn" attestiert, wie sich ein Kenner der Akte erinnert. Pfarrer Schmidt streitet das<br />

ab. Die späteren Ärzte sahen offensichtlich keine Veranlassung, sich näher mit der Huth-Diagnose<br />

zu befassen. Jedenfalls war Huths Entmündigung im Jahre 1947 - dam<strong>als</strong> wurde er 21 Jahre alt -<br />

eine Routinesache. Er bekam, so geht es aus den Unterlagen hervor, auch weiterhin Prügel von<br />

Pflegern wie Gerner. Er hatte sich erdreistet, eine Entschädigung für seine Sterilisation zu fordern.<br />

Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, soll er immer um sich geschlagen haben.<br />

Albert Huths Schicksal ist in Alsterdorf zu Hamburg kein unrühmlicher Einzelfall. Der<br />

Pressesprecher der Anstalt: "Wir haben hier um die 80 solcher Leute." Sie kamen mit geringfügigen<br />

oder nur vermeintlichen Behinderungen in die Anstalt; aber statt zu heilen, verschärfte die neue<br />

Situation ihre Leiden erst wirklich. Doch während viele von Huths Leidensgenossen nur noch<br />

weltfern vor sich hindämmern, begann er schon bald nach dem Kriege <strong>als</strong> "Schwachsinniger" Brief<br />

um Brief zu schreiben: mal an den Alliierten Kontrollrat, mal an die BBC in London, mal an die<br />

Kripo in Hamburg, die schließlich im Jahre 1959 in Alsterdorf vorbeischaute. Ein Blick in Huths<br />

Akte und besänftigende Worte genügten, und der Fall schien erledigt.<br />

Es dauerte immerhin ganze acht Jahre, bis der Hamburger Staatsanwalt Dr. Dietrich<br />

Kuhlbrodt - 1967 - unverhofft in der evangelischen Anstalt auftauchte und die beschauliche<br />

Ordnung des Alsterdorfer Verwaltungsapparates durcheinanderbrachte. Aufgestört durch einen der<br />

vielen Huth-Briefe wollte der Ankläger in Akten einblicken. Er ermittelte gegen den ehemaligen<br />

Anstaltspfarrer Lensch. Doch die Akten waren angeblich nicht mehr vorhanden. Kuhlbrodt: Drei<br />

Mal fragte ich nach den Unterlagen. Drei Mal wurde ich beschieden. 'Wir haben nichts mehr, alles<br />

ausgebombt.' Dann bin ich auf eigene Faust in den Keller gestiegen und habe die Materialien<br />

gefunden, die ich suchte."<br />

Vorher hatte sich Kuhlbrodt vorsorglich bei Huths von den Behörden eingesetzten<br />

Vormund informiert, ob sein Mündel tatsächlich unzurechnungsfähig sei. Im Gegensatz zur<br />

Anstalt kam dieser zum Schluss, Huth habe ein normales Erinnerungsvermögen, seine Angaben<br />

seien präzise und wahrscheinlich unwiderlegbar. Kuhlbrodt sagt heute: "Ob schwachsinnig oder<br />

nicht, Huths Fakten waren nicht mehr vom Tisch zu kriegen."<br />

Für den dam<strong>als</strong> 34jährigen Staatsanwalt begann die größte Ermittlungsaktion, die er<br />

bislang geführt hatte. Nach siebenjähriger emsiger Kleinarbeit füllen in Sachen Alsterdorf 7.800<br />

Blatt insgesamt 44 Aktenordner und die Anklageschrift (Az: 147/Js58/67) umfasste 870 Seiten. Für<br />

den Prozess sollten 238 Zeugen geladen werden. Im Zentrum der Ermittlungen stand der frühere<br />

Seemannspfarrer Friedrich Jentsch, der 1930 zum Direktor der Alsterdorfer Anstalten avanciert<br />

360


war. Die Nazis waren kaum an der Macht, da hatte Jentsch bereits eine SA-Kampfgruppe<br />

Alsterdorf gegründet. Ob Pfleger oder Ärzte, in Uniform anzutreten, war Ehrensache.<br />

Jentsch persönlich verwechselte allzu oft seinen Talar mit der Braun-Jacke eines SA-<br />

Oberführers. Die Partei bedankte sich für derlei kirchliches Entgegenkommen. Schon 1935<br />

deklarieren die Nazis die evangelische Einrichtung Alsterdorf zum "NS-Musterbetrieb" und fünf<br />

Jahre später wurde Jentsch mit dem "Gaudiplom der deutschen Arbeitsfront geehrt.<br />

Albert Huth hatte das alles gut im Gedächtnis behalten. Nur in einem hat er sich geirrt:<br />

Aus Alsterdorf verschwanden nicht nur 478 Pfleglinge. Im Rahmen der T-4-Aktion wurden dafür<br />

579 Behinderte aus Alsterdorf abgeholt. Das bestätigt nunmehr auch Pfarrer Schmidt. Mehr <strong>als</strong> die<br />

Hälfte erlitt nachweislich im KZ Theresienstadt einen grausamen Tod. Der Staatsanwalt: "Als die<br />

ersten Busse im Jahre 1941 anrollten, brach unter einigen Mitfühlenden des Alsterdorfer Person<strong>als</strong><br />

und unter den Patienten Panik aus. Vor allem den Pflegern war längst nicht mehr verborgen<br />

geblieben, wohin die Reise ging."<br />

Hier ein Auszug aus Kuhlbrodts Anklageschrift aus dem Jahre 1974: "Der achtjährige<br />

Herbert Barkmann litt an den Folgen einer Gehirnhautentzündung. Etwa eine Woche vor Ostern<br />

erhielten die Eltern in Hamburg dann die Nachricht, dass ihr Sohn verstorben sei. Mit der Anfrage,<br />

ob eine Beerdigung in Tiegenhof oder eine Einäscherung in Frankfurt an der Oder stattfinden<br />

solle. Die Eltern entschlossen sich, ihren Sohn in Tiegendorf beerdigen zu lassen. Der Vater fuhr<br />

nach Tiegendorf, ging von der Bahn direkt in die Leichenhalle, um dort seinen Sohn zu sehen. Er<br />

hob einige Deckel ab, in einem Sarg lag die Leiche seines Sohnes. Er war bis zum Skelett<br />

abgemagert, an der linken Schläfe hatte er deutlich sichtbar einen großen blauen Fleck. Auf dem<br />

Weg zur Verwaltung traf der Zeuge Barkmann den leitenden Anstaltsarzt, der das goldene<br />

Parteiabzeichen trug. Auf die Frage, woran sein Sohn gestorben sei, sagte dieser wörtlich: 'Woran<br />

sie alle starben ...' "<br />

Herbert Barkmann ist wie viele vor und nach ihm von Pastor Jentsch an der<br />

Eingangspforte der Anstalt verabschiedet worden. Die ahnungslosen Kinder hatten vor dem Bus<br />

einen Halbkreis gebildet und sangen meist: "Herr, hilf uns auf allen Wegen", manchmal auch<br />

"Harre meine Seele." "Diese Gesänge", so Jentsch nach dem Kriege, "haben mir den Mut gegeben,<br />

dass den Kindern nichts passiert." Seine scheinheilige Beteuerung reichte noch im Jahre 1974 dazu<br />

aus, eine gerichtliche Hauptverhandlung gegen den Anstaltspastor zu verhindern. Denn eine<br />

Hamburger Schwurgerichtskammer, so sagt der Staatsanwalt, unterstellte, dass Pastor Jentsch<br />

immer noch gehofft habe, den Kindern werde in den auswärtigen Anstalten nichts zustoßen.<br />

Für Staatsanwalt Kuhlbrodt war jener Pfarrer-Spruch nichts anderes <strong>als</strong> eine "verlogene<br />

Sentimentalität". Immerhin quittierte im Jahre 1946 der gescholtene Pfarrer seinen Dienst <strong>als</strong><br />

Direktor der Alsterdorfer Anstalten. Seine Begründung: "Ich bin für alle Beteiligten eine Belastung,<br />

die für die Anstalt nicht mehr tragbar ist", schrieb er seinem Vorstand. Doch bereits ein Jahr später<br />

diente er seiner Kirche wieder - <strong>als</strong> Gemeindepfarrer in Hamburg-Othmarschen. - Deutsche<br />

Karrieren.<br />

In jenen Jahren von Kuhlbrodts Nachforschungen änderte sich Albert Huths Leben<br />

nachhaltig. Häufiger <strong>als</strong> zuvor taucht in seiner Akte die Verordnung von Psychopharmaka<br />

(Megaphen) auf. Albert Huth sagt freimütig: "Oft schwebte ich über den Wolken. Das ist mir<br />

früher nicht passiert." Dabei benötigt Huth niem<strong>als</strong> Beruhigungspillen. Darüber besteht sogar unter<br />

den Ärzten Einvernehmen, wie die Chefpsychiaterin der Anstalt weiß. Vielmehr müsse er<br />

sozialpädagogisch betreut werden, heißt es lapidar. Frau Dr. Preußner-Uhde: "Allenfalls, wenn er<br />

361


wieder einen Aggressionsschub bekommt." Warum sich nun ausgerechnet in den letzten Jahren die<br />

medikamentöse Behandlung auffällig häuft, ist für Preußner-Uhde leicht erklärbar: "Früher gab es<br />

schließlich keine Psychopharmaka."<br />

Viel schwerer fällt der Chefärztin die Erklärung dafür, warum Albert Huth eigentlich in<br />

Alsterdorf verwahrt wird. Denn erst lebte er <strong>als</strong> Zehnjähriger in einem Heim für Milieugeschädigte.<br />

Dam<strong>als</strong> war von Geisteskrankheit keine Rede. Im Gegenteil: Die Ärzte - so die Heimakte - sagten<br />

dem jungen Huth eine Aufenthaltsdauer von maximal zwei bis drei Jahren voraus, seine Lehrer<br />

bescheinigten ihm eine durchschnittliche Intelligenz und gute Schulleistungen. Warum Albert Huth<br />

in Alsterdorf landete und mit welcher Begründung er zum "Behinderten gemacht" , ein<br />

"Behinderer ist" und "ein Behinderter bleiben wird", das vermag niemand so recht zu erklären.<br />

Auch Pastor Hans-Georg Schmidt, Direktor der Alsterdorfer Anstalten bis ins Jahr 1982,<br />

ist in Sachen Huth nachdenklich geworden. "Gegenüber klassisch geprägten Psychiatern, die so ein<br />

festes Formbild in sich tragen, bin ich skeptisch." Dazu hat er auch allen Grund. Preußner-Uhde:<br />

"Er ist jetzt einfacher zu führen. Deshalb können wir ihn mit seiner Geistesschwäche auch etwas<br />

milder einstufen."<br />

Dass Albert Huth der Auslöser einer staatsanwaltschaftlichen Ermittlung war, dass er<br />

seinen früheren Direktor beinahe auf die Anlagebank gebracht hätte, dessen ist er sich gar nicht<br />

bewusst. Aber er weiß: Das frühere NSDAP-Mitglied Gerner, einst Träger der Nahkampfspange in<br />

Gold und Silber, ist nicht mehr Pfleger - sondern, Alsterdorfer Karrieren, Oberpfleger.<br />

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AUS DEUTSCHEN LANDEN: MÖRDER UNTER UNS<br />

Es sah so aus, <strong>als</strong> würde der 17. Januar für die Gemeinde Allendorf im hessischen Ulmtal<br />

ein Tag wie jeder andere. Dann aber wurde ein alter, unauffälliger Mann verhaftet. Er soll ein<br />

Massenmörder sein, ein sadistischer SS-Scherge. Und niemand unter den Dächern kann es glauben<br />

... ...<br />

ZEITmagazin, Hamburg 1. März 1979<br />

In der 1200-Seelen-Gemeinde Allendorf im hessischen Ulmtal gibt es neuerdings drei<br />

Altäre. Zwei, die seit eh und je in den beiden Kirchen des Ortes stehen, und einen, der zu Ehren<br />

des Schlagerstars Heino errichtet wurde - im Frühstücksraum der Pension Manhalter im Dammweg<br />

Nr. 3 . Vor einem Buntglasfenster steht dort ein weißer Schreibtisch, darauf zwei Nelken in<br />

langh<strong>als</strong>iger Vase, links und rechts zwei ledergerahmte Bilder des Schlagerstars.<br />

Der Haushalt bei der 52jährigen Hedwig Manhalter ist ein Treffpunkt der Allendorfer<br />

Heino-Fans. Und davon gibt es viele. Als beim ZDF die sechsteilige Sendung "Sing mit Heino" auf<br />

der Kippe stand, starteten Hedwig und ihr Mann Toni eine Unterschriften-Aktion im Dorf.<br />

Immerhin solidarisierten sich fast 800 Allendorfer mit Heino, zwei Drittel aller Einwohner. Per<br />

Einschreiben ließen sie es das ZDF wissen, Heino dankte "seinen Lieben" und sagte sich für den<br />

24. März in Allendorf an; zum Konzert in der Ulmtalhalle, zur Übernachtung bei den Manhalters.<br />

Seither gibt es im Dorf kein Schaufenster ohne Heino-Plakat.<br />

Gedämpft wurde diese Vorfreude, die den Ort beherrschte, am 17. Januar. Da<br />

beobachtete die Zeitungsbotin Kraus in den frühen Morgenstunden, wie zwei Polizisten vom<br />

Außenposten Ehringhausen in der Allendorfer Straße 11 den 65jährigen Ludwig Jantz in ihren<br />

Peterwagen bugsierten. Noch dazu in Handschellen und mit einem kleinen Köfferchen. Tags<br />

darauf dann beendete die Wetzlarer Neue Zeitung das vage Gemunkel der Dörfler mit einer alle<br />

erschreckenden Schlagzeile: Mutmaßlicher Massenmörder verhaftet.<br />

Man muss sich vorstellen, was das für Allendorf bedeutet. "Bei uns", so Ortspfarrer<br />

Karlheinz Potthoff, "sind doch nur rechtschaffene Menschen. Brav und dankbar." Die meisten<br />

fahren morgens um fünf nach Wetzlar ins Industriegebiet und bringen monatlich zwischen 1.200<br />

und 1.700 Mark brutto nach Hause. Nach Feierabend hat fast jeder noch eine Nebenarbeit. Zum<br />

Beispiel am Fachwerkhaus, dessen schwarze Balken nachgeteert werden müssen. Selbst im<br />

vereisten Winter behält die Dorf-Idylle ihre wohlerträumte Ordnung.<br />

Der jetzt verhaftete Ludwig Jantz kam vor vier Jahren hierher. Er kam aus Düsseldorf,<br />

das, wie er immer wieder sagte, in Nordrhein-Westfalen liegt. Er betonte das einfach deshalb, weil<br />

die Allendorfer vor allem zu Kohlenpott-Leuten Zutrauen haben. Jährlich erholen sich über 25.000<br />

"Zechengäste" im Ulmtal. Mit ihren "Quartiergroschen" konnten die Allendorfer schon so<br />

manches auf die Beine stellen, ihren Märchenwald etwa und ein Legoland.<br />

Mit seiner erklärten Zuneigung zum Pott gelang es Ludwig Jantz leichter, heimisch zu<br />

werden, <strong>als</strong> etwa dem zugereisten Arzt Dr. Koch und dem Ortslehrer Jung, die den Allendorfer<br />

Argwohn noch nicht ganz abzubauen vermochten. Obschon über zwei Jahrzehnte hier ansässig,<br />

heißt es hinter vorgehaltener Hand noch immer: "aus der Ostzone".<br />

Dass nun ausgerechnet "unser Herr Jantz" verhaftet wurde, war zunächst "eine Sensation,<br />

die schwer Staub aufgewirbelt hat", so sein Nachbar Emil Sattler. Dass Herr Jantz "eigentlich nicht<br />

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so heißt und sogar in wilder Ehe leben soll, kann hier keiner so recht glauben. Schließlich hat er<br />

doch gültige Papiere, und seine Frau ist auf freiem Fuß", so die Wirtin Elfriede Kunz. Dass Herr<br />

Jantz ein "SS-Massenmörder sein soll, der aus lauter Lust und Laune Kinder, Frauen und Greise<br />

erschoss und hier untertauchte, "kann und darf nicht wahr sein", so die Metzgersfrau Irmgard<br />

Bremond.<br />

Frau Bremond lebt schon seit 46 Jahren im Ort. Morgens um sieben Uhr steht die Mutter<br />

von drei Kindern im Fleischerladen, abends zapft sie in der Wirtschaft Bier. "Nein", sagt sie<br />

nachdenklich, "wir haben schon viel erlebt - einen Makler, der sich <strong>als</strong> Gauner entpuppte, einen<br />

Zahnarzt, der mit 300.000 Mark Steuerschulden durchbrannte, und auch einen Rentnermord, doch<br />

die Täter saßen schon am nächsten Tag." Aber einen Massenmörder? Frau Bremond sagt, da helfe<br />

nur eines: "Abzugsfinger ab, Kopf ab."<br />

Mit dieser Meinung steht die Metzgersfrau freilich ziemlich allein da. Zwar beherrscht die<br />

Verhaftung des Jantz das Dorfgespräch, aber an die Hintergründe, dass es sich um einen<br />

mutmaßlichen SS-Massenmörder handelt, will so recht keiner glauben. Ob im Edeka-Laden, bei<br />

Bäcker Erno Müller, bei Foto Grimm, im Elektrogeschäft Mandt, alle reagieren zunächst zaghaftängstlich,<br />

dann aber entschlossen offensiv, um die angenagte Reputation des Dorfes zu retten. Für<br />

Brigitte Müller, eine Endzwanzigerin im Verkehrsverein, "muss doch nun endlich mal Schluss<br />

sein". Und die Postbotin Schmidt, die Tag für Tag in Lastexhosen und Anorak ihre Runden zieht,<br />

wirkte Herr Jantz "ja geradezu liebenswürdig". Als die Beamtin zwei ältere Damen im Fenster<br />

bemerkt, ruft sie ihnen zu: "Stimmt doch, wir können über Herrn Jantz nichts Schlechtes sagen?"<br />

Vom Gegenüber tönt es zurück: "Ja, er ist nett und bescheiden."<br />

Zu Hause bei den Nachbarn des Verhafteten, bei Emil und Anita Sattler in der<br />

Hauptstraße 9, hängt in der guten Stube der gerahmte Spruch: "Dass mir der Hund der Liebste sei,<br />

sagst du oh Mensch sei Sünde, der Hund bleibt mir im Sturme treu, der Mensch nicht einmal im<br />

Winde."<br />

Über ihre Haustiere haben sich die Sattlers und die zugezogenen Jantzens vor vier Jahren<br />

angefreundet. Denn seltsamerweise verstanden sich Sattlers Jagdhündin Anka und der Kater Peter<br />

Bunsemann von Jantz auf Anhieb prächtig. "Die Sympathie zwischen den beiden ging sogar so<br />

weit, dass meine Anka für den Bunsemann das Kitekat apportierte", erzählt Sattler.<br />

Verständlich, dass auch die Nachbarschaftshilfe zwischen Haus Nr.11 und Nr. 9 gedieh.<br />

Sattler über Jantz: "Er ist ein Mann der hilft, wo er nur helfen kann." Schon früh morgens, wenn<br />

Hobbygärtner Sattler seine 75 Kilo schwere Fräsmaschine aus dem Stall holen wollte, kam Jantz im<br />

Pyjama und packte mit an. Er schmirgelte und strich den Nachbarn die Zäune, fuhr mit seinem<br />

Simca-Chrysler die Hausfrauen zum Supermarkt nach Wetzlar, und sein Telefon - das einzige im<br />

Straßenabschnitt - war mehr oder minder ein Gemeinschaftsanschluss.<br />

Und nun auf einmal "soll unser Herr Jantz ein Mörder sein?" fragt Frau Sattler, "Nein",<br />

gibt ihr Mann die Antwort, "Rufmord ist das. Die Russen schießen hier einen nach dem anderen<br />

raus. Die wollen Europa kassieren wie eine faule Frucht. Die wollen, dass ihre Pferde einmal<br />

Wasser aus dem Atlantik saufen."<br />

Die Limburger Oberstaatsanwälte Alfred Gerber, 53, und Norbert Winkler, 44, sehen das<br />

anders. Für sie ist der 65jährige Ludwig Jantz in Wirklichkeit der 61jährige SS-Unterscharführer<br />

Ludwig Klemm. Fünfzehn Jahre suchte die bundesdeutsche Strafverfolgung diesen Mann, sechs<br />

Jahre dauerten die Ermittlungen, und zwar zur Person und zur Sache. Wenn Ludwig Jantz im<br />

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Oktober vor der Ersten Großen Strafkammer des Landgerichts Limburg stehen würde (Az.: Js<br />

12541/78), sollten insgesamt 39 Zeugen aussagen.<br />

Begonnen hatte alles damit, dass der SS-Unterscharführer (Unteroffizier) Ludwig Klemm<br />

Anfang 1941 vom ostpolnischen Zamosc in die Kleinstadt Izbica abkommandiert wurde.<br />

Gemeinsam mit SS-Unterscharfführer Kurt Engels - er nahm sich am 31. Dezember 1958 in der<br />

Hamburger Untersuchungshaft das Leben - richtete Klemm eine GESTAPO-Außenstelle ein. Die<br />

beiden hatten die Aufgabe, im Ort für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Denn in Izbica, einer<br />

Durchgangsstation für die Konzentrationslager, sollte vor allem die unbeteiligte Zivilbevölkerung<br />

unter Kontrolle gehalten werden. "Engels und Klemm", so Oberstaatsanwalt Winkler, "waren fast<br />

zwei Jahre Herren über Leben und Tod." Dabei gehörten die beiden zu keinem<br />

Exekutionskommando; sie waren nicht einmal für den Abtransport der Juden verantwortlich.<br />

Engels und Klemm sollen sadistisch gemordet haben - aus Fanatismus und Rassenwahn.<br />

Ein zehnjähriges Mädchen, das auf dem Marktplatz stand und nach seiner Mutter weinte, soll<br />

Klemm per Genickschuss getötet haben. Eine junge Frau mit drei Kindern habe er aus dem Haus<br />

geholt und die Mutter mit ansehen lassen, wie er ihre am Boden liegenden Kinder, die Gesichter im<br />

Dreck, erschoss. Anschließend soll Klemm die Brüste der Mutter <strong>als</strong> Zielscheibe benutzt haben.<br />

Ältere Juden seien in ein leerstehendes Haus gepfercht worden. Mit Handgranaten sollen Engels<br />

und Klemm Gemäuer und Menschen in Schutt und Asche bombardiert haben. Sie hätten ältere<br />

polnische Juden zu deren Friedhof gebracht - keiner von ihnen sei in die Stadt zurückgekehrt. Sie<br />

seien nachts in Wohnungen eingedrungen und hätten um sich geschossen. Wer von Engels und<br />

Klemm nicht den Hut zog, sei in Izbica ein toter Mann gewesen.<br />

Wie viele Menschenleben Engels und Klemm dam<strong>als</strong> auf ihr Gewissen lud, sei heute nicht<br />

mehr auszumachen. Für die Staatsanwaltschaft können es 500, es können auch 1.000 Opfer<br />

gewesen sein. Die Staatsanwälte Gerber und Winkler reduzierten ihre Anklage auf zwanzig Punkte,<br />

mit denen sie einen lückenlosen Nachweis zu führen glauben.<br />

Doch in der Limburger Untersuchungshaft sitzt ein Mann, der bei all seinen Verhören nur<br />

stereotyp einen Satz von sich gibt: "Ich bin nicht Klemm, ich heiße Ludwig Jantz." Offensichtlich<br />

erinnert sich Ludwig Jantz alias Klemm nicht mehr an jene wirren Tage des Jahres 1945 in<br />

Thüringen, wo er seine erste Frau Hedwig Klemm wiedertraf. Bereits dam<strong>als</strong> hatte er eine neue<br />

Identität. Aus Ludwig Klemm, geboren 1917 in Odessa, war Ludwig Jantz, geboren 1913 in<br />

Freistatt/Westpreußen, geworden. Nach ein paar Wochen verschwand Klemm plötzlich und<br />

spurlos. Fünf Jahre wartete die verängstigte und wegen des Namenswechsels verunsicherte Frau<br />

vergebens auf die Rückkehr ihres Ehemannes, dann stellte sie einen Suchantrag beim Deutschen<br />

Roten Kreuz - vorsorglich auf beide Namen.<br />

Ludwig Jantz will heute auch nicht mehr wissen, welche Unterlagen er in seinem<br />

Schreibtisch hatte, <strong>als</strong> die Kripo 1973 seine Düsseldorfer Wohnung durchsuchte. Es waren<br />

Aufzeichnungen über seine Eltern, Brüder und Schwestern und deren Adressen kreuz und quer in<br />

der Bundesrepublik. Denn seine neue Identität hat ihn offensichtlich nicht davon abgehalten, die<br />

Klemmsche Familienchronologie für sein Gedächtnis festzuhalten. Das war für die ermittelnde<br />

Kripo ein weiteres Indiz, in der mörderischen Sache auf der rechten Spur zu sein. Und dann war da<br />

noch der unstimmige Lebenslauf.<br />

Als Ludwig Jantz will der Beschuldigte am 9. August 1913 in Freistatt/ Westpreußen<br />

geboren worden sein. Das Einwohnermeldeamt in Freistatt: "An diesem Tag ist ein Ludwig Jantz<br />

nicht registriert." Seine Mutter, eine Wendlin Oestroem, soll in Zoppot geboren sein. Amtlicher<br />

365


Vermerk: "Nicht registriert." Im Jahre 1911 sollen seine Eltern in Freistatt geheiratet haben.<br />

Amtlicher Vermerk: "Nicht registriert." Er will mit seinem Vater, einem Holzhändler, in Zoppot in<br />

der Seestraße 8 gewohnt haben. Amtlicher Vermerk: "Nicht registriert."<br />

Für die Staatsanwälte wird eine Klemmsche Familienzusammenführung nach fast vierzig<br />

Jahren zu Prozessbeginn unvermeidlich sein. Nur eine Frau bleibt davon ausgeschlossen. Nämlich<br />

die, die der angebliche Ludwig Jantz in Allendorf <strong>als</strong> seine Ehefrau ausgab, die aber tatsächlich<br />

Erna Boehlke heißt. Sie hat sich in ihrem Haus verschanzt. Ihre Augen sind rot unterlaufen, ihr<br />

Gesicht von den vielen Beruhigungsmitteln aufgedunsen.<br />

Die Verhaftung ihres Lebensgefährten traf sie plötzlich unerwartet. Nicht einmal<br />

andeutungsweise habe ihr Gefährte ihr von seiner undurchsichtigen Vergangenheit berichtet.<br />

"Dabei haben wir uns alles gesagt, bei uns war nichts tabu", beteuert sie. "Wenn er etwas auf dem<br />

Kerbholz gehabt hätte, hätte er sich doch irgendwann einmal aussprechen müssen."<br />

Für die frühere Angestellte hat es keinen ersichtlichen Grund, an Jantz zu zweifeln. In<br />

Düsseldorf, wo sie zuletzt lebten, war er <strong>als</strong> zuverlässiger Buchhalter bekannt. Als die Kripo 1973<br />

seine Wohnung durchsuchte, lebte Jantz noch mit seiner zweiten Frau zusammen, die noch im<br />

selben Jahr an Krebs starb. Erna Boehlke kannte er schon seit 1958. Als er kurz nach dem Tod<br />

seiner Frau arbeitslos wurde, schlug Jantz der Erna Boehlke vor, gemeinsam aufs Land zu ziehen.<br />

Mit Erspartem kauften sie sich beide in Allendorf ein heruntergekommenes Bauernhaus. Zwei<br />

Jahre dauerte die Renovierung, Eine Heirat kam nicht in Frage, wegen Ernas Rente. Also spielte<br />

man für die Allendorfer das traute Ehepaar und konnte sich - er erhielt Arbeitslosenunterstützung -<br />

im Sommer sogar Fahren an den Rhein, an den Bodensee und nach Liechtenstein leisten.<br />

Am Dorfleben beteiligten sich die Zugereisten aus Düsseldorf nur soweit wie nötig. Beim<br />

Feuerwehrfest tauchten sie allenfalls <strong>als</strong> Zaungäste auf. Sie blieben lieber zu Hause, sahen Krimis<br />

oder hörten klassische Musik von Mozart, Bach, Chopin, aber auch die beliebten Opernchöre oder<br />

"Volkslieder aus dem Heimatland Ostpreußen". Gelegentlich las Jantz seiner Gefährtin auch etwas<br />

vor. Sein Lieblingsautor war Casanova.<br />

"Ich kann das alles nicht fassen", sagt die Erna Boehlke und weint. Für sie war Jantz<br />

Luftwaffenpilot, "einer der ersten deutschen Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg". Und sie erinnerte<br />

sich noch genau, wie er über seine Kameraden sprach. Das letzte Mal über Oberst Rudel, der stand<br />

gerade in den Schlagzeilen. "Da hat Ludwig mir noch erklärt, dass der Rudel kein guter Flieger war.<br />

Dafür soll er aber besser geschossen haben <strong>als</strong> die anderen."<br />

"Soll'n die mich doch gleich erschießen", hat er zu Erna Boehlke bei ihrem letzten Besuch<br />

in der Untersuchungshaft gesagt. Sie solle sich bloß nicht um ihn sorgen. "Er will nicht einmal, dass<br />

ich noch seine Wäsche wasche."<br />

Frau Boehlke bringt mich bis vor die Tür des penibel renovierten Bauernhauses in<br />

Allendorf und blickt für einen kurzen Moment aufs Kopfsteinpflaster. "Da, erinnert sie sich, "lag<br />

im letzten Herbst ein Regenwurm. Den hat Ludwig aufgehoben und behutsam ins Gras gelegt. " -<br />

42 Tage nach seiner Verhaftung erhängte sich Ludwig Jantz alias Klemm mit einem Bettlaken am<br />

Fensterkreuz seiner Zelle. Eine Nachricht ließ er nicht zurück.<br />

366


1980<br />

Berlin im Kalten Krieg: lebenslustig und kunterbunt<br />

Jungsozialisten – Was sie wollten, wer sie sind<br />

Alternatives Deutschland: Die Würde des Sponti est unantastbar<br />

Frührentner im Jugendfreizeitheim „Gelse“ in Berlin<br />

Ausgewandert in die Hoffnung – Landkomunen<br />

367


BERLIN IM KALTEN KRIEG: LEBENSLUSTIG UND<br />

KUNTERBUNT - ENDZEIT-STIMMUNGEN IN DEN<br />

ACHTZIGERN<br />

metall-magazin, Frankfurt am Main - 03. September 1980<br />

Grenzübergang Herleshausen/Wartha an einem Samstagmorgen im August. Langsam<br />

schiebt sich die auf 200 Meter angestaute Autokolonne an den DDR-Kontrollpunkt heran. Eine<br />

Blechlawine, die fürs Wochenende nach West-Berlin rollt. Vollgestopfte Touristenbusse aus dem<br />

Süden der Republik, Familienkutschen mit Thermoflaschen, Stullen und Kindersicherheitssitzen.<br />

Die meisten aus dem Frankfurter Raum, hin und wieder ein paar unorthodoxe Gestalten, Latzhose,<br />

Jesus-Latschen und den obligaten "Atomkraft, nein danke"-Aufkleber am Heck ihrer Kleinkarosse.<br />

Ihr Gegenüber: zackige DDR-Grenzer, die den eingebläuten Stechschritt wohl kaum<br />

verlernen werden. Die Haare im Nacken sind liniengerade abgestutzt, die Ohren frei rasiert.<br />

Preußische Sozialisten auf der einen, westdeutsches Allerlei auf der anderen Seite. Ein<br />

notgedrungenes, unterkühltes tête-à-tête, das seit Jahren aus den Schlagzeilen raus ist. Die Fragen<br />

der DDR-Grenzer sind knapp, kein überflüssiges Wort, ihre Blicke sind geschult und routinesicher,<br />

keine auffällige Geste - ein zurückgenommenes Verhalten wie vielerorts.<br />

Das alles dauert nur wenige Minuten - Reisepass und Kfz-Schein abgeben - warten - ein<br />

Stück vorfahren - Identitätskontrolle - weiter geht's. Und dennoch brechen in solchen Momenten<br />

deutsch-deutsche Eigenarten auf, wenn auch manchmal nur für Sekunden. In diesem Augenblick<br />

wären Sätze wie "Freie Fahrt für freie Bürger" undenkbar, da wird weder gemault noch gemotzt.<br />

Der Bundesbürger begegnet der personifizierten DDR-Staatsmacht still, artig, bisweilen devot.<br />

Vielleicht ist es der Angst einflößende Habitus, die Uniform <strong>als</strong> Garant für Kompetenz, Zugriff<br />

und Selbstsicherheit, die schlummernde Rudelsehnsüchte aberm<strong>als</strong> wecken. Vielleicht kommen<br />

auch Berührungsängste hoch. Nur kann die DDR-Staatsgrenze West der augenscheinliche Grund<br />

dafür nicht sein. Hohe Sichtschutzwände versperren nämlich den Blick auf Drahtzäune,<br />

Selbstschussanlagen, Panzersperren, Beobachtungstürme. - Herleshausen-Wartha präsentiert sich<br />

international. Beinahe so, <strong>als</strong> bestünde jenes Monstrum aus Tretminen und Todesstreifen nur in<br />

den wirren Köpfen einiger Fantasten.<br />

Aber auch das ist Herleshausen-Wartha. Der Beginn einer unendlich erscheinenden Fahrt<br />

auf der Transitstrecke nach Westberlin. "Bleiben Sie strikt unter hundert". hatte der<br />

bundesdeutsche Grenzer dem Hanauer Elektroschweißer Eberhard Polikeit noch empfohlen.<br />

Denn die Kontrollen sind engmaschig, die Strafen horrende und unerbittlich.<br />

Westberliner Transit-Profis, die da zigmal im Jahr durch die DDR pesen, wissen das nur<br />

allzu genau. Oft fahren sie am Wochenende "nur mal kurz" in den Harz oder in die Lüneburger<br />

Heide, weil sie der Stadtkoller zu zerfressen droht. Unzählige halten sich erst gar nicht an das<br />

vorgegebene Tempolimit, lassen es gleich mit 120/130 angehen, stochern munter drauflos. Da<br />

versteht es sich von selbst, dass hochempfindliche Funkmessgeräte ausschlagen und die<br />

Transitautobahn somit zu einer sicheren aber auch lukrativen Devisenquelle geworden ist.<br />

Immerhin passieren jährlich an die 16 Millionen Autofahrer die deutsch-deutschen Grenzen.<br />

Sollten sich nur jeder achte in einer Radarkontrolle verfangen, brächte dies bei einem<br />

durchschnittlichen Bußgeld von 100 Mark insgesamt 200 Millionen Mark in den DDR-Staatssäckel.<br />

368


An diesem Sommermorgen jedenfalls quält sich nach dem Kontrollpunkt Herleshausen-<br />

Wartha eine Autotraube zähflüssig über eine schmale Baustellenspur, Tempo vierzig ist angesagt,<br />

immer wieder müssen die Fahrbahnen gewechselt werden, mal links, mal rechts - kilometerweit. In<br />

der Kolonne tuckert der blaue Golf-Diesel des Hanauer Elektroschweißers Eberhard Polikeit. Mit<br />

seiner Frau und den beiden Kindern befährt der 35jährige zum ersten Mal die Transitstrecke<br />

Herleshausen-Berlin. Tacho, Asphalt, Blechlawinen - kein Blick auf die weiträumige, scheinbar in<br />

sich ruhende, bisweilen pittoreske Landschaft, kein Gedanke an Städte wie Erfurt, Weimar, aber<br />

auch Jena, die Polikeit links und rechts liegen lässt. Lediglich jene Hinweisschilder, die<br />

vermeintliche Radarkontrollen signalisieren, interessieren noch. - Ein Sommerausflug nach Berlin<br />

im längst verblassten achtziger Jahrzehnt.<br />

Kurz vor dem Hermsdorfer Kreuz ein Raststätten-Schild. Mittag ist zwar längst vorbei,<br />

aber der Picknickkorb soll nicht umsonst gepackt worden sein. Vor der Abfahrt - darauf hat<br />

Polikeit genau geachtet -nochm<strong>als</strong> ein Raststättenhinweis. Aber plötzlich wird er unsicher, habe er<br />

doch den Zusatz vermisst. Schließlich dürfte nur auf ausgewiesenen Transitplätzen geparkt werden.<br />

Für einen Moment ist Polikeit sich unschlüssig, was er nun machen soll. Die Räder hat er allerdings<br />

schon in Richtung Raststätte eingeschlagen, will dann aber lieber schnurstraks weiterfahren. Keine<br />

Wende, ein kleiner Schnörkel, mehr nicht.<br />

Vierhundert Meter danach - ein Vopo-Streifenwagen überholt Polikeit, er wird an den<br />

Autobahnrand gewunken. "Sie haben gegen die Straßenverkehrsordnung der Deutschen<br />

Demokratischen Republik verstoßen", erklärt der Polizist. "Nein, das kann nicht sein", erwidert der<br />

verdutzte Polikeit. "Doch, Sie haben auf der Autobahn gewendet", bedeutet der Vopo. "Aber dies<br />

würde mir im Traum nicht einfallen", kontert Polikeit. "Es besteht kein Zweifel, Sie sind rückwärts<br />

gefahren." - "Ich sagte Ihnen schon, das stimmt einfach nicht." - "Wenn Sie es genau wissen<br />

wollen, Sie haben eine Leiteinrichtung überfahren!" Damit ist der Disput beendet. Aus einer<br />

eindringlichen Belehrung "über die Gefährlichkeit des Überfahrens von Leiteinrichtungen" heraus<br />

legt der Vopo-Mann dann, beinahe dramaturgisch, das Bußgeld fest - 50 Mark. Auf der Quittung<br />

heißt es: "Sie haben ... ... schuldhaft eine Ordnungswidrigkeit nach §§ 1 (1) + 6 (1) StVO begangen,<br />

indem Sie die Verkehrsleiteinrichtungen missachteten."<br />

Irgendjemand muss Eberhard Polikeit bei seiner Lappalie beobachtet haben, <strong>als</strong> er<br />

halbherzig die Raststätte ansteuerte. Vielleicht vom Wachturm oberhalb des Hermsdorfer Kreuzes,<br />

möglicherweise stand die Vopo-Streife getarnt in Lauerstellung. Polikeit hätte am liebsten<br />

kehrtgemacht und wäre nach Hause gefahren, so ungehalten war er. Zornig über die ihm mir<br />

nichts, dir nichts abgeknöpften 50 Mark, verdrossen über die offenkundig allgegenwärtige Vopo-<br />

Beschattung - die Transitautobahn quasi <strong>als</strong> westdeutscher Laufsteg, von dem jeder x-beliebig<br />

heruntergeholt und zur Devisenbeschaffung der DDR zur Kasse gebeten werden kann. Aber er<br />

fuhr weiter, nunmehr in Hab-Acht-Stellung, sich stets halbwegs vergewissernd, ob sich nicht doch<br />

hier oder dort ein Vopo plötzlich vom Grün der Büsche abhebt.<br />

Wie auch immer, Eberhard Polikeit entkrampfte sich merklich, <strong>als</strong> er die<br />

Grenzkontrollstelle Dreilinden kreuzte. Endlich hatte er es geschafft. Auf der Westberliner Avus<br />

entlud Polikeit seine unterdrückten Aggressionen und drehte kräftig auf. "Freiheitsgefühl" nannte<br />

er das, wähnte er sich doch im freien Westen, jedenfalls bis zum Hohenzollerndamm, in dem er<br />

einbog. Mit 80/90 brauste Polikeit in Richtung Tempelhof. Diesmal überholte keiner seinen blauen<br />

Golf, diesmal wurde er von einer Radarkontrolle geblitzt; drei Punkte in der Flensburger<br />

Verkehrssünderkartei waren ihm sicher.<br />

369


Über 1, 3 Millionen Touristen, mehr <strong>als</strong> Hamburg, München oder die Bundeshauptstadt<br />

Bonn besuchen, bevölkern jährlich diese Stadt. Westberlin, einst <strong>als</strong> Fronstadt des Westens und <strong>als</strong><br />

Sperrspitze apostrophiert, ist heute zu einem Durchlauferhitzer geworden. Eben ein deutsches<br />

Mekka der ewig stehen gelassenen Koffer.<br />

Wohl keine bundesdeutsche Abschlussklasse, die nicht einen der doppelstöckigen<br />

Sightseeing-Busse zur Stadtrundfahrt besteigt. Und wohl kein Kegel- oder Gesangverein, der sich<br />

vom Klischee "Berlin bleibt Berlin" abschrecken ließe. Die 160 Kilometer lange Mauer, dieser<br />

seltsame "antifaschistische Schutzwall" aus Beton und Bedrückung, offener Furcht und verkappten<br />

Ängsten; die Bernauer Straße mit ihren alles überragenden Klettergerüsten für Staatspräsidenten,<br />

Schaulustige und jene, die das "Vaterland unentwegt im Herzen tragen"; der Reichstag, die<br />

Freiheitsglocke, die Gedächtniskirche, die Kongresshalle, die Deutsche Oper, die Philharmonie, das<br />

bombastische Internationale Congress Centrum (ICC), natürlich der Kudamm, auf dem es wie eh<br />

und je nach Freiheit, Frechheit und Benzin riecht.<br />

Wie ein Acht-Millimeter-Film flimmert die Außenfassade beinahe atemlos an einem<br />

vorbei. Nur ab und zu ein Päuschen, hier und dort ein Gruppenbild, das wahrscheinlich erst im<br />

Fotoalbum seiner Bedeutung gerecht werden dürfte, und immer wieder surren die Kameras -<br />

natürlich aus der Doppeldecker-Perspektive.<br />

Die Touristenführer mit Mikrophon und aufgesetzter Heiterkeit spulen ihr Programm<br />

kabarettreif herunter. Altbekannte Einlagen, die so gar nicht zum hochgezüchteten<br />

Selbstverständnis dieser Weltstadt passen wollen, aber so offenherzig und blauäugig vorgetragen<br />

werden, dass aufkommende Peinlichkeiten oft in Mitleid umschlagen. Es ist ja auch verdammt<br />

schwer, jeden Tag im Doppeldeckerbus durch die Stadt zu kurven, jeden Tag an derselben Stelle<br />

sein Witzchen zu reißen; noch dazu auf berlinerisch und möglichst unnachahmlich in der Diktion.<br />

Da heißt eben tagtäglich aufs neue die Philharmonie "Schwangere Auster", das Konfektionshaus<br />

am Zoo "Bikini" - oben was, unten was und in der Mitte nischt", die Baubehörde am Fehrbelliner<br />

Platz "Haus der 500 Schlafzimmer".<br />

Ein banaler Humor, der mit der viel gerühmten "Berliner Schnauze" wenig Gemeinsames<br />

hat, dafür aber eine merkwürdige Auf-Teufelkomm-raus-Mentalität freilegt. Überhaupt zeichnen<br />

sattsam bezahlte Imagemacher aus dem gesamten Bundesgebiet ein verzerrtes, aufgemöbeltes<br />

Profil von dieser Zwei-Millionen-Stadt. Was da so jährlich an kostspieligen Hochglanzbroschüren<br />

vom Senat auf den Markt und damit in den Papierkorb geworfen wird, lässt Unvergleichliches<br />

erahnen. Dabei wimmelt es nur so von Superlativen, es strotzt von Klischees - keines scheint<br />

abgedroschen, jedes erlebt regelmäßig seine Neuauflage. - Durchatmen.<br />

Da bleibt Berlin nicht nur Berlin, das nun mal "eine Reise wert ist", da sind die<br />

"Kreuzberger Nächte lang - Punk macht krank". Da tanzten, tranken und grölten Mitte der<br />

achtziger Jahre Abend für Abend die fein betuchte links-liberale Intellektuellen-Schickeria vom<br />

"Sender Freies Berlin" in der griechischen In-Kneipe "Terzo Mondo" in Charlottenburg auf und an<br />

den Tischen; immer er Suche nach Nähe und Durchbruch, Zuneigung und Beachtung. "Ja, ja, "<br />

tönte es da ungefragt aus der Rundfunk-Ecke, "durch Berlin , das Paris des Osten, weht immer<br />

noch ein leichter Hauch der goldenen zwanziger Jahre", eine "Dreifaltigkeit, diese Achse Paris-<br />

London-Berlin. Wir mit unserem Sender sind dabei." - Und wenn schon mal ein Künstler dem<br />

"Spree-Athen" ade gesagt, dann geht er allenfalls nach New York oder Rom. Nein, eines kann den<br />

Berlinern und ihren Zugereisten nicht vorgeworfen werden. Mit internationalen Vergleichen geizen<br />

sie keineswegs. So muss selbst der Bahnhof Zoo für eine exklusive Variante herhalten, liegt er doch<br />

"in der Mitte zwischen Moskau und Paris". Und natürlich dieser Kudamm, diese Prachtstraße,<br />

370


"dieses größte Kaffeehaus Europas", auf dem einst Schreiber und Genies, Mätressen und Gigolos,<br />

Zuhälter und Zocker einträchtig an den Tischen hockten. Nicht zu vergessen, "Zille sein Milljöh",<br />

der die bittere Armut und Trostlosigkeit Berliner Arbeiter porträtierte. Bilder, die gegenwärtig<br />

Hochkonjunktur haben. Ließ´sich doch die soziale Misere von dam<strong>als</strong> heute auf die idyllische<br />

Popo-Klitsche auf dem Hinterhof reduzieren.<br />

Keine westdeutsche Großstadt poliert derart an ihrer Außenwirkung wie Berlin. Mit 48<br />

Millionen Mark verfügt der Senat über den "welthöchsten Werbeetat" in nur einer<br />

Legislaturperiode. Beinahe so, <strong>als</strong> könne das verlorene Wichtigkeitsgefühl einer Hauptstadt mit PR-<br />

Aktionen kompensiert werden, <strong>als</strong> könnten Millionen-Spritzen aus dem Bonner Bundesetat jene<br />

Langzeitfolgen des Zweiten Weltkrieges ungeschehen machen.<br />

Besucher, die die Stadt abgrasen, spüren kaum etwas von ihren tiefen Identitätskrisen.<br />

Gibt es doch die wachgeküsste Kulturszene aus Philharmonie, Deutsche Oper, Galerien,<br />

Bücherstuben, ulkigen Kneipen ohne Polizeistunde. Rockt und jazzt es im "Folkpub" oder im<br />

"Riverboat" nicht etwa in allen Stilrichtungen von 1900 bis zum Jahre 2020? Leben die Rockstars<br />

Nina Hagen, David Bowie oder Iggy Pop nicht etwa in Berlin? Und dieser viel geschmähte<br />

Kudamm. Ist er etwa menschenleer oder blutarm? Gut, aus einer Bummelallee wurde ein<br />

Rummelplatz; ein Bouletten-Boulevard, eine Pommes-frites-und-Curry-Wurst-Chaussee; flankiert<br />

von Pornoschuppen und Peepshows, Rue de Kiez mit vielen winzigen Straßenkläffern, Strichern<br />

samt Laufkundschaft; eben viel Plastik, viel Reklame. Aber was will das schon besagen, war der<br />

Kudamm doch in Wirklichkeit immer eine eigenwillige Collage - ein bisschen Hamburger<br />

Jungfernstieg, ein bisschen St.-Pauli-Reeperbahn. Menschentrauben strömen hier Tag für Tag auf<br />

und ab. Geschäftsleute aus West-Europa, Asien und Nordamerika, Schulklassen,<br />

Reisegesellschaften, kaum eine Fremdsprache, die der Ku'damm nicht kennt. Meist sind die<br />

vorgeschobenen Café-Veranden voll besetzt, weitere Hotels, natürlich in Zoo nähe, sollen<br />

hochgezogen werden, bis 1985 sind 3.000 neue Zimmer fest eingeplant, damit noch mehr<br />

Touristen allabendlich im "Alt-Berliner-Biersalon" der hessischen Sechsmannkapelle ein Umtata<br />

zuhören können. Dort, wo das Wachstum und seine Gedanken daran offenkundig grenzenlos ist -<br />

dort ist Berlin.<br />

Die Spree-Metropole der achtziger Jahre - tatsächlich zieht sich nicht nur die eine Mauer<br />

durch die Stadt. Vielmehr sind es zwei, vielleicht auch drei, die letzteren unsichtbar. Sie<br />

zerschneiden diese 848 Quadratmeter große Fläche. Etwa so, wie es der frühere Chefredakteur der<br />

Berliner "Abend", Jürgen Engert, einmal beschrieb: "Hier in Berlin können Sie ein Bankräuber in<br />

Neukölln sein, Transvestit in Charlottenburg, Regierungsrat in Schöneberg und Industrieller in<br />

Wilmersdorf - in diesem Mixt um Kompositum beißt sich nichts."<br />

Dem Touristen zwischen Kudamm und Zoo, zwischen Savigny- und Stuttgarter Platz<br />

indes bleibt der Zugang zum labilen und komplizierten Berliner Innenleben versperrt. Zu sehr<br />

klebt er an den ihm vorgesetzten Abziehbildern der zwanziger Jahre; einem eingeimpften und<br />

herbeigeredeten Mythos, der schon über vielerlei Selbstzweifel hinweghalf.<br />

Aber all dies erspart manchem Besucher jene lästige Identifikationskrise, von der sich die<br />

Mehrzahl der Westberliner bisher nicht zu befreien vermochte. Die Stadt, zugeschnitten auf die<br />

Funktion einer Metropole, ist in Wirklichkeit nur ein Rumpf, der sein Umland verlor. Bürger<br />

zwischen Abriss und Kulisse. Grüne Villenvororte des Westens - ein Stück verblasster bürgerlicher<br />

Selbstdarstellung aus der Wilhelminischen Epoche. Im Osten abbruchreife Mietskasernen ohne<br />

Bad und Klo. Im Norden Neubauten, die sich zum Märkischen Viertel und zur Gropiusstadt<br />

zusammenschlossen. Fenster wie symmetrisch aneinandergereihte Schiffsluken, Grünflächen nach<br />

371


Planquadraten. Schlafstädte aus der Retorte euphorischer Architekten. - Zerschnitten werden die<br />

Kieze aus schwülstiger Vergangenheit und nüchterner Gegenwart durch großflächige Boulevards,<br />

Avenuen, Stadtautobahnen.<br />

Berlin krankt an seinem Anspruch, den die Wirklichkeit nicht einlösen kann. Die Stadt<br />

zerreibt sich zwischen Gegenwart und Geschichte. Das verlorene Hauptstadt-Gefühl ist längst<br />

noch nicht überwunden, die Suche nach einem politischen Gleichgewicht scheint endlos. Berlin -<br />

das ist eine Metropole im Wartestand. Der S- und U-Bahnhof Friedrichstraße, ein Labyrinth an<br />

Gängen und Treppen, sein heimliches Sinnbild, Bahnhof Friedrichstraße ist der einzige<br />

Geltungsbereich für DM West und Ost, eine Schmuggel-Station für unverzollte Waren, ein<br />

Knotenpunkt der deutsch-deutschen Innenausstattung.<br />

Hilfesuchende Ostrentner schleppen sich, mit Taschen, Tüten und Koffern vollgepackt,<br />

in den Westen, den sie "drüben" nennen. Überall lauern DDR-Polizisten, Ihr Ton ist kaltschnäuzig<br />

und blechern, ihr Arbeitsplatz gleicht einer Verladerampe, auf der sich westdeutsche Touristen<br />

willenlos herumkommandieren lassen. Auch sie wollen nach "drüben", wenngleich sie den Osten<br />

der Stadt meinen. Mittendrin sprachlose Türken, Pakistanis und Afrikaner. Die einen gehen, die<br />

anderen kommen - meist illegal, oft auf der Suche nach einem Stückchen Wohlstand, einem<br />

Quäntchen Geborgenheit. - Wer auch immer den Bahnhof Friedrichstraße passiert, ob von West<br />

nach Ost oder umgekehrt, er will nach "drüben". Nirgends im deutschen Sprachgebrauch wird das<br />

Wort "drüben" so häufig benutzt wie in Berlin. "Drüben" ist ein Synonym, gleichsam für die DDR<br />

und die Bundesrepublik. Es erspart dem Berliner die ihm unliebsame DDR-BRD-Abkürzung,<br />

konserviert vielleicht den schmalen Pfad an Gemeinsamkeiten, rechtfertigt aber zumindest, sich <strong>als</strong><br />

eine Stadt im Wartestand zu begreifen.<br />

Überall in Europa hat sich die Gesellschaft in den letzten beiden Jahrzehnten rapide<br />

gewandelt, ist die Zeit kurzlebiger, sind die Maschinen, die digitale Verarbeitung schneller<br />

geworden - werden die Menschen allmählich überflüssig, Wohl in keiner westdeutschen Stadt sind<br />

die Kontraste derart scharf geschnitten, prallen Widersprüche derart unversöhnlich aufeinander.<br />

Berlin ist ein Schauplatz der deutschen, innerdeutschen, gesamtdeutschen Konflikte, ein<br />

Austragungsort des Nord-Süd- und Ost-West-Gegensatzes. Mauer, Schießbefehl,<br />

Geheimdienstinsel, Springer-Konzern, Studentenrevolte 1968, Kommune und Kinderladen, RAF-<br />

Terroristen, Morde, Entführungen, Gastarbeiter-Gettos, Asylantenbahnhof. Systemverweigerer<br />

und Alternativler, Arbeitslose und Großraumcomputer.<br />

"Berlin ist gar keine Stadt", schrieb Heinrich Heine (*1797+1856) im Jahre 1830, "Berlin<br />

gibt bloß den Ort dazu her, wo sich eine Menge Menschen, und zwar darunter viele Menschen von<br />

Geist, versammeln, denen der Ort ganz gleichgültig ist." Tatsächlich war die Stadt schon immer ein<br />

Kristallisationspunkt der Extreme.<br />

Zu Zeiten finsterer Reaktion in Europa war Berlin eine Herberge für Verfolgte und<br />

entwickelte sich zu einer Stätte der geistigen Erneuerung. Berlin war nicht nur Preußens Gloria, das<br />

war vielmehr die deutsche Stechschritt-Metropole. Die bürgerliche Revolution von 1848 hatte nicht<br />

den Hauch einer Chance, wurde sie auf der Straße zertrampelt. Bismarcks Sozialistenjagd nahm<br />

hier ihren Ausgang. Weimars frisch gekeimte Demokratie endete in Berliner Barrikadenkämpfen,<br />

von hier aus wollte der Führer die Welt unterjochen - tausendjährig und blutrünstig.<br />

Aber auch das war Berlin. Eine Stadt der härtesten Klassengegensätze. Ein "Paris des<br />

Ostens" mit 30.000 Millionären und ein bisschen mehr. Ein teils bornierter, teils dekadenter<br />

372


Geldadel, für den beispielsweise Lessings "Minna von Barnhelm" erst salonfähig wurde, nachdem<br />

eine französische Übersetzung vorlag.<br />

Hunderttausende schlecht bezahlte Arbeiter fristeten unbeachtet ihr Hinterhof-Dasein.<br />

Ob aus den Provinzen Schlesien, Pommern oder Ostpreußen - mit Beginn der Industrialisierung im<br />

19. Jahrhundert überfluteten ausgemergelte, halb verhungerte Tagelöhner, Handwerker und<br />

Kleinbauern die Stadt. Die Matzkes, Lehmanns , Schulzes und Maletzkes -die Kleine-Leute Namen<br />

- malochten bei Siemens, Borsig und AEG. Berlin wuchs zur größten Industriestadt des<br />

Kontinents; auf den Knochen einer Armen-Armee, für die das Leben schwer, das Sterben so<br />

einfach war.<br />

An die 170.000 Einwohner zählte die Stadt um 1800. Eine halbe Million waren es schon<br />

1871, dem Jahr der Reichsgründung, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges lebten über vier Millionen<br />

Menschen in Berlin. - Erinnerungen an verflossene Jahrzehnte verklären meist den Blick, Realitäten<br />

verschieben sich, Nostalgien dominieren. Dokumente hingegen sind unbestechlich. Berlin im Jahre<br />

1846: "10.000 prostituierte Frauenzimmer, 12.000 Verbrecher, 12.000 latitiernde Personen (das<br />

heißt Personen, die ihren Aufenthalt vor der Polizei verbergen), 18.000 Dienstmädchen (von denen<br />

etwa 5.000 der geheimen Prostitution nachgehen), 20.000 Weber (die bei der Arbeit sämtlich ihr<br />

Auskommen nicht finden). 6.000 arme Kranke, 6.000 Almosenempfänger, 3.000 bis 4.000 Bettler,<br />

2.000 Bewohner der Zuchthäuser und Strafanstalten. 1.000 Bewohner des Arbeitshauses, 700<br />

Bewohner der Stadtvogtei (dem Kriminalgefängnis), 2.000 uneheliche Kinder, 2.000 Pflegekinder,<br />

1.500 Waisenkinder; das ist nahe der vierte Teil der Einwohner der ganzen Hauptstadt."<br />

Die Mietskasernen im Billigbau, ob in Kreuzberg, Wedding, Tiergarten oder Neukölln -<br />

sie waren allesamt ein Machwerk profitsüchtiger Hausbesitzer. Korrupte Beamte und skrupellose<br />

Spekulanten Repräsentanten dieser Stadt - bereicherten sich auf Kosten der Arbeiter. Sie kassierten<br />

Wuchermieten und trieben die Bodenpreise in einsame Höhe. Hier ein Tipp, dort ein Geldschein.<br />

Erst dann wurde Bauland ausgewiesen. Um die Jahrhundertwende lagen die Berliner Bodenpreise<br />

zehnmal höher <strong>als</strong> in London. - Da versteht es sich geradezu von selbst, dass für Schulen und<br />

Krankenhäuser das Bauland zu teuer war. Wo sollten diese öffentlichen Einrichtungen auch<br />

entstehen, wenn nicht in den Hinterhöfen.<br />

Über vier Personen lebten durchschnittlich in einem Raum, 13 Prozent aller Arbeiter<br />

hausten in Kellern, die sie sich nachbarschaftlich mit Ratten und Mäusen teilten. Licht war Luxus<br />

und kam allenfalls aus der Leitung. Die Räume waren nass und kalt. Geheizt wurde übers ganze<br />

Jahr. Das Klo lag im Zwischenstock - ein Scheißhaus für die ganze Kompanie. Oder wie Rainer<br />

Joedecke in 'Geo' schrieb: "Zum Baden, wenn's mal sein muss, gehst du in die städtische<br />

Badeanstalt. Deine Kinder spielen in der Hofgruft unter der Wäsche, zwischen Mülltonnen. Rote<br />

Zettel kleben im Hausflur: Du sollst deine Kinder und Hunde vom Rattengift fernhalten. Du bist<br />

müde, von der Schicht, die Kinder plärren, der Kerl im ersten Stock prügelt wieder mal seine Olle.<br />

Gehst du halt in die Kneipe. Schnaps ist billig und hilft gegen alles ... ... 24 Stunden am Tag hast du<br />

Zeit, dein Elend zu ersäufen. Wenn's nicht hilft, kannst du ja immer noch dene Olle verdreschen."<br />

In der Tat: "Zille sein Milljöh". Wie mühsam es für die Arbeiter war, auch nur die<br />

kleinsten Verbesserungen durchzusetzen, belegt ein Schreiben des Herrn Dr. med. Stryck vom 5.<br />

März 1887 seines Zeichens Eigentümer des Hauses Adalbertstraße 74, Er beschwerte sich beim<br />

Polizeipräsidium, das ihm auferlegt hatte, noch zwei weitere Klos zu installieren. Dr. Stryck im<br />

Originalton: "Richtig ist, dass die Mieter von zehn Wohnungen auf je ein Klosett angewiesen sind.<br />

Dazu kommt, dass sämtliche männliche Personen ihre Arbeitsstelle außer dem Haus haben, mithin<br />

von 5 bis 5 1/2 früh bis 6 1/2 bis 7 Uhr abends nicht zu Hause sind. Diese benutzen <strong>als</strong>o in den<br />

373


seltensten Fällen das Klosett im Hause, da der Stuhlgang meist im Laufe des Tages erfolgt.<br />

Dasselbe ist bei den schulpflichtigen Kindern der Fall, die doch meist ihr Bedürfnis in dem<br />

Schulgebäude befriedigen. Da die kleinen Kinder gewöhnlich ein Töpfchen zu dem Geschäft<br />

benutzen, so bleiben <strong>als</strong>o nur die Frauen übrig, und davon sind in jeder Wohnung durchschnittlich<br />

nur eine. Es würden <strong>als</strong>o auf je ein Klosett zehn bzw. elf Personen kommen. Nimmt man aber die<br />

doppelte Zahl, <strong>als</strong>o zwanzig Personen an, die ein Klosett benutzen, so können auch hieraus kaum<br />

Unzuträglichkeiten entstehen. Denn eine solche Sitzung nimmt im Durchschnitt, incl. Ordnung der<br />

Kleider, was bei den Frauen wohl nicht notwendig sein dürfte, 3 bis 4 Minuten oder auch 5<br />

Minuten in Anspruch; rechnet man auf eine Sitzung sogar 10 Minuten, so werden 12 Tagesstunden<br />

allein schon Zeit genug bieten zur Benutzung des Klosetts für 72 Personen, wobei angenommen<br />

wird, dass jede Person täglich einmal Stuhlgang hat, was bekanntlich bei Frauen nicht der Fall ist,<br />

von denen die meisten nur alle zwei bis drei Tage einmal Stuhlgang haben."<br />

Auch die pathetisch so gepriesenen zwanziger Jahre änderten nichts an der miesen Lage<br />

der Arbeiter. Berlin war oben hui und unten pfui. Über eine halbe Millionen Menschen hatten sich<br />

hoffnungslos in ihrem Elend verkrochen - in den Mietskasernen versteckt. Eine Umfrage der AOK<br />

aus dem Jahre 1912: "Eine in Berliner Volksschulen unter Kindern von sechs und mehr Jahren<br />

durchgeführte Statistik ergab: 70 Prozent hatten keine Vorstellung von einem Sonnenaufgang, 76<br />

Prozent kannten keinen Tau, 49 Prozent hatten nie einen Frosch, 53 Prozent keine Schnecke, 87<br />

Prozent keine Birke, 59 Prozent nie ein Ährenfeld gesehen; 66 Prozent kannten kein Dorf, 67<br />

Prozent keinen Berg, 89 Prozent keinen Fluss. Mehrere Schüler wollten einen See gesehen haben.<br />

Als man nachforschte, ergab es sich, dass sie einen Fischbehälter auf dem Markt meinten."<br />

Sechzig Jahre danach - man schreibt das Jahr 1980. Die Kreuzberger Gneisenaustraße,<br />

eine breite Allee mit ausgewachsenen Kastanienbäumen in der Fahrbahnmitte. Typische Berliner<br />

Hinterhöfe. Die dreckigste Bruchbuden haben die Deutschen inzwischen verlassen, Türken zogen<br />

dort ein. Den Armen aus Pommern, Vorpommern, Schlesien und Ostpreußen folgten die Armen<br />

aus Anatolien. Eine unscheinbare Gesetzmäßigkeit.<br />

Kreuzberg heißt "Klein Istanbul" oder "Klein Ankara". Jedes viertes Kind ist türkisch,<br />

über 80.000 Ausländer leben schon über Jahre in diesem ausgegrenzten Getto; nicht selten mit acht<br />

oder mehr Personen in einer Drei-Zimmerwohnung. Vor der Eingangstür der Hausnummer 60<br />

spielen türkische Mädchen "Hinkefuß" auf dem Trottoir, Frauen stricken auf den Fensterbrettern.<br />

An der Hausmauer lehnt ein Mittvierziger, der den Schnaps wie Limonade trinkt und<br />

Unverständliches über den Fußball-Bundesliga-Absteiger Hertha BSC stammelt. Im Hausflur<br />

riecht's nach Katze, Knoblauch und Bratkartoffeln. Die an der Wand angebrachte Namenstafel ist<br />

<strong>als</strong> Wegweiser gedacht. Wer zu Asragus will, kann gleich vorne rechts die Treppe benutzen.<br />

Wer zu den Wohngemeinschaften, zu den Spontis, Alternativlern, Verweigerern oder<br />

Aussteigern will, muss in der Gneisenaustraße, Hausnummer 60 , automatisch über den Hinterhof<br />

und dann fünf Stockwerke hoch. Vorbei an ausgebrannten Mopeds und einem ausgeschlachteten<br />

Lloyd, an Plastiktüten voller Industriemüll, leeren Flaschen und ausgelatschten Schuhen. Aus den<br />

Treppen sind schon einige Stiegen herausgerissen, die Flurbeleuchtung funktioniert nicht. Wie im<br />

vergangenen Jahrhundert gibt's auf jedem zweíten Stockwerk das obligate Scheißhaus; Duschen<br />

waren und bleiben Prívat- und damit Glückssache.<br />

Paradoxien unserer Epoche. Vor allem Jugendliche aus dem Wohlstands-Deutschland<br />

zieht es nach Kreuzberg. Junge Menschen, die Not und ihre Linderung nicht kennengelernt haben,<br />

dafür aber Auto, Stereo- oder später auch die CD-Anlage ihr eigen nennen können, die in einem<br />

nie da gewesenen Überfluss aufwuchsen und dennoch die Wegwerf-Gesellschaft ablehnen, die<br />

374


suchen hier ihren unverwechselbaren Geruch - Stallgeruch. Ihre Lebensphilosophie: "Ob<br />

Sonnenschein oder Regen, wir sind dagegen" - "Kein Schwanz ist so hart wie das Leben" - "Was ist<br />

das für ein Land, in dem morgens um sieben die Sonne aufgeht".<br />

Ein bunt zusammengewürfeltes Völkchen prägt heute das Elendsquartier von einst. Zu<br />

ihm gehören alte, gebrechliche Endsiebziger aus Anhänglichkeit oder weil ihnen die Ein-Zimmer-<br />

Neubauwohnung im Norden der Stadt zu teuer ist. Aber auch düstere Bars mit Billardtischen,<br />

Puffs und Pornos, Oma-Kneipen, in denen alte Leute nachmittags auf dem Plüschsofa Schultheiss-<br />

Bier oder Kognak trinken und dabei unentwegt schwatzen. Spielhallen mit Flipper und Kicker<br />

liegen gegenüber der Mauer, Krämerläden gibt es an jeder Ecke, Kartoffelläden zum Beispiel, in<br />

denen es nur Kartoffeln und Zwiebel gibt. Einige Straßenzüge sind fest in türkischer Hand -<br />

türkische Geschäfte, Kneipen und Moscheen, Schleier und Turbane auf den Bürgersteigen.<br />

Trotzdem streunt noch ein Straßenkläffer durch die Gegend, der so gar nichts Orientalisches an<br />

sich hat, vielmehr an die fünfziger Jahre erinnert, an die Familienbadetage in der aufgestellten<br />

Zinkwanne -der deutsche Spitz.<br />

Die Schlagzeilen, die Kreuzberg nun seit einigen Jahren hergibt, sind symptomatisch für<br />

Berlin. Vorbei sind die Zeiten, <strong>als</strong> die Stadt im Mittelpunkt internationaler Krisen stand;<br />

Hungerblockade der Sowjets 1948/49, der Volksaufstand 1953 in Ostberlin, der Mauerbau aus dem<br />

Jahre 1961. Die sozialliberale Ostpolitik der Regierungen Brandt/Scheel und Schmidt/Genscher<br />

(1969-1982) nahm dem Berliner die seit Jahrzehnten aufgeladene Angespanntheit. - Endzeit-<br />

Stimmungen. Zudem sicherte das Vier-Mächte-Abkommen von 1972 endlich die Bindungen zur<br />

Bundesrepublik ab, das Chruschtschow-Ultimatum war vergilbt, die Stadt hatte nun die lang<br />

ersehnte Ruhe, sich selbst zu finden.<br />

Aber ausgerechnet in dieser Phase, <strong>als</strong> Ost und West einmal übereinstimmten, dass "die<br />

Lage Westberlins seit dem Kriege noch nie so gut gewesen war", schlug die Stimmung schlagartig<br />

um: Schwermut, Lebenspessimismus und Nörgeleien - die Berliner begannen zu säuern.<br />

Exemplarisch eine Zeitungskarikatur: Zwei Alte gehen durch den Wald, er sagt zu ihr: "Findeste<br />

nich ooch, Cläre, selbst det Laub raschelt nicht mehr wie früher."<br />

War ihr Leben nicht erträglicher geworden? Konnten die Berliner nicht jetzt ihre<br />

Verwandten in der DDR besuchen - und das dreißig Tage im Jahr? Oder leiden die Berliner seither<br />

an Selbstwertverlusten, stört sie gar die Langeweile? Etwa so, wie es Cyrus Sulzberger in der "New<br />

York Times" formulierte: "Westberlin, das berühmteste Symbol der westlichen Welt im letzten<br />

Viertel unseres Jahrhunderts und ein Leuchtturm der Freiheit in der geografischen Mitte des<br />

kommunistischen Europas, scheint verurteilt, in der Versenkung der Geschichte zu verschwinden -<br />

und es gibt vermutlich nichts, um das zu verhindern."<br />

Allzu lange vermischten Westberliner Politiker Entspannungsfortschritte mit ihren<br />

Hauptstadt-Sehnsüchten, verwechselten sie den ungehinderten Zugang mit Smoking-Empfängen<br />

im Schloss Bellevue, dem Sitz des Bundespräsidenten. Berlin wollte sich erst gar keine Atempause<br />

gönnen. Alte Botschaftsgebäude, Speers albtraumhafte Architektur, Autoparkplätze und<br />

Gedenktafeln verführten die Stadt zu gigantischen Höhenflügen. Fortan sollte Berlin<br />

• Drehscheibe zwischen Ost und West,<br />

• internationales Luftverkehrskreuz,<br />

• Sitz ständiger Einrichtungen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in<br />

Europa,<br />

375


• Kontaktstelle der Europäischen Gemeinschaft zum COMECON,<br />

• Sitz von Unterorganisationen der UNO sein. Eben eine Stadt, die nur den<br />

internationalen Zuschnitt duldet. Darin waren sich im Berliner Abgeordneten-Haus<br />

alle einig - von der CDU bis zur SPD. Es blieb schließlich Egon Bahr, dem<br />

Architekten der Ostverträge vorbehalten, die Größenordnung zu bestimmen. "Da<br />

kann ich nur sagen: Meine Stadt ist provinziell geworden. Dam<strong>als</strong> war ja noch ein<br />

Rest von Größe in den Trümmern. Fratzenhaft, aber furchtbar herausfordernd."<br />

Erst allmählich und zudem unwillig erkannte Westberlin seine eigentliche<br />

Herausforderung. Der Kalte Krieg hatte über Jahre innerstädtische Probleme zugeschüttet. In<br />

Wirklichkeit war Westberlin Anfang der siebziger Jahre nicht in der Lage, auch nur halbwegs mit<br />

einer westdeutschen Großstadt zu konkurrieren. Die Aufsichtsräte renommierter deutscher<br />

Unternehmen hatten der Stadt bereits während der Blockade den Rücken gezeigt, beim<br />

Chruschtschow-Ultimatum folgten ihre Vorstände, nach dem Bau der Berliner Mauer zogen die<br />

Konzerne auch ihre Forschungs- und Entwicklungsstäbe ab. Verschollen war auch das<br />

Großbürgertum, jene 150 reichen Familien, die ihr Kapital in der Schweiz, Lichtenstein und in der<br />

Bundesrepublik anlegten.<br />

Es blieben die kleinen Leute, Hilfsarbeiter, Arbeiter, Putzfrauen, Dienstpersonal.<br />

Zwischen sechs und sieben bevölkern sie die Straßen, fahren die U-Bahnen in Zwei-Minuten-<br />

Abständen zum "roten Wedding", wo AEG, Schering und Schwartzkopff produzieren. "Wer nie<br />

bei Siemens war, bei AEG und Borsig, der weeß noch nich, was Arbeit heißt, der hat noch<br />

manches vor sich", sagten einmal die Akkordwickler der AEG-Brunnenstraße.<br />

Die Schlagzeilen des Jahres 1979 hingegen sollten noch ungeahnt und unvorhersehbar die<br />

wirtschaftliche Lage kommender Jahrzehnte bestimmen: AEG entlässt jeden dritten Arbeitnehmer.<br />

- Kerzenfirma Scheidemantel feuert die letzten hundert Beschäftigten. - Konkurs der Raebel-<br />

Werke, wo ist das Urlaubsgeld der Arbeiter geblieben? - Krupp verkauft Berliner Werk, Unklarheit<br />

über Arbeitsplätze. -Massenexodus bei Philips.<br />

Die Bilanz im Jahre 1980: In zwei Jahrzehnten sind 130.000 Arbeitsplätze wegrationalisiert<br />

worden; die Einwohnerzahl von Darmstadt. Friedhofsruhe überschattet manche traditionsreiche<br />

Fabrikhalle. Anfang der sechziger Jahre hatten noch 300.000 Menschen einen Industriejob,<br />

inzwischen sind es nur noch knapp 170.000. Nicht spektakulär, eher leise und unscheinbar sieben<br />

die Betriebe ihre Arbeiter aus. Ein Indiz dafür sind die vielen Verhandlungen, vor den Arbeits- und<br />

Sozialgerichten. In 3.200 Verfahren im Jahre 1978 erstritten die Gewerkschaften 13 Millionen Mark<br />

für ihre Mitglieder.<br />

Dabei kassieren Großunternehmer jährlich stattliche 15 Milliarden Mark an Berlin-<br />

Förderung, subventioniert Bonn den Senatshaushalt mit 54 Prozent. - Gewiss, Berlin wäre ohne<br />

Bundeszuschüsse nicht lebensfähig, ein politischer Preis, der die Industrie-Investitionen im Jahre<br />

1979 gar auf 1,3 Milliarden Mark klettern ließ. In Wirklichkeit aber wird die Berlin-Förderung "<strong>als</strong><br />

Honorar für Arbeitsplatzvernichtung missbraucht", mutmaßt Berlins gestrenger IG-Metall-Boss<br />

Horst Wagner (1980-1989).<br />

Daran ändert auch das 14-Punkte-Programm des Westberliner Senats wenig oder gar die<br />

40 Berlin-Beauftragten bundesdeutscher Konzerne. Hinter den viel versprechenden Begriffen wie<br />

Industrieansiedlung, Forschung und Entwicklung, Technologie und Innovation, verbirgt sich eine<br />

schamlose Subventionsmentalität. Längst liegen wissenschaftliche Gutachten vor, die unzweifelhaft<br />

376


elegen, wie kurzatmig und perspektivlos die Wirtschaftspolitik dieser Stadt angelegt ist. Doch<br />

Berlin leistete sich einen liberalen Wirtschaftssenator, der brisante Expertisen, wie die der Baseler<br />

Prognos AG (Kostenpunkt: 337.000 Mark), erst einmal monatelang unter Verschluss hält. Einfach<br />

deshalb, weil ihm das Prognos-Ergebnis mehr <strong>als</strong> unangenehm ist. Und wenn schon mal öffentlich<br />

debattiert wird, dann bestimmt ein seltsamer Kammerton die Diktion. Eine verquere Mischung aus<br />

Wehleidigkeit und Unvermögen saß da auf den Parlamentsbänken im Berliner Abgeordnetenhaus.<br />

Gegensätze zwischen SPD/FDP Senat und einer ausgelaugten, über Jahre vermiefte CDU-<br />

Opposition zerflossen bis zur Unkenntlichkeit; sind sie nicht doch alle Berliner, stolz auf diese<br />

Stadt, ab und zu auch trübsinnig an der Mauer, "die oft auch die Grenze ihres Horizonts ist",<br />

bemerkt Michael Pagels (DGB-Vorsitzender 1982-1990). Berlins einsamer Aufstieg zur Provinz.<br />

Wie Steuermilliarden verschleudert werden, beweist ein Forschungsbericht der<br />

Technischen Universität (TU) Berlin:<br />

• Fast 30 Prozent des gesamten Industrieumsatzes entfällt auf die Herstellung von nur<br />

zwei Produkten. Zigaretten und Kaffee. Durch rationelle und hoch automatisierte<br />

Produktionsverfahren sind dafür aber nur 2,5 Prozent (5.000) aller in der Berliner<br />

Industrie beschäftigten Arbeitskräfte notwendig. Einst im Jahr 1977 wurde diesen<br />

beiden Branchen eine Umsatzsteuerpräferenz in Höhe einer viertel Milliarde Mark<br />

gewährt. Das bedeutet: Für jeden Arbeitsplatz brachte der Staat 110.000 Mark auf.<br />

• Im Jahre 1962 erhielt die Zigarettenindustrie in Berlin mit ihren 4.300 Beschäftigten<br />

genauso viel Umsatzsteuervorteile wie die gesamte Berliner Elektroindustrie mit ihren<br />

112.500 Arbeitnehmern. In den ersten zehn Jahren ihrer Kapazitätsverlagerung nach<br />

Berlin konnten die fünf Zigarettenkonzerne etwas mehr <strong>als</strong> eine Milliarde Mark nur<br />

an Umsatzsteuerpräferenzen einstreichen. Damit hätten sie beispielsweise ihre Löhne<br />

und Gehälter (300 Millionen Mark) finanzieren können, wenn sie diese Kosten nicht<br />

schon über ihre Zigarettenpreise kalkuliert hätten.<br />

• Seit dem Jahre 1977 ist Berlin mit 37 Prozent Deutschlands größter Kaffeeplatz.<br />

Durch geschickte steuerrechtliche Firmenkonstruktionen verdienen die beiden<br />

großen Kaffeeröster gleich zweimal: an der Hersteller- und an der<br />

•<br />

Abnehmerpräferenz.<br />

Auch für die Süßwarenbranche erwies sich Berlin <strong>als</strong> attraktiver Standort. Der<br />

Steuerzahler musste ihre 522 Arbeitsplätze allein im Jahre 1977 mit 55 Millionen<br />

Mark subventionieren - pro Arbeitsstelle mit 106.000 Mark<br />

Die Philosophie der Berlin-Förderung, so das Gutachten: "Je kapitalintensiver die<br />

Produktion, das heißt je geringer der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft ist, desto größer der<br />

Steuervorteil." Ob die Baseler Prognos Studie oder die Expertise Berliner Wissenschaftler:<br />

Unabhängig voneinander prophezeiten sie einen weiteren Rückgang der Industriebeschäftigung. In<br />

Zahlen: Danach werden bis 1985 nochm<strong>als</strong> 28.000 Arbeitsplätze vernichtet sein.<br />

Bereits vor drei Jahren kritisierte der einstige Vorsitzende der IG-Metall, Eugen Loderer<br />

(*1920+1995), "die kurfristigen unternehmerischen Interessen und die damit verbundenen<br />

Subventionsmentalitäten". Ein Memorandum der Berliner Gewerkschaften aus den späten<br />

siebziger Jahren appellierte eindringlich an den Senat, die Struktur-Probleme anzupacken. Die<br />

DGB-Forderung: "Steuerliche Vorteile sollen künftig nur noch dann gewährt werden, wenn<br />

Arbeitsplätze erhalten bleiben und möglichst neue dazukommen. Den Unternehmen weiterhin<br />

377


lind zu vertrauen, indem auf die selbstheilenden Kräfte der Marktwirtschaft gesetzt wird, ist für<br />

den DGB Berlin keine akzeptable Politik." - Allerdings für den früheren liberalen<br />

Wirtschaftssenator Wolfgang Lüder (19751981): Er will "Ruhe an der Förderfront". wittert er doch<br />

hinter den DGB-Vorstellungen gleich verkappte Investitionslenkungen aus dem linken SPD-Lager.<br />

Berlin in den achtziger Jahren - "das ist keine stinknormale Stadt, noch nicht einmal eine<br />

normale Großstadt", orakelte der dam<strong>als</strong> Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe (1977-1981).<br />

Berlin '80 -"das war doch hier schon immer eine dörfliche Veranstaltung", befindet er FDP-<br />

Abgeordnete Volker Hucklenbroich (*1925+2004) . Berlin '80 - "es ist, <strong>als</strong> ob das 20. Jahrhundert<br />

über keine Fantasie mehr verfüge, <strong>als</strong> ob unsere Politiker und Architekten nichts mehr auszusagen<br />

hätten, <strong>als</strong> ob unsere Universitäten und Hochschulen nur noch Technokraten herausgebracht<br />

hätten", bemängelt der ehemalige FDP-Justizsenator Hermann Oxfort (*1928+2003).<br />

Eine Stadt erstickt im Kleinkram. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht her ein "Skandal" ,<br />

dort ein "Skandälchen" hochgeblasen wird. Von den 1.894 Opernplätzen beispielsweise sind 620<br />

ständig reserviert. Freilich kostenlos, ein Selbstbedienungsladen für Spitzenbeamte, Chefärzte,<br />

Wissenschafts-Elite und natürlich Politiker aus allen Parteien inklusive ihrer Mätressen.<br />

Rekorddefizit des Hauses an der Bismarckstraße: 49 Millionen Mark. Da streiten sich die<br />

Honoratioren zu prominenten Sendezeiten im Funk und Fernsehen über die rechte Dosis Tausalz,<br />

über die Müllabfuhr, über Pöstchen wie Posten und neuerdings sogar über den frisch gekürten<br />

"Rockbeauftragten des Senats von Berlin". Es wird Zeitgeschichtlern späterer Jahre vorbehalten<br />

sein, Dekadenz und Zerrissenheit dieser Epoche qualitativ einzuordnen.<br />

Wo immer in Westberlin Probleme auftauchen, etwa in der Stadtsanierung, im<br />

Wohnungsbau oder bei den Altbaumieten, wo immer Beschlüsse gefasst werden müssen oder<br />

Verantwortlichkeiten da zu sein hätten, eines passiert mit chronischer Sicherheit: Gremien werden<br />

berufen, die ihrerseits Parlamentsausschüsse zugeordnet sind, mit denen sich wiederum die<br />

Behördenchefs umgeben. Oft werkelt im Schöneberger Rathaus eine heimliche Allparteien-<br />

Koalition herum, werden konfliktträchtige Entscheidungen liegen gelassen oder zerredet. - Die<br />

Verschmelzung zwischen Amt und Mandat, zwischen Exekutive und Legislative ist total;<br />

Ämtergeschachere, Ämterpatronage, Posten um Pöstchen.<br />

Dabei verlassen jährlich etwa 80.000 Menschen Westberlin. Fast eine halbe Million<br />

Einwohner ist älter <strong>als</strong> 65 Jahre; der Anteil der alten Menschen an der Bevölkerung ist hier um die<br />

Hälfte höher <strong>als</strong> in anderen Städten. Auf 18.000 Geburten im Jahr kommen 39.000 Tote. Bis 1990<br />

wird die Einwohnerzahl um gut 250.000 sinken, wird die durchschnittliche Altersstruktur der des<br />

Bundesgebietes angepasst sein.<br />

Aber da sind ja noch die Ausländer. Von Gastarbeitern zu sprechen, wäre nicht korrekt,<br />

denn Gäste kommen und gehen. Die 220.ooo Türken, Italiener, Griechen, Serben und Kroaten -<br />

die werden bleiben. Ihnen ist es verdanken, dass sich Berlin heute noch eine "Zwei-Millionen-<br />

Metropole" nennen darf.<br />

Zu Beginn des laufenden Schuljahres meldeten sich 500 türkische Mädchen und Jungen<br />

mehr zum Unterricht an <strong>als</strong> Statistiker errechnet hatten. So sind die Kreuzberger Grundschulen<br />

hoffnungslos überfüllt. In den sogenannten 'bürgerlichen" Gegenden Charlottenburgs und<br />

Zehlendorfs, dort wo die Professoren dieser Stadt in ihrer Milieudichte noch sonntägliche<br />

Hauskonzerte betulich zelebrieren, da regte sich der Mittelstands-Unmut, <strong>als</strong> dort erstmalig ein<br />

türkisches Kinderkontingent den Schulhof betrat. Überall dort, wo Ausländer massiert auftreten,<br />

äußert sich unterschwellig Feindseligkeit, werden vergessen geglaubte Ressentiments wach -und<br />

378


Westberlin ist eine ihrer Hochburgen. Denn jeder zehnte Einwohner gilt <strong>als</strong> Ausländer, auch wenn<br />

er seit Jahrzehnten an der Spree lebt, seine Kinder geboren wurden.<br />

"Türken raus" kritzelten Einheimische an ihre Pissecke. "Türken sind Penner", sagt<br />

Alfons, der Taxifahrer. Und Penner ist das schlimmste Schimpfwort zwischen Kreuzberg und<br />

Wedding. Die Folge: Gettos entstehen, weil sich eingefleischte Vorurteile und Berührungsängste<br />

einander abwechseln. Für Touristen-Unternehmen allerdings sind Gettos im uniformierten<br />

Deutschland interessant, man wenigstens eine Sightseeing-Tour durch Kreuzberg Exotik<br />

versprechen, und ein Blick über die düstere Mauer inbegriffen. Jedenfalls kurven tagtäglich<br />

fortwährend Doppeldeckerbusse durch die Naunynstraße, dass sie nunmehr eine Sackgasse hergibt.<br />

Auch für die SPD, die gerade dort ihren traditionsreichen Ortsverein auflösen musste - zu viele<br />

Türken, zu wenig Sozialdemokraten Berliner Prägung aus dem ehedem legendären Facharbeiter-<br />

Milieu.<br />

Berlin, was nun? Negativ-Schlagzeilen sind der Stadt allemal sicher. Und dennoch sagen<br />

ihre Zukunftsforscher eine positive Entwicklung voraus. Hans Buchholz, Geschäftsführer der<br />

Gesellschaft für Zukunftsfragen, glaubt:<br />

• Verschiedene Berliner Stadteinheiten, die räumlich und historisch gewachsen sind,<br />

werden zu Stadtinseln gruppiert,<br />

• Natur- und Grünstreifen trennen diese Stadtinseln stehen "Mobile Homes" <strong>als</strong><br />

Alternative zum innerstädtischen Wohnen. In diesen Grüngürteln gibt es Sport,<br />

Erholungs- und Freizeiteinrichtungen sowie Schrebergärten.<br />

Berlin, am Anfang des dritten Jahrtausends, wird eine Metropole mit der modernsten<br />

Technologie sein. Kabelfernehen, Satelliten-Anschlüsse, sind selbstverständlich. Lokalprogramme<br />

senden rund um die Uhr, DSL-Internetverbindungen, On-line Einkäufe gehören zum Alltag.<br />

Fernheizungen versorgen alle Wohnungen, Solardächer. Die U-Bahn fährt nur noch<br />

computergesteuert. Das Benzinauto ist aus der City verbannt und durch Elektrocars ersetzt. Ein<br />

großer Teil der Straßen ist in Fußgängerbereiche umgewandelt - auch der Kudamm. Windräder und<br />

Sonnenkollektoren zieren die Dächer. Die Energieversorgung der Stadt ist rationell und vorbildlich.<br />

Die Stadtsanierung wird im Jahr 2005 abgeschlossen sein. Die Ästhetik des Stadtbildes ist erhalten,<br />

wenn nicht verbessert.<br />

Vielleicht können schon in zehn bis zwanzig Jahren Westberliner in DDR-<br />

Naherholungsgebieten ihr Wochenende verbringen, wird der berüchtigte Wannseekoller eine vage<br />

Erinnerung sein. Und schon wieder gibt es wieder Bonner Politiker, die sich für Westberlin<br />

verheißungsvolle Zukunftsvisionen ausmalen, gar ins Schwärmen geraten. Westberlin, eine<br />

internationale Drehscheibe in der Ost-West-Beziehung, eine zollfreie Stadt, ein Messezentrum, ein<br />

Umschlagplatz der Konsumgüterindustrie. Profitieren sollen sie alle von dem neuen Handelsplatz,<br />

die Comecon-Staaten ebenso wie die EU-Länder. Wird Westberlin eines Tages wieder Hauptstadt<br />

mit Regierung und Parlament? Das wohl nicht oder dann doch? Und wenn, dann nur eine<br />

europäische, eine multikulturelle Metropole verschiedener Sprachen, Ansichten, Eigenarten,<br />

Temperamenten Lebensansprüchen - Lebensgewohnheiten.<br />

379


HOFFEN AUF HEIDI - JUSO-ANSPRUCH, MORAL UND<br />

WIRKLICHKEIT - WAS SIE WOLLTEN, WER SIE SIND<br />

stern 17. Januar 1974 / Rowohlt Verlag, Reinbek 25. Mai 1980<br />

Wenn Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974) über seine politische Vergangenheit<br />

nachdenkt, pflegt er zu sagen: "Mit 30 Jahren war ich ein engagierter Sozialist." Willy Brandt hat<br />

seit dam<strong>als</strong> 30 Jahre gebraucht, um sich vom Sozialisten zum "praktischen Sozialdemokraten" zu<br />

entwickeln, so der schleswig-holsteinische SPD-Landesboss Jochen Steffen (*1922+1987).<br />

Die 30jährigen Sozialisten dieser Tage schaffen das schneller. Wolfgang Roth, 32, bis<br />

Ende Januar 1974 Chef der Jungsozialisten und oft beschworener Beelzebub bürgerlicher<br />

Sozialistenfurcht, kann sich schon am Ende seiner Amtszeit rühmen, alle Brandt-Stationen hinter<br />

sich zu haben. Wurde Roth noch vor zwei Jahren von der Hamburger SPD gerüffelt, weil er<br />

gemeinsam mit Kommunisten auf politischen Kundgebungen gesprochen hatte, so weist er heute -<br />

in der beginnenden Ära von Ausgrenzung politisch Andersdenkender und Berufsverbote - jede<br />

Zusammenarbeit mit der DKP zurück: "Mir ist es mittlerweile zuwider, mit den Kommunisten<br />

gegen Berufsverbote zu protestieren."<br />

Ob <strong>als</strong> wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Städtetag, später sodann bei dem<br />

Skandal der geschüttelten gewerkschaftseigenen Wohnungsbaugesellschaft "Neue Heimat" in<br />

Hamburg (hohe Mieteinnahmen, satte Spesen mit horrenden Gehaltskonten) - der Diplom<br />

Volkswirt Wolfgang Roth empfahl sich für wichtige Schlüsselpositionen oft mit dem <strong>als</strong> Witzchen<br />

zu verstehenden Hinweis: "Was interessiert mich heute noch mein linkes Geschwätz von gestern."<br />

-Seither ist Sendepause.<br />

Da war es dann nach SPD-Stallgeruch-Maßgaben doch irgendwie schon naheliegend,<br />

solch ein in der Öffentlichkeit wahrgenommenes "Jung-Talent" nicht auf den hinteren Plätzen des<br />

Plenums Platz "verkümmern" , sondern sogleich zum stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-<br />

Bundestagsfraktion aufsteigen zu lassen; wegen der Roth'schen Schubkräfte - mithin bis zum<br />

Vizepräsidenten der Europäischen Investitionsbank (EIB) in Luxemburg (1993-2006).<br />

Junggenossen von der Basis haben dieses unstete Hin und Her ihres „Genossen“<br />

Wolfgang auf der Suche nach einem markanten Aufstiegs-Profil kommen sehen. Sie betrachten den<br />

"begnadeten Opportunismus" über ihren scheidenden Vorsitzenden schon seit langem mit<br />

Misstrauen, verdeutlicht der Kieler Juso-MdB Norbert Gansel (1971-1997). Nur in Bonn an den<br />

Trögen der Macht, zwischen Dienstwagen, Diplomatenpässen, Diäten und Damenkost grassiert<br />

Fieber allenthalben bei den Jusos - kein Gelbfieber, allenfalls Bedeutungsfieber. Roths Stellvertreter<br />

Johano Strasser, der wie andere Juso-Prominente der Karrieremacherei verdächtigt wird, gibt zu:<br />

"Wir Bundesvorstandsmitglieder haben Verständigungsschwierigkeiten mit unserer Organisation."<br />

Das war nicht immer so. Unter dem Einfluss der Außerparlamentarischen Opposition<br />

hatten sich die Jusos noch auf ihrem Bundeskongress 1969 "mit hohem moralischen Anspruch"<br />

(Strasser) zum Ziel gesetzt, die SPD kompromisslos zu demokratisieren. Doch schon vier Jahre<br />

später ist ihnen die Luft ausgegangen. Statt die Partei auf Jusos-Linie einzuschwören, zerstritten<br />

sich die Junggenossen in Flügelkämpfen. Wolfgang Roth: "In den Juso-Organen, zum Beispiel im<br />

Bundesausschuss, sitzen Leute, mit denen man nicht reden kann."<br />

380


Seit Monaten fighten die Jusos-Fraktionen um die wahre Ideologie. In Hamburg und<br />

Berlin bildete sich eine radikale Gruppe, die auf einer Volksfront mit Kommunisten beharrt und<br />

die derzeitige Wirtschaftsordnung <strong>als</strong> ein System begreift, in dem sich der Staat nur noch <strong>als</strong> Diener<br />

oder <strong>als</strong> "Büttel" der Großindustrie ("Staatsmonopolistischer Kapitalismus") begreift. Die<br />

rebellischen "Antirevisionisten", eine Gruppe von Hannoveraner Studenten, gehen weiter. Sie<br />

halten die SPD eigentlich für überflüssig, weil sie <strong>als</strong> Regierungspartei in Bonn nur "das bestehende<br />

kapitalistische System stabilisiert", so ihr Sprecher, der Jura-Student Gerd Schröder (Bundeskanzler<br />

1998-2005). Er und die Seinen wollen in den Betrieben und Schulen gegen das Großkapital<br />

agitieren.<br />

Streitereien und Abspaltungen innerhalb der Jungsozialisten will nunmehr eine rothaarige<br />

Junggenossin verhindern: Heidi-Wieczorek-Zeul, 30, (Bundesministerin für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit 1998-2009) Chefin des Juso-Bezirks Hessen-Süd, wird in München die Nachfolge<br />

des angepassten Wolfgang Roth antreten. Die Rüsselsheimer Gesamtschullehrerin gilt unter den<br />

Sozialdemokraten <strong>als</strong> engagierte Politikerin, die vor keinem Konflikt in und mit der Partei<br />

zurückschreckt. Sie will den frustrierten Junggenossen, die auf Kongressen "zum totalen<br />

Ausflippen in eine endlose Grundsatzdiskussion neigen" (Johano Strasser) mit markigen Sprüchen<br />

zur schnellen Eintracht treiben: "Wir praktizieren die Zusammenarbeit mit Kommunisten , wenn<br />

es darum geht, in konkreten Aktionen gemeinsam gegen antidemokratische Tendenzen zu<br />

kämpfen."<br />

Doch solche Äußerungen der "roten Heidi" (Partei-Jargon) stehen in krassem Gegensatz<br />

zu den geheiligten Grundsätzen der SPD, wonach eine Kooperation mit Kommunisten in jedem<br />

Fall "streng verboten ist und zu einem Parteiausschlussverfahren führt", wie SPD-<br />

Vorstandssprecher Lothar Schwartz versichert.<br />

Auf dem kommenden Bundeskongress in München werden die leidigen<br />

Abgrenzungsprobleme der Jusos zu den Kommunisten freilich zweitrangig sein. Strasser: "Keine<br />

müßigen Streitereien um die richtige Weltanschauung." Unter dem Druck der nach links<br />

abgewanderten Basis will der Bundesvorstand konkret arbeiten. Auf einem geheimen Treff im<br />

Seehotel in Romanshorn am Bodensee einigten sich die Genossen über Weihnachten auf<br />

"Maßnahmen", die die "sozialdemokratische Regierungspolitik zu verwirklichen hat".<br />

Die Bundesregierung soll ultimativ aufgefordert werden, die Kontrolle und Lenkung von<br />

Investitionen "global" einzuführen und die Macht der Unternehmer mit direkten Eingriffen zu<br />

beschneiden. Ein Katalog, der die "Arbeitsmarktpolitik" der Bundesanstalt für Arbeit oder auch die<br />

"Änderung des Bundesbankgesetzes" einschließt, soll die Gesamtpartei zu "ersten Schritten" in<br />

Richtung auf Durchsetzung einer demokratischen Investitionslenkung veranlassen. Wie das alles in<br />

der Praxis aussehen könnte, wissen bislang nicht einmal die Jusos.<br />

Die Jusos drohen damit, ihren Parteivorsitzenden Willy Brandt (1964-1987) <strong>als</strong> Kanzler<br />

des Kapit<strong>als</strong> zu attackieren, wenn ihr Katalog nicht unverzüglich Programm der SPD wird. Wer<br />

"auf eine demokratische Investitionslenkung verzichtet", wirkt "zu Lasten der abhängig<br />

Beschäftigten". Damit verliert die Regierungspolitik ihre Legitimationsbasis", heißt es bei den Jusos.<br />

Jochen Steffen prophezeit: "Das wird der Sprengsatz für den nächsten Parteitag."<br />

Auf den neuen Konflikt hat sich die Partei noch nicht eingestellt. Bislang fällt der<br />

Parteirechten zu den Jusos nur Handgreifliches ein. Der Parteirechte, einst Münchner<br />

Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel zu Willy Brandt: "Ich rate dir, Strasser und Co. aus der<br />

Partei rauszuschmeißen." Und der eigens vom Bundeskanzler zur Beobachtung der SPD-<br />

381


Randgruppen beauftragte Vorstandskollege Bruno Friedrich (*1927+1987) kam nach langer<br />

Forschung zu der Erkenntnis, dass "diese Flügelkämpfe der Partei schaden."<br />

Im Hintergrund all jener Fernseh-Rüpeleien mit einstudierter Empörungsrhetorik<br />

durchlitten vornehmlich die Jusos Erstaunliches, Unerwartetes. Sie wussten zunächst so gar nicht,<br />

was in Zeiten "freier Liebe und offener Promiskuität" (wer zwei Mal mit derselben pennt, gehört<br />

zum Establishment ) mit ihrem Aushängeschild namens Johano Strasser geschehen sein mag.<br />

Gerade unter Jungsozialisten wurde befreiend oft und überall durch die Betten querbeet gehüpft.<br />

Eigentum <strong>als</strong> Verfügungsgewalt galt es abzubauen, sexuelle Besitzansprüche erst recht. - Hilflos,<br />

achselzuckend standen nun Jung-Politiker am Wegesrand, <strong>als</strong> ausgerechnet ihr Star, ihr<br />

"Chefideologe", ihr "Wuschelkopf Johano" von einer Strafkammer des Landgerichts Mainz im<br />

Oktober 1970 in fünf Fällen des Straftatbestandes der "Beleidigung" zu 1.200 Mark Geldstrafe oder<br />

ersatzweise 20 Tagen Haft rechtskräftig verurteilt worden ist. Der Grund: Pornografie an der<br />

Strippe.<br />

Bei den Jusos machte seinerzeit verstohlen der Begriff "Telefonmanie" schnelle Runde;<br />

ein Provinz-Porno ohne spektakuläre Züge. Gemeint waren damit all die in Gerichtsakten<br />

festgehaltenen Telefon-Ferkeleien ihres Johano Roberto Strasser, seines Zeichens Habilitand an der<br />

Mainzer Universität und stellvertretender Vor-sitzender der Jungsozialisten. Nach Lust und Laune<br />

griff er zum Telefon und wählte wahllos die Nummern junger Mädchen in Mainz-Gonsenheim an.<br />

Da wurde am Hörer flugs aus Johano Strasser ein Herr Dr. Schneider, der zu "den Damen oder<br />

Teenagern lispelte und stöhnte. Eben ein Herr Dr. Schneider, der mit der einen Hand den Hörer<br />

hielt, mit der anderen sich befriedigte". So und nicht anders sah es das Gericht in letzter Instanz <strong>als</strong><br />

erwiesen an, dass Strasser einige Dutzend Male bei der Hausfrau Gerda Schmidt im Vorort Mainz-<br />

Gonsenheim durchklingelte - mal habe er Tochter Rita,13, mal Mutter Gerda über Monate seine<br />

vulgär-saftigen Porno-Fantasien ins Ohr geflüstert, gesäuselt, gesungen - stets mit neuen Sex-<br />

Sprüchen in arg Verlegenheit gebracht; Ohrwürmer des Dr. Schneider sozusagen. Dabei stammelte<br />

Doktor Schneider alias Dr. Strasser ins Telefon ohne Unterlass: "Pass mal auf, du hast doch<br />

zwischen den Beinen ein kleines Löchlein...".<br />

Berlins Wissenschaftssenator Werner Stein (SPD) weigerte sich im Jahre 1973 daraufhin,<br />

Strasser an der Pädagogischen Hochschule Berlin <strong>als</strong> Didaktik-Professor zum Beamten auf<br />

Lebenszeit zu ernennen. Strasser sah sich eiligst in der Opferrolle einer "Schmutzkampagne". So<br />

düngte er sich in der Provinz-Porno-Posse <strong>als</strong> Leidtragender der um sich greifenden Berufsverbote.<br />

Ein Roman im Mai, ja gewiss, aber auch die vergessen geglaubte "Telefonanie" im Mai in den<br />

Jahren vor der Frauenbewegung in diesem Land.<br />

Es war keines der viel zitierten, empörenden Berufsverbote eines Linken aus politischer,<br />

systemkritischer Überzeugung, mit dem der Berliner Senat ihren Parteigenossen Johano Strasser<br />

belegte. Es war vielmehr die Ablehnung der Übernahme ins Beamtenverhältnisses des einstigen<br />

Didaktik-Professors an der Pädagogischen Hochschule in Berlin, weil dieser rechtskräftig verurteilt<br />

worden ist. "Als wir noch Götter waren im Mai", betitelte Johano Strasser seine romantisch<br />

komponierten Reminiszenzen einer politischen wie auch philosophischen Lebensorientierung nach<br />

Jahrzehnten - gefühlsverklärt, Legende um Legenden.<br />

Ja, ja - dass das nur "solche Geschichten bleiben, die man den Enkeln erzählen kann, es<br />

gibt eine Menge Leute, die haben ein Interesse daran", textete und sang ehedem der Liedermacher<br />

Franz-Josef Degenhardt über den "fast autobiografischen Lebenslauf eines westdeutschen Linken".<br />

"In Saint Germain des Près , da ist er länger geblieben, Sartre hatte gerade den "Ekel" geschrieben.<br />

Er lebte mit der Nutte Marie-Thérèse und hörte sich nachts besoffen an Jazz ... ...".<br />

382


Genosse Johano hingegen zog es in eine beschauliche, wohl behütete Villa am Starnberger<br />

See. Nirgendwo in Deutschland leben mehr Millionäre <strong>als</strong> in Strassers Ambiente. Stille,<br />

Straßenbilder, Stuck an der Decke, Stuck im Kopf, Buchdeckel, Kalendersprüche, Gespräche mit<br />

dem Literaturnobelpreisträger Günter Grass, Rot-Wein, Waffen-SS, Poesie-Alben. Die, ja, die -<br />

signiert Johano in seiner Eigenschaft <strong>als</strong> Präsident des deutschen P.E. N. in unnahbarer<br />

Erlesenheit. Dort, wo Fürstin Gloria Turn und Taxis wenigstens in den Sommermonaten in ihrem<br />

Schloss weilt - eben reich und schön, nun da ist es zum Dr. Strasser nicht weit, ganz in der Nähe.<br />

Dort wird gibt es des Abends am Kamin wie eh und je beim Tee bei Strasser immer noch ein- und<br />

dasselbe Thema: Arbeiter, Ausbeutung, Entfremdung, Verarmung im 20. -auch 21. Jahrhundert -<br />

immerfort auf gutem Polster. Sicher? - Ganz sicher.<br />

Da nehmen sich die früheren Flügelkämpfe sozialistischer Gesinnungen wie Possenspiele<br />

aus fehlgeleiteten Kinderstuben vergilbter Zeiten aus. Strasser wollte ohnehin derlei<br />

Glaubenskriege beendet wissen. Dam<strong>als</strong> wollte der couragierte spätere Hochschullehrer Detlef<br />

Albers (*1944+2008), Kopf und Wortführer der legendären Stamokap-Gruppe, ("Unter den<br />

Talaren - Muff von 1.000 Jahren") den Genossen klarmachen, dass die "SPD weiß Gott nicht die<br />

einzige Partei der Arbeiterklasse ist". Kärrnerarbeit. Und schon dam<strong>als</strong> wollte Johano Strasser<br />

versuchen, den Vorwurf Willy Brandts abzublocken, der da lautete: "Was weiß denn der Strasser<br />

über die Arbeiterbewegung?" Und Brandt sagte weiter: "Wir sind keine Studentenvereinigung. Wir<br />

wollen davon abgehen, den konkreten Problemen mit allgemeinen Grundsatzerklärungen<br />

auszuweichen." Grundsätzliches freilich erwarten die Genossen nur von ihrem Kongressgast.<br />

Herbert Wehner (*1906+1990) hat sich angesagt, um der Parteijugend mal wieder die Richtung zu<br />

weisen.<br />

Die ehrgeizige Heidi Wieczorek-Zeul eifert unterdessen ihrem Vordermann Roth nach.<br />

Die zukünftige Bundesvorsitzende will nicht nur bei den Jusos mitmischen. Sie möchte bei den<br />

Landtagswahlen in Hessen ein Mandat ergattern. Jochen Steffen über seine Juso-Zöglinge: "Die<br />

betreiben eben Doppelstrategie. Das ist die zu Theorie aufgedonnerte Selbstverständlichkeit, dass<br />

man in einer Demokratie oben und unten arbeiten muss, wenn man etwas erreichen will."<br />

Dass sie neben ihrem Ämtergezerre nicht die zentrale Grundwerte-Diskussion in den<br />

achtziger Jahren <strong>als</strong> exemplarische Auseinandersetzung zwischen Haben und Sein, jung wie alt,<br />

Naturzerstörung und Lebensbejahung begriffen haben, hat die politischen Jugendorganisationen<br />

allesamt an den Rand ihrer Existenz gedrängt. Sie nennen sich in ihrer Bezeichnung zwar alle<br />

>jung


Stamokap, Antirevisionisten und Revisionisten - artete in Glaubenskämpfe aus. Theorie-Ayatollahs<br />

verwechselten Uni-Seminare mit politischer Basis-Arbeit. Sie fochten so verkrampft und<br />

bedingungslos, <strong>als</strong> seien sei dazu auserkoren, morgen den Sozialismus im Lande einzuführen. Als<br />

den System-Erneuerern dann die viel gerühmte Basis davon lief, fehlte es natürlich nicht an<br />

entsprechenden Erklärungsmustern: "Die Jugend", hieß es im unverwechselbarer Juso-Deutsch, "<br />

ist wieder bereit, Ideologien zu übernehmen. Es besteht die Tendenz, Ideologien militant und<br />

undifferenziert zu vertreten. Faschistoide Tendenzen treten wieder hervor."<br />

Ihr derzeitiger Vorsitzender Gerhard Schröder (1978-1980), ein eloquenter Rechtsanwalt<br />

aus Hannover, empfindet sich nicht selten in der Rolle eines Notars auf dem Friedhof. Aber<br />

darüber nachdenken kann Schröder nur, wenn er nicht gerade eine "große Rede redet" oder vor<br />

Fernsehkameras auf dem Berliner SPD-Parteitag der Nation Gewichtiges über das Versagen der<br />

"Carter-Administration in Washington" mitzuteilen hat. Dann findet er schon mal zum Kernpunkt<br />

zurück, warum seine Organisation vom Aussterben bedroht ist. Dass die Jusos <strong>als</strong> SPD der<br />

achtziger Jahre bezeichnet wurden, sei "der programmatisch größte Quatsch gewesen, der je<br />

verkündet worden ist", sagt Schröder.<br />

Erfunden von einem seiner Vorgänger, die er lieber aus dem Gedächtnis streichen<br />

möchte, <strong>als</strong> sich intensiv mit ihrer Amtsführung zu befassen. Der Nachfolger über seine Vorgänger<br />

Wolfgang Roth (1972-1974) und Heidemarie Wieczorek-Zeul (1974-1977): "Die sind doch in Bonn<br />

herumgelaufen und haben die Backen auf-geblasen, quasi <strong>als</strong> Kanzler der Jungen."<br />

Jusos-Politik zu jener Zeit war Jet-Set - zumindest in der Führungsspitze. Kein Erdteil<br />

wurde ausgelassen, um ihre Friedenspolítik zu verkünden. In der Bonner Bundesgeschäftsstelle<br />

glaubte nicht wenige, in einem Reisebüro zu sein. Andere sahen in ihrer Zentrale eine Dependance<br />

zum Auswärtigen Amt, dritte eine Hauptabteilung des Innendeutschen Ministeriums. Roth in<br />

Moskau, Strasser mit Freundin in Havanna, Roth in Ost-Berlin, Strasser mit Freundin II in Rom,<br />

Jusos in Mexiko-City. Welt hieß bei manchen nur noch "world", auch sonst ließen schon kleine<br />

Details und Bewegungen den internationalen Zuschnitt erkennen. Vor allem dann, wenn ihr selbst<br />

ernannter Anwalt kleiner Leute, Chefideologe Johano Strasser, aufgeregt-aufgelöst bei der juso-<br />

Sekretärin Petra Bauer in Bonn anrief. Er habe sein "credit-cards" Booklet -von Diners bis<br />

american express - verschusselt. Strasser: "Es muss wohl in der Villa Hassler in Rom passiert sein,<br />

da wo doch auch unser Willy immer nächtigt." Und ihr Pressesprecher Klaus-Detlef Funke konnte<br />

sich gar nicht wieder beruhigen, wenn er aus den Tageszeitungen erfuhr, dass "der Roth zu den<br />

bekanntesten deutschen Politikern" zählt.<br />

Journalisten gingen in ihrer Geschäftsstelle ein und aus, Informationen aus vertraulichen<br />

SPD-Sitzungen und aus dem Kanzleramt wurden gehandelt wie auf dem Basar von Istanbul.<br />

Natürlich machten die Jusos auch Innenpolitik - und zwar so kräftig, dass ihnen oft eine Schlagzeile<br />

zu den Abendnachrichten in der tagesschau sicher war. Und jeder war stolz, freute sich. Willy<br />

Brandt auf Deutschland, die jusos auf ihre Meldung. Da sollte beispielsweise per Beschluss des<br />

weltgewandten Bundesvorstandes kein Bundesbürger monatlich mehr <strong>als</strong> 5.000 Mark verdienen.<br />

Wenige Jahre später will keiner mehr davon etwas wissen. Eigentlich seien sie schon immer<br />

dagegen gewesen, Roth, der inzwischen im Bundestag <strong>als</strong> wirtschaftspolitischer Sprecher seiner<br />

Fraktion Platz genommen hat, Funke, der zum Verlagsleiter des SPD-Organs "Vorwärts"<br />

avancierte. Da legte er sich nicht nur einen amerikanischen Straßenkreuzer zu (Atomkraft - nein<br />

danke), da wollte er auch gleich einige Genossen "wegen Inkompetenz" blitzschnell feuern. Als<br />

schließlich Klaus-Detlef Funke vom SPD-Präsidium gefeuert wurde, war für ihn der Sozialismus<br />

384


eendet. Langsam und unauffällig ließ er seine Genossenmitgliedschaft einschlafen, langsam und<br />

unauffällig ertastete er sich gut dotierte Pöstchen in der TV-Unterhaltungsindustrie.<br />

"Ruinös ist das alles gewesen", sagt Gerhard Schröder (SPD-Chef von 1999-2004)<br />

rückblickend. "Die sind von einer linksliberalen Presse hochgeschrieben, geradezu aufgeblasen<br />

worden, geradezu aufgeblasen worden. Dann ist einer gekommen und stach in diesen Luftballon.<br />

Die Folge war, der Ballon schrumpfte nicht auf seine richtige Bedeutung, sondern platzte. Vor den<br />

Trümmern stehen wir heute."<br />

Natürlich lässt sich die stetige Juso-Talfahrt nicht allein mit desolaten<br />

Erscheinungsformen in ihrer Führungsspitze abtun. Denn parallel zur Sozialdemokratie büßten<br />

automatisch auch Jungsozialisten bei Jugendlichen an Zugkraft ein. Eine der Hauptursachen dürfte<br />

vor allem darin liegen, dass sich ihre Doppelstrategie spätestens ab Mitte der siebziger Jahre <strong>als</strong><br />

Blindgänger entpuppte. Die These von der Doppelstrategie, sowohl die Basis für langfristige<br />

politische Ziele zu mobilisieren <strong>als</strong> auch in Parteigremien und Parlamenten für eine sozialistische<br />

Reformpolitik einzutreten, zerfloss bald bis zur verwirrenden Unkenntlichkeit. Jusos, die in den<br />

Bundestag gewählt wurden, schmiegten sich beinahe nahtlos den dort vorherrschenden Abläufen<br />

zwischen Kalkül und Sachzwang an. Kaum ein Signal ging noch von der ehemaligen Crew Karten<br />

Voigt (1976-1998 ) Wolfgang Roth (1976-1993 ) und Norbert Gansel (1976-1993 ) aus. Sie<br />

verblasste bis zur Austauschbarkeit, nicht zuletzt bei der Abstimmung um die Anti-Terror-<br />

Gesetzgebung, die den Rechtsstaat in ein fortwährendes schräges Licht rückte. Da mussten<br />

Politiker wie der Schriftsteller Dieter Lattmann (1972-1980 ) und Gymnasiallehrer Karl-Heinz<br />

Hansen ( 1969-1982) den einstigen Juso-Opponenten vormachen, dass sie ihre Stimme nicht von<br />

vornherein für eine ganze Legislaturperiode dem Fraktionsvorstand überlassen hatten, in Bonn<br />

nicht ihr politisches Dasein <strong>als</strong> "Stimmvieh" (Dieter Lattmann) zu verplempern trachten.<br />

Der resignative Anflug verstärkte sich erst recht an der Basis. Das Ende der Reformära<br />

brachte allmählich die Einsicht, mit Beschlüssen auf Parteiebene wenig ausrichten zu können. "Die<br />

gingen in die Ortsvereine", berichtet Schröder, "wollten mitbestimmen und bekamen reihenweise<br />

von alteingesessenen Genossen eins vor die Köpfe, wenn sie mit ihren ewigen Reformdiskussionen<br />

auftauchten. Die Alten sitzen halt mit einer Bierruhe da und sorgen schon für zusammengemanagte<br />

Mehrheiten." Die weitgehende Gleichschaltung der SPD zur "Kanzler-Partei", in allen wichtigen<br />

parteipolitischen Beschlüssen, der pragmatische Ansatz, Politik im wesentlichen nur noch<br />

instrumentell zu begreifen, erstickten Juso-Politik auch dort, wo sie noch vorhanden war.<br />

Erforderliche Spiel-räume, die für Jugend-Organisationen lebenswichtig sind, um überhaupt an<br />

Schüler oder Lehrlinge heranzukommen, gingen verloren. Im Spannungsfeld zwischen<br />

Regierungspolitik, "alles im Griff zu haben", und dem tiefen Unbehagen unter den Jugendlichen<br />

konnten sich die Jusos kaum behaupten. Sie durften zwar noch "Sozialismus" sagen, aber jede<br />

öffentliche Erklärung unterlag der Zensur des Parteiapparates - ein Maulkorb, den<br />

Bundesgeschäftsführer Egon Bahr (1976-1981 ) für geboten hielt, um der SPD möglichst ein<br />

einheitliches Profil zu verpassen.<br />

Damit begann aber nicht nur eine Politik gähnender Leere, sondern Felder mussten<br />

geräumt werden, die lange Zeit zum klassischen Juso-Terrain gezählt hatten. Ob chronische<br />

Jugendarbeitslosigkeit, Schüler-Aktivitäten zum Bildungsnotstand, Hochschulgruppen oder<br />

Kernenergie - Jusos starrten meist paralysiert auf politische Ereignisse, die an ihnen vorbeiliefen.<br />

Schröder: "Was soll ich eigentlich einem Betriebsjugend-Funktionär erzählen, wenn der mich auf<br />

das Lehrstellen-Problem anspricht. Der weiß doch ganz genau, dass die Zahlen, die auf dem Tisch<br />

liegen, getürkt sind. Beschwichtigungen, "der Schmidt wird es schon richten, nimmt der mir nicht<br />

385


mehr ab. Und dann wird uns vorgeworfen, wir seien in der Gewerkschaftsjugend nicht genügend<br />

verankert und die DKP wäre zu stark."<br />

Völlig hilflos und unorientiert reagieren Jugendsekretäre der Partei auf die Alternative<br />

Bewegung. Ein Hinweis darauf, wie stark die sogenannten "Kader der Sozialdemokratie" im<br />

eigenen Saft schmorten und alles andere geringschätzig außer acht ließen. Sie qualifizierten<br />

Aussteiger zunächst zu Sektierern und bürsteten solche <strong>als</strong> irrelevant herunter. Folglich gab ihr<br />

früherer Juso-Chefideologe Johano Strasser, in der Zeitschrift "Langer Marsch" über Spontis und<br />

Tunix-Leute die Devise aus, die aber gerade Strasser unbedacht seit seiner Mainzer Vor- und<br />

Ausfälle charakterisiert, die da lautet: "Die leben ja mit ihrer zentralen Unfähigkeit,<br />

Triebbefriedigung aufzuschieben, nur frühkindliches Verhalten an den Tag." Gleichzeitig vertraute<br />

man auf die bewährte Einbindungspolitik wichtiger Strömungen, die sich in Bürgerinitiativen<br />

niederschlugen. Strasser sah schon einen bemerkenswerten Erfolg darin, dass fast alle Bürgerinitiativen<br />

in die SPD-Baracke kamen "und mit uns Sozialdemokraten diskutierten". Mit derlei<br />

Dynamik aus Lust, Wollust wie Fantasie sollte die verknöcherte Parteistruktur endlich wieder zum<br />

Tanzen gebracht werden. Strasser-Jahre. - Jahre vergehen, nichts will geschehen.<br />

Nachtrag -Nach vielen flüchtig erlebten Augenblicken trafen sie sich endlich Heidemarie<br />

Wieczorek-Zeul und Johano Strasser wieder; dieses Mal allerdings in der Buchhandlung Habel zu<br />

Wiesbaden. Ein angegraut Johano Strasser las aus seiner Lebensbiografie "Als wir noch Götter<br />

waren im Mai"; ein wenig pathetisch, ein wenig überhöht, gefühlsverklärt. Eben wie Rückblicke halt<br />

tso daher kommen, Retrospektiven auf Bonns wilde Jahre, Jusos, Karriere, Bedeutung, TV-<br />

Sendungen mit Sendungsbewusstsein, Parkett und Puder, Tickets , Toasts und Lippenstift. - Er las<br />

viel Vorgekostetes, Vorzensiertes vor über sein "politisch ambivalentes Leben", auf Reisen, Jet-Set,<br />

Wendepunkte, Neuorientierungen. Die Kumpanin von ehedem, Heidemarie Wieczorek-Zeul,<br />

Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, sprach einleitend zu ihrem "Freund<br />

Johano", wie von einem Menschen von einem anderen Planeten, von einem Polit-Drummer-Boy<br />

oder Lebens-Zocker, aus der adaptierten "Oberschicht", mit dem sie seit ihrem "gemeinsamen<br />

Anfang" eine vierzigjährige Freundschaft verbindet. Eigentlich hat Heidemarie Wieczorek-Zeul<br />

wenig verändert, Haare immer noch rot gefärbt, rot ist ihre Gesinnung geblieben, keine Skandale,<br />

keine Politik-Deformationen, kein Wichtigkeits-Getue, spitzbübisch ihr Lächeln wie eh und je,<br />

offenherzig, mitunter leidgeprüft. Hab-Acht-Stellung. Ausnahmefrau. Sei seien zusammen in die<br />

Buchhandlung gekommen, um beim Zuhörer "Leselust" zu entfachen. - Über die andere, sonst<br />

übliche Lust vom Jusos-Bonn von einst und sonstwo, etwa im Hotel „Esplanade“, die durfte erst in<br />

den Raum, <strong>als</strong> der Vorhang längst gefallen war.<br />

386


„DIE WÜRDE DES SPONTI IST UNANTASTBAR"<br />

Die Frankfurter Batschkapp - ein Treffpunkt für das andere Deutschland<br />

Der Spiegel 21/1980 vom 19. Mai 1980<br />

"Okay, ich lebe halt heute und das ist für mich wichtig. Ich denke eben nicht an<br />

morgen und schon gar nicht an übermorgen, sonst würde mir schwindelig." (Wölfchen<br />

aus der Batschkapp)<br />

Es gelten nur Augenblicke ! (Tunix - Wandzeitung)<br />

Es war mal wieder eine dieser Kaputtmacher-Nächte in der Batschkapp, dem Frankfurter<br />

Kulturzentrum e.V. - dort draußen am öden Vorstadtrand in Eschersheim, eingekeilt zwischen<br />

breiten Ausfallstraße, Eisenbahnschienen und Betonklötzen.<br />

Nächte, die Wölfchen schon zu Hunderten erlebt hat, meistens hinterm Tresen, zwischen<br />

Export- und Pilskisten. Nächte, die ihm immer wieder endlos erscheinen und ihn stumpfsinnig<br />

aufwühlen. Acht bis zehn Stunden klebt die Szene oder das, was sich dafür hält, an seiner Theke.<br />

Leute zwischen 15 und 20, die vor Kaputtheit so ziemlich alles in sich hinein-schlucken,<br />

was nach Alkohol riecht.<br />

Typen aus Frankfurts City, aus umliegenden Kleinstädten und Dörfern aus dem Taunus.<br />

Sie kommen jedes Wochenende in die Batschkapp, um Bier, Zigaretten, Musik und Menschen zu<br />

konsumieren. Typen mit Hoffnung auf Nähe, mit Hoffnung auf Durchbruch.<br />

Theo und Jochen "kontrollieren" Nähe und Durchbruch. Sie postieren sich von 20 bis 24<br />

Uhr an den Eingang und kassieren von jedem zwei Mark Eintritt, wenn's nicht gerade ein Freund<br />

ist.<br />

Durch ihre Schleuse drängt sich so ziemlich alles, was sich "das andere Deutschland"<br />

nennt: Stadtindianer, Stadtguerillas, einfache RAF-Sympathisanten aus Folterkomitee und roter<br />

Hilfe, Spontis und Frauengruppen, Gastarbeiterkinder aus der Umgebung, arbeitslose Mädchen<br />

und Jungen, heimatlose Mischlinge aus amerikanischen Garnisonstädten.<br />

Um die 250 Leutchen dürfen laut Ordnungsamt die Batschkapp maximal bevölkern. Doch<br />

an den Samstag sind es 500 bis 600 Freaks, die den Schuppen füllen. Einen Schuppen, der wie sein<br />

Völkchen kein einheitlich geprägtes Gesicht hat, der eigentlich alles und nichts ist. Auf keinen Fall<br />

aber ist die Batschkapp eine der üblichen, kommerziellen Discos, auch wenn die Kaputtmacher-<br />

Nächte Disco-Abende heißen.<br />

Mit den anonymen und spontanen Vortänzern zum Beispiel aus Homburg oder<br />

Offenbach, auf der großräumigen Bühne erinnert der verstaubte Saal an die Kinderzeiten des Rock<br />

'n' Roll Mitte der fünfziger Jahre. Die langen Bänke könnten auch in de hessischen Äppelwoi-<br />

Liveschau "Zum Blauen Bock" eine respektable Kulisse abgegeben.<br />

Die Wände sind weiß getüncht worden, aber nur so weit, wie Fingerspitzen die Farbrollen<br />

trugen. Der Treck nach Gorleben mit seinen zahlreichen Etappen ist minutiös auf Kalk<br />

nachgepinselt, Konterfeis von Genossen, die wegen terroristischer Anschläge einsitzen.<br />

387


"Wir werden euch rächen, der Kampf geht weiter" - in der Batschkapp zumindest mit<br />

Sprüchen, die Klo und Theke schmücken. Aber auch solche wie "Freiheit für Grönland" - "Die<br />

Würde des Sponti ist unantastbar" - "Sonnenschein oder Regen, wir sind dagegen".<br />

An den Disco-Abenden ist Nobby der wichtigste Mann. Er hockt abgeschirmt in einem<br />

Glaskasten, steuert die gleißenden Scheinwerferstrahlen, die mit ihren bunten Reflexen den zur<br />

Decke ziehenden Zigarettenqualm zerschneiden. Vor allem reguliert Nobby - jedenfalls versucht<br />

er's - Nähe und Durchbruch, soft und hart, wild und weich.<br />

Und dann gibt es noch Bernhard, Karo und Moni. Sie arbeiten hauptsächlich in dieser<br />

Nacht im "Elfmeter", dem Vereinslokal, das eine Treppe unter der Batschkapp liegt und auch von<br />

der Maybachstraße direkt angelaufen werden kann.<br />

Während in der Batschkapp die Freaks allmählich saunen, sitzen die Jugendlichen im Elfer<br />

locker auf ihrem Hocker, lesen ihren "Pflasterstrand", das Zentralorgan der Spontis, die<br />

"tageszeitung" aus Berlin oder auch den "Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener<br />

Nachrichten".<br />

Für die Batschkapp-Leute sind ihre Medien, die einst auf Flugblättern entstanden,<br />

inzwischen unentbehrlich geworden. Sie alle geben sich zutiefst davon überzeugt, dass ihre<br />

Alternativ-Periodika ehrlicher sind <strong>als</strong> die auflagenstarken Gazetten zwischen Hamburg und<br />

München, die noch dazu ihre Gedanken und ihre Gefühle ignorieren oder zuweilen kriminalisieren<br />

- je nach politischer Konjunktur.<br />

Edgar, ein 21jähriger Pädagogikstudent, erzählt seinem Freund Vieto in aller<br />

Ausführlichkeit von seiner Wohngemeinschaft (WG) in Sachsenhausen, die er vor zwei Wochen<br />

verlassen hat. Er hätte in den letzten Monaten immer stärker die Beobachtung gemacht, dass in<br />

gemischten WGs die Sexualität verdrängt werde. Die Mädchen würden mit ihrem Trip, weg vom<br />

"seelenlosen Vögeln", hin zur Zärtlichkeit, derart dominieren, dass er, Edgar, Frauen zusehends<br />

einseitiger <strong>als</strong> neutrale Instanz wahrnehme.<br />

Edgar über sich: "Bin ich mit einer zusammen, denke ich mir schon von vornherein, die<br />

will mit mir sexuell nichts zu tun haben. Wenn das dann aber doch nicht stimmt, kriege ich nichts<br />

mehr geregelt. Ich komme bei Mädchen immer schnell ins Säuseln. Dann verhalte ich mich so, was<br />

ich unter Säuseln verstehe, und wäre am liebsten der Sensibelste aller Zeiten, schwanzlos, sexuell<br />

ungefährlich, nicht vorlaut, bescheiden und trotzdem nett. Ich steh' sozusagen unterm sensiblen<br />

Leistungsdruck."<br />

Edgar jedenfalls hat für sich daraus die Konsequenz gezogen. Er flüchtete in eine<br />

Männer-WG, um den Psycho-Druck loszuwerden. Ein Kollektiv in allen Ehren, es gebe aber "in<br />

jeder Person Bereiche, in denen sie aus eigener Kraft und Anstrengung den Weg zur<br />

Weiterentwicklung auftun kann".<br />

Grundsatzbetrachtungen über Sinn und Zweck eines Kollektivs provozieren Mike.<br />

Einmal kann Mike "das intellele Geseiere auf den Tod net leiden, zum anderen arbeitet und lebt er<br />

in einem Kollektiv. Mike ist ein Typ von der Arbeiterselbsthilfe (ASH) draußen in Bonames.<br />

Vor ein paar Wochen hatte er Vieto bei einer Entrümpelungsaktion in Sachsenhausen<br />

kennengelernt. Da packte und stapelte er gerade Sperrmüll und altes Geschirr auf seinen ASH-<br />

LKW.<br />

388


Die ASH hat sich inzwischen zu einem relativ großen Alternativ-Unternehmen gemausert.<br />

Über 30 Leute, Frauen und Kinder, sind dort engagiert. Haushaltsauflösungen, Entrümpelungen,<br />

Transporte, An- und Verkauf von Antiquitäten, Aufarbeitung und Wiederherstellung alter Möbel in<br />

einer Holzwerkstatt und dann gibt es noch eine Druckerei.<br />

Mike meint, Kopf und Bauch seien bei der ASH nicht mehr getrennt. Denken und Fühlen<br />

gehören eben zusammen - ob in der Freizeit oder bei der Arbeit. Und vor allem könne da keiner<br />

den Chef raushängen lassen. "Alle sind gleich, und das ist für uns total wichtig. Alle haben die<br />

gleichen Rechte und das gleiche Interesse bei den Diskussionen abends, wenn es darum geht, was<br />

anders werden muss oder soll."<br />

Mike, gerade 18 geworden, will mitreden und mitbestimmen und nicht nur mechanisch<br />

vor sich hin-malochen. In der "bürgerlichen" Gesellschaft hat er keine Lehre durchgehalten, auch<br />

sonst hat er laufend seine Jobs gewechselt.<br />

"Wieso has du denn so schnell bei deiner zweiten Arbeitsstelle aufgehört, wo du nur zwei<br />

Monate geschafft hast", will Vieto wissen.<br />

Mike: "Weil, da fing das so an, mit Überstunden. Man wusste, wenn man nicht wollte,<br />

konnte man gehen. Hat mir total nicht gefallen. Und das Klima überhaupt und so, warste <strong>als</strong> Arsch<br />

hingestellt, weil du eben neu angefangen hattest, hattest keinen Brief in der Tasche, keinen<br />

Gesellenbrief. Da hab' ich mir gedacht, nehm' ich lieber meine Papiere und geh'."<br />

Vieto fragt weiter: "Aber soviel Kohle wirste doch bei der ASH auch nicht kriegen?"<br />

Mike: "Um die Kohle geht's bei mir net. Guck mal, ich hab doch jetzt hier erst mal mein<br />

Essen, ich hab' alles, ich hab' auch Geld, aber ich kann hier zum Beispiel sagen, wenn mir das nicht<br />

passt, damit ich das los bin, kann ich sagen: Hört mal zu, das und das geht nicht, dann wird darüber<br />

diskutiert. Das kann man in'ner normalen Firma nicht. Bei der ASH ist Abwechselung drin. Fährst<br />

LKW, biste im Verkaufslager, kommst mit Leuten zusammen, die wollen was von dir, denen<br />

kannste entgegenkommen."<br />

Die meisten dieser Jugendlichen glauben, den Grundwiderspruch zwischen Denken und<br />

Fühlen, zwischen Kopf und Bauch auflösen zu können. Ein Kollektiv, das die bürgerlichen<br />

Spielregeln außer Kraft setzt, in dem rationales Handeln nicht konträr zu den Gefühlen abläuft.<br />

Auch die Batschkapp, das "Frankfurter Kulturzentrum e.V.", ist ein solches Kollektiv. Die<br />

Batschkapp gehört den Frankfurter Spontis, die nicht ohne Hintersinn diesen Namen wählten.<br />

Batschkapp nennen die Frankfurter im Volksmund eine Mütze, genauer gesagt ihre Schirmmütze.<br />

Unter dieser Mütze soll für alle Platz sein, die mit der etablierten Gesellschaft "wenig am Hut<br />

haben".<br />

"Es soll versucht werden", so skizzierte das Batschkapp-Kollektiv Ende 1977 seine<br />

Konzeption, "ein Programm zu entwickeln und durchzuführen, das einerseits nicht-professionellen<br />

Kulturinitiativen Raum bietet und andererseits berechtigten Freiheitsbedürfnissen breiter Schichten<br />

Rechnung tragen will."<br />

Die Tatsache, in einem Kollektiv zu arbeiten, heißt aber noch lange nicht, ein anderer<br />

oder neuer Mensch zu sein. Die Entscheidung, das Studium sausen zu lassen, Lehrstellen<br />

auszuschlagen, bedeutet keineswegs, sich selbst gefunden zu haben. Offen miteinander umzugehen,<br />

Gefühle zu äußern, solidarisch gemeinsam Sachen durchzusetzen, all das sind noch keine Garanten<br />

für Einvernehmlichkeit.<br />

389


Hier prallen Wirklichkeit und Wunschvorstellung hart aufeinander. Hier wissen Wölfchen,<br />

Theo, Nobby und Moni manchmal nicht mehr, was an ihrer Arbeit eigentlich noch alternativ ist.<br />

Hier werden sie oft von Freaks in ein Rollenverständnis hineingedrängt, das ihnen zuwider ist.<br />

Sie wollen keine Barmixer. keine Rausschmeißer und keine Garderoben-Mädchen sein. Sie<br />

sind keine Angestellten nach Tarifvertrag, mit einem Achtstundentag, Lohnsteuerkarte und<br />

Sozialversicherung. Sie verdienen keine Gelder, auch wenn das Bier wieder teurer wird. Trotzdem<br />

müssen sie sich anmotzen lassen, <strong>als</strong> seien sie Disco-Jobber, die aus dem Laden ihren<br />

kommerziellen Nutzen ziehen.<br />

Für Wölfchen und Genossen ist es eben verdammt schwierig, den Leuten klarzumachen,<br />

was ein Kollektiv ist, welche Lebensphilosophie sich dahinter verbirgt und was es bewirken will.<br />

Dass es dabei nicht um Profit geht, dass die Batschkapp-Typen hinterm Tresen, am Eingang und<br />

in der Küche beim Broteschmieren ein Stück alternativer Identität suchen, dass sie sich schon<br />

deshalb vom üblichen Glimmer-Konsum grundsätzlich unterscheiden.<br />

Gerade an solchen Samstagen wie diesem ist das Kollektiv mit den Nerven runter, restlos<br />

ausgelaugt. Wenn die Jungs, so gegen vier Uhr morgens, die letzten Bierleichen auf die Straße<br />

getragen haben, ist für sie noch lange kein Feierabend. Da kommen keine Putzfrauen, die den<br />

Laden für die nächste Nacht wieder herrichten.<br />

Dann heißt es fürs Kollektiv sauber machen, Theke putzen, Klos schrubben, Kotze<br />

wegwischen. In den frühen Morgenstunden gleicht die Batschkapp einem verlassenen Schlachtfeld<br />

- Pappbecher und Zigarettenstummel bedecken den Boden, Bierflaschen wie Munitionshülsen,<br />

Qualm wie Kanonenschmauch.<br />

"An und für sich würden wir lieber weiter über unsere Blumen reden, aber wir versacken<br />

hier in der Arbeit und Problemen", schrieb das Kollektiv schon wenige Monate nach der<br />

Batschkapp-Eröffnung Anfang 1978 im "Pflasterstrand", der "Zeitung für Frankfurt".<br />

"Zu einer inhaltlichen Diskussion sind wir gar nicht mehr gekommen. Nach den<br />

Veranstaltungen haben wir erst festgestellt, ob sie gut oder schlecht waren. Und das drückte sich<br />

nur in positiven Ausflipps oder<br />

in totalem Frust aus."<br />

Doch auch zwei Jahre später ist die Situation im Batschkapp-Kollektiv keine andere.<br />

Gereizt, missmutig, aufgerieben mit sich und den anderen ziemlich am Ende, trinkt das Kollektiv<br />

morgens um fünf Uhr noch ein Bier.<br />

Jeder ist sich darüber im Klaren, dass es nicht so weitergehen kann, jeder spürt, dass ihre<br />

Perspektive in kaum zwei Jahren zerronnen ist. Alle reden und schreien durcheinander, aber keiner<br />

weiß, wie sie sich aus ihrer Misere herauswinden können. Nur eines ist unmissverständlich klar<br />

geworden. Mit acht Jugendlichen lässt sich die Batschkapp nicht mehr organisieren, das geht an die<br />

Substanz und bedroht das ganze Projekt.<br />

Schon am Nachmittag müssen sie wieder antreten, Schnitzel braten, Bier ran karren,<br />

kaputte Stühle reparieren, für kommende Veranstaltungen neue Plakate kleben.<br />

Wölfchen, Theo, Jochen, Karo, Nobby, Bernhard und Moni, dieses Batschkapp-Kollektiv<br />

- sie sind nicht nur Kinder unserer Zeit, sie sind vor allem Frankfurter Kinder. Eine Stadt, die sie<br />

zu Gegnern dieses Staates werden ließ, eine Stadt, für die sie Hass und Verachtung empfinden,<br />

390


ohne die aber ihr Weltbild erst recht lädiert wäre - eine Art Hass-Liebe, die keinen Stillstand kennt,<br />

immer neue Nahrung und auch Märtyrer findet.<br />

Wölfchens oder Theos Entwicklung, ihr einsamer Weg in die Sponti-Szene, wäre anders<br />

verlaufen, lebten sie nicht in Frankfurt. Vielleicht wären in anderen Städten, etwa München oder<br />

Stuttgart, aus ihnen Jusos oder Jung-Unionisten geworden.<br />

Aber in Frankfurt? Eine Junge Union, die nicht mehr anzubieten hat <strong>als</strong> "wir wollen, dass<br />

Alfred Dregger Bundeskanzler wird" - Dregger, der Biedermann aus dem katholischen Fulda, dem<br />

man in Sponti-Kreisen alles zutraut.<br />

Auch die Jusos haben den Jugendlichen in dieser Stadt weitgehend ade gesagt. Sie<br />

verschanzten sich in all den Jahren immer mehr im SPD-Haus, mauschelten nur noch mit<br />

Berufspolitikern aus Bonn und Wiesbaden herum. Frankfurt Anfang der achtziger Jahre ist<br />

eventuell die Bundesrepublik von übermorgen.<br />

Batschkapp-Abende im Spätsommer 1979: Elke ist fast jeden Tag hier, selbst wenn keine<br />

Disco läuft. Elke sagt von sich: "Ich bin sinnlos", und lacht dabei kess.<br />

Elke ist ein Nordweststadt-Kind, <strong>als</strong>o in Beton praktisch groß geworden. Das wäre aber<br />

nur halb so schlimm, wenn sie etwas mit sich anzufangen wüsste. Seit zwei Jahren ist die 17jährige<br />

von der Hauptschule runter, zwei Jahre ohne Lehrstelle und ohne Job.<br />

Sie hat es aufgegeben, sich noch irgendwo zu bewerben. Sinnlos. Eine Perspektive gleich<br />

Null, ein Selbstwertgefühl gleich null, wenigstens eine Afro-Dauerwelle gleich neu. Mutter gab ihr<br />

die 70 Mark dafür.<br />

Zu Hause, da draußen in der Nordweststadt, bei ihren Eltern, zwei jüngeren Brüdern und<br />

dem Dackel Stupsi, in der 75-Quadratmeter-Wohnung im sechsten Stock, geht ihr "alles so<br />

ziemlich auf den Keks".<br />

Mit ihrem Vater, einem Elektriker, gibt es nur ein Thema: "Entweder findest du jetzt bald<br />

eine Lehrstelle, oder du kannst nur noch Putzfrau werden." Aber wer will schon mit 17 seine<br />

Zukunft aufs Putzen stützen.<br />

Die Jugendheime, die Elke so kennt, sind auch nicht gerade lustig. Das wäre etwas für 13oder<br />

14jährige Bubis, meint sie. Ewig wird Billard gestoßen, Baby-Fußball gebolzt, ab und zu Disco<br />

bei Dosenbier und Wurstbrötchen, ein arbeitsloser Sonderschüler <strong>als</strong> Thekentyp, Hansi heißt er.<br />

Betreuer, die meist in ihrem "Mitarbeiterraum" sitzen, einen auf Selbstfindung machen<br />

oder Mau-Mau spielen. Die Räume kalt und ungemütlich, nur ein Dia vom Strand aus Palma de<br />

Mallorca schmückt die kahl-graue Wand.<br />

Aber die Batschkapp, das ist für sie ganz was anderes. Schlägereien -okay, Rauschgift -<br />

okay. "Das gibt es in den städtischen Jugendheimen auch, das macht null Unterschied." In der<br />

Batschkapp ist mehr los, nicht alles nur auf "Meerschweinchenhöhe".<br />

Elke würde gern den Tresen machen, würde gern mitarbeiten. Denn hier zu putzen,<br />

glaubt sie, das sei ein anderes Putzen <strong>als</strong> das, was ihr Vater ständig <strong>als</strong> Berufsziel im Auge hat.<br />

Schon zweimal hat Elke bei Moni angefragt, wie es denn wäre mit der Mitarbeit und so.<br />

Moni war da sehr zurückhaltend. Denn die Batschkapp sei nicht irgendein Laden, sondern ein<br />

Kollektiv.<br />

391


"Wir haben 'n Beziehung zu dem, was wir hier tun", soll Moni gesagt haben. Auch 'ne<br />

politische, weil das "die Alternative ist".<br />

Na gut, dachte Elke. Was Alternatives, das wäre schon prima. Sie müsste einfach mal mit<br />

zuhören, wenn die über Beziehungen und Politik reden. Die Frauengruppe, die von Zeit zu Zeit in<br />

der Batschkapp tagte, war nichts für sie. Nicht etwa weil Elke die Mädchen blöd fand. "Die<br />

laberten so gestochen daher, da kriegte ich nichts gescheckt."<br />

Anders bei der Roten Hilfe. Das war echt konkret, Knast und so. Haftbedingungen für<br />

politische Gefangene, die kaputtgehen, "mausetot" gemacht werden. Die Genossen, auch<br />

Rechtsanwälte wie der Willy, die es ja wissen müssen, sagten immer: "Wir müssen raus aus der<br />

Isolation, sonst verrecken wir auch noch."<br />

Die Genossen von der roten Hilfe empfahlen ihr zunächst einmal den "Pflasterstrand",<br />

den manche auch "Plastikstrand" schimpfen, weil er ihnen nicht kämpferisch genug ist.<br />

Ihr erster Artikel, zu dem sich Elke quälend durchrang, beschäftigte sich mit der<br />

Todesursache von Ulrike Meinhof. Den Namen kannte sie ja schon von der Baader-Meinhof-<br />

Bande. Später erzählte sie der Moni, dass die Selbstmordgeschichte ziemlich komisch sei.<br />

Moni ging auf Elkes Version nicht ein, hatte auch den Artikel nicht gelesen. Aber seither<br />

beurteilte das Kollektiv-Mädchen Elkes Entwicklung außerordentlich positiv. Sie hatte nach einer<br />

Beratung mit den Genossen auch keinerlei Einwände mehr, wenn Elke mal an der Theke aushalf.<br />

Elke blühte auf, endlich eine Aufgabe, endlich hinterm Tresen. Nach kurzer Zeit kamen<br />

ihr auch die richtigen Sprüche über die Lippen. Motzte einer über das "scheißteure Bier", sagte sie:<br />

"Du hast wohl 'nen Vogel. Meinste, wir machen hier die Preise, meinste, dass wir hier Kohle<br />

verdienen?`Da hast wohl keine echte Beziehung zur Batschkapp. Wir sind hier nämlich 'n<br />

Kollektiv."<br />

Willy, der Rechtsanwalt, der auch Tresendienst macht, meint: "Nach bürgerlichen<br />

Ansprüchen ist da kene einzige normale Figur in der Hütte drin."<br />

Wölfchen hätte eigentlich Tresendienst. Aber er saß im Hof vor der Batschkapp und<br />

zählte die Züge, die nur zehn Meter von ihm entfernt in Richtung Köln rauschten. Er war fertig. Er<br />

war fertig, sah das Projekt <strong>als</strong> gescheitert an, er würde am liebsten aus dem Ausstieg wieder<br />

aussteigen. Dann fiele er aber, das war ihm unzweideutig klar, in ein tiefes Loch, in ein Nichts.<br />

Es war eine Ferne zwischen der bürgerlichen Welt und der Alternative, die Wölfchen<br />

noch nie so konkret wie in diesem Moment empfunden hatte, die für ihn immerhin sechs Jahre<br />

seines 22jährigen Lebens ausmacht.<br />

Wölfchens Bruch mit dieser Gesellschaft passierte auf der Straße, genau im Kettenhofweg<br />

51. Dam<strong>als</strong> war er noch 16, noch Schüler, dam<strong>als</strong> redete auch noch niemand von einer Alternative.<br />

Dam<strong>als</strong> tobte im Westend der Häuserkampf, Stein um Stein, Knüppel um Knüppel.<br />

Schon bei der ersten Demonstration führten Polizisten Wölfchen im Schwitzkasten ab.<br />

Wölfchen heute: "Ich hatte da überhaupt noch nicht durchgeblickt. Am Straßenrand lieferten sich<br />

Zivile und Demonstranten eine blutige Schlägerei. Ich war so blöd und hab' versucht, mit den<br />

Zivilen zu diskutieren, weil ich dachte, das sind normale Passanten."<br />

"Da hab' ich einen Kinnhaken kassiert und sechs Bullen packten mich, warfen mich in<br />

den Mannschaftswagen. Erst nach 24 Stunden war ich wieder frei. Da bin ich rausgekommen, und<br />

392


es war um mich geschehen. Das letzte Portiönchen Vertrauen, das ich noch zum Staat hatte, war<br />

weg. Von da war ich bei jeder Demonstration, bei vielen Hausbesetzungen dabei."<br />

Gemeinsame Kämpfe, das schließt die Reihen, macht unterschiedliche Auffassungen<br />

nebensächlich. Vor allem aber ist vielen eine zunächst unüberwindlich erscheinende Schwellenangst<br />

genommen: zuzuschlagen.<br />

Eine Tatsache, die Wölfchen in der Batschkapp zugute kommt, wenn Rocker oder<br />

Besoffene Schlägereien inszenieren. Dann holt er einen alten Besenstiel unterm Tresen hervor und<br />

geht hemmungslos dazwischen.<br />

Wölfchen befand sich am Ende des Häuserkampfes in einer brenzligen Phase. Er bestand<br />

zwar noch sein Abitur - das war dann aber auch alles.<br />

"Dam<strong>als</strong> habe ich mir geschworen", erinnert er sich, "nicht zu studieren, mich nicht noch<br />

einmal herum jagen zu lassen. Und eine Lehre kam für mich auch nicht in Frage, weil ich wusste,<br />

ich werd' nach einer Woche wieder rausgeschmissen. Ich bin keiner, der auf Kommando springt."<br />

Trotzdem dachte er sehr lange übers Kommando nach, über Rote Armee Fraktion,<br />

Stadtguerilla, Rote Zellen.<br />

Dass Wölfchen heute nicht auf den Fahndungsplakaten des Bundeskriminalamtes<br />

abgebildet ist, hat im wesentlichen zwei Gründe. Zum einen merkte er recht schnell den<br />

gravierenden Unterschied zwischen einem öffentlichen ausgetragenen Häuserkampf, der ja sogar<br />

von Teilen der Bevölkerung mitgetragen wurde, und dem Leben der Stadtguerilla im Untergrund.<br />

Er kannte noch ein paar Leute sehr genau. Er sah auch, wie sehr sie sich veränderten, "Ihr<br />

Alltag", sagt Wölfchen, "ist der totale Stress."<br />

Zum anderen hatte es Mitte 1977 in der Frankfurter Sponti-Bewegung einen Knacks<br />

gegeben. Nach der Ermordung von Buback und Ponto sowie der Entführung von Schleyer war für<br />

die Mehrheit der Undogmatischen die Kriegsführung der Stadtguerilla nicht mehr nachvollziehbar.<br />

Denn das Prinzip der Roten Zellen, "sofort und überall den bewaffneten Kampf<br />

beginnen", artete für die Spontis in eine rein "militärische Konfrontation" mit der Staatsgewalt aus.<br />

Wölfchen sagt: "Warum ich eigentlich ein Linker geworden bin, weiß ich gar nicht so<br />

recht. Ich habe nichts gelesen, noch nicht einmal ein kleines Bändchen vom alten Marx. Wenn wir<br />

aufdrehten, dann meist ohne großes Grundwissen."<br />

Befreiung erträumten sich viele von der Batschkapp -insbesondere ihr Kollektiv.<br />

Zumindest, <strong>als</strong> sie für den Schuppen, in dem früher die Diskothek "La Baya" hauste, den Zuschlag<br />

bekamen. Genau 40.000 Mark Abstand mussten gezahlt werden, und nochm<strong>als</strong> 100.000 Mark<br />

wurden reingesteckt, damit das Ordnungsamt nicht ständig mit der Schließung drohen konnte.<br />

Eine ganz schöne Summe für Wölfchen, Theo, Karo, Moni und für das Kollektiv<br />

insgesamt - gesammelt oder geliehen in und von der Szene, zu der die Karl-Marx-Buchhandlung<br />

ebenso zählt wie das "Strandcafé", die Kneipe "Größenwahn" oder auch der "Pflasterstrand". Aber<br />

lang gehegte Erwartungen, die die Spontis mit ihrer Batschkapp verknüpften, rechtfertigten solch<br />

kostspielige Investitionen.<br />

Zunächst gab es wohl keinen, der nicht von der Batschkapp schwärmte. Er wurde<br />

gehämmert und gemeißelt, geschreinert und geschrubbt. Das nicht nur wenige Wochen, sondern<br />

über ein Jahr.<br />

393


Stützpfeiler mussten gezogen, Notbeleuchtungsanlagen installiert, Toiletten ausgebaut,<br />

Heizungskörper angebracht werden. Aus einer vermoderten Abstellhalle im Keller entstand ein<br />

ansehnlicher Übungssaal für Laienspiel, Folklore- und Musikergruppen.<br />

Aber die Pläne gingen noch viel weiter. Eine Tischlerei sollte eingerichtet werden, eine<br />

Nähwerkstatt war geplant, Schülern, denen zu Hause wenig Platz und Ruhe blieb, bot das Kollektiv<br />

einen Extraraum an, um ungestört lernen zu können.<br />

Es dauerte relativ lange, ehe das Kollektiv seine vom Publikum zugedachte Funktion<br />

begriff. Keiner wollte es nämlich zunächst so richtig wahrhaben, dass sie sich unversehens und<br />

ungewollt in die Rolle wiederfanden, die sie eigentlich schon der Vergangenheit zugeschrieben<br />

hatten.<br />

Nämlich in der unergiebigen Rolle des permanenten Abarbeitens an Gesellschaft und<br />

Institutionen, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Nun war es nicht mehr der Häuserkampf,<br />

sondern die leidvollen Disco-Abende, die Kaputtmacher-Nächte, nur sie zählten bei den Freaks.<br />

Beinahe vergessen schien der hoffnungsvolle Versuch, eine Gegenkultur zu gründen.<br />

Denn die Politszene, mit der das Kollektiv fest rechnete, verschwand leise, aber ganz plötzlich aus<br />

dem Blickfeld. Insbesondere an den Disco-Abenden, konnten sie schlecht über den<br />

"antimperialistischen Kampf" diskutierten.<br />

Dann dominierte stets die Sozial-Szene, ein Heer von arbeitslosen Jugendlichen aus dem<br />

Frankfurter Norden, Typen mit Hoffnung auf Nähe, mit Hoffnung auf Durchbruch, auch wenn es<br />

die Fäuste sind.<br />

Wölfchen: "Wenn hier eine Gewaltnummer abläuft, sind wir oft machtlos. Denn wir<br />

haben mit den Bullen nichts zu tun, die sind gegen uns, auch in solchen Situationen. Wir müssen<br />

halt versuchen, uns gezielt zu wehren. Da liegen dann die Knüppel hinterm Tresen. Wenn wir<br />

selbst eine draufkriegen, haben wir halt Pech gehabt. Aber Schiss haben wir keinen."<br />

Viele Spontis haben schon im Batschkapp-Kollektiv gearbeitet, viele sind auch schnell<br />

wieder ausgestiegen, weil sie Angst hatten. Nur Wölfchen und Theo sind praktisch von Anfang an<br />

dabei. Manchmal kriegen sie einen Koller, wollen alles hinschmeißen.<br />

Doch am nächsten Abend stehen die beiden erneut an ihrem Platz. "Schließlich haben wir<br />

das Ding hier aufgebaut", erklärt Theo beinahe treuherzig, "Und 60.000 Mark Schulden müssen wir<br />

auch noch an die Szene zurückzahlen."<br />

Wölfchen gesteht: "Okay, ich lebe halt heute, und das ist für mich wichtig. Ich denke eben<br />

nicht an morgen und schon gar nicht an übermorgen, sonst würde mir schwindelig."<br />

394<br />

.


ABGESCHOBEN VERWAHRT, VERWAHRLOST . . .<br />

Frührentner dieser Jahre - Jugendfreizeitheim "Gelse" im Falkenhagener Feld zu<br />

Berlin<br />

Metall-Magazin, Frankfurt a/M 8/80 vom 16. April 1980<br />

Rüdiger hat es sich ausgerechnet: 512mal schließt er während seiner Arbeitszeit mit 64<br />

Einzelschlüssel Räume auf und wieder zu, öffnet mit dem Vierkantschlüssel verriegelte Toiletten -<br />

und das Tag für Tag von 2 Uhr mittags bis 10 Uhr abends, Monat für Monat, Jahr für Jahr.<br />

Auch wenn seine athletische Gestalt auf manchen Angst einflößend wirken könnte, so<br />

fürchtet Rüdiger sich doch seit Jahren insgeheim davor, "ein Messer oder eine Kugel in den Rücken<br />

zu bekommen". Seine "Wach- und Schließgesellschaft" hat ihn nämlich mit einem besonders<br />

delikaten Objekt betraut. Der 1.600 Quadratmeter große Neubau, in dem er seine Rundgänge<br />

macht, ist mit all den architektonischen Raffinessen der Neuzeit ausgestattet. Die Wände in der<br />

Halle, einst in grau, haben etwas von der früheren Kälte verloren. Realistische Maler pinselten<br />

überlebensgroße Menschen auf die Leerflächen, eben handfeste Menschen mit Charakterköpfen,<br />

konsequenten Blicken und stählernen Mienen. Im verqualmten Raum nebenan gibt's Limonade,<br />

Bier und kleine Snacks, aber nur "auf Selbstbedienung".<br />

Der Stallgeruch drängt sich dort unverwechselbar auf. Es riecht nach altem Bahnhof. In<br />

der Billard- und Kickerecke stehen Leute, die seit eh und je kein Zuhause mehr haben oder sich<br />

nur bei den rollenden Kugeln heimisch fühlen. Bierfahnen, südlicher Haschgestank, Schweiß,<br />

Parfüm, Toilettenmief, Zigarettenqualm - ineinander übergehende Gerüche, die oft undefinierbar<br />

sind. Vor der Treppe zum ersten Stock liegen ein paar Leute auf dem Boden, die im Volksmund<br />

Penner genannt, die "Schließer" Rüdiger oft genug wegscheucht, die sich dennoch wieder einnisten,<br />

hartnäckig, wie sie sind. In der ersten Etage gibt es Kinoprogramme, ein Teestübchen mit weichen<br />

Polstersesseln, Ruhe und Leseräume.<br />

Schauplätze, die Rüdiger im Auge behalten muss. Wenn er seinen Neubau kurz nach 22<br />

Uhr schließt, räumt er mit seinen Kollegen den gröbsten Dreck beiseite: leere Kornflaschen,<br />

Bierdosen in Hülle und Fülle, abgebissene und zertretene Brote, aber auch zerdepperte<br />

Waschbecken. Überbleibsel eines Tages, die Rüdiger nicht der Putzkolonne überlässt. Sie würde<br />

sich in den frühen Morgenstunden strikt weigern, in solch einem wüsten Chaos sauber zu machen.<br />

Tatsächlich verbirgt sich hinter Rüdigers Wach- und Schließgesellschaft das Bezirksamt Spandau,<br />

hinter dem Neubau das Jugendfreizeitheim "Gelse" im Falkenhagener Feld; der Schließer Rüdiger<br />

fungiert <strong>als</strong> Heimleiter, und die Jugendlichen, die hier verkehren, sind schon längst auf ihrer<br />

Endstation angekommen.<br />

Kinder unserer Zeit, dreizehn, fünfzehn oder auch achtzehn Jahre alt, die oft ein<br />

Frührentner-Dasein führen, noch ehe sie richtig erwachsen wurden; die tagtäglich darauf warten,<br />

dass mal irgendetwas Spannendes passiert, dass sie etwas von der großen Welt abgekommen und<br />

sei es nur ein Quäntchen Glanz und Glimmer. Sozialarbeiter dieser Tage, die den Mut verloren<br />

haben, die saft- und kraftlos in ihrem Mitarbeiterzimmer herumhängen und gelangweilt in<br />

Illustrierten blättern, die sich aufs Türen-Auf- und Zuschließen beschränken, die ihre "Leck-micham-Arsch-Mentalität"<br />

für jedermann ersichtlich vor sich hertragen und auf die "beschissene Welt<br />

schimpfen.<br />

395


Dabei glaubt Rüdiger, 37 Jahre alt, gerade einer anderen "beschissenen Welt" entkommen<br />

zu sein, nämlich der eines Brauerei-Facharbeiters in der Fabrik. Über sechzehn Jahre hatte er dort<br />

gearbeitet, zum Schloss durfte er sogar Schichtführer nennen. "Ich habe die Schnauze restlos voll<br />

gehabt in dieser Mühle, ich war nur noch deprimiert, weil mir alles so aussichtslos erschien."<br />

Justament zu dieser Zeit suchte das Bezirksamt Berlin-Spandau, Abteilung Jugend und Gesundheit,<br />

Erzieher, die im neu erbauten Jugendfreizeitheim "Gelse" eine Aufgabe sehen. Ein Arbeitskollege<br />

brachte Rüdiger mit einem gewissen Alfons Brawand zusammen, der sich nicht daran störte, dass<br />

Rüdiger keine Ausbildung zum Sozialarbeiter durchlaufen hatte. "Das macht nichts", soll Brawand<br />

ganz loyal gesagt haben, "die holste berufsbegleitend nach." Rüdiger war merklich unsicher auf dem<br />

Amt und sagte artig: "Herr Brawand". Doch der duzte ihn gleich wie einen alten Kumpel. Ihm<br />

käme es insbesondere darauf an, Praktiker, wenn auch ohne Ausbildung, auf die neu geschaffenen<br />

Planstellen zu hieven. Von arbeitslosen Akademikern wolle man weniger etwas wissen, "Die sind<br />

links verdorben, hetzen nur die Jugendlichen auf und machen den Behörden unnötige Arbeit", hieß<br />

es lapidar. Dagegen passte ein Typ wie Rüdiger offenbar sehr gut ins selbst gezimmerte<br />

Stellenprofil.<br />

Rüdiger konnte nicht im entferntesten ahnen, warum das Amt ausgerechnet auf<br />

"Praktiker" baute. Er hatte nicht die leistete Vorstellung von dem, was ihn erwarten würde. Seine<br />

anfängliche Unsicherheit überspielte er stets damit, dass er sich mit einer "berufsbegleitenden<br />

Ausbildung" beruhigte. Auch verengte Rüdiger, vielleicht ungewollt, seinen Blick für gewissen<br />

Begleiterscheinungen, die ihn wahrscheinlich schon dam<strong>als</strong> nachdenklicher hätten stimmen<br />

müssen. Doch er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit seiner Ablösung von der Fabrik,<br />

vom eingefahrenen Schichtdienst und nun dem plötzlichen Neubeginn <strong>als</strong> Sozialpädagoge<br />

sozusagen, dem Eltern ihre Kinder anvertrauten, abschoben, wenn auch nur stundenweise.<br />

Denn so ein Jugendfreizeitheim eröffnet weitaus mehr Möglichkeiten, sowohl für die<br />

Jugendlichen <strong>als</strong> auch für ihre Betreuer, dachte Rüdiger, <strong>als</strong> er zum ersten Mal vor der Eröffnung<br />

staunend durch die brandneue "Gelse" schlenderte. Er merkte offenbar nicht, dass er die<br />

Einrichtung eher nach seiner eigenen Hobbylage begutachtete <strong>als</strong> nach der der Kinder, für die sie<br />

eigentlich mal gedacht war. Über 2,5 Millionen Mark hatte der Staat in dieses Prestigeobjekt<br />

investiert.<br />

Über 50.000 Mark kostete allein das Tonstudio, 40.000 Mark verschlang die Großküche,<br />

skandinavische Sessel - vergleichbar einem Hotel-Foyer - verschönerten die Lese-und Spielräume.<br />

Eine großflächige Bühne für Beatbands und Laienspielgruppen war vorhanden, es konnte<br />

Basketball, Volleyball und Tischtennis gespielt werden, Kicker und Billard gab's wie<br />

selbstverständlich. Theater-und Ballettgruppen, Sportvereine und Briefmarkensammler - sie alle<br />

sollten hier unterkommen. Es fehlte an nichts, alles schien bis ins Detail maßstabsgetreu<br />

durchgeplant und vorprogrammiert. Die zuständigen Ämter meinten, ganze Arbeit geleistet zu<br />

haben.<br />

Die Spandauer Honoratioren aus Partei und Ämtern, Baufirmen mit ihren Angestellten,<br />

Architekten und notgedrungen auch die neuen Erzieher wollten ihr Jugendfreizeitheim im<br />

exklusiven Kreis in gebührender Form einweihen: quasi <strong>als</strong> Übergabe-Veranstaltung mit Bierfass,<br />

Sekt, Orangensaft und den obligaten kleinen Häppchen. Und natürlich hatte Brawand zuvor mit<br />

seinen Leuten kräftig die Hofberichterstattung in Funk und Lokalpresse angeleiert. So gab es unter<br />

den Jugendlichen im Falkenhagener Feld nur ein Thema: "Amtsärsche saufen und fressen sich im<br />

neuen Jugendfreizeitheim voll." Während Brawand vor dem erlauchten Halbrund das Bauwerk <strong>als</strong><br />

ein Projekt "für die Welt von übermorgen" pries, luchsten die Jugendlichen draußen vor der Tür<br />

396


durch die Scheiben . Zwar hatte sich eigentlich keiner vorgenommen, Rabatz zu machen. Doch <strong>als</strong><br />

sie die Herren in ihren feinen Anzügen vor sich sahen - auch Rüdiger zog seinen besten Zweireiher<br />

an -, da muss eine unbändige Wut in ihnen hochgekommen sein. Es mögen dreißig oder auch<br />

vierzig gewesen sein, die das Haus stürmten. Die feierliche Übergabe-Veranstaltung artete in eine<br />

schlimme Massenschlägerei aus. Keiner blieb verschont, auch Alfons Brawand musste Fausthiebe<br />

einstecken.<br />

Erstm<strong>als</strong> sah sich Rüdiger mit seiner Realität konfrontiert, die er bisher beiseite geschoben<br />

hatte. Erstm<strong>als</strong> überhaupt fragte er sich, woher die Jugendlichen kommen, die er fortan betreuen<br />

sollte. Und erstm<strong>als</strong> gingen seine Blicke ein wenig bewusster, ein wenig nachdenklicher über den<br />

Horizont des Jugendfreizeitheims hinaus. Was er sah, waren graue Betonhöhlen mit symmetrisch<br />

angeordneten Gucklöchern. Langsam und mit Hilfe anderer Kollegen aus dem benachbarten<br />

Klubhaus dämmerte es ihm, wo er tatsächlich gelandet was. In Spandau, einem der wichtigsten<br />

Neubaugebiete Westberlins - dort, wo sich Wohnsilos, Polizeischießplätze, Friedhöfe, Kleingärten<br />

und Müllhalden scheinbar friedlich miteinander vertragen.<br />

Das Jugendfreizeitheim "Gelse" liegt am Rande des Falkenhagener Felds, einer räumlich<br />

zerrissenen Betonwüste mit mehr <strong>als</strong> 30.000 Menschen. Früher zogen hier Arbeiter und kleine<br />

Angestellte hinaus, die sich ihr Häuschen in der Idylle mühsam zusammengespart hatten. Auf den<br />

noch freien Plätzen mauerte in den sechziger Jahren der soziale Wohnungsbau seine Häuser hoch.<br />

Einheitliche Pläne lagen zu keiner Zeit vor, deshalb wurden Läden, Post, Kirchen, Schulen und<br />

Spielplätze auch irgendwo verstreut an die Peripherie verlagert. Nur soviel stand fest: alleinstehende<br />

Rentner sollten aus dem Stadtzentrum, wo sie Wohnungen blockierten, in dieser erdrückende<br />

Neubaugebiet verfrachtet werden. Für sie waren dam<strong>als</strong> die eineinhalb-Zimmer-Appartements<br />

gedacht. Als die alten Leute dann nicht kamen, weil sie den sozialen Wohnungsbau nicht bezahlen<br />

konnten und lieber in gewohnter Umgebung sterben wollten, da riss man kurzerhand die<br />

Zwischenwände ein und legte jeweils zwei Appartements zusammen. So entstanden Drei-<br />

Zimmerwohnungen. Vornehmlich in der Siegener Straße und im Spekteweg, gleich in der<br />

Nachbarschaft zum Jugendfreizeitheim. In den Blöcken 655, 656, 657 leben seither die<br />

kinderreichen Familien, nicht selten sechs bis acht Menschen in drei Zimmer zusammengepfercht.<br />

Sie waren natürlich allesamt recht herzlich willkommen, <strong>als</strong> die "Gelse" einige Wochen<br />

nach dem Prügeldebakel fürs Publikum geöffnet wurde. Doch bevor die Girlanden stiegen, die<br />

Beatbands aufspielten und eigens dafür engagierte Ballett-Tänzerinnen den Betonbau-Kinder ihre<br />

Akrobatik vorführten, hatte Alfons Brawand in doppelter Hinsicht Vorsorge getroffen. Nach dem<br />

ersten Reinfall konnte er sich schon aus optischen Gründen keinen weiteren Prestigeverlust mehr<br />

leisten. Drei Einsatzwagen der Polizei standen abrufbereit in der Nebenstraße, Brawand blieb mit<br />

ihnen über ein Sprechfunkgerät, das er bei sich trug, in ständigem Kontakt. Aber jene Jugendlichen,<br />

denen der etwaige Knüppeleinsatz galt, die waren zur offiziellen Einweihung erst gar nicht<br />

erschienen. Die hatte Brawand nämlich jeweils mit einem Zwanzigmarkschein zuvor bestochen.<br />

"Macht euch einen schönen Tag!", soll er ihnen gesagt haben. Darauf sind Dino, Liebel, Ito,<br />

Ristow, Becker, Kaiser, Hotte, Ricci und Accer abgezogen. "Ist das ein Angsthase, dieser<br />

Amtsarsch", feixten sie und zogen durch Spandaus Kneipen, Geld genug hatten sie ja.<br />

Allmählich begriff Rüdiger auch, was Alfons Brawand wohl unter einem richtigen<br />

Praktiker verstand. Leute, die sich weniger von ideellen Zielsetzungen leiten lassen, die kaum<br />

Skrupel kennen, wenn es darum geht, ihren eigenen Erfolg und einen reibungslosen Ablauf zu<br />

sichern, die sich auch nicht groß um pädagogische Grundsätze in einem Jugendheim kümmern.<br />

Sonst wäre Brawand ja nicht auf die Idee verfallen, Zwanzigmarkscheine auszuteilen, nur um der<br />

397


lieben Ruhe willen. Er hätte sich ebenso gut vor der Eröffnungsveranstaltung, an der ihm soviel<br />

lag, mit den renitenten Jugendlichen zusammensetzen und mit ihnen über ihre Vorstellungen<br />

sprechen können. Denn eines war doch ziemlich klar: Diese Jugendlichen wollten etwas, nur was,<br />

das wusste keiner. Rüdiger jedenfalls hatte sich fest vorgenommen, mit Dino und Co.<br />

Berührungspunkte zu finden. Doch er tat sich ungemein schwer.<br />

Dino und Co., das waren 15 Leute zwischen 18 und 23 Jahren, die sich in einem Klub<br />

zusammengerottet hatten -"Trink-Dich-Frisch" nannten sie ihn. Jugendliche, die in ihrem Leben<br />

noch nie aus Spandau rausgekommen sind, die tagein, tagaus durch ihr Neubauviertel lungern. Die<br />

meisten stammen aus zerrütteten Familien. Vater arbeitslos und Alkoholiker, Mutter laufend<br />

schwanger, an Streitereien mangelt es nicht, nur am Geld. Die meisten sind seit ihrem Schulabgang<br />

arbeitslos. Jugendliche, die seit ihrer Kindheit machen konnten, was sie wollten - sie blieben doch<br />

die begossenen Vorstadt-Köter, eben Straßenkläffer, die keiner hören will und keiner ernst nimmt.<br />

Zärtlichkeit und Nähe haben sie nie kennen gelernt, Lehrstellen gab's auch keine, nur die ewige<br />

Langeweile und ein Nichtstun, das aggressiv macht. Und das Jahr für Jahr im grauen Beton mit<br />

seinen Schiffsluken und der quälenden Enge.<br />

Da holt sich dann ein jeder, was er braucht, sucht sich seine Nischen in einer Gesellschaft,<br />

die dichtgemacht hat, die keine Chancen eröffnet, die von solchen Jugendlichen einfach nichts<br />

wissen will und mit dem Begriff "Randgruppe" für sich ein beruhigendes Vokabular erfand. Setzt<br />

sich dieses Grundgefühl erst einmal fest - nutzlos zu sein, nicht gebraucht zu werden - dann sind<br />

Raubzüge, Körperverletzungen, Autodiebstähle eine der unweigerlichen Antworten - nicht aus<br />

Kriminalität, vielmehr aus Verzweiflung. Schließlich wollen Dino und Co. sich ihre Sehnsüchte,<br />

ihre Träume nach Freiheit, Autobahn, Disco und Mädchen nicht vermasseln, nicht zertreten lassen.<br />

Sie wollen nicht dastehen nur mit einer lumpigen Mark in der Hand und noch eine weitere Abfuhr<br />

riskieren. Sie sind zwar Frührentner, das heißt für sie aber noch lange nicht, den ganzen Tag am<br />

Fenster zu hocken und Mutter immer beim Staubsaugen zu helfen.<br />

Unversehens geriet der zunächst unbeleckte Rüdiger in ein Dickicht sozialer Probleme,<br />

auf die er nicht vorbereitet war, aus denen es aber keinen Ausweg gab. Wie sollte er eine Lehrstelle<br />

besorgen, wie sollte er ihnen die Trinkerei, die Kokserei abgewöhnen? Gut, Verhütungsmittel für<br />

die Mädchen hätte er vielleicht organisieren können, und mit dem Jugendrichter sprach er ohnehin<br />

von Zeit zu Zeit. Rüdiger, der aus der strumpfsinnigen Fabrik geflohen, ausgestiegen war, der den<br />

Mief der Brauerei nicht mehr ertragen hatte und an einen sozialen Aufstieg glaubte, er sah sich<br />

plötzlich einer noch "beschisseneren Welt" gegenüber - Jugendlichen, die teilweise noch nicht<br />

einmal die Möglichkeit bekamen, am Fließband zu stehen und für die ein Disco-Abend das höchste<br />

der Gefühle wäre, wenn sie doch nur das nötige Geld hätten.<br />

Aber die Kinder vom Falkenhagener Feld waren zum Teil schon über Jahre ohne Job, und<br />

von ihren Eltern kriegten sie auch nicht die ersehnten Groschen. Deshalb gingen sie in die "Gelse",<br />

auf der Suche nach Nähe, nach Geborgenheit, nach Durchbruch. Da standen sie nun in dem<br />

bombastischen Neubau, der alles andere war <strong>als</strong> ein Jugendfreizeitheim. Vielleicht ein<br />

Offizierskasino, vielleicht ein Soldatenheim, so hygienisch und steril schlug schon das Äußere<br />

durch. Die skandinavischen Klubsessel, das Tonstudio und die Großraumküche für eine ganze<br />

Kompanie. Die "Gelse" war das traurige Resultat ehrgeiziger Reißbrett-Bürokraten, die über<br />

"jugendpflegerische Aufgaben" lamentierten, aber insgeheim ihre Bedürfnisse nach<br />

Großmannssucht und Millionenetats verwirklicht sehen wollen.<br />

Schon ein halbes Jahr nach der Eröffnung war von dem Glanz nichts mehr da. Wie sollte<br />

es auch? Jugendliche, die zu Hause nicht einmal ihr eigenes Zimmer hatten, die nie viel Spielzeug<br />

398


esaßen, die sich in der Konfliktbewältigung stets auf ihre Fäuste verließen - die mussten diesen<br />

Heimwohlstand einfach <strong>als</strong> eine ungeheure Provokation empfinden. Da verbarrikadierten sich nach<br />

22 Uhr die "Trink-Dich-Frischler" im Klubraum. Das Heim sollte geschlossen werden, doch Dino<br />

und Co. wollten nicht gehen. Gutes Zureden quittierten sie mit lautem Gejohle. "Holt doch die<br />

Bullen", holt doch die Bullen, das ist unser Raum, das ist unser Raum ...". Sie schmissen den<br />

Kühlschrank und eine Kommode vom ersten Stock auf die Straße und flüchteten erst durchs<br />

Fenster, <strong>als</strong> Rüdiger mit dem Beil ein Loch in die Tür schlug, um mit dem Gartenschlauch das<br />

Zimmer unter Wasser zu setzen.<br />

Nachbarn aus den gegenüberliegenden Einfamilienhäusern zogen gegen die übenden<br />

Beatbands zu Felde. Ein Lärmschutzwagen des Berliner Senats registrierte, dass die zulässige<br />

Lärmgrenze um vierzig Prozent überschritten sei. Das Bauamt hatte vergessen, in die Außenwand<br />

eine Schallisolierung einziehen zu lassen (Kostenpunkt: 40.000 Mark). Folglich durften fast zwei<br />

Jahre lang auch Musikgruppen nicht mehr proben. Ohne großes Aufhebens kürzte das Bezirksamt<br />

Spandau für die geplanten Neigungsgruppen die finanziellen Mittel um zwanzig Prozent. Mit<br />

ganzen 750 Mark musste das Heim jährlich auskommen, wenn es sich Kleinmaterial besorgte. Die<br />

Illusion von einem intakt funktionierenden Jugendfreizeitheim wurde jäh zerstört.<br />

In all den Jahren registrierte Rüdiger nicht ein einziges Mal auch nur einen aufmunternden<br />

Satz. Keine Äußerung, die Mut machte, kein Hinweis, der <strong>als</strong> Unterstützung oder Rückendeckung<br />

gewertet werden könnte. Dabei hätten sich doch gerade die Beamten einmal fragen lassen müssen,<br />

welchen Unsinn sie dort hin gebaut haben, Menschen in Beton einzupassen und selbstgefällig von<br />

"übergeordneten jugendpflegerischen Aufgaben" zu philosophieren. Wie sollen sich Jugendliche in<br />

einem Heim wohlfühlen, in dem alles DIN-genormt zugeht; angefangen vom künstlichen<br />

Freizeitangebot -Kicker, Flipper, Billard - bis hin zur Schadensregulierung. Nach dem Motto: So,<br />

nun sind wir mal ein Stündchen artig. Eine solche antiquierte Konzeption musste von vornherein<br />

zum Scheitern verurteilt sein.<br />

Über eines sind sich alle im Klaren. Man könnte die "Gelse" dichtmachen, es wäre kein<br />

herber Verlust, es gäbe wohl auch kaum jemanden, der ernsthaft protestieren würde, nicht einmal<br />

die verbliebenen Jugendlichen. Höchstens die Montagabende müssten sie dann aus ihrem<br />

Programm streichen. Montags kommt es schon vor, dass sich mal fünfzig oder sechzig Jugendliche<br />

für ein Weilchen in der "Gelse" aufhalten. Nicht etwa, weil etwas Besonderes abläuft, sondern weil<br />

in einem kalten, kalten Raum, Schallplatten, sogar neue CDs aufgelegt werden. "Disco" sagen alle<br />

dazu, eben Saturday-night-fever zum Wochenbeginn, wo doch für die meisten zwischen Sonn- und<br />

Werktagen ohnehin kein Unterschied besteht. Hotte fühlt sich für die Scheibe zuständig, <strong>als</strong> der DJ<br />

von der Gelse immerhin. Wenigstens einmal in der Woche sieht er, dass er gebraucht wird. Keiner<br />

kennt sich nämlich so gut mit der Anlage aus, keiner kann auch so gut Englisch wie Hotte.<br />

Kerstin hat sich schon des öfteren gefragt, woher Hotte eigentlich so gut Englisch kann.<br />

Hotte antwortete ihr die Frage natürlich: "Det ha ich ma selba bejebracht." Hotte ist der Bruder<br />

von Dino, dem Chef der "Trink-Dich-Frisch-Clique". Acht Kinder zählen sie zu Hause. Eine<br />

Dauerarbeit haben Dino und Hotte bis heute nicht gefunden. Eine Zeit lang fuhr Hotte Wäsche<br />

aus. Dam<strong>als</strong> ging er noch mit Uschi, dam<strong>als</strong> sparte er noch für eine Wohnungseinrichtung. Als die<br />

Reinigung dann Pleite machte, sein Chef über Nacht mit dem restlichen Geld nach<br />

Westdeutschland türmte, standen noch die letzten beiden Monatslöhne aus. Seinen Boss und sein<br />

Geld sah er nie wieder. Inzwischen ist sein Gespartes aufgebraucht, mit Uschi ist er fertig, und zu<br />

einer echten Arbeit hat er keine Lust mehr. "Selbst wenn die mir heute den besten Job anbieten",<br />

erklärt Hotte vom Discositz. Aber nun kann Hotte ja nicht sein ganzes Leben in der "Gelse", DJ<br />

399


spielen, Disco mimen, Starallüren mimen, wenigstens im Probelauf. "Nee,", sagt er, "vielleicht bis<br />

dreißig, irgendwann um diesen Dreh mache ich bestimmt einen richtig großen Satz." - Nur wohin,<br />

das weiß er noch nicht.<br />

400


LANDKOMMUNE FOHRENBACHHOF - AUSGEWANDERT<br />

IN DIE HOFFNUNG<br />

You may say I am a dreamer,<br />

But I am not the only one,<br />

I hope some day you'll join us,<br />

And the world will live as one.<br />

(John Lennon)<br />

"Du hast keine Chance, aber nutze sie" Rowohlt Verlag, Reinbek vom 25. April 1980<br />

Eigentlich ist Volker der Motor in der niederbayerischen Landkommune Fohrenbachhof.<br />

Da kann es nachts ruhig spät geworden sein, weil man neugierigen Städtern das alternative Leben<br />

auf dem Lande zu erklären versuchte, da können morgens die anderen sieben Mitbewohner noch<br />

schlafen, er melkt um sechs Uhr die beiden Ziegen Luna und Lolita. Aber auch sonst: Ganz gleich<br />

mit welcher Arbeit Volker gerade tagsüber beschäftigt ist, ob er Geschirr spült, im Garten Unkraut<br />

jätet oder an der Kreissäge steht, für einen Hofrundgang, der auch Stunden dauern kann, hat er<br />

immer Zeit. Ihm ist es einfach wichtig, um Jule seinen Arm zu legen, Irene zu küssen oder Hilde zu<br />

streicheln. Volker versteht sich auf Zärtlichkeit, auf die, wie er sagt, denn sie sei "nun mal unser<br />

größtes Kapital".<br />

Mit Hilde verbindet Volker schon eine jahrelange, enge Freundschaft. Jonas haben sie<br />

ihren einjährigen Sohn genannt. Doch Hilde spricht wenig von Volkers Hauptgangliegen der neuen<br />

Zärtlichkeit. Ihr geht es mehr um Sinnlichkeit und Selbstbesinnung. Oft liegt sie auf ihrem Bett und<br />

lauscht per Stethoskop ihren Herztönen. Töne, die sie auch in der Natur wahrzunehmen glaubt.<br />

Hilde schwört auf autogenes Training und Selbstmassage. Nur so ließen sich körperliche und<br />

seelische Verkrampfungen langsam lösen, nur so wäre ein Neuanfang in ihrem Leben möglich<br />

geworden. Eine gelockerte Hilde, die mit Hammer und Nagel am Dachstuhl zimmert, Holz klein<br />

hackt, aber auch Stunde um Stunde mit ihrem Stethoskop in sich versunken am Weiher sitzt.<br />

Erich dagegen trägt schwer an seinen eigenen Zweifeln, die er <strong>als</strong> Luxus deklariert. Er ist<br />

der Intellektuelle in der Kommune. "In der bürgerlichen Gesellschaft", erklärt Erich , "wird sich<br />

wohl keiner den Luxus erlauben, Skrupel zu haben." Auf dem Fohrenbachhof kann er es aber,<br />

meist ungestört, bisweilen auch selbstquälerisch. Theologische oder philosophische Fragestellungen<br />

halfen ihm dabei nicht entscheidend weiter. Erich meint, die Menschen mögen ihn nicht, sie wollen<br />

höchstens etwas von ihm. Deshalb kämen in ihm regelmäßig Berührungsängste hoch. Die<br />

kontrolliert er, indem er sich laufend einredet, er im Grunde sei es ja, der die Leute ablehnt - vor<br />

allem wegen ihrer graumäusigen Durchschnittlichkeit. Dies wäre in der Stadt schon so gewesen,<br />

dies sei nun auf dem Lande auch so. Erich spricht selten mehr <strong>als</strong> nur das Nötigste. Er ist ein Typ,<br />

der die reduzierte Sprache bevorzugt. Am liebsten sitzt er am Schreibtisch oder unter der Markise<br />

und liest Biografien, die verflossene Jahre nachzeichnen. Kaum etwas, was ihn aus seiner<br />

401


vordergründigen Ruhe brächte. Und wenn, dann verschließt sich Erich noch mehr und taucht für<br />

lange Spaziergänge in den angrenzenden Wäldern unter -allein natürlich.<br />

Erich bezeichnet Irene <strong>als</strong> seine Frau, auch wenn sie unverheiratet sind und die beiden die<br />

Ehe <strong>als</strong> "bürgerliches Privateigentum in einer Männergesellschaft" charakterisieren. "Aber was soll<br />

ich zu ihr sagen", fragt er ein wenig hilflos, "Geliebte, das passt , Freundin ist mir zu flach und<br />

Lebensgefährtin zu oberschichtig." Also ist Irene seine Frau in der Fohrenbachhof-Kommune,<br />

noch dazu, wo sie ebenfalls einen Sohn haben, der Jan gerufen wird. Irenes Betonung liegt auf dem<br />

Wörtchen Gefühl. "Mensch, guck mal", sprudelt es aus ihr heraus, "wir leben auf dem Land, das ist<br />

unheimlich schön. Wenn das Wetter prächtig ist, wir unter dem Birnbaum zusammensitzen und<br />

Wein trinken. Das alles nach einem Tag, an dem wir ein Dach abgedeckt oder Heu reingeholt<br />

haben. Dann stellt sich einfach ein Lebensgefühl und ein Körpergefühl her, das die vermieften<br />

Stadtexistenzen gar nicht kennen; sozusagen ein Extra, ein Bonus für uns." Irene scheut sich nicht<br />

vor pathetisch klingenden Vergleichen, um sich und ihre Gefühlsansprüche zu erklären. Sie will<br />

jemanden lieben und hassen. Ihm sagen können, dass er eine "alte Arschgeige" ist, dass er seinen<br />

"erbärmlichen Scheiß" alleine machen soll, dass er gegenwärtig mit ihr kaum rechnen darf, weil sie<br />

bitter enttäuscht sei. Sie will es ihm einfach sagen können, ohne ihn gleich zu verlieren und ihm<br />

"grundsätzlich ihre Zuneigung zu entziehen". Ein Verhalten, das in der Stadt die wenigsten<br />

tolerierten; nicht einmal die eigene Familie oder die Mitbewohner in Wohngemeinschaften, in<br />

denen Irene zeitweilig lebte.<br />

Dafür bietet die Stadt zu viele Nebenschauplätze, zu viel Ablenkung, zu viele Ersatz-<br />

Freundschaften, zu viele Verdrängungsmöglichkeiten. Auf dem Fohrenbachhof jedoch, in der<br />

niederbayerischen Einöde, sind extreme Gefühlssprünge erlaubt, selbst wenn es für den einen oder<br />

anderen schmerzlich ausgeht. Denn wen es hierher verschlägt, der muss schon ein Quantum an<br />

Entschlossenheit mitgebracht haben, das Alteingefahrene hinter sich zu lassen. Sein Anliegen, in<br />

aller Abgeschiedenheit zu leben, verträgt sich nicht mit dem üblichen Stadtverhalten. Es würde ihm<br />

auch gar nicht gelingen, City-Allüren auf dem Lande zu kopieren, Konflikte auszuweichen, sie in<br />

Alkohol zu ertränken oder sie vorteilheischend herunterzuspielen. Auf dem Fohrenbachhof kann<br />

keiner vor sich selbst und vor den anderen flüchten. Außer in der Gruppe gibt es keine<br />

zwischenmenschlichen Kontakte, nicht einmal ein Telefon. Außer dem Hof gibt es nichts, nur eine<br />

durchdringende Ruhe, die jeden zuschnürt, der mit ihr nicht umzugehen weiß.<br />

Der Fohrenbachhof liegt tief im Niederbayerischen eingegraben, umgeben von<br />

großflächigen Feldern und dichten Wäldern, fernab von Bundesstraßen und Fabriken. Passau, die<br />

nächstliegende Stadt, haben manche einheimischen Bauern erst zwei- oder drei Mal in ihrem Leben<br />

gesehen. Der Hof war früher ein verlassenes, klappriges Gehöft mit zwei Hektar Land ohne<br />

Kanalisation und Elektrizität. Hätten ihn Erich, Irene, Hilde und Volker im Jahre 1975 nicht für<br />

85.000 Mark aufgekauft, er wäre allmählich verfallen. Es war ein Konjunkturpreis zu jener Zeit,<br />

weil in der Alternativen-Bewegung viele Freaks ihr Stadt-Getto mit einem beschaulich anmutenden<br />

Bauernhof einzutauschen versuchten. Die Gegend lässt einen Neuankömmling ihre Verlassenheit<br />

spüren. Für Tourismus ist der Landstrich nicht bizarr genug, für Industrieansiedlungen sind die<br />

Anfahrtswege zu weit. Armut und Arbeitslosigkeit werden in Niederbayern noch mit dem<br />

sonntäglichen Amen beantwortet. Kaum ein Bauer könnte hier ohne Nebenverdienst über die<br />

Runden kommen. Ein Hof, der halbwegs rentabel bewirtschaftet wird, benötigt en Betriebskapital<br />

etwa zwischen 150.000 und 200.000 Mark. Ihn zu erwerben, würde mindestens 2.5 Millionen Mark<br />

erfordern.<br />

402


Als Erich, Irene, Hilde und Volker mit ein paar Büchern und Klamotten auf ihren<br />

Fohrenbachhof zogen, konnten sie sich längst nicht mehr zur Jugend rechnen, obwohl sie es taten.<br />

Nur Irene steckte noch in den Zwanzigern, die anderen drei hatten bereits die Trau-keinem-überdreißig-Schallmauer<br />

durchbrochen. Sie gehörten zu jenen, denen die Fähigkeit zur alltäglichen<br />

Anpassung den Lebensnerv zu rauben schien. Sie gaben Positionen auf, die ihnen ein gesichertes<br />

Einkommen und eine kalkulierbare Beamten-Laufbahn eröffnet hätten. Die Soziologen Erich,<br />

Hilde und Volker hatten über Jahre darauf hingearbeitet, einmal <strong>als</strong> Hochschullehrer Studenten<br />

auszubilden. Irene durchlief noch die Studienreferendarzeit. Sie wollte eigentlich Studienrätin<br />

werden. Aber je länger Irene sich auf ihre Beamtenlaufbahn vorbereitete, desto mehr empfand sie<br />

das bürgerliche Leben <strong>als</strong> eine Notgemeinschaft, die aber "richtig ihre Krallen nach mir ausstreckte.<br />

Immer war ich nur auf dem Prüfstand", sagt Irene. "Bei meinen Eltern musste ich gute Schulnoten<br />

nach Hause bringen, die Uni sollte ich möglichst mit einem Einser-Examen verlassen, um<br />

überhaupt noch die Chance einer Anstellung zu haben, im Referendariat versuchte mich dann der<br />

Staat zu testen, ob ich ein ordentlicher Mensch bin, ob ich ein gewissenhafter Beamter werde, ob<br />

ich auch akkurat angezogen bin, ob ich auch das Gefragte dezent aber unzweideutig in ihrem Sinne<br />

formulieren kann, ob ich in einwandfreien Verhältnissen lebe, ob ich ein dreckiges oder sauberes<br />

Auto fahre."<br />

Und dann der innere Zwiespalt: "Du stehst vor deinen Schülern, sollst sie auf Leistung<br />

trimmen, mit Zensuren massiv Druck ausüben, obwohl dir selbst die aberwitzige<br />

Leistungsschinderei zuwider ist." Und dann die Ohnmacht: "Am schlimmsten waren nicht die<br />

Schüler, sondern ihre Eltern, mit denen du <strong>als</strong> fortschrittlicher Lehrer eigentlich zusammenarbeiten<br />

wolltest. Aber die kamen nur alle naselang angelaufen, um zu hinterfragen: , . Machtest du es nicht,<br />

gönntest du den Schülern eine Atempause, schon musstest du dich vor dem Direktor<br />

verantworten. Wild gewordene Eltern hatten sich bei ihm beschwert. Sie hätten den Eindruck, ihr<br />

Sohn lerne zu wenig. Der Chef nickte verständnisvoll, und du warst wieder unter einem<br />

beschissenen Rechtfertigungszwang."<br />

Und dann die Konsequenz: "Als ich meine Entscheidung gefällt hatte, dass ich in eine<br />

Landkommune gehe, da fühlte ich mich unheimlich befreit. Es war ein Gefühl, dass mich die<br />

Institutionen mit ihrer ewigen Bevormundung und Entmündigung am Arsch lecken können, dass<br />

ich mich endlich nicht mehr unauffällig, opportunistisch und ekelhaft verhalten muss, um mich zu<br />

behaupten." Nur in einem Punkt plagte Irene anfänglich das schlechte Gewissen. Ihr Vater hatte<br />

sich <strong>als</strong> Postbote im Hannoverschen im wahrsten Sinne die Hacken abgelaufen, damit seine<br />

Tochter studieren kann und es in der Beamtenhierarchie, von der er immer sprach, ein wenig<br />

weiterbringt <strong>als</strong> er. Mit Irenes kärglichem Landleben und einem unehelichen Sohn dazu musste sie<br />

zwangsläufig die lang gehegten Hoffnungen ihres Vaters enttäuschen.<br />

Allmählich reagierten die Eltern von Erich, Hilde und Volker. Hatte doch mit ihren<br />

Kindern alles wie am Schnürchen geklappt, gab es noch nicht einmal wie in anderen Familien einen<br />

plötzlichen Knall, der einen Bruch mit der Gesellschaft rechtfertigte, kein Berufsverbot, keinen<br />

Rausschmiss. Ganz im Gegenteil: Alles verlief gradlinig und erwartungsgemäß. Der Ausstieg ihrer<br />

Kinder aus dem Beruf traf die Eltern deshalb um so unverhoffter und unvorbereiteter. Sie haben<br />

ihn bis heute nicht verarbeitet, er hat Narben hinterlassen.<br />

Bei Erich und Volker kam aber etwas anderes hinzu. Beide verstehen sich <strong>als</strong> Sozialisten<br />

mit dem einstigen Anspruch, die bundesdeutschen Gesellschaftsstrukturen radikal zu verändern.<br />

Einen Anspruch, den sie <strong>als</strong> SDS-Mitglieder in Frankfurt mit in die APO-Bewegung einbrachten,<br />

aber zu keiner Zeit einlösen konnten. Das hat sie verhärtet und bitter gemacht. Erich und Volker<br />

403


zählen nämlich quasi zur Nachhut der "Frankfurter Schule". Ihnen gehen heute noch Adorno-,<br />

Horkheimer- und Marcuse-Zitate auf dem Acker spielerisch über die Lippen, so <strong>als</strong> würden sie den<br />

praktischen Nachweis für die Richtigkeit der Kritischen Theorie liefern wollen. Etwa die Marcuse-<br />

Überlegung: ein neues Verhältnis zur Natur sei ein zentrales Moment der "Umwertung aller<br />

Werte".<br />

Ihr Auszug aufs Land beruht im wesentlichen auf zwei Eingeständnissen. Zum einen:<br />

"Kein sozialistischer Ansatz in den letzten Jahren ist in nennenswerterem Umfang über den<br />

zumeist intellektuellen Umkreis ihrer Schöpfer hinausgegangen", erklärt Erich. Zum anderen: Es<br />

war die Linke, die zwar stets von Massenpolitik und Massenbewegung, von Bewusstseinsprozessen<br />

und Proletariat redete, in Wirklichkeit aber in ihrem eigenen Theoriedunst erstickt, weil sie unfähig<br />

war, einen praktischen Bezug zu ihrer konkreten Utopie herzustellen, und deshalb kläglich<br />

scheiterte. Eine Linke, die dem elitären Irrglauben verfiel, allein mit Rationalität und Aufklärung sei<br />

die Hauptarbeit auf dem Wege zu einem "neuen Menschen" schon geleistet, und dabei<br />

Lebensgefühle und -zusammenhänge derer verschmähte, die sie eigentlich mit ihrer Politik<br />

erreichen wollte. Und eine Linke, die offenkundig nicht merkte, dass nicht sie die Institutionen,<br />

sondern die Institutionen sie verändert haben.<br />

Volker wollte nicht länger mit einem hohen politischen Anspruch durch die Mensa laufen.<br />

Er hatte den Studenten etwas über egalitäre und soziale Bewegungen oder Selbstorganisationen zu<br />

erzählen, quasi einen auf Idealismus zu machen, um in Wirklichkeit sein ganzes Leben darauf<br />

auszurichten, nur in der Universitätshierarchie hochzukommen. Und Erich spürte in den<br />

Lehrveranstaltungen seine Machtlosigkeit. Die Hochschule war für ihn kein Freiraum mehr, kein<br />

Ort der offenen, geistigen Auseinandersetzung, sie hatte für ihn die Gestalt eines<br />

Durchlauferhitzers. Immer mehr Studenten strömen in die Hochschulen, um in immer kürzerer<br />

Zeit mit irgendeiner Qualifikation ab gefrühstückt zu werden. Eine regelrechte Verschulung von<br />

Vorlesungen hat sich eingeschlichen - ausgelöst durch Erlasslawinen der Kultusbürokratie. Die<br />

Universität <strong>als</strong> Lernfabrik, <strong>als</strong> Zuliefererbetrieb für gewisse theoretische Bedürfnisse in der<br />

Gesellschaft. Erich: "Okay, jedes Jahr ein Streik, bei dem nichts rauskommt, den man routinemäßig<br />

abhaken kann. Aber sonst rollt die politische Entwicklung der Anti-Kernkraft-, der Ökologie- und<br />

Alternativbewegungen über die Hochschulen hinweg. Ich sah keinen Sinn mehr darin, mich <strong>als</strong><br />

aufgeklärter linker Mensch in diesem Beruf zu verschleißen, Soziologen zu produzieren, die dann<br />

irgendwann doch ein Arbeitslosendasein fristen. Dann lasse ich doch den ganzen<br />

Kathedersozialismus und versuche meinen eigenen Kram zu machen, indem ich meine<br />

Vorstellungen und Ideen wirklich umsetzen kann ...".<br />

Erich und Volkers Auslassungen sind von vielen städtischen Freunden missverstanden<br />

worden. Manche spotteten über ihren Rückzug ins Private, andere glaubten gar, ihr Verhalten sei<br />

gänzlich unpolitisch und nur durch resignative Anflüge erklärlich. Doch beides ist f<strong>als</strong>ch. Wer sich<br />

lediglich zurückzieht, der kann auch wiederkommen. Erich, Irene, Hilde und Volker denken aber<br />

nicht im entferntesten daran, eines Tages wieder anzuknüpfen, wo sie 1975 aufhörten. Sie zogen<br />

sich nicht zurück, sie brachen endgültig mit dieser Gesellschaft. Ein Bruch, der irreparabel ist.<br />

Ihnen ist absolut klar, keiner wird in seinem alten Beruf jem<strong>als</strong> den Anschluss wieder finden<br />

können. Selbst wenn er es nach Jahren reuig wollte, der Staat würde seinen Beamtennachwuchs<br />

wohl zuallerletzt aus linksorientierten Landkommunen rekrutieren. Ihr Einschnitt bedeutet nicht<br />

nur den Endpunkt einer bürgerlichen Karriere. Sie haben sich ebenfalls vom viel gerühmten<br />

sozialen Netz in diesem Lande losgesagt.<br />

404


Doch alle wussten um den schmalen Grad, auf dem sie sich bewegten. Und alle hatten<br />

auch ein wenig "Angst vor dem Sprung in den neuen Lebenszusammenhang". Denn wann und wo<br />

lassen sich eindeutig die Grenzlinien ziehen, etwa zwischen kleinfamiliären Verhaltensweisen und<br />

tatsächlich neuen Formen des Miteinanders, wo endet die unterdrückende Gruppennorm, wo<br />

beginnt die befreiende Solidarität, wann hat jemand eine Neurose und wann sagt man, ja endlich,<br />

das ist die neue Identität, wann ist die zu leistende Arbeit nicht entfremdet, sondern<br />

selbstbestimmt, inwieweit muss man sich noch kapitalistischen Marktzwängen unterordnen?<br />

Fragen, auf die alle Kommune-Mitglieder Antworten finden mussten, wollten sie sich<br />

nicht zu bloßen Wald- und Wiesenexistenzen degradieren, bei denen zwar kein Schuldirektor und<br />

keine Kultusbürokraten, sondern dafür Hofschrate das Sagen haben. Eines war allen so ziemlich<br />

klar. Ein Ausstieg verheißt noch lange keinen neuen Einstieg. Keiner wusste, ob sie nicht schon<br />

nach einem Jahre zerrüttet und zerstritten vor einem Scherbenhaufen stehen. Viel hatten sie von<br />

anderen Landkommunen gehört, die sie auch teilweise besuchten - von deren Zerbrechlichkeit, von<br />

dem ständigen Kommen und Gehen, von den überspannten Erwartungen des Alles oder Nichts,<br />

von Landkommunen, die mehr ihren Zweck <strong>als</strong> Zwischenstation auf dem Weg ins transzendentale<br />

Indien erfüllten, von menschlichen Enttäuschungen, angesiedelt zwischen sexuellen<br />

Befreiungswünschen bei gleichzeitig tief verinnerlichtem Besitzdenken, manche kapitulierten auch<br />

vor der harten körperlichen Arbeit oder der Einsamkeit, andere klagten über den radikalen<br />

Konsumverzicht, Gebrauchsgüter, die in der Stadt so niedrig eingeschätzt wurden und nun auf<br />

einmal doch zu fehlen scheinen.<br />

Erich, Irene, Hilde und Volker machten etwas Vernünftiges. Sie fuhren Monate durch die<br />

USA, klapperten eine Landkommune nach der anderen ab. Sie wollten lernen, Erfahrungen<br />

sammeln und Rückschlüsse ziehen, den immerhin gibt es seit Ende der sechziger Jahre an die 2.000<br />

Landkommunen-Projekte in den Vereinigten Staaten. Sie sahen Kollektive , die in ihrer Rigidität<br />

und Radikalität nicht zu bremsen waren. "Der Kampf gegen die Scheiße in uns ist ein Teil des<br />

Aufbaus einer neuen Gesellschaft", hieß es da. Und ihre eigene Scheiße bezog sich keineswegs nur<br />

auf äußere Begleiterscheinungen wie politische Unterdrückung oder Rassismus. Sie meinten damit<br />

vielmehr den persönlichen Besitz an Gebrauchs-und Konsumgütern, denen gleichfalls Liebe,<br />

Sexualität, eben die ganze Privatsphäre zugeordnet wurden. Als Idealzustand galt, wenn jedes<br />

Bedürfnis eines Kommune-Mitglieds, ob es ein Buch lesen will, einen Spaziergang macht oder sich<br />

einfach für eine gewisse Zeit zurückziehen möchte, durch Gruppendiskussion geregelt wird. Wer<br />

der Gruppe eine derart herausragende Vormachtstellung zuerkennt, der muss zwangsläufig jede Art<br />

von Zweier-Beziehung bekämpfen. Der muss natürlich Monogamie <strong>als</strong> störend empfinden, weil<br />

sich die jeweiligen Partner in erster Linie auf sich und nicht auf die Gruppe beziehen. Deshalb<br />

wurde in vielen Landkommunen auch folgerichtig das "Pärchen-Unwesen" zerschlagen, um für die<br />

anderen ohne Schuldgefühle offen zu sein - und zwar politisch, persönlich und sexuell.<br />

Natürlich beobachteten die vier instabile Gruppen, die völlig ausgeflippt waren, denen<br />

jedes Selbstverständnis für alternative Lebensformen fehlte, obwohl sie in der Land-Szene<br />

herumhingen. Typen, die in Plastik-Hütten hausten, zwischen Autowracks und lebenslustigen<br />

Ratten, ohne Wasser und Strom. Herumstreunende Jugendliche aus den Großstädten, oft<br />

vollgekifft und abgefüllt, die sich in den Landkommunen auspennen und durchfressen konnten, bis<br />

sie irgendwann weiterzogen. Mütter, die teilweise nicht wussten, von welchem Mann ihr Kind kam,<br />

aber mit ihrem zwölfjährigen Sohn den Beischlaf probierten, damit der Junge nicht unnötig unter<br />

dem Ödipus-Komplex zu leiden habe. Natürlich gab es auch Landkommunen, die nach<br />

schwierigen Anläufen recht gut funktionierten und wo man glaubte, sich Stein für Stein seinen<br />

405


Lebensidealen zu nähern. Doch der Trip durch Kalifornien - das war schon ein bisschen das Ende<br />

eines Traums, einer abgehobenen Vision. Manches, was zunächst nach Befreiung aussah, erwies<br />

sich <strong>als</strong> ausgemachte Konfusion von tief verunsicherten Menschen, die die Zivilisation hingerichtet<br />

hat.<br />

Aber nun standen Erich, Irene, Hilde und Volker den ersten Tag im Spätsommer 1975<br />

vor ihrem Traum, dem Fohrenbachhof im Niederbayerischen. Nur - da war nichts mehr von der<br />

kalifornischen Sonne und dem Easy-Rider-Gefühl übriggeblieben, kein pittoresker Blickwinkel,<br />

kein kontemplatives Moment. Denn es regnete unentwegt, der Lehmboden war glitschig<br />

aufgeweicht und die neue Landkommune watete im städtischen Gang über den Matsch-Hof. Junge<br />

Leute, die in ihrem Leben noch keine Mistgabel in der Hand gehalten hatten, die keine Schwielen<br />

kennen, lediglich ihren Schreibknubbel am rechten Mittelfinger, die standen nun da, an diesem<br />

nasskühlen Sommertag, und schauten ziemlich verzagt drein. Keine Wasserleitung funktionierte,<br />

von der Kanalisation ganz zu schweigen, Stromleitungen, die rausgerissen an nassen Wänden<br />

baumelten, in den Räumen roch es nach feuchtem Schimmel, wurmstichige Holzbohlen hier und<br />

dort , kurzum: alles wirkte trist und tot.<br />

Vor allem bei Irene schlug der unbehagliche Neubeginn schnell auf die Psyche durch.<br />

Gut, sie alle wussten schon recht lange, was und wie viel noch gemacht werden musste - aber das<br />

waren doch bisher mehr oder weniger theoretische Überlegungen gewesen. Als Irene noch in der<br />

Stadt wohnte und des Öfteren an den Fohrenbachhof dachte, da waren es die Butzenscheiben, der<br />

Birnbaum und ihr Töpferhandwerk, das sie recht bald erlernen wollte. Und je mehr sie sich über<br />

Kollegen, Eltern und Schüler ärgerte, desto schnuckeliger erschienen ihr die Butzenscheiben, desto<br />

üppiger sollte die Birnbaum-Ernte ausfallen.<br />

Irene spürte ihre Beklemmungen, ihre Verwirrungen. Sie fragte sich, ob die Idee mit der<br />

Natur nicht ein Hirngespinst gewesen sei. Die sogenannte Natur hatte sie nur durch die<br />

Sonntagsnachmittagsspaziergänge mit ihren Eltern kennengelernt, ein Promenadenlauf, den sie<br />

immer hasste, weil er sich so kleinbürgerlich artig und damit borniert ausnahm. Später hockte sie<br />

meist in verqualmten Buden und Bier verstunkenen Kneipen - das war die Studentenzeit. Man<br />

redete über Sein oder Nichtsein, über den französischen Existenzialismus und über die neue Linke;<br />

keine Naturfrische, sondern stumpfe Blässe, tief liegende Augenringe und die Nickelbrille waren<br />

und natürlich auch Gauloises und Roth Händle, die wie ein selbstverständliches Ritual auf dem<br />

Tisch lagen.<br />

Dann kam die Phase mit den Fedajinen-Tüchern, das wachgeküsste Bewusstsein für die<br />

Probleme der Dritten Welt. In ihrem Bekanntenkreis hatten die meisten solch ein Fedajinen-Tuch.<br />

Und wenn es abends mal kurz zum Griechen, Türken oder Libanesen essen gingen, da hatten sie<br />

alle ihre Tücher umgelegt. Sie begrüßten den Wirt und sein Personal ganz emphatisch, einfach<br />

stellvertretend für die Freiheitskämpfer im Nahen Osten oder auch nur <strong>als</strong> Sympathiebeweis für die<br />

südlichen Regionen. Irene jedenfalls empfand solche Abende besonders schön und schick.<br />

Aber hier, auf dem Fohrenbachhof, konnte sie nicht mehr schnell um die Ecke zum<br />

Libanesen. Da saß sie in der Küche und schaute auf diese ewig grüne Wiese. "Wenn sie doch mal<br />

eine andere Farbe hätte", dachte sie sich. Aber immer dieses gleichbleibende Grün. Sie überlegte,<br />

ob ihr Ausbruch aufs Land nicht doch nur eine Flucht sei, der Fohrenbachhof eine seelische<br />

Mülldeponie für Schutt und Schlacke, den sie aus der Stadt mitgebracht hatte. Oder ob die Natur<br />

nicht einfach ein Projektionsventil für verschwiegene Wünsche und Hoffnungen ist, die man sich<br />

in der Stadt untereinander nicht eingesteht, weil es zu sentimental klingt, wo doch selbst der<br />

Umzug auf einen heruntergekommenen Hof noch eine sozialistische Perspektive hat. Und die<br />

406


Natur? War es das, was sie suchte, glaubte sie hier ihre verschwiegenen Hoffnungen und Wünsche,<br />

die sie ja selbst nur vage oder flüchtig kannte, verwirklichen zu können? Sie bezweifelte es am<br />

ersten Tag, der kalt, nass und ungemütlich war.<br />

Für Hilde dagegen bot das heillose Durcheinander die einmalige Chance, neue<br />

Lebensbezüge herzustellen und alteingefahrene Strukturen auszuhebeln. Sie schaffte sich mühelos<br />

ins Chaos rein. Das Wort Lebenszusammenhang hatte bei allen eine zentrale Bedeutung. Da wurde<br />

nicht nur renoviert, sondern die Werkelei schuf einen neuen Lebenszusammenhang für die<br />

Landkommune. Erich sagt: "Wir spielen auf dem Fohrenbachhof nicht Bauer, wir arbeiten auch<br />

nicht mit den Bauern. Sondern wir produzieren bestimmte Sachen für uns, die wir früher nicht<br />

kannten. Wir produzieren nicht nur Bewusstsein, sondern mit diesem Bewusstsein ein kleines Stück<br />

gesellschaftliches Sein - freilich nur für uns, nicht für andere."<br />

Es war Hilde, die irgendwo im Umkreis einen Boiler auftrieb, ihn anmontierte und einen<br />

Wasserhahn dran schweißte. So hieß der erste neue Lebenszusammenhang die Auflösung der<br />

traditionellen Rollen zwischen Männer und Frauen. Jeder machte alles, in einem<br />

Rotationsverfahren. das nach vier Jahren zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Und die<br />

Maxime lautet: "Keine Arbeit sollte wertvoller sein <strong>als</strong> eine andere." Erich kann inzwischen<br />

fabelhaft abwaschen - und das dreimal am Tag. Volker versteht sich ausgezeichnet mit der<br />

Waschmaschine. Hilde pflanzt im Garten, Irene mistet den Stall aus. Tags darauf ist es umgekehrt.<br />

Die Landkommune will keine Spezialisierung aufkommen lassen. Jeder soll nachvollziehen können,<br />

was die jeweilige Arbeit des anderen bedeutet. Für einen Fremden wirkt das alles sehr unorganisiert.<br />

Mal ist einer im Garten, mal beim Dachdecken, mal beim Erdbeeren-Einmachen, dann mal wieder<br />

nicht.<br />

Doch diese undeutsche Arbeitsweise hat einen entscheidenden Vorteil. Keiner trägt allein<br />

die viel zitierte Verantwortung, womit er auf die anderen Druck ausüben und sie unterdrücken<br />

kann. Jedenfalls können Hierarchien so kaum entstehen, denn der gemeinsame<br />

Arbeitszusammenhang verbindet die Gruppe. Erich fiel die Umstellung besonders schwer.<br />

Theoretisch fand er es nur logisch, so und nicht anders vorzugehen. Aber in der Praxis sah das<br />

schon düsterer aus. Ihm schien nichts richtig voranzukommen. Er vermisste die ein bürgerliches<br />

Leben lang eingeübte Verbindlichkeit. Mal hilflos, mal wild entschlossen packte er mit an, jeden<br />

Tag an einer anderen Stelle. Doch das Bad, das ursprünglich schnell eingebaut werden sollte, war<br />

erst nach einem halben Jahr fertig. Es brauchte seine Zeit, bis sich Erich auch innerlich von seinen<br />

Effizienzvorstellungen und dem selbsterzeugten Termindruck lösen konnte.<br />

In dieser Phase entfernte sich die Gruppe immer stärker von der Gesellschaft. Langsam<br />

entwickelten sie ihr Eigenleben, das von äußeren Einflüssen ziemlich unbehelligt bleibt. Zwar ist es<br />

nicht so, dass politische Ereignisse in den Metropolen oder auch anderswo nicht zu ihnen<br />

vordringen, dafür gibt es die Frankfurter Rundschau, aber sie haben kaum noch ihr Gewicht. Wenn<br />

um 20 Uhr die Tagesschau läuft, der Einmarsch russischer Truppen in Kabul die<br />

Aufmachermeldung ist, dann beschäftigt sich die Landkommune mit einem ihr näherliegenden<br />

Tagesereignis. Ihr Hahn hinkt und die Hennen warten. "Ein neuer muss her", sagt Volker. "Das<br />

finde ich gemein. Drei Jahre hat er uns die Treue gehalten. Können wir ihn nicht leben lassen und<br />

in Pension schicken?" erwidert Irene.<br />

Die Kommune sitzt in ihrem Wohnzimmer an einem großen Tisch. Das Tagwerk ist<br />

vollbracht, der Feierabend angebrochen, und jeder weiß etwas zu erzählen aus der Welt des Hofes -<br />

und dazu benötigt keiner einen Fernseher oder ein Radio. Auf das allabendliche Schätzchen legen<br />

sie besonders großen Wert, betont Hilde. Die Fehrenbach-These: Arbeit ist Freizeit, Freizeit ist<br />

407


Arbeit. So findet es keiner lästig, wenn am Hofabend des Verhältnis zum Schwein<br />

"problematisiert" wird. Das Schwein heißt nur Schwein - und das stimmt einige nachdenklich. Zur<br />

Kuh sagen sie Klara, zum Esel Nelle, zu den Schafen Luna, Lolita, zu den Ziegen Mimi und<br />

Mariechen. Und zum Schwein? Zwei Fraktionen taten sich zeitweise bei diesem Thema auf. Die<br />

eine sah im Schwein nur einen Fleischhaufen, der irgendwann mal pfannengerecht hergerichtet<br />

werden muss. Die andere sagte, diese Namenslücke sei ein bedenkliches Zeichen. Die Kommune<br />

müsse wirklich einmal ihr Verhältnis zu den Viechern überprüfen. Schließlich wolle man von Klara<br />

ja auch nur Milch und von Luna, Lolita auch nur Wolle. Okay, meinten jene, die das Schwein gern<br />

anonym lassen wollten. So wurde aus dem Schwein Max, und alle waren zufrieden.<br />

Freizeit soll aber auch ein Stück Besinnung sein -natürlich über sich selbst und vielleicht<br />

über sein Verhältnis zum Hof. Was zu Anfang keiner für möglich hielt und jeder weit von sich<br />

wies, ist inzwischen eingetreten, der SDS-Mann von einst, der mit Schriften hervortrat, "Die<br />

Revolution ist vorbei, wir haben gesiegt", schmückt Weihnachten seinen riesengroßen<br />

Tannenbaum, der bis unter die Decke reicht" und bestückt ihm mit "richtigen Kerzen". Um fünf<br />

Uhr nachmittags läutet Volker zur Bescherung, die Gruppe singt Weihnachtslieder, bevor er aus<br />

der Bibel Markus- und Matthäus-Passagen vorliest. Manchmal bevorzugt er auch russische<br />

Märchen, weil sie so gut zum Hof passen. Besonders "Das weiße Entchen", hat es ihm angetan.<br />

"Rituale sind wichtig", beteuert Volker, "weil das Leben, vor allem hier draußen auf dem Lande,<br />

sonst eine freudlose Geschichte wäre. Es hat halt langfristig keinen Sinn, überbrachte Formen des<br />

Bürgertums abstrakt zu negieren", sagt der Soziologe.<br />

Am Silvesterabend geht Volker jedenfalls auf den Hof knallern, an der Sonnenwende<br />

hüpft er mal kurz übers Lagerfeuer. Mit Knallfröschen hatte er das letzte Mal <strong>als</strong> Schulbub zu tun,<br />

die Bedeutung der Sonnenwende lernte er <strong>als</strong> Pfadfinder vor 15 Jahren kennen - dam<strong>als</strong>, <strong>als</strong> sie auf<br />

ihren Zeltplätzen "Wir lagen vor Madagaskar und hatte die Pest an Bord" auf ihrer Mundorgel<br />

schmetterten.<br />

Apropos Feuer, zu ihm hat Volker eine besondere Affinität, wohl weniger zum Löschen,<br />

aber das gehört nun mal dazu. Er ist nämlich Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Ruhstorf. Die<br />

Gruppe war erstaunt , <strong>als</strong> sie von Volkers Feuerwehr-Engagement hörte. Volker meinte, das müsse<br />

man im "Nachbarschaftszusammen-hang" sehen. "Natürlich, sagten die anderen. "Wir können<br />

hilfsbereit und solidarisch sein. Das versteht sich von selbst. Deshalb brauchst du nicht gleich so<br />

'ne komische Uniform anzuziehen, die verdammte Ähnlichkeit mit der SS-Maskerade hat, nur der<br />

Totenkopf fehlt noch."<br />

Oft ist sonntags für ihn der Uniform-Tag. Dann geht's im roten Ruhstorfer Feuerwehr-<br />

Bus zur Fahnenweihe nach Österreich oder querbeet durch die Nachbardörfer, hier ein<br />

Schlückchen, dort ein Männerwort. Doch Hohn und Spott vergingen recht bald. Vielleicht war<br />

Volkers Feuerwehr-Uniform genau das richtige, um die freiwillige Selbstisolation im<br />

Niederbayerischen wenigstens stundenweise zu durchbrechen, um überhaupt mal zu erfahren, was<br />

die Dorf-Insider im fernen Umkreis über die Landkommune tuschelten. Denn Anlässe gab es ja<br />

genug.<br />

Im Rahmen der Schleyer-Fahndung tauchten im Herbst 1977 unverhofft dreizehn mit<br />

Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten auf dem Hof auf. Sie durchsuchten sämtliche Schränke<br />

und Schubläden, fotografierten sogar den Hof und Stall. Die Beamten verhielten sich zwar korrekt<br />

und der entführte Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer (*1915+1977) wurde bekanntlich<br />

auf dem Hof auch nicht gefunden, doch wilde und wüste Spekulationen machten die Runde.<br />

Einheimische Bauern, die sich regelmäßig in der Kneipe Göttlinger zum Weizenbier und<br />

408


Doppelkopfspiel treffen, äußerten ganz offen ihr Unbehagen. Die Polizei wäre nie und nimmer<br />

dort mit Maschinenpistolen im Anschlag hineingegangen, hieß es lapidar. Kommunisten und<br />

Anarchisten würden auf dem Fohrenbachhof hocken. Das seien alles verlauste Gestalten. In solch<br />

brenzligen Situationen war es schon wichtig, dass Volker über die Feuerwehr seine Außenkontakte<br />

sorgsam pflegte, dass Kommandant Brüller am Stammtisch seinen Doppelkopf-Mitspielern<br />

widersprechen konnte. Und sich allmählich bei den Unwilligen die weniger spektakuläre Erkenntnis<br />

durchsetzte, den Fohrenbachhofern gehe es vielmehr darum, ob sie ihre Roggen- und<br />

Gerstenfelder mit Chemikalien oder mit ihrem Kompost düngen sollten. Diesen Stimmungswandel<br />

kann sich Volker <strong>als</strong> sein Verdienst anrechnen. So entpuppte sich ein weitaus harmlosere Thema<br />

zum Dauerbrenner, an dem sich auch der Pfarrer unauffällig beteiligt. Die unverheirateten Paare,<br />

die unehelichen Kinder, keiner will einen Trauschein oder den kirchlichen Segen. Wissen die<br />

Frauen überhaupt - von welchen Männern die Kinder abstammen? Machen die Gruppensex oder<br />

nicht? Das sind heute die Fragen, die die Gemüter immer aufs neue bewegen.<br />

Es war ein bedeutsamer Tag in der jungen Fohrenbachhof-Geschichte, <strong>als</strong> im Sommer<br />

1979 erstm<strong>als</strong> die Feuerwehrmannschaft plus Löschwagen auf dem alternativen Hof vorfuhr.<br />

Kommandant Brüller, im Zivilberuf Dachdecker, hatte kurzerhand eine Übung auf dem<br />

Fohrenbachhof angesagt. Irene kriegte sich gar nicht wieder ein, sie flitzte in die Diele, um den<br />

Biervorrat zu kontrollieren. "Wir müssen Bier holen", sagte sie in einem fort. Pit, ein ausgeflippter<br />

Lehrer, der gerade zu Besuch war, eilte in seinem schwarzen BMW zu Göttlinger und brachte<br />

gleich fünf Kisten mit. Keiner wusste so recht, wie viel die Feuerwehr wegschluckt. Aber nach<br />

Volkers Alkoholpegel zu urteilen, den er stets nach den Übungen hatte, schienen schon fünf Kisten<br />

arg knapp bemessen. Hilde, die ein wenig geschlafen hatte, kam verblüfft in die Küche: "Mensch,<br />

gut mal, die Feuerwehr ist da. Das hätte ich ja nicht gedacht." Selbst Erich, einer der Ruhigsten,<br />

hoppelte etwas schneller über den Hof. "Bier reicht nicht, wir müssen auch Stullen anbieten",<br />

befand er. Die plötzliche Hektik schien verständlich. Letztlich ging es ja auch gar nicht ums<br />

Löschen, sondern einfach darum, dass die Kommune sich von den Einheimischen akzeptiert fühlte<br />

- quasi durch Kommandant Brüller und seine Mannen übermittelt.<br />

Nun standen die Feuerwehrleute unten am Weiher und spritzten mit einem Mords-atü<br />

Wasserfontänen auf die nahestehenden Bäume. Volker blieb auffällig in Brüllers Nähe, ein bisschen<br />

wie sein persönlicher Referent. Hilde, die ihn beobachtete, konnte mit seinem Verhalten wenig<br />

anfangen. "Merkwürdig", dachte sie, "in Frankfurt an der Uni, da hatte Volker mit seinen<br />

Vorgesetzten ständig Autoritätsprobleme. Aber wenn der Feuerwehr-Typ ihm etwas sagt, dann<br />

springt er." Die Übung dauerte keine halbe Stunde. Dafür zog sich die Biertrinkerei bis weit in die<br />

Nacht hinein. Und tatsächlich war es eine der milden und sternklaren Sommernächte unter dem<br />

Birnbaum, von denen die betonerfahrenen Städter schwärmen, wenn sie ans Landleben denken.<br />

Die Feuerwehr-Mannen und die Landkommune saßen im Kreis, Kommandant Brüller war ihr<br />

Mittelpunkt. Bierlallend erzählt er eine Schote nach der andern, auf nNiederbayerisch versteht sich.<br />

Irene, Hilde und Erich lachten meist recht gequält, denn trotz vierjähriger Fohrenbach-Erfahrung<br />

verstanden sie den Kommandanten nicht. Volker, der am Lagerfeuer herum kokelte, hatte es da<br />

einfacher. Als der Kommandant "etwas Alternatives" sehen wollte, holte Volker den alternativen<br />

Esel Nelle aus dem Stall. Brüller glaubte ein Witzbold zu sein und setzte sich in seiner Feuerwehr-<br />

Montur auf Nelle. Nicht einmal seine Offiziersmütze nahm er ab. Erst ritt er gemächlich, ganz<br />

souverän, doch dann wurde Nelle zusehends schneller. Alles brüllte und Kommandant Brüller lag<br />

auf dem Acker ... Rodeo auf Niederbayerisch<br />

409


Nur Ute missfiel die Zweckentfremdung ihrer Nelle. Ute musste lange drum kämpfen, bis<br />

sie in der Gruppe den Ankauf von Nelle durchgesetzt hatte. Sie verbindet ein ganz zärtliches,<br />

beinahe mütterliches Gefühl mit dem Esel. An Regentagen kann sie Stunden mit ihrer Nelle im<br />

Stall verbringen. Auf den ausgiebigen Spaziergängen ist Nelle ihr treuester Begleiter. Ute stieß erst<br />

später auf die Fohrenbach-Landkommune. Sie kommt aus Berlin, ihren Lehrerberuf hat sie ebenso<br />

aufgegeben wie ihren Mann. Nikolaus, ihren 15jährigen Sohn nahm sie allerdings mit auf den Hof.<br />

Er ist ein gebeutelter Junge, der wenig Fröhlichkeit verbreitet. Nikolaus würde lieber in der Stadt<br />

leben <strong>als</strong> zwischen Hühnern und Misthaufen. Aber was soll er machen? Keiner außer Ute will ihn<br />

für längere Zeit haben. So bleibt ihm nur der Fohrenbachhof. Ute, ein wenig rund und pummelig,<br />

lebt in s ich gekehrt, schweigsam und anspruchslos. Ganz selten kommt es vor, dass sie mal<br />

explodiert. Wenn, dann aber unüberhörbar -Tassen und Wurstsalat flogen schon aus dem<br />

Küchenfenster.<br />

Vier Jahre Fohrenbachhof, das war für die Gruppe keine Spielerei. Das war überaus harte<br />

körperliche Arbeit, oft acht bis zehn Stunden am Tag, bei einem durchschnittlichen Stundenlohn<br />

von 1,90 Mark. Heute kann jeder ein Zimmer sein eigen nennen, die Felder werden pünktlich<br />

bestellt, die Ställe sind intakt, Kirschen und Erdbeeren füllen die Weckgläser, eine kleine<br />

Getreidemühle fürs Brotmachen wurde angeschafft, eine Käsemolkerei ist im Entstehen,<br />

Fohrenbachhof-Kartoffeln sind inzwischen in der Frankfurter Sponti-Szene zum Begriff geworden.<br />

Aber was für Erich, Irene, Hilde und Volker noch viel wesentlicher ist, sie sind<br />

zusammengeblieben, keiner stieg aus dem Ausstieg wieder aus. Ganz im Gegenteil: Während in<br />

anderen Landkommunen die Fluktuation zum größten Problem wird, wächst der Fohrenbachhof<br />

um Leute, die auch bleiben möchten.<br />

Vor zwei Jahren kamen John und Angela mit ihrer kleinen Tochter Rebecca. Benjamin,<br />

ihr jüngstes Kind, wurde ein Jahr später geboren. John bezeichnet den Fohrenbachhof <strong>als</strong> "die<br />

beste Landkomune", die er bisher erlebt hat. "Wir wollen hier unseren Weg zwischen bürgerlicher<br />

Anpassung und den neuen Heilslehren aus Poona suchen", erklärt John. Er muss es wissen. Denn<br />

John ist der typische Freak, unverbildet, welterfahren, launisch und putzmunter. Niederbayern hat<br />

John jedenfalls seine Handschrift schon aufgedrückt. In zwölf Landkommunen zog er Gemäuer<br />

hoch, baute Schornsteine und verputzte Wände, "Abends", sagt John, "da hab ich das Gefühl, dass<br />

ich was ganz Wertvolles für die Gemeinschaft getan habe, weil sich jeder über meine Mauern freut,<br />

und ich kriege so meine Selbstbestätigung." John ist Engländer und wuchs in Leeds auf. Als<br />

Schiffsfunker fuhr er Jahre zur See. Der Endpunkt für ihn war eine stürmische Nacht vor Island.<br />

Achtzehn Stunden hatte er schon gearbeitet, da sollte er auf Weisung des Kapitäns noch eine<br />

stotternde Maschine reparieren. Er hat es gemacht, hinter aber gekündigt. "Viele alte Werte sind in<br />

diesem Moment einfach aus der Luke geflogen. Ich habe mich gefragt, warum, was soll das?"<br />

John holte seine gesparten 2.000 Pfund Sterling vom Konto und ist durch Europa bis<br />

nach Indien getrampt. Er hat gesoffen, LSD geschluckt, gedealt, gevögelt, gestohlen und seine<br />

Mundharmonika gespielt. John über seine Rauschgift-Phase: "Ich habe so viel erlebt. Dreckiges<br />

und auch Gutes in der Zeit. Das war eine totale Hirnwäsche, bis ich selber gemerkt habe, dass ich<br />

neue Werte in meinem Leben brauchte. Es war chaotisch, ich bin halb verrückt geworden im<br />

bürgerlichen Sinn. Da waren Zeiten, da wusste ich einfach nicht mehr, was richtig oder f<strong>als</strong>ch war.<br />

Ich konnte nur schwer antworten, wenn mich jemand was fragte. Ich konnte nur sagen: "You<br />

know, do what you wanna do, man!" So war das.<br />

In Italien saß John vier Monate wegen illegalen Drogenbesitzes im Knast, dann wurde er<br />

ohne Gerichtsverhandlung abgeschoben. Über Griechenland ging er in den Vorderen Orient. Ich<br />

410


wollte immer schon nach Afghanistan. In Istanbul habe ich einen deutschen Fixer getroffen. Wir<br />

sind zusammen durch die Türkei , durch den Iran bis nach Afghanistan getrampt. Ich war in Herat,<br />

das ist gleich die erste größere Stadt, wenn du rüberkommst. Solltest du dir ruhig merken. Ich war<br />

da aber ganz entsetzlich magenkrank mit hohem Fieber. Zwei Tage war ich schlimm beieinander.<br />

Ich konnte nicht schlafen, es war sehr heiß im August. Und zu meinem Freund habe ich gesagt,<br />

komm, gib mir einfach einen Schuss. Irgend etwas, was mich ein bisschen betäuben könnte. Weil<br />

ich Haschisch nicht mehr riechen konnte. Ich habe ihn beschwatzt, der wollte erst nicht. Na ja,<br />

dann doch. Und die Wirkung, die hat mir gut gefallen. Ich war immer an Drogen interessiert. Und<br />

da unten ist es optimal mit den Drogen. Ich hatte Geld und konnte in der Apotheke seelenruhig<br />

einkaufen. Fünf Monate später habe ich 2.000 Tabletten zurückgeschmuggelt, in einer kleinen<br />

metallenen Zigarrenkiste. An der Grenze habe ich die einfach in den Arsch gesteckt. Ungefähr die<br />

Hälfte konnte ich für prima Geld in Frankfurt und Darmstadt verkaufen."<br />

Ein Schock-Erlebnis brachte John nach zwei Jahren Drogenkonsum allmählich von der<br />

Fixe runter: "In Amsterdam, wo ich immer eingekauft habe, war ich auf einem Hausboot, da war<br />

immer en Haufen Fixer. Eines Abends bin ich da hingegangen, und da kratzte vor meinen Augen<br />

einer ab. Die haben diskutiert, was sie mit ihm machen sollen. Da war kein Gefühl mehr, da war<br />

nichts mehr drin, nur eine eiskalte Junkey-Mentalität. So ein Arschloch, dachten die, warum muss<br />

er ausgerechnet hier abkratzen. Werfen wir ihn einfach in den Kanal. Polizei können wir jetzt nicht<br />

rufen, ist zu viel Stoff an Bord."<br />

Nach dieser Uraufführung packte John Angst und Panik, mal selbst irgendwann<br />

abzunibbeln und ähnlich zu verrecken. Er flog von Amsterdam nach England zu seinen Eltern und<br />

ließ sich "trockenlegen", wie er es nennt. Er brauchte Monate - aber John schaffte es.<br />

Zurück in Deutschland, lernte John in einer Münchner Wohngemeinschaft seine Angela<br />

kennen. Es waren bewegte Zeiten, und John dachte immer nur an das Heute, "weil morgen ein<br />

ganz anderer Tag beginnt". Denn nichts sei von Dauer, auch nicht die Zweier-Beziehungen.<br />

Angela, noch verheiratet, liebte zwar John, schlief aber noch mit ihrem Mann. Es fiel ihr unendlich<br />

schwer, sich total von ihm zu lösen. Das wiederum trieb John "fast zum Wahnsinn". Er ist ein<br />

Freak, den die Eifersucht ab und zu böse erwischt. Aber es ist ihm wohl zuzuschreiben, dass<br />

Angela eines Tages aus dem beziehungslosen Allerlei raus wollte und nur mit ihrem John aufs Land<br />

zog. Dam<strong>als</strong> in der Stadt kam es keinem in den Sinn, auch nur einen Satz über Kinder zu verlieren,<br />

selbst in den sinnlichsten Momenten nicht. Auf dem Lande dagegen war der Wunsch auf einmal<br />

da, er wurde immer stärker und kommt auch nach zwei Kindern immer wieder.<br />

John sagt, ohne die Kinder könne er heute nicht mehr sein. Wenn John am Sonntag zum<br />

Weizenbier-Frühschoppen zu Göttlinger geht, nimmt er seine kleine Rebecca, kurz Beckie genannt,<br />

natürlich mit. Sie sitzt dann auf seinem Schoß und schlabbert Eis, manchmal pinkelt sie ihrem<br />

Vater auch auf die Hose. "Das macht nichts", meint John, "das trocknet wieder". und wischt mit<br />

seinem Hemdsärmel die Eisreste von Beckies Schnute.<br />

Es gibt wohl keinen auf dem Hof, der John nicht mag. Das liegt aber nicht nur an seiner<br />

handwerklichen Begabung, die die Intellektuellen bewundern, oder an seinem exzellenten<br />

Hanfanbau, von dem alle genüsslich profitieren. Vielmehr hat John eine natürlich Art, mit sich und<br />

seinen Problemen umzugehen. Er hat keine Komplexe, während die anderen schon ihr Dasein<br />

manchmal <strong>als</strong> Komplex empfinden. So kann John ungeniert über seinen psychischen Schutt reden,<br />

den er noch nicht abgetragen hat. Eine Offenheit, um die ihn die Übrigen insgeheim beneiden, weil<br />

sie nur unentwegt darüber theoretisieren, in Wirklichkeit aber sorgsam darauf achten, dass ihr<br />

"Müll" hermetisch verschlossen bleibt.<br />

411


Johns größtes Problem ist es, wenn er aus irgendeinem nichtigen Anlass melodramatisch<br />

wird. Wenn Hof-Besucher sich zum Beispiel über die britischen Gewerkschaften lustig machen<br />

und bei solcher Gelegenheit auch noch schwer gebechert wird. Dann flippt John regelrecht weg.<br />

Nicht etwa, dass er sich mit den Besuchern anlegt und denen eine scheuert, "viel schlimmer", sagt<br />

John, "dann hau ich der Angela eins in die Fresse, dabei hat sie keinen Pieps gesagt. Blöd ist nur",<br />

fährt er fort, "die Angela ist kein Prügeltyp, die schlägt nicht zurück. Dann wären wir ja quitt. Aber<br />

Angela sagt nur, sie würde das nicht mehr lange aushalten. Gott sei Dank, schon ein halbes Jahr ist<br />

nichts mehr passiert."<br />

John glaubt auch zu wissen, woher seine unkontrollierbaren Aggressionsschübe rühren. In<br />

gewissen Abständen wird John aus dem alternativen Lebenszusammenhang herausgerissen. Das<br />

macht ihn missmutig und sauer. Entweder verdingt er sich in Fabriken am Fließband, fährt mit<br />

einem Fischkutter von Cuxhaven aus drei Monate zur See oder er ist mit Maurerkelle und<br />

Wasserwaage unterwegs. John muss Geld verdienen, sich <strong>als</strong> Arbeitskraft verkaufen. Trotz<br />

Weizenanbau, Tierhaltung und Kartoffelernte, trotz minimaler Ansprüche überhaupt - eines blieb<br />

für die Landkommune bislang ein unerreichbarer Traum: völlig autark von der deutschen<br />

Wirklichkeit existieren zu können, den alternativen Lebenskontext strikt von der kapitalistischen<br />

Welt zu trennen.<br />

Der Hof mit seinen zwei Hektar Anbaufläche ist zu klein, ihr landwirtschaftliches<br />

Programm gleicht einem Kolonialwarenladen. Während professionelle Bauern sich immer mehr<br />

mit der Elektronik befassen und nur noch die Monokultur ihr Überleben sichert, nimmt sich der<br />

Fohrenbachhof wie eine romantische Reminiszenz aus dem vergangenen Jahrhundert aus. Nun war<br />

es ja auch nicht das erklärte Ziel, Landwirtschaft unter ökonomischen Gesichtspunkten zu<br />

betreiben. Sie soll eher die Selbstversorgung sichern. "Basisbedürfnisse", nennt Erich das, "ohne<br />

sich auf Geld- und Marktbeziehungen einlassen zu müssen."<br />

Er selbst weiß allzu gut, dass seine Darstellung geschönt ist. Jeder muss monatlich 500<br />

Mark in den Hof reinbuttern. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Gut, John geht jobben, Erwin,<br />

ein anderer Freak, bastelt griechischen Schmuck und zieht damit durch die Städte, Irene übersetzt<br />

nebenbei noch aus dem Englischen, die Kopfarbeiter Erich und Volker publizieren einiges über<br />

alternative Philosophien. Aber die anderen? Richtig, sie sind weiter denn je von jedweder<br />

Marktbeziehung entfernt. Doch waren sie gleichzeitig noch nie derart von einer anderen Institution<br />

abhängig, die bekanntlich Staat heißt: Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe erhalten jene,<br />

die ständig auf dem Fohrenbachhof leben. Ein Zustand, mit dem keiner zufrieden ist und der wohl<br />

auch kaum von Dauer sein dürfte. Ganz davon abgesehen, dass die ewigen Behördengänge, das<br />

Sich-Ausfragen-Lassen, sich und fremden Leuten Rechenschaft abzulegen, Beklemmungen<br />

hervorrufen, die alles andere <strong>als</strong> alternativ sind. "Was sollen wir machen", fragt Volker. "Wir haben<br />

uns in eine Gegend mit teurem Ackerland reingesetzt, wir haben selber viel zu wenig Land und mit<br />

unserem Projekt bald die Grenze erreicht."<br />

Die ursprüngliche Idee, die Natur <strong>als</strong> Instrumentarium gegen den westdeutschen<br />

Kapitalismus und seine Abhängigkeiten einzusetzen, funktioniert auf dem Fohrenbachhof nur<br />

bedingt. Gut, es gäbe Möglichkeiten, dieses Dilemma zu verringern. Klein Fleisch mehr zu essen,<br />

Vegetarier zu werden. Tatsächlich haben viele Landkommunen Fleisch, Kaffee, Bier etc. abgesetzt,<br />

um ihre Haushaltskasse zu entlassen. Und auf Fleischkonsum zu verzichten, hätte noch einen<br />

weiteren Vorteil. Man würde mit dem Grundprinzip, das eigentlich auch ihres ist, -kein Leben zu<br />

töten, um selbst zu leben -, endlich übereinstimmen. Dennoch, die Diskussion darüber blieb<br />

widersprüchlich und halbherzig. Im Grunde genommen wollte keiner von seinem saftigen<br />

412


Schnitzel oder Steak lassen. Für John wäre so etwas unvorstellbar. Wenn er vom Bau kommt und<br />

müsste mit einer Kartoffelsuppe und Kräutertee vorlieb nehmen! Schon ein Bier-Stopp würde John<br />

zu "grundsätzlichen Überlegungen" veranlassen.<br />

Das alternative Leben auf dem Lande, die großen Erwartungen, die leisen<br />

Enttäuschungen - es wäre pure Illusion anzunehmen, dass Romantik heile Welt bedeutet, dass<br />

Genügsamkeit Grundwidersprüche aufhebt, dass Abgeschiedenheit von der Zivilisation<br />

gesellschaftliche Konflikte dieser Tage zudeckt. Sicherlich leben die Mitglieder der Fohrenbachhof-<br />

Kommune nicht mehr so fremdbestimmt, so perspektivlos, so dumpf vor sich hin wie viele andere<br />

in diesem Land. In der Tat, ein Stück Selbstverwirklichung. Aber auch die Fohrenbachhofer<br />

kämpfen mit ihren Ungereimtheiten, die sie manchmal bis ins Unerträgliche belasten. Eine solche<br />

Ungereimtheit kennzeichnet ihr Verhältnis zum Besitz. Eigentum im bürgerlichen Sinne wurde<br />

weitgehend abgeschafft.<br />

Von den acht Leutchen könnte jeder im Grundbuch stehen, jeder hat eine Vollmacht über<br />

das gemeinsame Konto, auf das sie selber ihre 500 Mark einzahlen und ihre Erlöse aus den<br />

landwirtschaftlichen Produkten überweisen lassen. Besitz existierte eigentlich nur <strong>als</strong><br />

Zweierbeziehung zwischen Irene und Erich, Hilde und Volker, Angela und John. Auch ihre Kinder<br />

kannten kein eigenes, sondern nur noch Gemeinschaftsspielzeug. Das bürgerliche Überbleibsel der<br />

festen Pärchen erklärt sich aus den teils miserablen, teils grotesken Erfahrungen, die andere<br />

Landkommunen mit ihrer Gruppenpromiskuität gemacht haben. Sie ist vielerorts der gefährlichste<br />

Sprengsatz, weil dabei immer iirgendjemandauf der Strecke bleibt, der dann früher oder später das<br />

Weite sucht.<br />

Erich, Irene, Hilde und Volker schien aber das gemeinsame Projekt zu wichtig, <strong>als</strong> dass sie<br />

sich auf derlei possierliche Vabanque-Spielchen einlassen wollten. Deshalb verständigten sie sich zu<br />

Anfang allesamt auf ein sogenanntes Inzest-Tabu in ihrer Großfamilie. Das bedeutet: striktes<br />

Verbot für jeden, mit dem Partner des anderen ins Bett zu gehen. Wer das Fremde will, solle nach<br />

Frankfurt oder München fahren zu einem Mann oder einer Frau, die mit dem Hof nichts zu tun<br />

haben. Das ging auch vier Jahre gut, wenngleich Volker in den letzten zwölf Monaten zusehends<br />

häufiger ganz demonstrativ auf Wilhelm Reich verwies. Volkers Motto: "Lest Reich und handelt<br />

danach." Was soviel heißt: gerade in einer Landkommune, in einer Gruppe, die sich schon über<br />

Jahre kennt, gemeinsam arbeitet, gemeinsam Freizeit verbringt, sollte es doch möglich sein, sich<br />

auch in dieser Lust-Frage vom "kleinbürgerlichen Sumpf" zu befreien und damit angstfrei seine<br />

Gefühle, sein sexuelles Verlangen mit verschiedenen Partnern auszuleben. Das klingt fantastisch<br />

und ist es sicherlich auch, aber doch vor allem für jene, die genügend Ichstärke besitzen, um<br />

Verschmähung, Liebesentzug, Demütigung ertragen zu können und selbst bei der plastischen<br />

Vorstellung, "meine Hilde ist gerade zu Erwin ins Bett gekrochen", weiter in der guten Stube<br />

hocken zu bleiben und seelenruhig am alternativen Wein zu nippeln.<br />

Wer das kann, der sollte nicht nur Wilhelm Reich lesen, er sollte in der Tat auch danach<br />

handeln. Und es ist ja auch "verdammt schwer", befindet Irene, "nicht mal mit anderen nachts<br />

zusammen sein zu dürfen. Jeder denkt dran, keiner tut's. Du sitzt abends mit Volker unterm<br />

Birnbaum, Lagerfeuer und so. Erich ist schon lange im Bett, du verbringst da wahnsinnig schöne<br />

Stunden und dann trennen sich beider Wege. Das ist doch irgendwie bescheuert." Dabei hat Irene<br />

schon tagsüber Schwierigkeiten. Etwa, wenn sie mit Volker den Weidezaun repariert. Irene:<br />

"Komisch, wir haben uns plötzlich nicht mehr wie normal angeschaut. Das waren Blicke, die den<br />

anderen auszogen, sagenhaft war das."<br />

413


So sagenhaft war es dann doch wieder nicht, <strong>als</strong> Volker und Irene am Hofabend unter<br />

dem Tagungsordnungspunkt "Verschiedenes" der erstaunten Kommune berichteten, dass sie in<br />

Frankfurt, wohin sie der Kartoffeltransport führte, miteinander geschlafen hätten, ja, dass sie es<br />

nicht einmal bereuten, "weil es wirklich wahnsinnig lustvoll und schön gewesen ist." (Irene). Die<br />

Genossen in der Frankfurter Wohngemeinschaft hätte das ganz toll gefunden, prima, sollen die<br />

gesagt haben, dass so etwas bei euch möglich ist. Die Reaktion der Fohrenbach-Kommune<br />

hingegen war arg betreten. Erich kriegte zunächst keinen Ton raus und saß kauzig in seiner Ecke.<br />

Hilde bekam einen Heulkrampf, John meinte, "die haben einen echten Vogel", Pit, der Besucher,<br />

prophezeite, Volker werde sich hier auf Kosten anderer eine regelrechte dörfliche Vielweiberei<br />

aufbauen. Volker verstieg sich in eine "Vorwärtsstrategie", wie er später zugab. "Ich habe der Irene<br />

ja schon zwei Mal angeboten, dass ich ihr das nächste Kind mache. Gut, das erste ist von Erich, das<br />

zweite kommt aber von mir." Und Irene bemerkte dann noch: "Ich finde es gar nicht witzig, wenn<br />

ich sehe, welche kleinbürgerlichen Gefühle sich bei euch wieder eingeschlichen haben." –<br />

Ausnahme-Zustände auf dem Fohrenbachhof.<br />

Ausgerechnet zu jener Zeit, in der über den Zweier-Besitz radikaler nachgedacht wurde<br />

<strong>als</strong> je zuvor, <strong>als</strong> alle in sich gingen und überlegten, ob man an diesem "Besitzverhältnis" nicht doch<br />

etwas ändern müsse, um die Gruppe <strong>als</strong> Ganzes nicht zu gefährden, in dieser Phase wurde auf einer<br />

anderen Ebene der Besitzgedanke Mein und Dein wieder eingeführt. Die Kinder stritten sich<br />

laufend um die wenigen Spielsachen. Jedes wollte Besitz ergreifen. Hilde thematisierte das Problem:<br />

"Das sind Widersprüche", gesteht Hilde, "die wir hier auf dem Hof nicht mehr lösen. Vielleicht in<br />

einem größeren alternativen Zusammenhang, der für uns nur in Italien sein kann."<br />

Vielleicht in zwei, vielleicht auch erst in fünf Jahren will die Landkommune nach Italien<br />

ziehen, möglichst mit einer noch größeren Gruppe ein altes Dorf aufkaufen. Volker erklärt: "Wenn<br />

wir noch mehr Kinder kriegen, wird der Fohrenbachhof wirklich zu klein, und in Italien wird dann<br />

auch keiner mehr auf die Sozialhilfe angewiesen sein, weil wir da mit Sicherheit genügend Land<br />

kaufen können." Aber eines steht unumstößlich fest: sie wollen erst auswandern, wenn sie gute<br />

Freaks gefunden haben, die ihren Hof im alternativen Sinn weiterführen. Zwei von ihnen könnten<br />

Heiner und Jochen sein. Zwei 17jährige Schüler aus Geesthacht. Sie kamen eines Tages mitten in<br />

der Schulzeit von Hamburg runter getrampt. Heiner und Jochen hatten "die Schnauze gestrichen<br />

voll, von der Schule, von den Lehrern, von ihrem Elternhaus".<br />

Aber ursprünglich wollten sie nur vierzehn Tage ausspannen. Daraus wurden sechs<br />

Wochen. Während ihre Klassenkameraden Tag für Tag büffelten, arbeitete Jochen an der<br />

Kettensäge, Heiner fuhr Trecker. Viel von der Zukunft erwarten die beiden ohnehin nicht. Das<br />

Abitur soll noch gemacht werden. Aber dann? Achselzucken. "Eine Landkommune", meint<br />

Jochen, "das ist schon eine gute Sache. Hier wirst du nicht ständig angeschissen, musst nicht<br />

laufend irgendeinen sinnlosen Kram erledigen, hier bringste echt deinen Kopf mit deinem Bauch<br />

zusammen." Und auf Zweier-Beziehungen angesprochen glaubt Heiner, "da braucht sich keiner<br />

große Sorgen zu machen, das lösen wir auf unsere Art."<br />

414


1981<br />

Peepshow und Bürgerkrieg – die Frankfurter Buchmesse<br />

Am Strand von Tunix<br />

Puma und Adidas – Krieg der Tröpfe<br />

Jugendcliquen in Deutschland<br />

415


PEEPSHOW UND BÜRGERKRIEG - RÜCKBLICK AUF EINEN<br />

PREMIERENABEND DER FRANKFURTER BUCHMESSE<br />

Die Frankfurter Lese-Präsentation ist mit über 7.000 Ausstellern und 280.000<br />

Besuchern die wichtigste und größte Buchmesse der Welt – Jahrein , jahraus das<br />

literarisch-gesellschaftliche Großereignis in Deutschland; ein Jahrmarkt aus Showbiz und<br />

Eitelkeiten. - Man sagt, Verleger Vito von Eichborn habe nicht nur eine Bierflasche <strong>als</strong><br />

Bettvorleger.<br />

CULT, Hamburg vom 1. November 1981<br />

Da stehen sie nun auf der Bühne, bedeutungsschwer, aber immerhin ohne<br />

Zeremonienmeister. Zurück aus dem fernen Libanon - die bundesdeutsche Heimat hat sie wieder.<br />

Hanna Schygulla, ihre Lippen so breit geöffnet, dass der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter<br />

in der achten Reihe Kastrationsängste befallen. Einen halben Schritt zurück präsentiert sich Bruno<br />

Ganz, der manierliche Selbstzweifler. Er schaut so sensibel und weltfremd drein, dass die Seufzer<br />

der "Konkret"-Kolumnistin Peggy Parnass, "Bruno, oh Bruno", schon unterkühlt wirken. Allen<br />

voran turnt der angestrengte Volker Schlöndorff. Träte er <strong>als</strong> Situationskomiker auf, ihm wäre der<br />

Stibitz-Slogan "zack-zack, ein Huhn, zwei Gänse" sicher. Da aber Herr Schlöndorff etwas mit Film<br />

zu tun hat, lässt sich seine Gestik auch in "zack-zack, ein Bambi, zwei Oscars" umdeuten.<br />

Wir sind nicht etwa bei den Glanz- und Glimmer-Festiv<strong>als</strong> in Cannes oder gar Venedig.<br />

Wir hocken betonversunken inmitten von Frankfurts City im "Elysee-Cinema", eingekeilt zwischen<br />

Würstchenbuden, Peepshows und Billardtischen. Dieses "Elysee"-Kino hat soeben die<br />

Weltpremiere von Schlöndorffs "Fälschung" hinter sich gebracht. Einer Verfilmung, die der<br />

literarischen Vernichtung des gleichnamigen Romans von Nicolas Born (*1937 +1979)<br />

gleichkommt, der 1979 erschien.<br />

Schlöndorffs Weltpremiere zählte zum Auftakt der diesjährigen Buchmesse<br />

gewissermaßen <strong>als</strong> eine Große-Koalitions-Veranstaltung zwischen dem Rowohlt Verlag sowie den<br />

Kino-Firmen United Artists und Bioskop Film sozusagen.<br />

Wenn Egomanie tatsächlich ein unverkennbarer Ausdruck dieser Jahre sein sollte, dann in<br />

diesem exklusiven Kino-Rund. Es sind immer wieder dieselben Figuren - Leute aus Film-Dunst,<br />

Mediendünkel, die überall und nirgendwo dabei sein und gesehen werden wollen, die keine<br />

Milchkanne am Wegesrand stehen lassen. Es sind berufsgeübte Wichtigtuer dieser achtziger Jahre,<br />

die das Privileg genießen, sich unentwegt selbst zu beklatschen oder auch zu bemitleiden und sich<br />

der Aufmerksamkeit ihres Publikums auch noch sicher sein dürfen. Bei derlei Affektiertheit<br />

scheint’s austauschbar, wer da gerade auf der Bühne den Entertainer abgibt, solange es im<br />

Inzuchtladen nicht allzu lasziv kracht und der progressive Anstrich in der Außenausstattung noch<br />

ein Quäntchen Zugkraft verheißt.<br />

Da versteht es sich von selbst, dass Dezenz längst verpönt, zaghafter Zweifel mittlerweile<br />

belächelt wird. Was macht das schon, dass Literatur zur filmischen Arbeitsfolie verkommt, dass<br />

Nicolas Borns (*1937+1979) eigentliche Reflexion über den heuchlerischen Zustand des deutschen<br />

Scheckbuch-Journalismus - aufgezeigt an einem stern-Reporter im Libanon - bis zur<br />

Unkenntlichkeit zurechtgebogen wird. Dafür jagt auf Schlöndorffs Leinwand eine Attraktion die<br />

andere ästhetisch und showbesessen. Alle sechs Sekunden ein Irrsinnsbild, aus allen Ecken und<br />

Enden wird geschossen, die "Holiday-Inn"-Ruine schluckt fünftausend Liter Sprit, Schlöndorffs<br />

416


Pyro-Szenario brennt lichterloh. Bürgerkrieg in Beirut, Schlöndorff der Held im Libanon; und wir<br />

sind alle mittendrin, Mann oh Mann.<br />

"Beirut <strong>als</strong> Science-Fiction für die Städte der Bundesrepublik", sagt Herr Schlöndorff<br />

weitsichtig, "fantastisch, hautnah, atemberaubend", sagt sein Publikum. Ein Claqueur kommt selten<br />

allein. Schon gar nicht ins Nobelhotel "Frankfurter Hof", wo nach dem Film-Debüt die Party der<br />

selbst gezüchteten Eitelkeiten und Extravaganzen beginnt. Aber zunächst muss die "Elysee"-<br />

Gesellschaft erst einmal raus auf die Straße. Der Kintoppversion vom Bürgerkrieg in Beirut stellt<br />

sich zum Kino ein bulliger Wasserwerfer entgegen. "Mammut" wacht erst wenige Stunden auf dem<br />

Vorplatz.<br />

Zuvor war er an der Startbahn West-Front im Einsatz. Dort draußen am Flughafen, wo<br />

sich Tausende von Menschen Baum um Baum, Furche um Furche gegen den bürgerkriegsnahen<br />

Polizeiaufmarsch stemmten. Nunmehr soll "Mammut" im Rahmen der freiheitlich-demokratischen<br />

Grundordnung alles verteidigen, was mit Büchern und Filmweltpremieren zusammenhängt. Vor<br />

der Alten Oper, jenem Parade-Neubau wiedererstarkten CDU-Bewusstseins, zieht eine<br />

Hundertschaft in Stellung. In verdeckten Seitengassen lauern mobile Einsatztrupps auf ihren<br />

gepanzerten Fahrzeugen sprungbereit. Hubschrauber kreisen über der Innenstadt, irgendwo heulen<br />

Polizeisirenen auf.<br />

Schnellstraßen, Hochhäuser, Abgase und Smogalarm. Trinkwasser, das teilweise<br />

ungenießbar ist, Flüsse, die zu Kloaken vergammeln. In den vergangenen 30 Jahren wurden bereits<br />

3.700 Hektar Wald, das entspricht rund sechstausend Fußballplätzen, für Wachstum und<br />

Wohlstand abgeholzt. Über drei Millionen Bäume fallen der Startbahn 18 des Flughafens zum<br />

Opfer.<br />

Der 21jährige Alexander, ein ehemaliger Theologiestudent, hockt draußen im Wald vor<br />

einer provisorischen Holzkapelle, die für ökumenische Gottesdienste hergerichtet wurde. Er liest in<br />

dem Buch "Zärtlichkeit und Schmerz". Eine gelassene und zugleich doch sehr angespannte<br />

Atmosphäre durchdringt den Wald, so, <strong>als</strong> ob es zwischen technologischem Fortschritt und<br />

Rückbesinnung auf die Urwüchsigkeit der Lebenslust keine Zwischentöne mehr gäbe. In Minuten-<br />

Abständen dröhnen im Tiefflug Jumbos und Airbusse aus anderen Kontinenten ihrer Landebahn<br />

entgehen.<br />

Unterdessen hat Schlöndorffs Premierengesellschaft direkten Weges die Edel-Herberge<br />

namens "Frankfurter Hof" erreicht. Gott sei Dank - Beirut ist fern und war nur im Kino,<br />

Frankfurt, die Rhein-Main-Metropole, l ist zwar nah, aber nicht hautnah.<br />

Salon 14, Film, Flanell und Fummel, Akkuratesse im Gesicht und am Zwirn, Aigner, Yves<br />

Saint Laurent, Christian Dior, Coco Chanel - Kameras surren, Blitzlichter blitzen. Ob nun links<br />

oder rechts gestrickt, ob in der Hierarchie unten oder oben, einer wie der andere pustet sich in<br />

Siegerpose auf. Deutschland kennt nur Sieger. Und fortwährend fliegen flüchtige Blicke zum<br />

Eingang, wer da noch alles unverhofft kommen mag. Herein rauscht Alice Schwarzer mit ihrer<br />

Damenflotte. Enthusiastisch durchkämmt der Emma-Trupp die Menge. Hier ein Küsschen, dort<br />

ein Küsschen, "toll Schwester, dich hier wiederzusehen, vor allem, dass du dich unter diese<br />

"ekeligen Chauvis traust". Frauen-Avantgarde in Luxus-Hotels. Ganz im Gegensatz dazu der<br />

schriftstellernde Burkhard Driest. In Wolfsmanier kreist er im Salon, um im rechten Augenblick<br />

den richtigen Damen sein im Knast einstudiertes Standardliedchen vorzujaulen: "Bist du einsam<br />

heut' Nacht".<br />

417


Nur das Äußere , das "Outfit" im neudeutschen Sprachgebrauch dieser Tage, aus<br />

Plastiktüte samt baumelnden Männer-Täschchen eines nicht bestellten Herren, will so gar nicht ins<br />

erlesene Ambiente passen. Eine Ausnahme-Figur kämpft sich da mit Ellenbogen „zur Tankstelle“<br />

vor. Mit fettig-abgekämpften Haar, unrasiert und rot unterlaufenen Augen feiert Jungverleger Vito<br />

von Eichborn im "Frankfurter Hof" eine Premiere, sein persönliches Verlagsdebüt in diesem<br />

Gründungsjahr. Dabei ist er ganz allein - mal mir nichts, dir nichts - an die Bar gekommen. Übers<br />

lachen, wohnen, essen, vögeln, über Huren, Puffs, Ganoven mit oder ohne schmutzigen Sprüchen<br />

sucht er sein Verlagsprofil kommender Jahre pointiert zu schärfen. Ausnahmslos alle aus der<br />

feingeistigen Damenwelt geben sich, spielen verdutzt. Die aus Jamaika herbeigeeilte Jung-Filmerin<br />

Rechs Jungmann-Spree gackert emphatisch: "Hier tut nun wirklich etwas arg weh". - "Ach",<br />

ergänzt die Grünen-Politikerin Petra Kelly (*1947 +1992): "Vito, "Du bist immer besoffen, das<br />

macht mich so betroffen". – Verleger-Karrieren dieser Tage.<br />

Szenenwechsel: Jürgen, ganz auf New-Wave geziert, findet Flirten mit derlei Frauen<br />

langweilig, Filme öden ihn ohnehin an, Literatur reißt ihn nicht vom Hocker. Autistisch liebt er nur<br />

sich selbst, allenfalls noch seine sporadische Alltagspoesie. In den "Frankfurter Hof" kam er mit<br />

seinen Freunden, um "endlich mal wieder gut zu fressen und ordentlich einen wegzuschlucken".<br />

Folgerichtig gastiert die New-Wave-Generation nur am Buffet. Jürgen hat nicht einmal seinen<br />

Klepper-Mantel ausgezogen, der Kragen steht hoch, die Haare kurz geschoren - noch.<br />

Gegenüber den New-Wavies wirkt ein APO-OPA, ehem<strong>als</strong> ein Frankfurter<br />

Studentenrebell, wie ein verblichenes Überbleibsel aus der Requisitenkammer aus einer verlorenen<br />

Zeit, vielleicht eines verlorenen Lebens. Seit nunmehr zwei Stunden steigt der Enddreißiger<br />

Michael K. zwei Verlegern hinterher. Der APOOPA, mit schulterlangem Haar und obligatorischer<br />

Nickelbrille, will es endlich wissen. Gespannt fixiert er jede Geste der Herren, die ihm zum<br />

literarischen Durchbruch verhelfen sollen. Aber es wird ein Einbruch. Doch nur der Durchbruch<br />

zählt.<br />

Wenn für Günter Amendt die Peep-Show die "äußerste Form sexueller Verelendung" ist,<br />

dann ist die Buchmesse Deutschlands Edelbordell. Wie heißt es in Schlöndorffs verfälschter<br />

Fälschung: "Ich habe keine Angst, mein Leben zu verfälschen, nur Angst davor, dass ich es eines<br />

Tages nicht bemerke und weitermache:" Es ist 23 Uhr, Herr Schlöndorff wird zum letzten Mal<br />

abgelichtet, Herr von Eichborn erklärt noch immer Alice Schwarzer, warum er gegen "Schwanz-<br />

Abschneiderinnen" zu Felde ziehen werde - die letzten Premierengäste verlassen unbemerkt den<br />

Salon 14.<br />

418


AM STRAND VON TUNIX "BLEIBT NICHT EINSAM -<br />

BACKT GEMEINSAM"<br />

Erkundungen in einem unbekannten Land - Sozialreportage von 1945 bis heute -<br />

Deutschland 1975-1978<br />

Hg. Friedrich G. Kürbisch<br />

Verlag J.H. W. Dietz Nachf.<br />

Berlin/Bonn vom 3. September 1981<br />

Eine süddeutsche Kleinstadt am Samstagnachmittag im Spätsommer. Die engen Gassen<br />

glänzen wie blank gewienert, die Butzenscheiben in den akkurat gestrichenen Fachwerkhäusern<br />

spiegeln das Straßengeschehen wider. Von der Barockkirche signalisieren Zwiebeltürme<br />

absolutistische Tradition. Der Schlosspark erinnert an die weiträumige und symmetrische<br />

Gartenanlage Nymphenburgs in München.<br />

Im Kleinstädtchen Donaueschingen am Rande des Schwarzwaldes ist alles beschaulich<br />

und überschaubar. Kaisers Kaffee-Geschäft liegt gegenüber den Redaktionsstuben des Südkurier,<br />

der schon seit fast drei Jahrzehnten dpa-Funkbilder aus aller Welt im Schaufenster aushängt - so,<br />

<strong>als</strong> sei und bliebe das Kabel- und Satellitenfernsehen eine Fiktion für die kommenden<br />

Jahrhunderte. In der Auslage der "Hofbuchhandlung" steht Johannes Mario Simmels (*1924<br />

+2009) Bestseller "Alle Menschen sind Brüder". Nebenan offeriert der Ortspriester im Schaukasten<br />

der Diözese seinen Gläubigen eine Pilgerfahrt nach Rom. Vis-à-vis gibt's das Bistro<br />

"Schinderhannes". Vor dem Eingang stehen die Gastarbeiter im "Sonntagsstaat"; mit<br />

Blockabsätzen, enggeschnittenen Hosen, bunten Hemden und Krawatten. Sie unterhalten sich oder<br />

spielen Karten. Kaum einer nimmt Notiz von ihnen. Sie bleiben, wie immer, unter sich.<br />

Auf dem Marktplatz vorm Café Hengstler ist der Jugendtreff. Vierzehn- bis<br />

sechzehnjährige Mädchen, in Röhrenhosen, Pumps, Flatterblusen und klassisch geschnittenen<br />

Herren-Jacketts, mit Nina-Hagen-Punk-Frisur getrimmt, sitzen da, kichern und wispern<br />

untereinander; ab und zu wird auch mal eine Reggae-Disco-Platte gedrückt, solange Taschengeld<br />

oder Selbstverdientes reichen.<br />

Ein paar Tische weiter trinken die Jungs, zwischen achtzehn und zwanzig, Coca oder<br />

Bitter Lemmon. Die einen, ganz in Leder, das Haar à la James Dean kurz nach hinten gekämmt, im<br />

Nacken Lineal gerade abgestutzt, die Ohren freirasiert, die anderen mehr à la "Easy Rider", in<br />

Rohleder-Stiefeln, ausgewachsenen und buntgeflickten Jeans, die Haare wuschelig und schulterlang,<br />

die Bartstoppeln zentimeterkurz, Sonnenbrille. Bei Hengstler -ein wenig Langmut, ein Quäntchen<br />

Langeweile. Dafür geht's draußen auf dem Marktplatz um so lebhafter zu. Hondas, Suzukis und<br />

BMWs stehen dort aufgebockt. Keiner dieser röchelnden Öfen hat unter 500 Kubik. Ein paar<br />

Meter entfernt parken die Minis, Renaults und Golfs. Fast alle mit dem Rallye-Streifen und den<br />

obligaten breiten Felgen. Der Marktplatz von Donaueschingen bedeutet diesen Motorfans sowie<br />

wie einem Rallye-Fahrer die Ankunft in Monte Carlo oder einem Rennradprofi die Einfahrt ins<br />

vollbesetzte Stadion. Hier werden Fahrzeiten zwischen Donaueschingen und dem Nachbardorf<br />

Hüfingen unterboten, der Kumpel mit PS- und Kubikstärke überboten.<br />

Eigentlich ist in Donaueschingen nichts spektakulär, alles deutsch-normal. Im Ort und in<br />

der Umgebung gibt es keine Linken, keine Rauschgiftsüchtigen, keine organisierten Kernkraft-<br />

419


Gegner und auch keine Landkommunen. Die Menschen arbeiten strebsam in der Landwirtschaft,<br />

in Textil- und Uhrenfabriken, in Gießereien und in der Holzverarbeitung. Viele jobben noch nach<br />

Feierabend. So können sie ein Häuschen ihr eigen nennen, den auf Hochglanz polierten<br />

Mittelklassewagen ebenfalls. Gartenzwerge zieren den im Rasen eingelassenen Springbrunnen, die<br />

Schwarzwald-Uhr das Wohnzimmer. Und auf der Sparkasse vermehrt sich das bescheidene<br />

Guthaben stets ein wenig. Alles hat hier seine wohlerträumte Ordnung und läuft in den<br />

vorgegebenen Bahnen.<br />

Auch das Volksfest an diesem Wochenende. Der Spielmannzug intoniert die Polka "Drei<br />

rote Rosen". Mäzen Heribert, mit Mallorca-Bräune, Satintuch und beigem Samtpulli, lässt für die<br />

46 Mann eine Runde Bier springen. Die Leute sitzen auf den Holzbänken, schmausen<br />

Zwiebelkuchen und nippen frisch gekelterten Wein. "Brot für die Welt" wird gesammelt. Der Erlös<br />

geht an Pater Schenk aus Donaueschingen für seine Mission auf den Philippinen. Ein Stand der<br />

Gefangenenhilfs-Organisation amnesty international - von Lehrern betreut - klärt über Folter und<br />

Todesstrafe auf. Aus Freiburg im Breisgau angereiste Studenten verteilen Plaketten mit der<br />

Aufschrift "Atomkraft - nein danke". Am Abend stimmt der Trompetenchor "kein schöner Land<br />

in dieser Zeit" an. Manche summen, andere lallen mit. Auch die Jugendlichen sind dabei. In<br />

blauweißer Tracht schwingen sie die Fahne der Fürstenberger. Wie in jedem Jahr ist ihnen ein<br />

gefälliges Kopfnicken und der kräftige Händedruck der Stadt-Honoratioren gewiss.<br />

Über Jahre ließ Harald Heidenreich kein Volksfest, keinen Schützenfest-Bummel, keine<br />

Marktplatz-Rallye aus. Wo, was los war, war auch er. Wie seine Freunde hockte der dam<strong>als</strong><br />

18jährige in Eisdielen, Pinten und Discos oder lief seinerzeit mit dem ´laut aufgedrehten<br />

Kassettenrecorder unterm Arm durch die malerisch versonnene Altstadt. Sie schauten und pfiffen<br />

den Mädchen nach, bis Harald seine Bärbel fand und mit ihr Händchen haltend über den<br />

Marktplatz spazierte. Für Politik und Parteien hat er sich nie sonderlich interessiert, zu einer Wahl<br />

ist er bis heute nicht gegangen.<br />

Haralds Vater ist ein kleiner Angestellter beim Kreiswehr-Ersatzamt in Donaueschingen,<br />

seine Mutter kümmerte sich Jahr für Jahr um ihre sieben Kinder. In einer Drei-Zimmer-Wohnung<br />

wuchs Heidenreich auf, mit seinen sechs Geschwistern teilte er sich einen Schlafraum. Harald<br />

absolvierte die Hauptschule und mache eine Lehre <strong>als</strong> Installateur. Zum Abschluss gab ihm der<br />

Berufsschuldirektor den weisen Rat: "Üb immer treu und Redlichkeit." Für Donaueschingen nichts<br />

Außergewöhnliches. Und Harald dachte sich noch: "Hier bin ich geboren, hier lebe ich, hier will ich<br />

auch bleiben." Kleinstadt-Idylle nach der Abschluss-Feier.<br />

Am selben Abend klapperte Harald Heidenreich seine Discos und Pinten ab. Er stand<br />

teilnahmslos an der Theke, trank abwechselnd Cola oder Bier und starrte in die grellen Licht-<br />

Reflexe. Da war wenig vom Travolta-Glanz (John Travolta, * 1954, amerikanischer Schauspieler,<br />

Sänger, Entertainer, Scientologe) und seinem Saturday-night-feaver zu spüren. Es kotzte ihn an.<br />

Kurz nach Mitternacht fuhr er nach Hause, packte Jeans, Hemden, Pullover und Unterwäsche.<br />

Seine erst kürzlich gesparten dreihundert Mark nahm er sich aus Mutters Küchenschrank. Auf den<br />

Garderobentisch legte er einen Zettel: "Bin weg. Gruß Harald."<br />

Seither sind für ihn die Eltern und Geschwister, Freundin Bärbel, die Marktplatz-<br />

Kameraden - Donaueschingen überhaupt - passé. Nur einen hat er mitgenommen. Seine besten<br />

Freund Gerry. Der war schon mit vierzehn von zu Hause rausgeflogen und hatte zuletzt bei seiner<br />

Freundin in Hüfingen gewohnt. Nun war auch dort Schluss. Als die beiden gegen 3.30 Uhr in<br />

Freiburg auf die Autobahn gingen, ließ Gerry eine Pink-Floyd-Kassette laufen. Wohin sie eigentlich<br />

wollten, wussten sie selber nicht; vielleicht nach Göttingen, wo Haralds Bruder wohnte, vielleicht<br />

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nach Hamburg, vielleicht aber auch nach Berlin. "Wir werden schon sehen", sagte Harald.<br />

"Irgendwann kommen wir schon irgendwo an und treffen irgendwelche Typen."<br />

Irgendwann, irgendwo, irgendwen - eines war beiden gewiss, dass alles ungewiss ist, Sie<br />

stocherten ziellos nach Norden. Morgens waren sie in Bremen, nachmittags in Cuxhaven, am<br />

nächsten Tag in Hamburg, am darauffolgenden in Berlin. Eine kleine Odysee, denn zu Hause<br />

hatten sie kaum über den Tellerrand gucken dürfen, und groß herumgekommen waren sie auch<br />

noch nicht, wenn man von zwei Reisen nach Freiburg einmal absieht.<br />

Nun standen Harald und Gerry auf dem KuDamm mit seinen unzähligen Restaurants und<br />

seiner x-beliebigen grellen Plastik-Reklame. Sie schauten drein wie ungläubige Berlin-Touristen, die<br />

sie eigentlich nicht sein wollten, warfen einen Blick über die Berliner Mauer (1961-1989), die sie nur<br />

vom Fernsehen kannten. Alles schien erschien ihnen ein wenig unwirklich. Da gab's keinen<br />

überschaubaren Marktplatz mehr, keine Butzenscheiben und keine Fachwerkhäuser. Dafür zog ein<br />

Sektenpulk in Mönchskutte und Irokesen-Haarschnitt durch die Straßen. Junge Typen in ihrem<br />

Alter bimmelten und rasselten mit ihren Klingelbeuteln. "Jesus lebt", schrien sie unentwegt. Da<br />

standen verquollene Jugendliche in den U-Bahnschächten, ängstlich und wibbelig warteten sie auf<br />

ihre Heroin-Erlöser. Und immer wieder sahen sie die Sight-seeing-Busse im Doppeldecker-Format,<br />

die die westdeutschen und internationalen Touristen von einer vermeintlichen Attraktion zur<br />

anderen karrten.<br />

Drei Wochen irrten Harald und Gerry durch die Stadt. Sie schliefen im Auto und aßen an<br />

Würstchen-Buden. Sie schlenderten nachts über den Stuttgarter Platz mit seinen Privat-Puffs und<br />

Pornoschuppen. In der Potsdamer Straße trafen sie auf zwei Mädchen. Die eine stellte sich <strong>als</strong> Ina,<br />

die andere <strong>als</strong> Lena vor. Beide dürften so um die vierzehn gewesen sein. Zwanzig Mark sagten sie.<br />

Es war nachmittags um drei. In der Disco "Early Bird" erlebten sie eine Massenschlägerei im<br />

Schummerlicht. Englische und französische Troupiers probten mit Bierflaschen und Stuhlbeinen<br />

eine NATO-Variante. In der Jebenstraße, hinterm berüchtigten Bahnhof Zoo, wurden sie von<br />

Strichjungen verjagt. Und auf dem Savigny-Platz kauften sie sich ihren ersten Joint. Das Gramm<br />

für zehn Mark.<br />

Dem Irgendwann und irgendwo folgte in der Pinte "Nulpe" in der Yorkstraße der<br />

irgendjemand. Zufall war es, dass er Johannes heißt und aus Donaueschingen kommt. Zufall auch,<br />

dass Johannes einen Typen namens Werner kennt, der ebenfalls aus Donaueschingen abgehauen<br />

ist. Zu Hause, in der ordentlichen Kleinstadt, sind sie sich nie begegnet, in der "Nulpe", im<br />

heruntergekommenen Kreuzberg, lernen sich die Vier kennen. Da war es dann schon kein Zufall<br />

mehr, dass sie gemeinsam in eine Wohngemeinschaft zogen. Für Johannes und Werner, sie lebten<br />

bereits zwei Jahre überall und nirgends in West-Berlin, ist die Großstadt zu groß. Für Harald und<br />

Gerry war die Kleinstadt zu klein geworden.<br />

Vier Jugendliche in diesen Tagen. Nichts ist besonders auffällig an ihnen, eher scheint<br />

alles bundesdeutsch normal. Harald lernte Installateur, Gerry Elektriker und Werner Tischler. Sie<br />

bestanden ihre Gesellenprüfungen und hatten einen krisenfesten Arbeitsplatz. Johannes machte das<br />

Abitur und schaffte fürs Jura-Studium problemlos den Numerus clausus. Alle vier hatten die von<br />

ihren Eltern in sie gesetzten Erwartungen erfüllt und standen in ihrer Umwelt keineswegs <strong>als</strong><br />

Versager da. Dennoch sind sie es, die sich der Gesellschaft versagten. Nach außen unauffällig und<br />

schweigsam. Dabei lassen sich ihre Beweggründe von keinem modernistischen Klischee ableiten,<br />

keine gängige Polit-Maxime trifft auf diese vier Aussteiger zu.<br />

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In der Kreuzberger Gneisenaustraße, einer breiten Allee mit ausgewachsenen<br />

Kastanienbäumen in der Fahrbahnmitte, fanden sie ihre Bleibe. Es ist ein typischer Berliner<br />

Hinterhofblock aus den vergangenen Jahrhundert. Vor der Eingangstür spielen türkische Mädchen<br />

"Hinkefuß" auf dem Trottoir, Frauen stricken auf den Fensterbrettern. An der Hausmauer lehnt<br />

ein Mittvierziger, der den Schnaps wie Limonade trinkt und Unverständliches über den Fußball-<br />

Bundesligaverein Hertha BSC stammelt. Im Hausflur riecht es nach Katze, Knoblauch und<br />

Bartkartoffeln. Die an der Wand befestigte Namenstafel ist <strong>als</strong> Wegweiser gedacht. Wer zu Matzkes<br />

will, kann gleich vorne rechts die Treppe benutzen. Zu den Wohngemeinschaften geht's<br />

automatisch über den Hinterhof und dann fünf Stockwerke hoch. Vorbei an ausgebrannten<br />

Mopeds, leeren Flaschen und ausgelatschten Schuhen. Aus den Treppen sind schon einige Stiegen<br />

herausgerissen, die Flurbeleuchtung funktioniert nicht. Auf jedem zweiten Stockwerk gibt's ein Klo,<br />

Duschen sind individueller Luxus.<br />

Im fünften Stock unterm Dach kleben auf dem Türrahmen die Schildchen der Mieter<br />

Harald, Gerry, Johannes und Werner, Nachnamen tun nichts zur Sache. Wer hier herkommt, weiß,<br />

wohin er will. Die Wohnungstür steht meist sperrangelweit offen. Zu klauen ist ohnehin nicht viel.<br />

Sofa, Tisch und Stühle sind vom Sperrmüll, der Fernseher stammt aus den fünfziger Jahren,<br />

geschlafen wird auf Matratzen. Ein paar Bücher stapeln sich im Regal zwischen Nähzeug und<br />

verklebten Teetassen. Eines heißt: "Autonomie und Getto", ein anderes ist von Ernest Hemingway<br />

(*1899+1961): "Wem die Stunde schlägt". An der Wand hängen zwei Gitarren, auf dem<br />

Wohnzimmertisch steht ein Schachbrett neben zwei heruntergebrannten Kerzen, die<br />

frischgewaschenen Jeans liegen ungebügelt im Korb. Der Gemeinschaftsraum ist ihr Zentrum,<br />

dazu hat jeder noch sein eigenes Zimmer - das alles für 350 Mark. Dieser Betrag plus Nebenkosten<br />

muss monatlich aufgebracht werden. Sonst spielt Geld kaum eine Rolle. Auch die Zeit ist ihnen<br />

unwesentlich. Ob es nun gerade morgens, schon abends oder bereits einen Tag später ist - keiner<br />

verliert darüber wesentliche Gedanken. Oft ist es erst das ausgedruckte Datum auf dem<br />

abonnierten Tagesspiegel, das sie für einen Augenblick in die Gegenwart zurückholt.<br />

Als Harald, Gerry, Johannes und Werner vor drei Jahren ihre Wohngemeinschaft<br />

gründeten, verknüpfte niemand damit konkrete Vorstellungen oder auch festorganisierte<br />

Tagesabläufe. Sie hatten keine politischen Ideen oder alternative Lebensmodelle parat, die sie<br />

umsetzen wollten. Nur in einem waren sie sich einig: Alles sollte anders werden, <strong>als</strong> es bisher war.<br />

Sie wollten aus ihrer Umwelt ausbrechen, die sie geprägt hatte, sie wollten sich in ihren Berufen<br />

nicht weiter verplanen und fremdbestimmen lassen. Viel wichtiger war ihnen das Bedürfnis nach<br />

einer neuen Sinnlichkeit, sie suchten engen zwischenmenschlichen Kontakt, der nicht intensiv<br />

genug sein konnte - sei es durch Gespräche, Musik oder auch Zärtlichkeit.<br />

Jeder fühlte sich vereinzelt, sah sich von der Gesellschaft isoliert, erlitt mit Gefühlen und<br />

Erwartungen laufend Einbrüche, empfand die Masse Mensch <strong>als</strong> anonym und stumm, die sich<br />

gänzlich der Konsumwelt verschrieben hat. Doch keiner glaubte, sich allein dem äußeren Druck<br />

widersetzen zu können. So galt ihre Hoffnung einer Wohngemeinschaft auf dem Berliner<br />

Hinterhof in der Gneisenaustraße Nr. 60. "Wir sind zwar klein, aber ein Anfang ist doch da",<br />

sagten sie dam<strong>als</strong>. Gemeinsam planten die Vier, ihre Vergangenheit abzuarbeiten, um das Vakuum<br />

Gegenwart auszufüllen. An die Zukunft dachte keiner. Sie galt <strong>als</strong> eine undefinierbare,<br />

metaphysische Größe.<br />

Dabei machten Harald, Johannes und Werner zunächst gar nicht den Eindruck von<br />

jungen Werthern Anfang der achtziger Jahre. Johannes, ein hochgeschossener Typ mit langen<br />

blonden Haaren und Nickelbrille, sprang von einer alternativen Idee zur anderen. Da sollte eine<br />

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Hobelbank besorgt werden, dann wollten alle gemeinsam töpfern, schließlich war es die<br />

Tischtennisplatte, die noch fehlte. Werner, von etwas untersetzter Gestalt und weitaus ruhiger,<br />

organisierte Kühlschrank und Geschirr. Harald , mit seinem strähnigen schwarzen Haar und<br />

wieselflinken Augen, backte nach Mutters Küchenrezept seinen ersten Apfelkuchen. Nur Gerry saß<br />

meist stoisch in der Sofa-Ecke, schaute gelegentlich von seinem Comic-Heft trübsinnig hoch und<br />

verkroch sich immer sehr schnell unter seinem Bettlaken.<br />

Gerry, sagen seine Freunde, "hat mit seinen zwanzig Jahren den Abgang von<br />

Donaueschingen nach Berlin nicht gepackt". Je länger er in Kreuzberg lebt, desto einsilbiger und<br />

melancholischer wird er. Zurück in den Schwarzwald will er aber auch nicht. Aus ihm ist, wenn<br />

überhaupt, nur selten einen Satz herauszulocken. "Ich weiß nicht ..." lautet seine Standardfloskel.<br />

Harald: "Was glaubst du denn, wo so manchmal deine Lustlosigkeit herkommt, deine Apathie, so<br />

ein bisschen?" Gerry: "Das hab ich mich schon gefragt. Hab keine Antwort gefunden." Harald:<br />

"Hast du dich gefragt oder bist du von uns gefragt worden?" Gerry: "Hab mich selber gefragt. Hab<br />

rumgehangen bei der Arbeit und auch keine Lust gehabt. Aber genau gewusst, dass ich es doch<br />

machen muss. Ich weiß nicht." Gerrys Anhaltspunkte ist seine Matratze. Oft schläft er drei Tage in<br />

einem durch. Johannes: "Da macht er nicht mal ein Kaffeepäuschen." Auch alle Versuche, Gerrys<br />

Zimmer ein wenig heimisch herzurichten, blieben umsonst. Als die Gruppe ihre Räume tapezierte,<br />

bekam auch Gerry seine Rauhfaserstreifen. Die Hälfte der Bude beklebte er. Dann war er plötzlich<br />

weg.<br />

Seit drei Jahren begnügte er sich nunmehr mit der alten Matratze. Ein altes, rostiges<br />

Fahrrad vom Vormieter steht ebenso an seiner Zimmerwand wie die Tapetenrolle im Farbeimer .<br />

Wenn Gerry eine Freundin hat, verschwindet er für zwei bis drei Wochen. Zwischendurch jobbt er<br />

hin und wieder, wenn's Geld knapp wird. Er findet auch jedes Mal eine Stelle. Denn Elektriker sind<br />

in West-Berlin gefragte Leute. Denn klotzt er wie früher für einen Monat ran und steigt fürs<br />

nächste Vierteljahr wieder aus. Im letzten Jahr musste Gerry jedenfalls eine zweite Lohnsteuerkarte<br />

beantragen. Auf der Ersten war für die zahlreichen Firmenstempel kein Platz mehr.<br />

Wurde Gerry in der Großstadt zum Flippie, so entwickelte sich sein bester Freund Harald<br />

zum Hippie - zumindest vordergründig. Er kaufte sich ein kleines Kreuz und lässt es seither vom<br />

rechten Ohrläppchen baumeln. Auch von seinem blau-rot-gemusterten Tüchlein kann Harald sich<br />

nur schwer trennen. Er trägt es am liebsten Tag und Nacht. Freiheiten, die in Donaueschingen<br />

undenkbar gewesen wären. Doch mit derlei Requisiten will Harald nicht darüber hinwegtäuschen,<br />

dass er - trotz aller neuen Hoffnungen - über ein halbes Jahr in den Seilen hing. Beginnt Gerry<br />

seine Sätze mit "ich weiß nicht", so hat Harald "einfach das Gefühl, dass es mir in der Gesellschaft,<br />

wie sie im Moment ist, überhaupt nicht gefällt."<br />

Es ist ein vages Gefühl, das ihn aber dazu brachte, in sechs Monaten nicht einmal auf die<br />

Straße zu gehen. Selbst zu seinem 21. Geburtstag ließ er sich Wein und Bier holen. Harald schlief<br />

lieber in den Tag hinein, verlor sich über Stunden in Rock 'n' Roll-Tonbändern, die Werner<br />

mitgebracht hatte. Fing an, auf der Gitarre Griffe zu üben, um das Lied "Ein Hase saß im tiefen<br />

Tal ..." melodisch begleiten zu können. Die meiste Zeit stand er jedoch wie ein Greis am<br />

Küchenfenster, blickte auf niedriggelegenere Dächer, zählte Schornsteine und Fernsehantennen<br />

oder stierte eine mausgraue Mauer auf dem Hinterhof an, die sich an trüben Tagen kaum von der<br />

dichten Wolkendecke abhob. "Ich fühlte mich allein, war nervlich fertig und zitterte am ganzen<br />

Körper", umschrieb er seinen Gemütszustand. In Wirklichkeit hatte ihn das Heimweh gepackt, er<br />

war depressiv und spürte seine Orientierungslosigkeit. In diesen Augenblicken am Küchenfenster<br />

dachte er nicht an seinen selbstsicheren Ausspruch "irgendwann, irgendwo, irgendwen", <strong>als</strong> er mit<br />

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Gerry eines Nachts H<strong>als</strong> über Kopf aus Donaueschingen getürmt war, weil ihnen alles "zu eng"<br />

erschien.<br />

Er sah nur den alten, heimischen Marktplatz, das Café Hengstler vor sich, erinnerte sich<br />

an die spannenden Wettfahrten zum Nachbarort Hüfingen und vor allem an die vielen Leute, die er<br />

kannte und die natürlich auch ihn kannten. "Also, wenn ich in Donaueschingen die Straße rauf lauf,<br />

so fünfhundert Meter lang, da sind mindestens zehn Bekannte, die mich anhalten und sich mit mir<br />

unterhalten", verklickerte Harald beim Abendessen die neue Erkenntnis. Er sagte es so<br />

eindringlich, <strong>als</strong> kämen seine Freunde aus einer anderen Stadt. Nun war er aber nicht mehr in<br />

Donaueschingen, sondern in seiner Wohngemeinschaft in Kreuzberg. In diesem "Dreckloch", wie<br />

er plötzlich sein neues Zuhause nannte, "zwischen Türken, Müll, Ratten, einem Scheißhaus für<br />

dreißig Mann, und da wollen wir alles anders machen", beschimpfte er Johannes und Werner, die<br />

sich seinen Ausbruch nicht erklären konnten. "Was ist hier eigentlich alternativ", schnauzte Harald<br />

herum. Er wartete die Reaktion erst gar nicht ab, sondern antwortete gleich selbst: "Wenn Scheiße<br />

für euch eine Alternative ist, dann bin ich eben ein Spießer."<br />

Abhauen wollte er noch am selben Abend. Doch er blieb. Über eine Woche verschanzte<br />

Harald sich in seinem Zimmer und redete mit niemanden. Johannes und Werner vermuteten<br />

schon, Harald werde doch über kurz oder lang aus der WG aussteigen und auf den Marktplatz nach<br />

Donaueschingen zurückkehren. Harald machte aber etwas anderes. Er malte einen großen<br />

Laubbaum in grünen und braunen Farben an seine weiß-graue Zimmerwand. Für ihn war's ein<br />

bisschen Schwarzwald in dem Häusermeer Kreuzberg. Deprimiert und ratlos hockte er in seiner<br />

Bude. Blinde Wut kam in ihm hoch, schlug dann wieder in neues Leiden um. Er konnte sich nicht<br />

erklären, was die Auslöser für seine tiefen Stimmungsschwankungen eigentlich waren. Er glaubte,<br />

nur er allein könne damit fertig werden. Doch je mehr er sich vergrub, desto größer wurden seine<br />

Gefühlssprünge, desto passiver und phlegmatischer reagierte er. Dabei gab es für ihn keinen<br />

ersichtlichen Grund.<br />

Schließlich hatte ihn keiner gezwungen, mit dem Elternhaus zu brechen und in eine<br />

Wohngemeinschaft nach Kreuzberg zu ziehen. Er konnte ja wieder heimgehen. Seine Eltern<br />

würden sich freuen, zumal es keinen Krach gegeben hatte. Sie haben ihn ohnehin nicht verstanden.<br />

Im letzten Brief, den er von seiner Mutter bekam, schrieb sie: "Was haben wir dir angetan, dass du<br />

uns so missachtest." Aber darum geht es ja nicht. Ursprünglich hoffte er, sich am ehesten in<br />

Kreuzberg zu verwirklichen. Hier muss er nicht im kleinen Horizont ständig funktionieren, sich<br />

anpassen und sich laufend reinreden lassen. Hier muss er nicht arbeiten, wenn er nicht will. Hier<br />

muss er nicht sein Fassaden-Lächeln aufsetzen, wenn er keine Lust dazu hat. Hier könnte er sich in<br />

alternativen Gruppen engagieren, Brote backen, Autos zusammenflicken, sanitäre Anlagen<br />

verlegen. Hier könnte er in Teestuben, in Pinten, in Buchläden mit vielen Leuten reden, denen es<br />

sicherlich nicht viel anders ergeht - und nicht nur so ein oberflächliches Geschwätz über Status und<br />

Stars, sondern echte Gespräche. Deshalb sind sie ja nach Kreuzberg gekommen, der Harald, der<br />

Gerry, der Johannes und der Werner.<br />

Aber anders <strong>als</strong> Gerry, der keinen seiner Freunde richtig an sein Innenleben<br />

herankommen ließ, versuchte Harald in Marathon-Diskussionen mit Johannes und Werner<br />

auszuloten, warum ihn seine Gefühle blockierten, warum er bisher matt und mutlos blieb, warum<br />

er so kontaktscheu war und sich noch nicht einmal auf die Straße traute. Da war nicht nur der<br />

gewohnte Marktplatz, zu dem Harald sich irgendwie zurücksehnte. Ganz unvermittelt sprach er<br />

von seinen Kindheitserlebnissen, die er <strong>als</strong> "wahnsinnig schön" empfand und die ihm "vom Gefühl<br />

her" heute fehlen. "Alle sieben Kinder schliefen in einem Raum und fast jeden Abend haben wir<br />

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gespielt." Oder er erzählte, wie ihm sein großer Bruder Anton mit sechs Jahren die erste Mark<br />

geschenkt hatte. Oder wie er <strong>als</strong> Vierzehnjähriger mit seinem kleinen Fahrrad zum ersten Mal ein<br />

Auto überholte. Harald: "Es war totaler Wahnsinn, das Rad hatte nämlich nur eine Übersetzung<br />

von eins zu eins."<br />

Johannes und Werner hörten aufmerksam zu. Sie ließen Harald Stunden über seine<br />

Kindheit berichten, die er sich <strong>als</strong> ein Stück heile Welt bewahren wollte. Harald entging in seinem<br />

Erzählfluss offenbar, dass er längst bei einem anderen Thema gelandet war. Er sprach nun von<br />

seinem Vater, der noch mit 48 Jahren wöchentlich drei Mark Zigarettengeld von der Mutter<br />

zugeteilt bekam. der sich mit 53 Jahren den ersten Wagen, einen Opel Kadett, leisten konnte. Der<br />

mit seinem Opel-Stolz jährlich aber nur um die 600 Kilometer fuhr, weil ihm das Benzingeld fehlte.<br />

Der trotzdem jeden Samstag, wenn's nicht regnete, wie ein kleiner Bub vor der Haustür sein Auto<br />

wusch und polierte. Und der sich immer darüber erregen konnte, wenn Nachbarn oder<br />

Arbeitskollegen mit ihren neuesten Modellen angeberisch durch de Kleinstadt fuhren.<br />

Inzwischen ist der Alte 66 Jahre, sein Gesicht ist eingefallen und voller Falten. Seit er<br />

pensioniert ist, weiß er mit sich und seiner Umgebung nichts mehr anzufangen. Während seines<br />

ganzen Lebens hat er nur gearbeitet, so zehn bis zwölf Stunden am Tag, aber nie gelernt, selbst<br />

seine Freizeit mit Hobbies spielerisch zu gestalten. So sitzt der halbglatzige Herr meist vorm<br />

Fernseher, döst vor sich hin, weil er für Politik und Show wenig übrig hat. Nur wenn am Samstag<br />

vor der Spätausgabe der Tagesschau zur Ziehung der Lottozahlen umgeschaltet wird, zum<br />

Hessischen Rundfunk, springt er hoch, vergleicht seine drei Tipp-Scheine, um dann wieder<br />

zusammenzusacken. Mutters Errungenschaft, fährt Harald fort, ist die neue Stereoanlage mit<br />

eingebauten Kassettenrecorder. Fünf Jahren haben sie dafür gespart. Beim Kauf nahmen die Eltern<br />

natürlich auch gleich ein paar Platten mit. Außer Rudolf Schock, Heino und die Egerländer<br />

Marschmusik fiel ihnen nichts weiter ein. So steht der Apparat <strong>als</strong> Vorzeigestück in der Wohnstube<br />

und wird kau eingeschaltet, weil sie ja nicht tagein-tagaus dieselben Melodien hören können.<br />

Staub und Flusen wären jedoch auf dem teuren Stück undenkbar. Darauf achtet Mutter<br />

schon. Und dann erinnert sich Harald an die immer wiederkehrende Stereotype seiner Mama:<br />

"Schaffe Harald, schaffe Harald. Mach es so wie die Gaby, die schafft bei Aldi in der<br />

Buchabteilung, oder wie Irene, die zählt das Geld uff die Sparkass". Womit seine ältere Schwestern<br />

gemeint waren. Natürlich haben die es zu etwas gebracht. Mit zwanzig geheiratet, zwei Kinder<br />

bekommen, wieder einen Halbtagsjob angenommen, Geschirrspüler, Gefriertruhe und einen<br />

Gartengrill gekauft. Einmal im Jahr geht's nach Gran Canaria, um dort am Strand Dosenbier zu<br />

trinken. "Die sind ja bekloppt", räsoniert Harald. "Die wissen doch gar nicht mehr, wer sie<br />

eigentlich sind."<br />

Wer er selber ist, weiß Harald auch nicht so genau. Seine Gefühlssprünge, die total<br />

Depressionen, seine Apathie fangen ihn immer wieder ein. Mal ist es die totale Identifikation, mal<br />

die totale Verweigerung, mal will er noch in derselben Nacht abhauen, mal plant er über Jahre in<br />

der Wohngemeinschaft zu bleiben. Die etablierte Erwachsenenwelt mag in diesen Jugendlichen<br />

"verweichlichte Kinder" sehen, die nur deshalb ängstlich und kopflos sind, weil ihnen alles<br />

abgenommen wurde und sie alles vorfinden, was sie scheinbar brauchen. Aber Haralds Stabilität<br />

und die seiner Freunde ist nicht das "soziale Netz" Bundesrepublik - nicht die Lohnfortzahlung im<br />

Krankheitsfall, nicht die Rentenversicherung, kein Bausparvertrag, keine vermögenswirksamen<br />

Leistungen.<br />

Die Wohngemeinschaft in Kreuzberg findet ihr Gleichgewicht vielmehr in der<br />

Negativabgrenzung gegenüber dieser Gesellschaft. Harald und Co. machen sich nichts aus der<br />

425


Konsumkultur, die soziale Rangskala der Karrieren auf Lebenszeit hat für sie keine Bedeutung.<br />

Aber die einstigen Handwerker wollen sich auch nicht vom "Profitgeier und Polier" in Fabriken<br />

oder auf dem Bau kaputtmachen lassen. Ob mit Flanellanzug im Büro oder mit dem Blaumann am<br />

Fließband - Maloche ist es allemal und die tötet Gefühl und Fantasie. Umgebung und Milieu zu<br />

erleben, Typen kennen zu lemen, unendlich viel Zeit für sich und andere zu haben, winzige Details<br />

wahrzunehmen und weiterzugeben - kurzum wetterfühlig zu sein und Sensibilität ausleben zu<br />

können, das alles ist ihnen erheblich wichtiger <strong>als</strong> der große Wurf strategischer Überlegungen à la<br />

Bonn oder eines Lohnzuwachses um 6.8 Prozent, den Funktionäre ausgemauschelt haben.<br />

Die Aussteiger in der Gneisenaustraße sehen im Bundesbürger einen "Wohlstands-<br />

Pinguin", der sich in seinem schwarz-weißen Einheitstrikot <strong>als</strong> Frontkämpfer versteht: für<br />

Wirtschafts-Wachstum und Weltmeisterschaft. "Das ist der Grund", wiederholt Harald, "warum es<br />

mir momentan in der Gesellschaft überhaupt nicht gefällt." Wenn Harald von Gesellschaft spricht,<br />

dann meint er nicht jene, die Soziologen oder Politologen analysieren und auseinanderpflücken. Er<br />

ist kein Theoretiker und will es auch gar nicht sein. In den Bücherregalen dieser Wohngemeinschaft<br />

steht kein Karl Marx (*1818 +1893) , Mao Zedong (*1893+1976) oder Herbert Marcuse<br />

(*1898+1979). Und selbst wenn sie dort stünden, käme keiner auf die Idee, seine Lebenssituation<br />

mit Zitaten dieser Theoretikern zu verallgemeinern. So ist ihre Wohngemeinschaft auch nicht ein<br />

Team junger Leute, die sich gemeinsam auf ihre Examen vorbereiten, zusammen Semesterarbeiten<br />

schreiben und sich über Grundsatzfragen oder Berufschancen die Köpfe heißreden. Dieser Typus<br />

von WG hat sich bei den Aussteigern überlebt. Ob die Leute studieren, einen akademischen<br />

Abschluss haben oder Hauptschüler sind, ist zweitrangig. Ihnen kommt es mehr auf den<br />

Konsensus im Zusammenleben an, sich und die Lebensphilosophie der anderen zu begreifen.<br />

Dabei urteilen Harald, Gerry, Johannes und Werner aus ihrer Erlebniswelt und ihren unmittelbaren<br />

Erfahrungen heraus. Sie sind nicht die abgeklärten Überflieger, die sämtliche aktuellen<br />

Vorkommnisse mit routinesicherem Blick in ihre selbstgezimmerten Denkschemata einordnen,<br />

seelenruhig in der Gruppe ihre Statements abgeben und allmählich zu Zyniker werden.<br />

Als Johannes noch von der Uni nach Hause kam, löste er oft ausufernde Debatten in der<br />

Gruppe aus. Mindestens zweimal in der Woche , wenn er seine Seminartage hatte, war er hinterher<br />

so hektisch und aufgekratzt, dass gleich alles aus ihm heraussprudelte. Für die anderen drei<br />

verkörperte Johannes den "politischen Durchblicker", der impulsiv und messerscharf ihre schon<br />

seit drei Jahren vollzogene Abgrenzung zu diesem Staat mit politischen Daten und Fakten<br />

untermauern konnte. Und Johannes brauchte diese Gespräche, um sich seiner zu vergewissern. Sie<br />

gaben ihm aber auch ein bisschen Genugtuung. Er verstand es nämlich, seine Betroffenheit auf die<br />

Gruppe zu übertragen.<br />

Der 18. Oktober 1977 hat sich im Gedächtnis der Vier fest eingeprägt. Nicht etwa, weil<br />

seit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer der Bundesrepublik der<br />

Atem stillstand oder bei den Polizeirazzíen ganze Häuserblocks gefilzt wurden. Daran hat sich die<br />

Berliner Szene seit der Geiselnahme des CDU-Politikers Peter Lorenz (Entführung am 27. 2. 1975<br />

durch Terroristen der Gruppe 2. Juni; *1922+1987) gewöhnt. Erstm<strong>als</strong> wurde in der<br />

Wohngemeinschaft über Selbstmord geredet - eine Diskussion, die sich noch nachhaltig auswirken<br />

sollte. Johannes kam an diesem Abend von der Uni und sagte nur knapp: "Sie sind tot." - "Wer<br />

sind sie", fragte Werner. "Na wer schon", reagierte Johannes unwirsch. "Baader, Ensslin, Raspe."<br />

Johannes war derart aufgelöst und geschockt, <strong>als</strong> sei seine Mutter oder einer der engsten Freunde<br />

beim Verkehrsunfall unverhofft aus dem Leben gerissen worden. Er griff gleich zur Weinflasche,<br />

setzte sie ex an und hörte gar nicht wieder auf zu schlucken. Der knappe Satz "Sie sind tot" und der<br />

426


darauffolgende spontane Ausbruch verblüfften Harald, Gerry und Werner zunächst. Denn <strong>als</strong> vor<br />

rund zwei Wochen Hanns Martin Schleyer verschwand, da hatte Johannes noch erklärt, er könne<br />

sich mit "der politischen Konzeption der RAF (Rote Armee Fraktion 1970-1998; verantwortlich<br />

für 34 Morde, zahlreiche Banküberfälle, Sprengstoffattentate) und ihren Gewalttaten nicht<br />

identifizieren".<br />

Am Nachmittag hatte ihm ein Kommilitone auf dem Weg in den Hörsaal von den<br />

Selbstmorden in Stuttgart-Stammheim berichtet. "Ich glaubte, der wollte mich verscheißern",<br />

erzählte Johannes seinen Freunden. "Ich bin nicht mehr in die Vorlesung gegangen, rannte zum<br />

Kiosk und kaufte mir zwei Zeitungen. Da sah ich dann die Schlagzeilen. Da hab ich plötzlich den<br />

Eindruck gehabt, mir lässt jemand die Luft raus. Es war im Moment nichts mehr da, was man<br />

diesem Machtapparat, dieser ganzen Struktur, dieser ganzen Maschinerie hätte entgegensetzen<br />

können. Und das hat mich traurig und bestürzt gemacht." -"Aber Johannes, die sollen sich doch<br />

selbst erschossen haben, hast du vorhin noch gesagt", schränkte Werner ein. Johannes aufgebracht:<br />

"Selbstmord oder Mord, das ist doch nicht die wesentliche Frage. Die Leute sind tot, sie sind nicht<br />

mehr da, sie sind weg." Betroffenes Schweigen. Keiner will etwas sagen, auch nicht. Nach dem<br />

Abendessen setzen sich die Vier in ihre Sofaecke, zünden Kerzen an und wollten eigentlich ihre<br />

Schachpartie vom Vortage fortsetzen. Doch bevor das erste Spiel beendet war, kam das Thema<br />

wieder hoch. Werner, der damit anfing, konnte mit Johannes' rätselhaftem Verhalten wenig<br />

anfangen. Für ihn stellte sich die Frage, was Johannes trotz entgegengesetzter Beteuerungen ein<br />

stiller Sympathisant der Terrorszene, der nur momentan die Contenance verloren hatte, oder<br />

welche seelischen Hintergründe gab es, dass ihr Freunds seine Person so stark mit dem Schicksal<br />

toter Terroristen verband.<br />

"Das geht ja nicht nur mir so", versuchte Johannes zu erklären. "In der Uni waren viel<br />

baff und erschlagen, haben nicht mehr den Mund aufgekriegt. Für mich war die RAF eine<br />

Opposition, ich hatte das Gefühl von Sicherheit und Stärke, weil ich gesehen habe, wie sechzehn<br />

oder siebzehn Mann über sechzig Millionen in Schach halten konnten. Es ist doch egal, ob jemand<br />

in die Zellen gegangen ist und den Leuten die Waffen an den Kopf gelegt hat. Für mich sind es die<br />

ganzen Verhältnisse, die Haftbedingungen, verstehst du, Werner ? Wenn ich dich jetzt in diesem<br />

Zimmer einsperre, und ich unterwerfe dich einer Kontaktsperre, und du springst nachher aus dem<br />

Fenster raus, dann ist das Mord. Die hatten ja keine Möglichkeit mehr, was sollten die noch<br />

machen. Ich hätt mich wahrscheinlich auch umgebracht, wenn die Frage des Selbstmordes aktuell<br />

gewesen wäre."<br />

Eine Konjunktiv-Formulierung, die keine zwei Monate später ihre Aktualität bekam. Es<br />

war gegen Mittag. Johannes hatte ausgeschlafen und beim Aufstehen niemanden angetroffen. Er<br />

setzte sich an den noch stehen gelassenen Frühstückstisch, rührte aber nichts an, sondern schrieb<br />

einen Abschiedsbrief an seine Freunde. "Das Telefon klingelte, zumindest war er sicher, dass es<br />

klingeln würde, da er den Anruf erwartet hatte. Das Fenster stand weit offen, so weit, wie es<br />

eigentlich nur im Sommer üblich war. Und einer der Fensterflügel bewegte sich. Auch die Uhr<br />

tickte noch in seiner Vorstellung. Aber nur, um auf diese Weise die Zeit verstreichen zu hören. Der<br />

flüchtig gedeckte Frühstückstisch, der nahe am Fenster stand, war leicht mit Schnee bedeckt. Das<br />

Zimmer schien unverändert, bis auf die Kälte, die den Raum rasch angefüllt hatte. Er lag unten im<br />

Hof auf dem Teppich aus Schnee, leicht verkrümmt, unbeweglich, bis auf eine Strähne im Haar, die<br />

der Wind ab und zu bewegte. Seine Welt drehte sich nicht mehr, und die andere schien noch nichts<br />

davon gemerkt zu haben. Als dann der Bruch ihn erschrak, vergewisserte er sich seines Willens.<br />

427


Schon oft hatte er diese Vorstellung, zu verletzten, doch wusste er um die Unbedingtheit und<br />

Unwiederbringlichkeit dieses Schrittes."<br />

Über eine Stunde benötigte Johannes für seine Zeilen. Er ließ sie auf dem Küchentisch<br />

liegen und kletterte im grünen Pyjama auf das Fensterbrett, schaute vom fünften Stock auf den<br />

Steinboden unter auf dem Hinterhof, stieg wieder runter, dann wieder rauf. Plötzlich packten ihn<br />

von hinten zwei Hände und rissen ihn vom Fensterbrett, so dass der Küchentisch gleich mit<br />

umflog. Werner war durch die offenstehende Haustür gekommen. Er sah einen bibbernden<br />

Johannes, der in sich versunken nach unten schaute, aber offensichtlich den Mut verloren hatte,<br />

einen halben Meter vorwärts zu gehen.<br />

Für den 23jährigen Johannes, wie er später erzählte, war dieser Moment ein "Gefühl der<br />

Befreiung, <strong>als</strong>o es ist aus. Herrgott, ich muss mich nicht mehr auseinandersetzen. Ich muss<br />

niemanden mehr sagen, dass ich mich unverstanden fühle". Unverstanden von seinen Eltern,<br />

unverstanden in der Uni, unverstanden von seiner Freundin Eva, unverstanden von seinen<br />

Mitbewohnern. Befreiung von seinen Eltern, zu denen er keinen Kontakt mehr hatte. Befreiung<br />

von der Uni, zu der er nicht mehr ging, Befreiung von seiner Freundin Eva, die er nicht mehr sah.<br />

Befreiung von der Wohngemeinschaft, indem er sich aus dem Fenster stürzen wollte.<br />

Johannes "pisst auf diese Welt", die ihn fix und fertig macht. "Dass ich in eine<br />

Gesellschaft mit ihrer rotzigen Arroganz und Selbstherrlichkeit hineingeboren worden bin, dafür<br />

kann ich nichts", sagte er. "Wir sind doch alle mit Werten vollgepfropft, die fadenscheinig sind. Im<br />

Kindergarten und in der Schule hat man mich ideologisch getrimmt und versucht, durch Prügel<br />

abzurichten. Mein Vater machte mit meiner Mutter und mir dasselbe, wenn er besoffen war. Und<br />

das war in der Woche mindestens zweimal. Bundeswehr und Uni geben einem dann den letzten<br />

Schliff. Allround gebildet, von überall seinen Touch bekommen wird man losgelassen <strong>als</strong> ein<br />

angeblich nützliches und wesentliches Glied innerhalb der Gesellschaft. - Psychische Krüppel sind<br />

die Karriere-Denker und Ehrgeizlinge, aber die merken noch nicht einmal, dass sie politisch und<br />

sozial entmündigt sind. Die Leute begreifen einfach nicht, in welchen Abhängigkeiten sie leben, wie<br />

ihre Bedürfnisse nach Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung auf den Konsum gelenkt werden.<br />

Die leben in Sozialwohnungen, bei denen sich die Architekten am Reißbrett einen<br />

runtergeholt haben. Das sind die wahrsten Kasernen, denen fäll die Decke auf den Kopf, da<br />

kommt nicht mehr genug Licht ins Fenster. Die Scheiße steckt überall drin, bis ins letzte Detail.<br />

Aber das hat alles Modellcharakter in der Bundesrepublik. Die Politiker machen in Aufsichtsräten<br />

und Gesellschaften ihre Geschäfte, belügen die Bevölkerung, weil sie die schlimmen Pannen in den<br />

Kernkraftwerken verheimlichen. Und wenn ich mir die Zeitungen angucke, dann weiß ich doch<br />

ganz genau, wir haben dpa oder AP. Das sind vorgefasste, ideologisch abgestimmte Nachrichten,<br />

die das ganze System untermauern. Das ist alles abgefuckt, soviel Unehrlichkeit, Mauschelei und<br />

Vorgaukelei. Und die Politiker stellen sich immer kackfrech hin und reden von Solidarität, Toleranz<br />

und Sozi<strong>als</strong>taat."<br />

So wie Johannes denkt, sehen auch Harald, Gerry und Werner die deutsche<br />

Bundesrepublik. "Das ist doch die Wirklichkeit", sagt Gerry. Harald meint: "Über einige Jahre<br />

müssten regelmäßig Parteitage mit Tausenden von Leuten besetzt werden." Werner hat dazu keine<br />

Lust. "Das gibt nur Prügeleien mit den Bullen." Er will lieber auswandern. - "Auswandern in die<br />

Hoffnung", das sagt und wiederholt er immer wieder. Nur wohin, weiß er aber noch nicht: "Mal<br />

sehn".<br />

428


Sie hauten nicht ins ferne asiatische Hinterland ab und besetzen auch keine Parteitage.<br />

Harald, Gerry, Johannes und Werner gingen gemeinsam an den "Strand von Tunix". Über 20.000<br />

Jugendliche waren Anfang 1978 nach West-Berlin gekommen, um ihr Drei-Tage-Fest zu feiern. Ein<br />

Meeting der bundesdeutschen Subkultur, die mit Theater, Sketch, politischen Diskussionen, Rock<br />

und Beat, Reggae und Liebe sich <strong>als</strong> Gegenöffentlichkeit zur Gesellschaft präsentierte. "Uns langt<br />

es jetzt hier" -- "wir hauen ab" -- "und das wollen wir doch mal sehen", hießen ihre Parolen. Es war<br />

das erste Mal, dass sich die vier Donaueschinger aus ihrem Berliner Hinterhof-Dasein befreiten.<br />

Unter buntbemalten Stadtindianern, Feministinnen und Schwulen, Mescalero-Typen,<br />

Grünen und Roten "haben wir endlich gemerkt. dass wir überhaupt nicht allein sind", bemerkt<br />

Johannes. Harald glaubt: "Wir waren immer ein bisschen isoliert, und ich habe mich auch<br />

vereinsamt gefühlt. Eine Macke habe ich aber nicht. Dafür sind wir schon zu viele." Und Werner<br />

schwärmte von der U-Bahn, die er sonst gar nicht mochte: "Die war so proppenvoll mit<br />

irgendwelchen Typen.<br />

Das hat zum ersten Mal Spaß gemacht. Dasa war alles so offen, man hat erzählt, gesungen<br />

und echt gelacht." Auf dem Tunix-Kongress gab's keine politischen Rezepte, da wurden auch keine<br />

langangelegten Strategien ausgetüftelt. Viel wichtiger war den meisten eine neuerlebe<br />

Gemeinsamkeit. Johannes stellte in diesem Moment nicht mehr sich selber infrage, "wir stellten<br />

endlich die Öffentlichkeit dorthin, wo sie längst hingehört, ins Kackquadrat. Für die Tageszeitung<br />

Welt war das Festival ein "Tummelplatz von Linksextremisten und ihren Sympathisanten,<br />

Randalierern und Chaoten". Harald, Gerry, Johannes und Werner hingegen fühlten sich in<br />

doppelter Hinsicht erleichtert. Ihre Heimatstadt Donaueschingen schien endgültig vergessen, und<br />

nun war es ihnen auch gelungen, aus dem schmorenden Saft der Wohngemeinschaft<br />

rauszukommen.<br />

Seither arbeiten sie in der alternativen Szene. Installateur Harald erneuert Waschbecken<br />

und Klos in Kneipen wie "Meisengeige" oder "Kiste Teeladen", legt Leitungen und repariert<br />

schrottreife Autos. Aus Tischler Werner wurde ein "Babysitter", weil die Mütter im "Frauenhaus-<br />

Zentrum für misshandelte Frauen und deren Kinder" Schichtdienst haben. Johannes, von dem<br />

seine Eltern in Donaueschingen träumten, er werde sich <strong>als</strong> Dr. jur. im Heimatörtchen<br />

niederlassen, fährt tagsüber den alternativen Wein in die makrobiotischen Läden; abends sitzt er im<br />

Taxi. Alternativler chauffiert er umsonst, Leuten aus dem Hotel Kempenski und anderen<br />

Nobelherbergen schlägt er's drauf. Nur Gerry, der die Pink-Floyd-Kassette drückte, <strong>als</strong> er mit<br />

Harald aus Donaueschingen abdampfte, macht noch den alten Striemel. Er hat noch seine<br />

Lohnsteuerkarte, hin und wieder schläft er drei Tage in einem durch oder ist mal für zwei bis drei<br />

Wochen ganz untergetaucht. - Den Marktplatz von Donaueschingen will keiner mehr wiedersehen.<br />

429


PUMA UND ADIDAS - EINE DEUTSCHE PROVINZ-POSSE -<br />

KRIEG DER TRÖPFE<br />

Hinter seiner putzigen Fassade durchlebt Herzogenaurach seit Jahrzehnten seine<br />

eigene Gesetzmäßigkeit, die Hass, Rivalität und Leibeigenschaft bedeutet. Die beiden<br />

Sportartikel-Großfirmen adidas und puma haben das fränkische Nest in zwei<br />

unversöhnliche Lager gespalten.<br />

Titanic, Frankfurt a/M - 01. März 1981<br />

Hinter Butzenscheiben und Fachwerkfassaden, der altdeutschen Heimeligkeit, verstecken<br />

sich manche Misthaufen, die so niemand lüften mag. Zumindest im fränkischen Herzogenaurach,<br />

Kreis Erlangen-Höchststadt, nageln heute wie ehedem Landleute tote Eulen an ihre Scheunentore,<br />

intoniert Gitarrist Günter Grube in der mit fünfzehn Alpenveilchen und fünf Flamingoblumen<br />

dekorierten Gaststätte im Turnerheim die altbekannte Volksweise "Es war im Böhmerwald, wo<br />

meine Wiege stand". Da beklagt sich Alfred Wachs vom Gartenbauverein über "die von<br />

Herzogenaurach kaum noch abwendbare Apokalypse. Wir werden bald sterben - allen voran die<br />

jüngere Generation, weil sie sich in Kellerbars unbehelligt tot säuft."<br />

Herzogenaurach im Fränkischen hat dichtgemacht, vom Innenleben der Kleinstadt dringt<br />

nur spärlich etwas nach draußen. In sich gekehrt schlummern die Menschen vor sich hin. Nichts,<br />

so will es scheinen, kann die wohlerträumte Ordnung arg erschüttern. Alles hat hier seine<br />

Akkuratesse. Die eng verschlungenen Gassen glänzen wie blankgewienert, eingelassene<br />

Springbrunnen mit Gartenzwergen zieren den Rasen um die Einfamilienhäuser, von den beiden<br />

Kirchentürmen bimmelt's all' Viertelstund'. Zink und Messing sind allgegenwärtig. So mancher<br />

Tränensack triefte an diesem Ort schon vor Wohlbefinden - deutscher Gemütlichkeit.<br />

Trotzdem ist Herzogenaurach mit keiner anderen gefühlsverklärten Provinz vergleichbar.<br />

Denn unter der beschaulichen Oberfläche durchlebt das Nest seit drei Jahrzehnten seine eigene<br />

Gesetzmäßigkeit, die Hass, Rivalität und Leibeigenschaft bedeutet. Zwei unversöhnliche Lager<br />

stehen einander gegenüber. Der Aurachfluss, der die Kleinstadt spaltet, gilt <strong>als</strong> ihre<br />

"Demarkationslinie". Eine Provinzburleske, könnte man meinen, hießen die Erbfeinde nicht adidas<br />

und puma, eben jene internationalen Sportkonzerne, die sich in ihrem Heimatdorf einen<br />

Religionskrieg leisten - Streifen um Streifen, Stolle um Stolle. Diesseits des Aurachflusses<br />

produziert adidas mit 770 Mitarbeitern seinen Drei-Streifen-Sportschuhe, der Wasser, Licht und<br />

Wind symbolisieren soll; immerhin 40.000 Paare pro Tag. Jenseits ist puma zu Hause, der<br />

aggressive, unverwüstliche, um dessen federweiche Tatzen 550 Beschäftigte kümmern (5.000<br />

täglich).<br />

Das Hüben und Drüben der Aurach hat über all die Jahre die eine Familiensippe von der<br />

anderen feinsäuberlich sortiert. In diesem 16.300 Einwohner zählenden Städtchen wäre es verpönt,<br />

wenn der Vater etwa bei puma am Reißbrett stünde und die Mutter bei adidas Schnürsenkel<br />

einzöge. Und es ist noch keine drei Jahre her, da machte eine Liebesgeschichte zwischen Pumanern<br />

und Adidaner in den Kneipen die Runde. Dem adidas-Verkaufsfahrer Reinhart Schäfer war das<br />

absonderliche Ansinnen gekommen, die puma-Packerin Anita Bechthold zu ehelichen. Die beiden<br />

Familien liefen Amok vor Angst um Ansehen und Arbeitsplatz, die Firmen drohten für den Fall<br />

der Heirat unverhohlen den Rausschmiss an. adidas-Reinhart und seine puma-Anita wanderten aus,<br />

wie man in Herzogenaurach zu berichten weiß.<br />

430


Für Armin Dassler,(*1929+1990) den puma-Chef, "ist dieses verfluchte Familiensplittung<br />

in den Fabriken" so etwas wie Rassenschande. Keiner seiner Mitarbeiter würde es - gar in seiner<br />

gewichtigen Gegenwart - wagen, den Namen adidas auszusprechen. Im puma-Werk verständigte<br />

sich selbst der Betriebsrat darauf, von "denen da drüben" oder kurz von "Dingda" zu reden.<br />

Als mich der 50jährige Dassler im Gasthof Schuh in Dondörflein zum Steinhäger-trinken<br />

einlud, konnte ich im Rahmen einer journalistischen Befragung natürlich nicht ausschließlich auf<br />

puma herumreiten. Mindestens drei Mal war es unvermeidlich, adidas auch akustisch wahrnehmbar<br />

zu benennen. Schließlich wechselte der Ex-Gladbacher Berti Vogts nicht von puma zu "Dingda".<br />

Auch ist der 53malige Nation<strong>als</strong>pieler Rainer Bonhof beim 1. FC Köln nicht der einzige puma-<br />

Spieler in einer bei "Dingda" unter Vertrag stehenden Mannschaft. Ferner trug ja selbst puma-<br />

Pressesprecher <strong>als</strong> aktiver Spieler von Schalke 04, Bayern München sowie in der Nationalelf keine<br />

"Dingda-Kicker", sondern die Konkurrenz-Schlappen.<br />

Der puma-Chef sitzt breit auf der Bank, mit seiner puma-Nadel am Revers. Neben ihm<br />

seine Public-Relations-Mitarbeiter. Der eine im puma-Schiedsrichterhemd, der andere in puma-<br />

Tenniskluft. Hinter der Theke zapft Bauer Schuh, ein Hobby-Gastronom, im puma-Trainingsanzug<br />

und puma-Turnschuhen, Bier, Mama Schuh, im weißen Küchenkittel und puma-Tretern, brät in<br />

der Küche für die Gäste Scheufele. Und Fräulein Schuh, die unverheiratete Tochter des Hauses, ist<br />

dafür abgestellt, dem puma-Chef in puma-T-Shirt, puma-Strümpfen und puma-Joggingschuhen<br />

regelmäßig den Steinhäger nachzukippen. Da versteht es sich dann von selbst, dass Mama Schuh<br />

den puma-Chef irgendwann nach Mitternacht mit einem vom Schäferhund abgewandelten Verslein<br />

liebevoll verabschiedet. "Werde auch du Mitglied im puma-Verein, denn in der Liebe zu puma<br />

erkennt man die Seele des Menschen."<br />

Die Leute in dieser verstohlenen Gegend dulden keine Zwischentöne. Sie betrachten es<br />

<strong>als</strong> ihre ureigenste Verpflichtung, auch unaufgefordert Front zu beziehen. Zu bitter war einst die<br />

Armut, zu rasant der wirtschaftliche Aufstieg mit adidas und puma. Eine offenkundig von Gott<br />

mitgegebene Mischung aus untertänigem Bekenntnisdrang und dienstbeflissener Uniformiertheit<br />

sind die Spätfolgen.<br />

Tatsächlich gleicht Herzogenaurach einem Olympiadorf im Fachwerklook. Schon<br />

morgens um 4 Uhr, wenn die Müllabfuhr die Straßen durchkämmt, tragen die Männer den weiß<br />

gestreiften adidas-Blaumann. Gegen 7.30 Uhr strömen Kinderscharen zur Carl-Platz-Schule. Ganze<br />

Fußballmannschaften versammeln sich da im Vorhof. Statt Ranzen oder Jeansbeutel schultern die<br />

meisten ihre adidas-oder puma-Familientasche. Gemüsehändler Viktor Tourinaire von der hinteren<br />

Gasse öffnet um 8 Uhr seinen Laden - <strong>als</strong> puma-Trainer verkleidet. Um 9.30 Uhr fährt<br />

Lokalredakteur Ekkehardt Kubec in sein Blättchen. Sein Wagenaufkleber: "Puma macht's mit<br />

Qualität". Bereits um zehn Uhr treffen sich die ersten Arbeitslosen im Café Römer am Markt -<br />

ausnahmslos im Dress der elf Besten. Vis-à-vis liegt die Buchhandlung Jung. Schaufensterlang<br />

präsentiert der einzige Bücherladen am Ort Fußball-Fotobände von Welt- und<br />

Europameisterschaften. Nur Polizei und Feuerwehr blieb das Elastik-Allerei bislang versagt - noch.<br />

Ein Prototyp der Trainingsanzugskultur ist Heiner Kaltenhäuser, der langjährige<br />

Hausmeister vom Rathaus. Für den stets glattfrisierten Heiner bestehen keinerlei Zweifel, dass die<br />

adidas-Klamotten die schönsten, praktischsten und saubersten sind, die sich unsereins so vorstellen<br />

kann". Der Hausmeister Heiner beurteilt dies nicht zuletzt aus intimer Sicht seiner Mitbürger.<br />

Herzogenaurach sei nämlich die Stadt der versenkten Blicke. "Jeder achtet hier darauf, was für'n<br />

Schuhwerk du trägst." Immerhin habe ihm seine Mutter "<strong>als</strong> Baby adidas über die Muttermilch<br />

eingetrichtert".<br />

431


Für Kaltenhäuser und seine Freunde ist ihre adidas-Muttermilch auch eine politische<br />

Gesinnungsfrage. Denn hinter den drei Streifen gruppieren sich die Roten, hinter puma verstecken<br />

sich die Schwarzen der Stadt, die seit zehn Jahren den CSU-Bürgermeister Ort auf ihrer Seite<br />

wissen. Keine Kneipe, kein Geschäft, kein Hotel, das sich nicht in dieses selbst gestrickte Raster<br />

fügen ließe. Kaltenhäuser und Co. ("Wir sind die Sozis") verkehren nun mal nicht im pumabevorzugten<br />

Auracher Hof oder in der "schwarzen" Krone. Tabus, die schon seit Jahrzehnten<br />

existieren und bisher niemand zu lockern trachtete. Statt dessen hocken die roten Adidianer<br />

wochentags in der "Kastanie", dreschen Schafskopf und lassen das Bier durchlaufen. Die Kastanie<br />

ähnelt einer fränkischen Wohnstube, die nur Stammkundschaft kennt. Wenn sich doch mal ein<br />

Auswärtiger über die Hemmschwelle wagt, wird es in der Kastanie schrecklich still.<br />

Ganz anders am Wochenende. Dann heißt es high noon in Herzogenaurach. Der<br />

Stellvertreterkrieg zwischen puma und adidas, zwischen Roten und Schwarzen, erlebt Sonntag für<br />

Sonntag facettenreiche Varianten. Wie verwandelt marschieren Kaltenhäuser und Frau an den<br />

Stadtrand. Selbstverständlich in der obligaten Sonntagsausgeh-Uniform; schließlich hat jeder noch<br />

ein zweites Paar gute Turnschuhe im Schrank. Mit viel Reißbrett-Geschick haben es die Stadtplaner<br />

verstanden, die Fußballplätze der beiden todverfeindeten Vereine keine 100 Meter Luftlinie<br />

auseinanderzulegen. Oben auf dem kleinen Hügel residiert der FC Herzogenaurach, der von puma<br />

gesponsorte Club, derzeit Kellerkind in der Bayernliga, der höchsten Amateurspielklasse. Unter<br />

quasi im Souterrain ist der Arbeitersportverein (ASV) zu Hause, von adidas gepäppelt und im<br />

oberen Drittel der Landesliga platziert.<br />

Kein Sonntag vergeht in diesem Frankenstädtchen ohne Zwischenfälle, mal mehr, mal<br />

weniger spektakulär. Das letzte Spiel zwischen FC und ASV - dam<strong>als</strong> kickten beide noch in<br />

derselben Klasse - war folgenschwer, puma säbelte adidas wiederum kappte in die Waden, puma<br />

seinerseits landete versteckte Nierenschläge. Bier- und Colaflaschen flogen übers Spielfeld,<br />

Sanitäter, Bahre, Krankenwagen.<br />

Dessen ungeachtet machten sich puma-Kinder derweilen auf des Gegners Platz an der<br />

adidas-Familienloge, einer alten Gartenbank, zu schaffen. Prompt hauten adidas-Ordner puma-<br />

Kinder, puma-Väter gerieten in Rage und prügelten los – Stellvertreter-Kriege in Herzogenaurach.<br />

Als an diesem Sonntag der Schlusspfiff die Anspannung abblies und das Spiel alle<br />

Beteiligten geschafft hatte, zog sich ein jeder in sein Vereinshaus zurück. Bei den Pumanern, den<br />

knappen Siegern, ließ der Konzern den Sekt auffahren. Im adidas-Haus traute sich kein Spieler zu<br />

den Fans. Vorn an der Theke allerdings keimte der Trotz. Eine abgedroschene Gestalt im<br />

Lodenkult, die so gar nicht zu den Roten passen will, gab da plötzlich den Takt an. Zahn heißt sie<br />

und wohnt in der Ansbacher Straße 2. Aber in Herzogenaurach kennt ihn jeder nur <strong>als</strong> "den<br />

Führer", weil sich der wirre Rentner für den Rest seines Lebens entschlossen hat, <strong>als</strong> Hitler-<br />

Imitator Ver- und Bewunderung zu erregen.<br />

Bislang war Rentner Zahn "nur" in der nahe gelegenen US-Base aus "Führer "<br />

aufgetreten. Vornehmlich verhökerte er das auf einem Porzellanteller eingebrannte Konterfei seines<br />

vermeintlichen Ebenbildes, las und dozierte aus der amerikanischen Ausgabe von "Mein Kampf"<br />

und ließ sich gemeinsam mit US-Soldaten ablichten; <strong>als</strong> Souvenir für die daheimgebliebenen<br />

Familien in Kentucky und Virginia. Zuletzt machte "Hitler-Zahn" von sich reden, <strong>als</strong> er zum<br />

Fasching US-Boys im Spalier antreten ließ und vor ihnen mit Führergruß auf-und abmarschierte.<br />

Nun stand dieser Unhold nach der verlorenen Schlacht im ASV-Sportheim vorn an der<br />

Theke und suchte, biertrunkene ASV-Anhänger wieder aufzumuntern. "Aber eins, aber eins, das<br />

432


leibt bestehen, der ASV wird niem<strong>als</strong> untergehen", grölte es durch den Saal. "Treu unser Herz,<br />

adidas unser Schuhwerk" - ein fränkischer Sonntag im ASV-Sportheim.<br />

Am darauffolgenden Montag verfassten die Jusos eine Resolution, in der sie die<br />

bescheidene Frage aufwarfen, "was denn in dieser Stadt noch alles passieren muss, bevor die<br />

aufgehetzte Bevölkerung endlich begreift, dass der Konkurrenzkampf zwischen adidas und puma<br />

um die Weltmärkte gewiss nicht in Herzogenaurach auf dem Fußballplatz entschieden werde". Und<br />

im unverkennbaren Juso-Deutsch forderten die Junggenossen "eine sozialpsychologische<br />

Untersuchung dieser grotesken Situation". Nur ein Pauker und ein Pfarrer meldeten sich im<br />

kleineren Kreis noch zaghaft zu Wort. Gewerbeoberlehrer Hacker beklagte sich über "den<br />

Psychoterror, den er tagtäglich in der Schule verspüre. "Es ist einfach fürchterlich. Hasserfüllte<br />

Jugendliche bilden puma- und adidas-Banden und schlagen blindlings aufeinander ein, die<br />

Konzerne kassieren die Gelder, und die Erwachsenen hauen sich wie in der Steinzeit die<br />

Wurfschleuder um die Ohren." Pfarrer Sterzl indes mahnte umsichtig zur Besonnenheit, damit "der<br />

Familienhass nicht von der Bild-Zeitung unnötigerweise ins Rampenlicht des öffentlichen<br />

Interesses gerückt wird." Von nun an war's auffallend still in Herzogenaurach.<br />

Ich war auf der Suche nach den Urhebern dieser Diadochenkämpfe und landete<br />

zwangsläufig auf dem Friedhof. Unverhofft traf ich auf den beschwichtigenden Pfarrer Sterzl,<br />

jenen katholischen Priester, dem Bürger und sogar die Ortsbanken einen eminenten Einfluss<br />

nachsagen. So munkelt man beispielsweise in der Stadt, seiner diskreten Intervention sei es<br />

zuzuschreiben, dass Schlabbermäuler in den Pornofilmen kurz entschlossen aus Herzogenaurach<br />

verbannt wurde. Ich bat den Pfarrer, mich doch zu den Gräbern der inzwischen legendären<br />

Dassler-Brüder zu begleiten.<br />

Rudolf Dasslers Familiengrab (puma) liegt via-à-vis der Friedhofskapelle. Er war der ältere<br />

von beiden und starb bereits 1974. "Gottesfürchtige Menschen sind sie beide gewesen". verrät mir<br />

der Pfarrer, denn sie kamen aus einer bitterarmen Familie. Ihr Vater verdingte sich <strong>als</strong><br />

Fabrikarbeiter, die Mutter rubbelte die Wäsche gutsituierter Bürger. Als 15jähriger Bub arbeitete<br />

Rudolf bereits in der "Fränkischen Schuhfabrik". Mitte der zwanziger Jahre begannen die beiden<br />

Brüder in der Schlappenschusterstadt Herzogenaurach mit der Produktion von Sportschuhen. Der<br />

erste Großauftrag kam vom heimatlichen Sportverein. Die beiden Brüder galten <strong>als</strong> unzertrennlich.<br />

Rudolf übernahm Organisation und Verkauf, Adolf bastelte an neuen Schuhkonstruktionen.<br />

Bereits 1928 belieferten die Brüder deutsche Olympiateilnehmer in Amsterdam mit Dassler-<br />

Produkten. 1936 rannte der vierfache Goldmedaillen-Gewinner Jesse Owens (*1913+1980;<br />

innerhalb von 45 Minuten fünf neue Weltrekorde) in Dassler-Sprintern.<br />

Zwei Jahre nach Kriegsende kam es zum unwiderruflichen Bruch. Nach einem heftigen<br />

Streit stürmte Rudolf Dassler (*1898+1974) aus dem gemeinsamen Büro und gründete auf der<br />

anderen Seite der Aurach seine puma-Fabrik. Bruder Adolf nannte fortan seine Produkte adidas.<br />

Mit ihrer Trennung spaltete sich auch die Arbeiterschaft. Ein Großteil blieb bei adidas, der Rest<br />

zog zu puma.<br />

Als Motive, die zum Zerwürfnis führten, mussten bislang die beiden Frauen der Dassler-<br />

Brüder herhalten, streitbare Hyänen angeblich, die prestigesüchtig ihre Männer zur Weißglut<br />

kitzelten. Von Kabale bis Hiebe - eine Story, die so intim und noch dazu schlüssig erscheint,<br />

vergräbt sie doch elegant jene unrühmlichen Tage, <strong>als</strong> in Deutschland noch Fußballschuhe aus<br />

braunem Leder geleimt wurden. Adolf Dassler produzierte Frontstiefel, Rudolf war Soldat. Sein<br />

Pech dürfte es gewesen sein, dass er für sich den Krieg schon früher <strong>als</strong> beendet erklärt hatte, sich<br />

nach Herzogenaurach durchschlug und dort den Nazis in die Hände fiel. Er war bereits im<br />

433


Güterwaggon auf dem Weg ins KZ Dachau, <strong>als</strong> die Amerikaner ihn befreiten, aber ihrerseits den<br />

ihnen undurchsichtig erscheinenden Dassler ein Jahr im Internierungslager Hammelburg<br />

festhielten.<br />

Zu jener Zeit dürfte sich Adolf Dassler wohl kaum um die Rehabilitierung seines Bruders<br />

gekümmert haben. Ein Foto zeigt Rudolf Dassler in den "schlimmsten Tagen meines Lebens" mit<br />

einer Büste unterm Arm. Er nannte es "mit dem Kopf unterm Arm und trotzdem ungebrochen".<br />

Die beiden Brüder wechselten nie mehr ein Wort miteinander. Als Rudolf starb, ließ sein<br />

Bruder im Kommuniqué-Stil lediglich verlauten: "Aus Gründen der Pietät möchte die Familie<br />

Adolf Dassler zum Tod des Rudolf Dassler keinen Kommentar abgeben."<br />

Mittlerweile bin ich mit Pfarrer Sterzl auf der anderen Seite des Friedhofs angelangt und<br />

stehen vor zwei Gruften breiten Adi-Dassler-Grab, dem größten in Herzogenaurach. Er hat sich<br />

1978 ins Jenseits verabschiedet. Geschäftlich konnte sich der adidas-Chef weitaus besser<br />

durchsetzen <strong>als</strong> sein puma-Bruder; nicht zuletzt aufgrund seiner engen Freundschaft zum früheren<br />

Bundestrainer Sepp Herberger, die ihm beim Deutschen Fußballbund eine Monopolstellung<br />

einbrachte. Schon seit Jahren ist adidas weltweit der Branchenführer. In Zahlen: Über 12.000<br />

Beschäftigte, davon 2.500 in der Bundesrepublik, produzieren heute in 18 Ländern der Welt täglich<br />

über 200.000 Paar Sportschuhe. Hinzu kommen Spielbälle, Trikots, Trainingsanzüge, Badehosen.<br />

Der Umsatz beläuft sich auf weit über eine Milliarde Mark.<br />

So mancher Fußballstar, plaudert der Pfarrer, habe er schon an das Dassler-Grab geführt,<br />

Beckenbauer, Overrath und Uwe Seeler. Bei Uwe Seeler fällt ihm sogleich ein Zitat des<br />

evangelischen Theologie-Professors Helmut Thielicke (*1908+1986) ein. Als "uns Uwe" im Jahre<br />

1961 für 1,5 Millionen Mark nach Italien wechseln wollte, habe dieser ja einen offenen, mit<br />

Leidenschaft formulierten Brief an Seeler gerichtet: "Wenn Sie dieser Versuchung widerstehen,<br />

dann wäre das ein leuchtendes Fanal, die Menschen zur Besinnung zu rufen." Pfarrer Sterzl, der<br />

wohl manchmal ein Witzchen macht und dabei ganz unschuldig lacht, sagt dies natürlich nicht<br />

ohne Hintergrund. Auch er wolle in Herzogenaurach über Jahre ein Fanal setzen und die beiden<br />

Dassler-Brüder miteinander versöhnen. Oft sei er sich vorgekommen wie "ein Zehnkämpfer<br />

Gottes". ("Aber zitieren Sie das bitte nicht!") Ich verabschiede mich von Pfarrer Sterzl an der<br />

Friedhofstreppe, die abwärts zur Straße führt. Als ich unten angekommen bin und mich noch<br />

einmal nach oben zu ihm umdrehe, entdecke ich, dass Pfarrer Sterzl tatsächlich ein Zehnkämpfer<br />

Gottes ist - er trägt puma-Turnschuhe.<br />

Herzogenaurach in diesen Tagen. Die neureichen Erben der erdverwachsenen<br />

Schlapppenschuster von einst residieren heute im Verborgenen. Hermetisch von der Außenwelt<br />

abgeschirmt und für Fremde "off limits", grenzt ein groß flächtiger Park mit englischen Rasen an<br />

das adidas-Fabrikgelände. Dort reiht sich eine Villa an die andere. Der Familien-Clan hält auf<br />

Distanz zum Dorfpöbel, duldet der Weltruf doch nur den internationalen Zuschnitt. Da stattet der<br />

Präsident von Togo in Begleitung einer 52jährigen Delegation adidas einen Besuch ab. Ihm folgt<br />

der katholische Bischof von Peru. Franz Beckenbauer fliegt aus New York ein, auf einem adidas-<br />

Symposium diskutieren Sepp Maier und Cassius Clay die Frage, ob "die Spaßvögel im Sport<br />

aussterben" - natürlich live über Monitor. Maier in Herzogenaurach. Mohammad Ali in New York.<br />

Wohl kein bei adidas unter Vertrag stehender Spitzensportler, der in Herzogenaurach<br />

noch nicht vorgeführt wurde. Ob Uwe Seeler, Willi Holdorf, Werner von Moltke, Wolfgang<br />

Overrath, Fritz Walter, Jürgen Grabowski, Franz Beckenbauer, Michel Jazy, Mark Spitz oder Ilie<br />

Nastase -sie alle handelten im spanisch-rustikal gestylten adidas-Sporthotel (Baukosten: vier<br />

434


Millionen Mark) ihre Exklusiv-Werbe-Verträge aus. Beckenbauer jedenfalls kann nach seinem<br />

letzten Herzogenaurach-Trip mehr <strong>als</strong> zufrieden sein. Garantiert adidas doch nunmehr eine<br />

lebenslange Pauschale von jährlich 150.000 Mark.<br />

Da mag puma selbstverständlich nicht hintanstehen. John Aki Bua, Olympiasieger von<br />

1972 im 400-Meter-Hürdenlauf, beglückt Herzogenaurach seit zwei Jahren. puma-Dassler ließ ihn<br />

aus Uganda einfliegen, "um der optischen Übermacht der Konkurrenz im Dorf etwas<br />

entgegenzusetzen". So gibt der verschüchterte "Vorzeige-Neger im Frankenland" brav seine<br />

Autogrammstunden. Sonst hockt er in der PR-Abteilung der Firma und schreibt mit dem Bleistift<br />

in ein Leitz-Schulheft seine Memoiren.<br />

Überhaupt nimmt puma-Dassler jede Milchkanne mit, wenn es darum geht, sich fett<br />

gedruckt in der Lokalpresse wiederzufinden. Mal besingt ihn Udo Jürgens zum Geburtstag, mal<br />

tanzt er mit "Frau Minister Ertl" Walzer. Dann steckt er sich "für sein Mäzenatentum die Goldene<br />

Ehrennadel seines mit 300.000 Mark verschuldeten Fußball-Klubs an. Und schließlich informiert<br />

sich der puma-Chef mit 25 Landwirten über die Schweinezucht in seiner Region. Die Schlagzeile<br />

am darauffolgenden Tag in den Nordbayerischen Nachrichten ist ihm gewiss: "puma-Dassler war<br />

vom kapitalen Zuchteber beeindruckt."<br />

So erlebt die alte Fehde der verstorbenen Brüder heutzutage in der Lokalpresse eine<br />

verfeinerte Neuauflage. Alljährlich zur Faschingszeit äußern die Narren von Herzogenaurach "ihren<br />

Traum", der die beiden Firmen und damit die Stadt wiedervereinigen soll. "Endlich haben sich die<br />

Genossen für immer zusammengeschlossen. Ja ihr Leut, das war nicht dumm, die Firma heißt jetzt<br />

adi-pum." Doch darauf sollte die Bevölkerung nicht erst warten. Ein Flug nach Taiwan könnte<br />

jedem den "Seelenfrieden" verschaffen. In den Hallen B und C der dortigen Sportartikelfabriken<br />

produzieren adidas und puma gemeinsam. Dort kostet eine Lohnminute nämlich nur 5 Pfennig.<br />

435


JUGENDCLIQUEN IN DEUTSCHLAND - "SONST LÄUFT<br />

EBEN NICHT VIEL – DIE GEMEINSAM ERLEBTE<br />

LANGEWEILE IM VERLOREN SEIN"<br />

Irgendeinen Sinn wird das doch schon haben (Uli)<br />

But it’s all right, Ma, it’s life and life only (Bob Dylan)<br />

"Du hast keine Chance, aber nutze sie"<br />

Rowohlt Verlag, Reinbek/Hamburg<br />

14. Februar 1982<br />

Zu Anfang war es ziemlich merkwürdig zwischen Ulli und Anna. Und dieser Anfang<br />

dauerte fast über ein Jahr. Sie lernten sich bei Robbi auf der Terrasse kennen. Dort, wo in<br />

feierlicher Entspanntheit getrunken, geschnupft und gefixt werden durfte. Bei Robbi traf sich die<br />

Clique meistens. Vor allem zum Wochenende, wenn sich seine Eltern mit dem Grill aufs Land<br />

verzogen, um aufzutanken. Natürlich konnte nicht jeder bei Robbi vorbeischauen. Die Clique<br />

achtete schon darauf, unter sich zu bleiben. Man war viel zu vertraut miteinander, <strong>als</strong> dass andere<br />

Typen noch auf die Terrasse gepasst hätten. Außerdem gab es in Aachen wenige Gestalten, die zu<br />

ihnen gepasst hätten, das glaubten sie jedenfalls - das glaubten sie jedenfalls. Keiner von ihnen<br />

betrachtete sich und den anderen <strong>als</strong> einen verstümmelten Spießer, <strong>als</strong> jemanden, der auch nur<br />

halbwegs hinter dem vorgegaukelten So-und-nicht-Anders stand, das sie unentwegt zu Hause oder<br />

auch in der Schule zu hören bekamen.<br />

Robbi galt <strong>als</strong> Leichtfüßler in der Gruppe, obwohl er sich im Gymnasium schwerer tat <strong>als</strong><br />

seine ständigen Gäste und schon einmal backengeblieben war. Sein Elternhaus hatte ihn nie<br />

wohlbehütet, dafür aber immer wohlbetucht ausgestattet. Schon eine Woche nach der<br />

Führerschein-Prüfung, die er genau zu seinem 18. Geburtstag ablegte, kurve "Kind Robbi" mit<br />

Vaters 350-Metallic-Mercedes durch Aachens City - Blinkhupe hier, Blinkhupe dort. "Kannste mir<br />

mal den Schlüssel geben" war auch die einzige Gesprächsebene, die Robbi mit seinem Stiefvater<br />

fand. Sonst war Funkstille. Er kannte seinen neuen Vater erst seit vier Jahren, - einen Chirurgen,<br />

dessen Lebensinhalt hauptsächlich aus Knochen und Geld bestand.<br />

Andy, gerade erst siebzehn geworden, zählte jeder zu seinem besten Freund. Ein<br />

Gemütskerl, groß, dick, breit, mit vielen Pickeln im Gesicht, lange, strähnige Haare, immer in<br />

buntgefleckten und verwaschenen Jeans. Andy, litt unter seinem Fettkomplex, genoss es aber<br />

sichtlich, der größte Schluckspecht in der Clique zu sein. "Von nix kommt nix", war sein<br />

Standartspruch. "Und du weißt ja, wenn man säuft oder auch kifft, findet man sehr schnell ein paar<br />

Freunde." Andy hatte viele Kumpels in der Stadt. Ab und zu kippte er frühmorgens vor der<br />

Physikstunde noch schnell einen Flachmann herunter, um seine zittrigen Finger, die ihm oft lästig<br />

waren, unter Kontrolle zu bringen. Selbstverständlich vergaß Andy nie sein obligates Kaugummi,<br />

wenn er den Klassenraum betrat und allseits mit seinem "Hallo, ah, Hallo" einen guten Morgen<br />

wünschte.<br />

Ulli wohnte erst zwei Jahre in Aachen. Er kam <strong>als</strong> 15jähriger mit seiner Mutter aus<br />

Iserlohn angereist, kurz, nachdem die Scheidung seiner Eltern ausgestanden war. Seinen Vater sah<br />

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er alle halbe Jahre einmal, wenn er vom NATO-Hauptquartier in Brüssel, wo er <strong>als</strong> Bundeswehr-<br />

Oberstleutnant diente, in Aachen Zwischenstation machte, bevor er zu seiner Freundin nach Köln<br />

weiterfuhr. Die Clique wurde für Ulli, einen entwurzelten Jungen, der schon überall und nirgends<br />

gewohnt hatte, ein bisschen sein zu Hause. Sonst lief eben nicht viel. Weder in der Schule noch mit<br />

seiner Mutter. Sie war nervlich kaputt, kam abends abgeschlafft vom Krankenhaus und klagte<br />

ständig darüber, <strong>als</strong> Ambulanzschwester kein Blut mehr sehen zu können. Heulkrämpfe und<br />

hysterische Schübe lagen bei ihr in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Einsamkeit zermürbte sie, vor<br />

allem fehle ihr jemand, mit dem sie sich richtig aussprechen konnte.<br />

Und dann waren da noch Gisela und Dorle, denen alles stank, denen alles so eng erschien,<br />

langweilig und doof, die richtig Action wollten - und das nicht nur vorm Fernseher. Und die<br />

Aachen bei jeder Gelegenheit mit einem Kuhdorf verglichen. Alles schien besser, nur die etwa<br />

250.000 zählende Einwohnerstadt war und blieb beschissen. Zwei Mädchen von sechzehn aus<br />

Beamtenhaushalten. Giselas Vater zählt Steuergelder auf dem Finanzamt, Dorles Papa stellt<br />

Personalausweise in der Einwohnermeldebehörde aus.<br />

Robbis Terrassen-Clique -das waren keine Kinder von Traurigkeit, Larmoyanz und<br />

Selbstmitleid, die über Leistungsdruck klagten und Existenzängste, Verzagtheiten plagten. Zwar<br />

gingen sie alle zum Gymnasium "Brüsseler Ring", doch die hart angezogene Schraube des Numerus<br />

clausus griff bei ihnen nicht - ein ausgeleiertes Gewinde, nicht mehr und nicht weniger. Ebenso<br />

verpufften Sanktionen ihrer Eltern wirkungslos, wenn sie überhaupt noch angedroht wurden. Denn<br />

die Alibis funktionierten nach den Wochenend-Eskapaden so fabelhaft, dass die Eltern nur noch<br />

selten nachfragten: teils aus Bequemlichkeit, teils aus Gewöhnung. Etwa, <strong>als</strong> Gisela mitten in der<br />

Woche gegen 21 Uhr sich noch mit einem Lehrer treffen wollte, um ein Dia-Projekt für den<br />

kommenden Unterricht vorzubereiten. Am nächsten Morgen rief der Vater vorsichtshalber an und<br />

erkundigte sich bei dem besagten Geographie-Lehrer ganz dezent, ob solche sicherlich<br />

wünschenswerten außerschulischen Veranstaltungen denn so spät stattfinden müssten. Der<br />

Pädagoge, selbst erst 32 Jahre alt, konnte mit vielen plausiblen Erklärungen aufwarten. Giselas<br />

Vater schien beruhigt. Offensichtlich auch deshalb, weil sich der Pauker lobend über die Leistung<br />

seiner Tochter ausließ. So etwas hören Eltern selten und doch allzu gern. Verborgen blieb indes:<br />

Die Dia-Geschichte wurde mit Disco-Glimmer vertauscht, bei sanfter Musik zwischen "rain and<br />

tears" - fernab von Leistung und Zensuren.<br />

So fanden schließlich alle Eltern dieser Clique nichts Außergewöhnliches daran, wenn ihre<br />

Söhne übers Wochenende zu Robbi gingen und dort auch nächtigten. Immerhin ist es der Sohn<br />

eines angesehenen Chirurgen in der Stadt. Eigentlich ein Umgang, der doch nicht besser sein<br />

könnte. Und die Mädchen waren zur besagter Zeit gerade immer bei einer Freundin oder<br />

umgekehrt. Oder auch bei Oma im Nachbardorf.<br />

Robbis Feste begannen immer dann, wenn der Metallic-Mercedes seiner Eltern hinter der<br />

Kreuzung verschwand. Das war oft am Samstag gegen drei. Bis vier Uhr trudelten die meisten ein.<br />

Erst einmal ging es im Zweitwagen, einem Alfa-Sud, den wochentags Robbis Mutter fuhr, ins Café<br />

Domberg nach Holland. Im Café Domberg aß die Clique manierlich Pflaumenkuchen oder<br />

Käsetorte mit Sahne, dazu trank sie ein Kännchen Kaffee. Wenn die Rechnung bezahlt wurde,<br />

legte Robbi wie selbstverständlich ein "Trinkgeld" aufs Tablett - einen Fünfzig-Mark-Schein. Café<br />

Domberg zeigte sich durch seinen Oberkellner erkenntlich -ganz nach Art des Hauses. An der<br />

Garderobe gab's ein Päckchen in Silberfolie - Haschisch. Es versteht sich von selbst, dass Robbi<br />

und Co. nicht nur für ein Eigenbedarf einkauften. Denn in Holland ist Haschischkonsum legal und<br />

daher weitaus billiger <strong>als</strong> in der Bundesrepublik auf den Schwarzmärkten. Einmal verhökern sie den<br />

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egehrten Stoff unter der Woche in Robbis Zimmer oder in Aachens Beton-Vorstädten, zum<br />

anderen signalisierte Achim aus dem fernen Emden in Ostfriesland seine Nachschubwünsche.<br />

Dann wurde schon für 100 0der 2oo Mark im Café Dornberg geordert. Achim leistete nämlich<br />

seinen Wehrdienst beim Heer im Ostfriesischen ab und versorgte auf diesem Weg den frustrierten<br />

und ausgeflippten Teil dieser Kompanie.<br />

Robbi löhnte auch nicht selten allein aus eigener Tasche. Das verbot die Solidarität. Stets<br />

schmiss die Clique zusammen oder Achims Überweisungen waren rechtzeitig postlagernd in<br />

Aachen eingetroffen. Regelmäßig am Mittwoch machten die fünf Kassensturz. Man konnte ja nie<br />

so recht wissen, wie gesättigt oder hungrig Aachen und Umgebung tatsächlich war. Mit dem<br />

Alkohol lief das schon einfacher. Den brachte sich jeder selber mit. Nur im Notfall öffnete Robbi<br />

Stiefvaters Hausbar. Aber nur im Notfall. Ulli stand auf Lambrusco, Andy schleppte kistenweise<br />

seinen Doppelbock an, die Sechserpackung für 3,98 Mark von Tengelmann. Bärbel und Ingrid<br />

waren auf Gin aus, den sie sich an der Grenze zollfrei besorgten.<br />

Manchmal, vor allem wenn es am Samstag regnete und auf der Terrasse keiner gemütlich<br />

durchgezogen werden konnte, kriegten sie einen Koller. Da hatte Andy oder auch der Ulli die<br />

spontane Idee, doch mal kurz nach Osnabrück oder sonstwohin zu stochern, einfach mal kurz über<br />

die Autobahn belgen, quer durchs Ruhrgebiet, mit der Lichthupe einen Zampano mimen, hart<br />

auffahren und sich wieder souverän zurückfallen lassen. In Osnabrück ein Bierchen in der<br />

"Quellenburg" zu Sutthausen zu schlucken und im Affentempo sofort wieder nach Hause,<br />

möglichst rechtzeitig vor dem Aktuellen Sportstudio. - "Es klingt dumm", sagt Ulli heute. "Wir<br />

tobten auf unseren Spritztouren Marlboro- und Reval-Sehnsüchte aus der Werbung aus, die uns<br />

Tag für Tag eingehämmert worden sind. Freiheiten, die wir uns gerade erst erkämpft hatten.<br />

Abenteuer, die wir suchten, selbst ist der Mann. Geländefahrten, Autobahnen. Wir wussten das<br />

alles, aber es gab uns irre viel Selbstbestätigung. Wir glaubten jedenfalls dam<strong>als</strong>, so und nicht anders<br />

könnte unsere Freiheit aussehen."<br />

Die Sommer-Monate des Jahres 1977 hingegen verliefen ziemlich einsilbig, ja monoton.<br />

Trotz Hasch-Umsatz hatte die Robbi-Clique kaum Geld. Gemeinsame Ferien lagen nicht mehr<br />

drin. Viel nerviger aber war die schlichte Tatsache, dass Robbis Eltern schon drei Wochen nicht<br />

aufs Land rausfuhren. Da konnten keine Feten mehr steigen, die Haschgeschäfte mussten<br />

notgedrungen auf öffentlichen Plätzen in der City abgewickelt werden, was natürlich das Riskio<br />

maximierte. So im Jugendzentrum Büsch, einer kirchlichen Einrichtung oder auch in der engen<br />

Stehkneipe gegenüber dem Theater, wo sonst hauptsächlich Bühnenarbeiter ihr Pils tranken und<br />

sich über den Allüren einiger Schauspieler aufregten.<br />

Der 17jährige Ulli wusste zu jener Zeit oft nicht, wie er nach Hause kam, manchmal<br />

wachte er auch verkatert und verquollen in Betten fremder Leute auf, die ihn irgendwo aufgegabelt<br />

hatten. "Das ging drei Wochen, bis wir davon runterkamen. Wir haben da Böckchen-Rekorde<br />

aufgestellt, Doppelbock-Böckchen, zwölf Stück mussten es schon in der Regel sein. Der Rekord<br />

steht allerdings auf 19, und wir haben es sogar auf 21 gebracht. Wir waren eben eine richtige<br />

Clique", meint Ulli. "Dam<strong>als</strong> lief alles gemeinsam ab, saufen gehen, schäkern, blödeln, lachen,<br />

gegenseitig verarschen, demoralisieren und wer am längsten durchhält und andere Scherze." Eine<br />

richtige Clique bedeutet aber auch, "nicht abseits stehen, keine Schwächen zeigen, alles mitmachen<br />

und nachahmen, was Robby und Andy oder auch Alfa Junior alles auf der Latte hatten, auch wenn<br />

es der letzte Scheiß war. " - Ihre Latten.<br />

Am letzten August-Wochenende verschwand der Metallic-Mercedes mit Robbis Eltern<br />

endlich wieder hinter der Kreuzung. Gegen vier, so hoffte Robbi, könnten alle da sein. Erst Fahrt<br />

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nach Holland, dann einen duften Abend mit vielen Spielchen, die jeder kannte, mal Posthörnchen,<br />

mal Senftöpfchen. Doch nach der langen, unfreiwilligen Pause ließ es sich an diesem Samstag<br />

schleppend an. Schließlich zischten Robbi und Andy allein über die Grenze, mürrisch wie sie<br />

waren, aber der Shit musste geholt werden. Ulli kreuzte nach sechs, Dorle noch eine Stunde später<br />

auf. Gisela kam erst um halb neun und brachte Anna mit, die allen fremd war, jedoch lebhafte<br />

Neugierde auslöste. Anna, obwohl erst vierzehn, fast unscheinbar, klein und zierlich, zog<br />

unweigerlich die Blicke auf sich. Vielleicht, weil so gar nichts von ihr ausging, was mit den Cliquen-<br />

Mädchen vergleichbar gewesen wäre.<br />

Seltsam, wie das Äußere knirschte. Lagen doch keine zwei Jahre zwischen Annas<br />

Pummeligkeit und dem unverkennbaren Anflug von Verhärmtheit bei Gisela und Dorle keine<br />

Zwischenstufe mehr - auf dem Weg in die Welt, die sich erwachsen nennen darf. Anna jedenfalls<br />

kannte keine Schminke, keinen Lidschatten. Sie trug eine beige Cordhose, einen braunen Pulli mit<br />

Ärmelschonern, ausgelatschte Knöchelstiefel, einen Umhängebeutel, der selbstgestrickt war und<br />

auf dem sie eine Ostermarschierer-Plakette befestigt hatte. Aber nicht <strong>als</strong> politisches<br />

Erkennungszeichen. Als Anna das Ding beim Trödler entdeckte, kam es ihr gar nicht in den Sinn,<br />

dass ihre neue Plakette ein politisches Symbol der Protestbewegung in den sechziger Jahren war.<br />

Wie sollte sie es auch wissen. Dam<strong>als</strong>, <strong>als</strong> die Oster-Leute über die breiten Straßen der Großstädte<br />

zogen, da war Anna ja erst drei Jahre alt.<br />

Anna und Gisela hatten sich beim Tanztee getroffen. Für Anna war es überhaupt die erste<br />

Tanztee-Veranstaltung, zu der sie allein hindurfte. Sie musste zu Hause lange und mit äußerster<br />

Beharrlichkeit gegen ihren Vater, einen Berufsschullehrer, drum kämpfen. Anna wollte ihre eigene<br />

Freiheit, ihre eigenen Abende - zumindest am Wochenende. Sie wollte ihre Scheu abstreifen, die sie<br />

zusehends isolierte. Anna wohnte nämlich mit ihrer Familie nicht in Aachens City, sondern zehn<br />

Kilometer hinter der belgischen Grenze, wo ihre Eltern vor Jahren gebaut hatten -, aus<br />

Preisgründen, wie sie immer sagten. Heute zahlen sie <strong>als</strong> Wahl-Belgier monatlich 400 Mark Steuern<br />

mehr <strong>als</strong> in der Bundesrepublik.<br />

Anna spürte schon seit Längerem eine innere Unruhe und einige Ungereimtheiten. Schon<br />

<strong>als</strong> kleines Kind hatte der bloße Anblick von Männern sie ängstigen können. Wenn sie bei einer<br />

Freundin spielte und der Vater kam nach Hause, lief sie brüllend davon. Spätestens seit der<br />

Tanzschule, die ihr generös zugestanden worden war, schwankte Anna zwischen ihrer Scheu und<br />

"rosaroten Träumchen". Um so enttäuschter war die 14jährige vom Aachener Tanztee am<br />

Samstagnachmittag. Das roch alles zu sehr nach biederem Foxtrott, auch wenn man sich heute<br />

nicht mehr artig anfasst. Schüchterne Gehversuche von verklemmten Eintänzern, die mit<br />

linkischen Bewegungen ihre Unsicherheit kaum verbergen konnten. Jünglinge, die Annas<br />

unterschwellige Ängste eher verstärkten, statt sie abzubauen. Gisela hingegen, lässig und<br />

schnodderig, entsprach schon mehr dem unausgesprochenen Gefühl nach zeitgemäßer Libertinage.<br />

Gefühle, die in einen ungewissen und unüberschaubaren Abend mündeten. Nur über eines war<br />

sich Anna von vornherein im Klaren, <strong>als</strong> sie mit Gisela zu Robbi ging. Sie würde wohl kaum mit<br />

dem letzten Bus nach Hause fahren wollen und einem Riesenkrach mit ihrem Vater entgegensehen.<br />

Robbi machte auf Anna einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits konnte er es sich nicht<br />

verkneifen, ihr per Wohnungsrundgang alle Insignien der Familie Neureich exemplarisch<br />

vorzuführen. Andererseits belustigte sich Robbi über seine Eltern, indem er unaufgefordert ihre<br />

Hochzeitskarte aus der Schreibtischschublade holte und über den Leitspruch: "Die Ehe ist ein<br />

Schlachtfeld, wir wollen es mit Rosen übersäen", zynisch grunzte. Die Clique saß auf der Terrasse.<br />

Als Anna sich dazuhockte, kamen ihr die ersten süßlichen Haschschwaden entgegen, die allmählich<br />

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die ganze Wohnung durchdrangen. Frank Zappas Rock oder die Rhythmen der Gruppe "Meatloaf"<br />

untermalten den langsamen Abgang in eine sinnliche Besinnungslosigkeit.<br />

Anna suchte die unauffällige Nähe von Ulli, der ihr auf Anhieb gefiel. Er war groß und<br />

blond, sein Gesicht war nicht so schmierig-verschmitzt wie das der anderen, sondern hatte noch<br />

Konturen. Auch Ulli fand Anna frischer <strong>als</strong> die Alkoholikerinnen, mit denen er sonst seine Abende<br />

verflüssigte. Ulli kiffte auch nicht in einem fort. Er verordnete sich zwischendurch schon einen<br />

Schluck Lambrusco. Eigentlich sei er ja Amateurfunker mit starken Frequenzen, erzählte er ihr. Er<br />

würde gerne durch Tunnel spazieren und mit Leidenschaft Gras schnuppern. Je länger sich die<br />

beiden unterhielten, je einvernehmlicher sie kicherten, desto unwilliger schaute Gisela drein, die<br />

sich zu Recht verdrängt fühlte. Dorle störte das nicht weiter, sie hatte genug mit Andy und Robbi<br />

zu tun. Aber Gisela war an diesem Abend auf Ulli abgefahren. Hätte sie beim Tanztee geahnt, dass<br />

sie quasi eine Konkurrentin mit anschleppt, sie hätte den Teufel getan und der Anna noch<br />

zugeredet, doch mitzukommen.<br />

Nur war es allerdings nicht so, dass Ulli und Gisela fest miteinander gingen. So etwas gab<br />

es in der Clique nicht. Die zwischen-menschlichen Beziehungen schienen nach außen<br />

unkomplizierter zu sein. Sie nannten ihre Partnerschaften "Senftöpchen-Spiel": Da konnte jeder<br />

mal mit jedem, je nach Zufall, Laune und momentaner Sympathie. Darüber wurde auch nicht groß<br />

geredet oder gar gestritten. Meist war es schon sehr spät - Gedanken und Sinne bereits im Jenseits.<br />

Für Gisela spielten auch nicht so sehr ihre Empfindungen zu Ulli eine Rolle <strong>als</strong> vielmehr der<br />

Versuch einer Fremden, sie zu relativieren.<br />

Nachdem sie ein 0,2 Liter-Glas Caribic-Rum ex getrunken hatte, lag Gisela eine<br />

Viertelstunde später wie scheintot da. "Wir haben alle möglichen Wiedererweckungs-Versuche<br />

unternommen", erinnert sich Ulli. "Wir hatten Angst, dass sie ins Koma fällt." Dann kriegte Gisela<br />

einen Anfall und nur Ulli durfte sie im Arm halten. Wollte er sich langsam zurückziehen, weil er<br />

glaubte, sie schliefe nun tief, fing sie hysterisch an zu schreien. Erst <strong>als</strong> sich Ulli zu ihr im<br />

Nebenzimmer ins Bett legte, wurde Gisela friedfertig und döste ein.<br />

Anna saß für ein paar Augenblicke da und überlegte, was diese Gisela-Inszenierung sollte<br />

und ob es doch nicht besser sei, wenn sie jetzt nach Hause führe. Das war es mittlerweile zu spät.<br />

Sie kehrte auf die Terrasse zurück, auf der man Obacht geben musste, nicht über ein leeres<br />

Flaschen-Arsenal zu stolpern. Zwischenzeitlich bekam Robbi auch noch von einem Alfred<br />

unerwarteten Besuch. Ein Typ, der so blass und klebrig wirkte, dass nur seine Lederklamotten<br />

glänzten. Der wollte schnell zwei "Zwanziger" holen und blieb dann einfach. Robbi und Andy<br />

hingen ganz schön in den Seilen. Sie hatten plötzlich etwas Vergreistes und Zerfressenes an sich.<br />

Auf Anna machten beide den Eindruck wie junge Versuchskaninchen, denen man das Gehirn<br />

ausgeknipst hat, um sie unter Alkohol- und Drogeneinfluss langsam beim Altern zu beobachten. So<br />

verging Stunde um Stunde. Richtige Sätze brachten sie gar nicht mehr heraus. Ein Gelalle und<br />

Gestammele war das, nur ab und zu von einer Schmusemusik unterbrochen, die Dorle <strong>als</strong><br />

"Nachtprogramm" bezeichnete.<br />

Es muss so gegen fünf Uhr morgens gewesen sein, <strong>als</strong> sich die Robbi-Gesellschaft<br />

auflöste. Dorle, inzwischen ebenfalls arg weggetreten, spielte noch halbwegs die Hausdame und<br />

zeigte Anna ein Gästezimmer, wo sie sich hinlegen konnte. Doch Anna hatte kaum die Decke über<br />

sich gezogen, da stand dieser Alfred im Zimmer. Anna: "Ich wusste überhaupt nicht mehr, wie mir<br />

geschah. Ich kriegte überhaupt nichts geregelt. Diese Spannung. Ich wusste überhaupt nicht, was<br />

das war. Dann hat der die ganze Zeit versucht, mit mir zu schlafen, das hat mir unheimlich weh<br />

getan. Und auf einmal schlief der mit mir. Und ich fragte ihn hinterher, hör mal, wie denkst du dir<br />

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das eigentlich. Du wusstest doch überhaupt nicht, ob ich das wollte. Sagte der, das wäre ihm<br />

scheißegal. Man könnt auch zuviel über was reden und deshalb würd' man am besten überhaupt<br />

ruhig sein. Da war ich fertig. Und ich habe gedacht, jetzt bringst du dich um. Ich verging vor<br />

schlechtem Gewissen. Ich fühlte mich einfach unheimlich beschissen."<br />

Anna schleppte sich um acht Uhr zum ersten Bus. An Ulli, der noch mit Gisela im<br />

Nebenraum schlief, wagte sie nicht zu denken. Kaum zu Hause angekommen setzte es dreizehn.<br />

Nicht etwa, dass Annas Vater brüllte oder sie schlug. Das macht ein Pädagoge doch nicht. Er<br />

verhängte statt dessen einen "Strafkatalog", wie er seine notwendig erscheinenden Maßnahmen auf<br />

eine Formel brachte. Hausarrest acht Wochen, davon vier Wochen im eigenen Zimmer.<br />

Taschengeldkürzung von 35 auf 20 Mark monatlich, Fernsehverbot ebenfalls vier Wochen, striktes<br />

Verbot zu telefonieren oder Gespräche anzunehmen. Der Vater hatte gesprochen, die Mutter<br />

nickte stumme, Anne zitterte und weinte.<br />

Sie verzog sich auf ihr Zimmer, was blieb ihr auch anderes übrig. Nun starrte sie in ihrer<br />

kleinen Butze auf den alten Kleiderschrank. der vor ein paar Jahren noch das Schlafzimmer ihrer<br />

Eltern schmückte, schaute auf ihr Lundia-Regal, in dem sich Kafka, Beckett und W<strong>als</strong>er<br />

aneinanderreihten. Anna lag auf ihrer Matratze und versuchte ihre Gedanken zu bündeln, was ihr<br />

aber nicht gelang. Sie fühlte sich elend, kotzübel, wenn sie an die zurückliegenden Stunden dachte.<br />

Und sie hatte eine unbändige Wut auf ihren Vater, der sich da hinstellte, quasi <strong>als</strong><br />

Inquisitionsrichter, und nur noch subtil seine Straferlasse herunter ratterte. War ihr nächtliches<br />

Fernbleiben nicht Opposition genug? Musste er noch eins draufsetzen? Aber er war ihr ja schon<br />

längst einige Erklärungen schuldig.<br />

Plötzlich erinnerte sie sich wieder an Ulli und seine Tunnelspaziergänge. Das empfand sie<br />

<strong>als</strong> witzig. Doch der Tunnel reichte nicht aus, um sie aus ihrem Tief herauszuholen. Sie wollte ihre<br />

eigene Freiheit, ihre eigenen Abende. Und was ist beim ersten Mal daraus geworden? Sie mochte<br />

Ulli. Und was machte der? Er ging vor ihren Augen zu einer durchgedrehten Gisela ins Bett, die<br />

doch sonst so auftrumpfte, zuletzt beim Tanztee. Und was machte sie? Sie schaute sich Stunde um<br />

Stunde kaputte Typen an. Sie hatte dagesessen, neugierig und angewidert zugleich, um hinterher<br />

von jemanden angegangen zu werden, den sie nicht kannte, der nicht mir ihr redete, der noch nicht<br />

einmal seine Lederjacke auszog. Für einen Moment fiel Anna ihre Freundin Katja ein, die eine<br />

Klasse über ihr war. Katja, die natürlich Annas Hemmungen gegenüber Jungen längst bemerkt<br />

hatte und daraus schon des Öfteren ihre heimliche Überlegenheit ableitete, sagte stets: "Wat willste,<br />

dat is eben so." Das war meist ihr Schlussspruch nach ausgiebigen Unterhaltungen, um über den<br />

eigenen bitteren Nachgeschmack hinwegzutäuschen.<br />

Anna lag auf ihrer Matratze und konnte nicht einschlafen, obwohl sie sich hundemüde<br />

fühlte. Ihr ging einfach ihr Vater nicht mehr aus dem Sinn. Nicht etwa, weil er mit drakonischen<br />

Strafen aufwartete, <strong>als</strong> sie nach Hause kam. Sie hielt ihn vielmehr schon seit Längerem für absolut<br />

unglaubwürdig, besser gesagt, für einen skrupellosen Heuchler. Er, der sich da in Sachen Disziplin<br />

und Moral aufplustert, hat jahrelang der Familie vorgelebt, wie man es nach seiner eigenen<br />

Auffassung doch angeblich unter keinen Umständen machen sollte. Er ist eben doch nur ein Mann<br />

des kategorischen Konjunktivs, dachte sich Anna im Stillen. Sie versuchte sich alles noch einmal ins<br />

Gedächtnis zurückzurufen. Ihr schien das schon eine Ewigkeit her, dabei lag der verhängnisvolle<br />

Anfang keine fünf Jahre zurück.<br />

Ein Kuraufenthalt ihres Vaters in Badenweiler veränderte das Familienleben auf einem<br />

Schlag. Er kam nämlich nicht, wie alle erwartet hatten, allein nach Hause, sondern brachte seine<br />

neue Liebschaft gleich mit. Paula, die acht Jahre jünger <strong>als</strong> Mutter war, arbeitete zwar noch für eine<br />

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geraume Zeit <strong>als</strong> Bibliothekarin in Bremen, zog dann aber ganz zur Familie nach Aachen. Anna<br />

und ihre vier jüngeren Geschwister konnten mit Paula zunächst nichts Rechtes anfangen. Bis sie<br />

merkten, dass sich die ganze Angelegenheit zu einem Dauerzustand entwickelte.<br />

Paula, zu der die Kinder später Tante sagen durften, erhielt ihre zwei eigenen Räume im<br />

neuerbauten Haus, ihre Eltern richteten sich zwei getrennte Schlafzimmer ein. Ob an Feiertagen<br />

oder an gewöhnlichen Wochenenden - Paula hatte ihren festen Platz am Familientisch. Anna fand<br />

es <strong>als</strong> Neunjährige zwar seltsam, dass eine alleinstehende Frau bei ihnen den direkten Anschluss<br />

suchte. Aber es gab in der ersten Zeit keinen Grund zum Misstrauen. Denn selbst ihre Mutter, eine<br />

frühere Volksschullehrerin, ließ sich - zumindest den Kindern gegenüber - nichts anmerken. Nun<br />

war ja ihr Heim vom Architekten von vornherein auf Zuwachs entworfen worden. Warum sollte<br />

Paula nicht dort mit wohnen. Wegen Miete und so. Sonst hätten sie die Zimmer vielleicht<br />

anderweitig vergeben. Doch nicht einmal in einer verhältnismäßig kleinen Ferienwohnung im<br />

Südschwarzwald, wo Paula selbstverständlich mit hinfuhr, wurden die Kinder hellhörig. So nach<br />

dem Mittagessen, wenn Mutter mahnte, Anna solle beim Abtrocknen nicht so laut quasseln. Papa<br />

und Paula hätten sich ein bisschen hingelegt.<br />

Die über Jahre vorgetäuschte familiäre Harmonie nahm jedoch ein schnelles Ende.<br />

Geschockt standen die Kinder eines Abends am Küchentisch auf und verkrochen sich in ihre<br />

Zimmer. Dabei hatten sie wenige Minuten zuvor noch "au ja, das ist ja toll" gejubelt. Ihr Vater<br />

fragte sie ganz in der Art des Pädagogen, was sie denn davon hielten, noch ein kleines<br />

Geschwisterchen zu bekommen. Und die Kinder schauten wie auf Kommando zu ihrer Mutter<br />

hinüber. Aber nicht ihre Mutter, sondern Paula brachte Julia zur Welt.<br />

Als der kleine Wurm von Julchen, wie sie den Nachzügler liebkosten, erst einmal da war,<br />

wollte ihn keiner wieder hergeben. Doch mit Julias Geburt, das hatten sich die Erwachsenen vorher<br />

offensichtlich nicht vorstellen können, funktionierte ihr abgekartetes Spiel vor den Kindern nicht<br />

mehr. Ein Säugling legt Emotionen frei, auch in der Partnerbeziehung. Anna überlegte sich in<br />

diesem Moment: Konnten sich Paula und Mutter ihren Vater noch teilen, um Julia krachte es<br />

ständig zwischen den beiden. Ein Kampf, der schäbig, fies und rücksichtslos ausgetragen wurde.<br />

Die Kinder, bislang kaum lautstarke Konflikte gewöhnt, erlebten nunmehr ein Gezeter und<br />

Geschreie wie nie zuvor. Der Streitpunkt war immer derselbe. Paula musste tagsüber arbeiten.<br />

Mutter versorgte die kleine Julia. Paula glaubte, Mutter wolle Julia vergiften oder sonst irgendwie<br />

raffiniert umbringen. Mutter sagte, Paula sei irre und hysterisch. Das Ende der Geschichte: So<br />

plötzlich, wie Paula nach der Kur des Vaters auftauchte, so plötzlich verschwand sie dann nach fast<br />

fünf Jahren auch wieder. Sie nahm natürlich Julia mit und lebt heute irgendwo im Westerwald. In<br />

Aachen ist sie jedenfalls seither nicht mehr gesehen worden. Das Thema Paula war und blieb tabu,<br />

an Julia wagt keiner zu rühren.<br />

Als Anna die ganzen Ereignisse noch einmal Revue passieren ließ, rückte ungewollt das<br />

Verhalten ihrer Mutter in den Vordergrund. Sie konnte sich an keine Situation erinnern, in der sich<br />

ihre Mutter jem<strong>als</strong> beklagt oder gar geheult hätte. Anna hatte Schwierigkeiten, ihre Mutter richtig<br />

und gerecht einzuschätzen. Sicherlich besaß Mutter stärkere Nerven <strong>als</strong> Paula. War es aber nicht ein<br />

Stück Selbstaufgabe, nur um der Kinder willen? Oder mehr Angst, den Mann sonst ganz zu<br />

verlieren? Es lag noch gar nicht so lange zurück, da sprachen beide kurz über die unrühmliche<br />

Vergangenheit. Mutter meinte, sie solle sich nicht zu viel Gedanken machen, zwischen Vater und<br />

ihr sei alles so weitergelaufen. Auch in intimer Hinsicht hätte es während der Paula-Ära keine<br />

Unterbrechung gegeben. Wie auch immer, zumindest vertraute Anna ihrer Mutter noch. Was sie<br />

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von ihrem Vater nicht mehr behaupten konnte. Wenn sich nur die Gelegenheit bot, ging sie ihm<br />

aus dem Weg. Und sie spürte tiefe Beklemmungen, musste sie mit ihm alleine reden.<br />

Aber reden musste Anna. Insbesondere in ihrer jetzigen Lage. Sie überwand sich dennoch<br />

nicht, zu ihrer Mutter zu gehen. Sie hatte das Gefühl, ihr den Schock ersparen zu müssen, erzählte<br />

sie ihr, was sich wirklich in der vergangenen Nacht ereignet hat. Sie wollte ihr nicht weh tun. Das<br />

hätte sie ja bereits getan, würde sie ihr offen gestehen, dass sie schon seit Längerem das Rauchen<br />

angefangen hatte. Deshalb verschwieg Anna ihr auch das. Anders wäre es, bekäme sie plötzlich ein<br />

Kind. Da würde Mutter sie nicht rausschmeißen. Sie würde ihr helfen. Ganz sicher. Anna vertraute<br />

sich niemande an. Nicht mehr an diesem Sonntag, sondern während ihres Arrests kritzelte sie zwei<br />

kleine Verse in ihr Tagebuch, von denen sie sich Stärke und Klarheit erhoffte, aber nicht bekam.<br />

ANNAS VERS ÜBER ILLUSIONEN<br />

"Was macht es so schwer zu verlieren,<br />

was einem ja doch nicht gehört,<br />

Träume vom „Hätte“ und „Könnte“ wollen erhalten,<br />

was längst ist zerstört.<br />

Was macht es so schlimm zu vergessen,<br />

was aus war, bevor es begann,<br />

Träume vom „Hätte“ und „Könnte“ setzen fort,<br />

was niem<strong>als</strong> fing an.<br />

Träume gehören in die Nacht,<br />

wie Vampire zerfallen sie bei Tageslicht."<br />

ANNAS ZEILEN ÜBER DIE EINSAMKEIT<br />

Kommunikation, wir stehen nebeneinander<br />

und tun so, <strong>als</strong> sprächen wir miteinander,<br />

doch im Grunde reden wir aneinander vorbei,<br />

Ich würd diese Wand so gerne durchbrechen<br />

und dir zeigen, was ich fühle."<br />

Aus dem melancholischen Tief zog sich Anna relativ schnell raus. Ihr Einsamkeitsgefühl<br />

dagegen, ihr Eindruck, unverstanden vor sich hinzuleben, und die Ohnmacht, dem anderen nicht<br />

vermitteln zu können, was man eigentlich meint, das hielt nach wie vor an. Eine innere Leere, die<br />

der gleichförmige Alltag mit seinen fest eingeteilten Zeiten und Abläufen nicht auszufüllen<br />

vermochte. Gut, Ablenkungen gab es, aber eben nur Ablenkungen .Anna hatte Ulli schon fast<br />

verdrängt oder vergessen, <strong>als</strong> dieser etwa nach einem halben Jahr in ihrem Blickwinkel wieder<br />

auftauchte. Ulli versuchte erst gar nicht, den starken Cliquen-Maxen zu mimen. Sie hatte auch<br />

nichts an sich, was ihn dazu hätte ermuntern können. Ganz im Gegenteil: Anna kapierte intuitiv,<br />

wie zerbrechlich und haltlos dieser Uli war, wie krampfhaft er sich nach einem ruhende Pol sehnte,<br />

an dem er sich auf- und hochrichten konnte, wie krampfhaft er von seiner Schule, seiner Clique<br />

und seiner Funkanlage sprach: all das, möglichst in einem Satz untergebracht. Ein Ulli in dieser<br />

seelischen Verfassung, das war Annas Stunde.<br />

Sie besuchte ihn einfach zu Hause. Oft stand sie zwei Mal in der Woche nachmittags vor<br />

seiner Wohnungstür. Manchmal klingelte sie auch vergeblich. Nicht Ulli, sondern Anna war über<br />

sich am meisten erstaunt, wie sie ihre Minderwertigkeitskomplexe langsam, aber erfolgreich abtrug.<br />

So verbrachten sie Nachmittag für Nachmittag: keine Abende oder Nächte, die Anna zu Hause sein<br />

443


musste. Es waren Gespräche zwischen zwei Heranwachsenden, die keine Kinder mehr sein<br />

wollten, auch wenn sie zuweilen noch <strong>als</strong> solche behandelt wurden, für die aber das<br />

Erwachsenendasein etwas Chaotisches verhieß und sie immer wieder in ihren Gedanken und<br />

Empfindungen in ihre Kindheit zurückfielen, weil sie diese unaufgeräumt hinterlassen hatten. Eine<br />

Unordnung, für die sie nichts konnten, die sie dam<strong>als</strong> auch nicht richtig wahrnahmen und jetzt um<br />

so deutlicher nachvollzogen. Es war ein Unbehagen, diese Vergangenheit am liebsten ganz schnell<br />

noch vergangener zu machen, sie einfach auszuradieren.<br />

Und es waren Gespräche, die offenlegten, dass im wesentlichen daraus ihre Dynamik und<br />

Unruhe resultierten, dass der Ablösungsprozess vom Elternhaus dadurch gekennzeichnet war, dass<br />

sie beide versucht hatten, auftausenden Erinnerungen möglichst davonzulaufen. Es war aber auch<br />

die Erkenntnis, dass diese Freiheit, die sie sich soeben mühevoll erkämpft hatten und nunmehr<br />

vorfanden, nicht ihre Freiheit sein konnte. Dass diese Freiheit ihnen nicht weiterhalf, sich selbst zu<br />

suchen und ihre Identität zu finden. Eine aufgestülpte, künstliche und vermarktete Freiheit, die<br />

keinerlei Spielräume für Antworten und Orientierungen schuf; weder auf das, was sie getrennt<br />

erlebt hatten, noch für das, was Ulli und Anna vielleicht gemeinsam erreichen wollten. Diese<br />

Freiheit überließ einen jeden sich selbst, isoliert und stumm wie eh und je, seinen Ängsten<br />

ausgeliefert.<br />

Diese Freiheit gönnte keinem eine Atempause, schnelllebige Ereignisse zu begreifen,<br />

einzuordnen. Schon war wieder etwas anderes da, auf das man vordergründig reagierte. Mit dieser<br />

Freiheit psychisch klar zu komme, hieß für Ulli und Anna zunächst, in der Vergangenheit zu leben,<br />

auch wenn man erst 17 Jahre alt ist. Denn in dieser Freiheit kann nur der unbekümmert agieren,<br />

der ihre Regeln ohne ein Körnchen Nachdenklichkeit übernimm. Aber dann ist diese frisch<br />

erkämpfte Freiheit schon eine tote Freiheit, getragen vom Stumpfsinn und Langeweile.<br />

So empfanden Ulli und Anna. Eine Gefühlsebene, die sie eng zusammenschmiedete. Ulli<br />

erzählte von seinen Disco-Abenden: "Das war echt monoton, mit irgendwelchen Weibern<br />

rumalbern über belanglose Sachen und so. Nach zwei Wochen hat mir das gestunken und ich fing<br />

wieder an, Elektronik zu basteln." Anna ergänzte: "Wenn ich in eine Discothek durfte, wurde ich<br />

dort immer traurig. Es ist eine gemeinsam erlebte Einsamkeit. Die warten alle darauf, dass<br />

irgendetwas passiert, dass sie irgendeinen Kontakt kriegen. Aber es passiert nichts. Keiner fängt an.<br />

Dabei tun sie immer so locker, doch in der Beziehung zu anderen tun sich alle unheimlich schwer."<br />

- Ängste, Verlustängste.<br />

Die gemeinsam erlebte Einsamkeit sieht Anna nicht nur in Discotheken. Sie vermutet sie<br />

überall dort, wo Jugendliche sich treffen. Anna meint: "Die meisten sind überhaupt nicht mehr<br />

motiviert. Die haben keine Lust mehr, die haben ja alles, ihr technisches Spielzeug, Fernseher,<br />

Computer, Handy, Laptop, M3 usw. Viele sind so kaputt und überdrüssig von allem." Auch sei es<br />

ein ständiges Warten darauf, dass etwas Neues passiert, worauf alle erst wie wild aus sind, um sich<br />

schon bald wieder gelangweilt abzuwenden. Anna über ihre Klasse: "Gruppenarbeit und<br />

Diskussionen finden viele bescheuert. Die wollen lieber den Frontalunterricht wie früher. Die<br />

sagen immer, sie wüssten gar nicht, warum sie eine Begründung abgeben sollen, wenn sie etwas<br />

blöde fänden. Soll doch der Lehrer erzählen." Und in der Berufsschule hätten junge Lehrerinnen<br />

sogar Angst, verprügelt zu werden. Schulalltag vielerorts.<br />

Laufend würde Annas Vater <strong>als</strong> Feuerwehr in solche Klassen gerufen. "Die kommen<br />

besoffen in die Schule und schlagen sich da die Köpfe ein. Oft wissen sie nicht einmal, warum sie<br />

sich keilen. Geht ein Lehrer dazwischen, kriegt der auch gleich eine gewischt. Dann sind da noch<br />

Prostituierte, immer zwei oder drei in jeder Klasse, die werden dann schon mit 16 und 17 Jahren<br />

444


schwanger. Kein Lehrer will eigentlich in solche Klassen gehen. Auf den Konferenzen streiten sie<br />

sich nicht selten darum, wer das rein muss. Von wegen Disziplinierungsmaßnahmen. Wenn die<br />

Zeugnisse kriegen, nehme sie das und schmeißen es zerrissen in den Papierkorb. Das ist ihnen<br />

scheißegal. Die Verhältnisse sind einfach katastrophal."<br />

Ulli kann die Aggressionen verstehen. "Die müssen dauernd etwas leisten. Das geht mir<br />

auch gegen den Strich. Wir wissen doch gar nicht mehr, wofür wir das machen. Wir stagnieren alle<br />

und merken es nicht einmal. Wenn mein Alter mal bei mir vorbeischaut und mir sagt, dann sage<br />

ich dem, nichts muss ich, bla-bla-bla. Der ist nur durch den Krieg was geworden, Stunde Null und<br />

so. Sonst wäre der heute nie Oberstleutnant, wenn die an solchen Heinis keinen Nachholbedarf<br />

gehabt hätten."<br />

Ohne dass sich Ulli und Anna dessen bewusst waren, sortierten sie ihren seelischen Müll,<br />

den sie schon über Jahre mit sich herumschleppten. Ulli löste sich auch mehr und mehr von seiner<br />

Clique. Äußere Anlässe halfen ihm dabei. Achim, der Bundeswehr-Soldat in Emden mit den<br />

Haschsendungen, hatte einen Selbstmordversuch hinter sich. Robbi lag nach einem<br />

selbstverschuldeten Autounfall mit einer Oberschenkelh<strong>als</strong>fraktur im Krankenhaus und Gisela<br />

sagte dem Gymnasium gerade geräuschlos ade. Aber noch etwa anderes kam hinzu. Ulli hatte sich<br />

eingestehen müssen, dass ihn die regelmäßige Sauferei kaputtmachte - noch nicht einmal so sehr<br />

körperlich, vielmehr seelisch. Seine Depressionsschübe kamen jedenfalls in immer kürzeren<br />

Abständen. Auch bereitete es ihm Mühe, sich aus seinem Tran-Zustand wachzurütteln. "Erst vier<br />

Monate vor dem Abi wurde mir klar, dass ich demnächst gar nicht mehr zur Schule gehe. Da fing<br />

bei mir die Motorik zu laufen an." Vielleicht war es auch seine Furcht, in einer jugendlichen<br />

Halbwelt zu versacken und irgendwann nicht mehr die erforderlichen Reserven mobilisieren zu<br />

können, um sich daraus zu befreien. Ulli berichtete Anna in allen Einzelheiten, was er und die<br />

Clique auf ihren Touren schon alles erlebt hatte.<br />

Eine Clique, die wochentags in Aachen Hasch verhökert, gerät schnell in ein Milieu, in<br />

dem Gesetzmäßigkeiten herrschen, die sich kaum von der Unterwelt unterscheiden. In Aachen-<br />

Kronenberg, einer Satelliten-Vorstadt, gibt es keine Puffstraße und keine illuminierte<br />

Geschäftigkeit. Da steht irgendwo an irgendeiner Ecke ein Lieferwagen. Passanten, die da<br />

vorbeigehen, können nicht wissen, dass der VW-Bus oder Ford-Transit mit Matratzen polsterweich<br />

ausstaffiert ist. Sie können auch nicht ahnen, dass es 13 oder 14jährige Schülerinnen sind, die sich<br />

darin verdingen, nachdem sie ihre Freier auf der Straße oder in der Kneipe aufgegabelt haben. Ulli<br />

lernte dam<strong>als</strong> eine 13jährige Angela kennen, die im herumhing. Keiner hätte im Lokal vermutet,<br />

dass Angela noch so jung war. Sie hatte schon die vielleicht unfreiwillige Reife einer 23jährigen. Sie<br />

wollte Hasch, konnte es aber nicht bezahle. Ulli ist mit ihr gegangen, bis er drei Kreuzungen weiter<br />

vor einem Lieferwagen mi Kölner Kennzeichen stand. Für einen wollte Angela mit ihm m<br />

Laderaum "abbumsen gehen", sich "kurz durchvögeln lassen", wie sie es nannte. "Der Lieferwagen-<br />

Trick", meinte Ulli, "ist eine todsichere Sache. Die MEK, ein mobiles Einsatzkommando,<br />

sozusagen. Die Mädchen sparen viel Zeit, verdienen dabei, die Zuhälter natürlich noch mehr, und<br />

alle werden kaum geschnappt. Das ist doch viel risikoloser, <strong>als</strong> wenn sie in Aachen in der<br />

Promenadenstraße stehen, gleich hinter C & A und von der Polizei erwischt werden."<br />

Wenn Ulli der Anna so erzählte, dann hielt sie seine Darstellung schon für glaubwürdig.<br />

Auch sie hatte schon einiges in der Schule gehört. Was sie ein wenig störte, war seine schnörkellose<br />

Routine. Etwa wenn er ihr die Philosophie des Babystrichs verklickerte: "Die ganzen Babystriche<br />

sind nur für eine geraume Zeit ertragreich, weil die Professionellen dagegen kämpfen. Denn der<br />

Babystrich drückt die Preise. Aber die 14- bis 16jährigen Mädchen sind schon nach zwei Jahren<br />

445


verbraucht. richtig ausgelutscht, die sind null und haben für den Zuhälter keinen Gebrauchswert<br />

mehr. Allein dadurch, dass sie forciert worden sind, diesen Job zu machen, quasi von der<br />

Schulbank runter. Denn viele wollen lieber etwas Junges <strong>als</strong> was Älteres. Wer zwei oder drei Jahre<br />

auf dem Babystrich war", glaubt Ulli "der hat keinen Willen mehr. Der verschwindet in einem der<br />

üblichen Bordelle oder kippt nach Marokko in Alis Bettenlager runter."<br />

In der Puff-Gegend von Köln, da sind sie mal mit Robbi einige Wochen regelmäßig<br />

hingefahren. Da haben Robbi , Andy den Larry gespielt und so getan, <strong>als</strong> seien sie die Jung-<br />

Zuhälter aus der Provinz. Verhandelt haben sie auch, in einer Kaschemme am Billardtisch, beim<br />

Kugelstoßen und Picolotrinken. Der eine Lude, so um die 25 muss er gewesen sein, stellte sich <strong>als</strong><br />

Migo vor und hatte offenkundiges Interesse. Nachschub aus den Dörfern und Kleinstädten zu<br />

bekommen. Robbi trat in solchen nicht ungefährlichen Gesprächen immer am abgeklärtesten auf,<br />

so <strong>als</strong> habe er in seiner Region vierzehn Vierzehnjährige laufen, von denen er <strong>als</strong>bald drei "in<br />

Pension" schicken müsse. Erst <strong>als</strong> der Migo "Ware für die Beschauung und Besamung" sehen<br />

wollte, mied die Clique das Puff-Revier zu Köln - Todestypen nannten sich Robbi und Co. zu jener<br />

Zeit.<br />

Aber all das ist inzwischen für Ulli Vergangenheit. "Ich führte ein schizophrenes Leben.<br />

Ich suchte Action, dann bastelte ich wieder an meiner Elektronik, und in Wirklichkeit brauchte ich<br />

jemanden, mit dem ich mich richtig unterhalten konnte." Pendelschläge von einem extremen Punkt<br />

zum anderen. Früher gab ihm die "Action-Macker-Phase" Halt, heute ist es Anna. Nach<br />

zweijähriger Freundschaft spricht Ulli schon von einer "praktischen Ehe, die wir führen". Anna ist<br />

für ihn zum Programm geworden. Kaum ein Satz, den er ausspricht, in dem Anna nicht vorkäme.<br />

Dabei beurteilen beide ihre Zukunft so ziemlich konträr.<br />

Anna ist davon überzeugt, dass es in der Bundesrepublik im nächsten Jahrzehnt zum<br />

"großen Knall" kommt. "Es flippen immer mehr Menschen aus -und nicht nur Jugendliche. Ich<br />

frag mich manchmal, was für wen eigentlich da ist. Sind die Maschinen, Computer für uns da,<br />

damit unser Leben leichter wird, oder sind wir nur noch da, dass die Maschinen laufen, Profite um<br />

Profite? Aber die werden auch noch Kühlschränke zu den Eskimos transportieren." Weil alles so<br />

ungewiss ist, will Anna auch keine Kinder haben; selbst von Ulli nicht, der das gerne möchte. Er<br />

sagt dann meistens: "Zum großen Knall kann es schon allein deshalb nicht kommen, weil alle dazu<br />

erzogen worden sind, gar keinen großen Knall zu machen."<br />

Ulli und Anna schimpfen nicht auf die Gesellschaft, auf Parteien oder Verbände.Die sind<br />

ihnen fast gleichgültig. Sie äußern lediglich Empfindungen. Es ist so schwer, überhaupt einen Sinn<br />

in dem Ganzen zu sehen. Und sie beruhigen sich mit der Feststellung: "Irgendeinen Sinn wird das<br />

doch alles schon haben."<br />

Vielleicht wird Ulli mal ein guter Taxifahrer oder auch ein Akkordfritze am Fließband,<br />

vielleicht wird er es schaffen, <strong>als</strong> Geographie-Lehrer vor einer Klasse zu stehen, was sein Berufsziel<br />

ist. Er weiß es nicht, denn seine Schulnoten sind zu schlecht, und genügend Lehrer gibt es allemal.<br />

So schiebt Ulli mit seiner Anna die Ungewissheit vor sich her. Am liebsten verkriechen sich die<br />

beiden unter der Bettdecke und schmusen, laufen durch die Wälder, schauen Filme oder versinken<br />

in Büchern. Ungeachtet, was auf sie noch zurollt, an einem wollen Ulli und Anna bedingungslos<br />

festhalten - an ihrer Heirat: "Aber erst muss Anna noch ihr Abi machen, und bis dahin vergeht<br />

noch ein ganzes Jahr."<br />

446


Wirtschaft der alternativen Szene<br />

1983<br />

447


"ENGAGIERT UND ERNSTHAFT, SPIELERISCH UND<br />

EXPERIMENTELL“ DIE WIRTSCHAFT DER<br />

ALTERNATIVEN SZENE<br />

Während die offizielle Wirtschaft in der Krise steckt, blüht und boomt die<br />

Wirtschaft im Untergrund. Noch nie wurde in Deutschland so viel schwarz gearbeitet,<br />

gehandelt und verbucht, auf betrügerische Weise oder hart am Rande der Legalität<br />

finanziert und transferiert, im Do-it-yourself-Verfahren und per Nachbarschaftshilfe<br />

erarbeitet und in Selbsthilfegruppen organisiert. Würden all diese ökonomischen<br />

Tätigkeiten steuerlich erfasst, gäbe es weder Haushaltsdefizite noch Nullwachstum.<br />

Spiegel-Buch, Hamburg 2. Mai 1983<br />

Die Konzern-Philosophie steht nirgendwo geschrieben. Gleichwohl hat sie sich jeder<br />

Unternehmens-Angehörige nachhaltig eingeprägt. "Soyez réalistes, exigez l'impossible" - seid<br />

realistisch, fordert das Unmögliche. Ein vierstöckiges Backsteingebäude erinnert an die<br />

Fabrikarchitektur der Gründerjahre, weiß übertünchte Anbauten an den hastigen Bauboom der<br />

Nachkriegszeit. Nur der Firmenvorplatz liefert einen Hinweis auf die achtziger Jahre. Autotrauben<br />

aus allen Teilen der Republik wühlen den Sandboden auf, schwere Lastkraftwagen schieben sich<br />

aneinander vorbei.<br />

Vor drei Jahren hat sich der Konzern, die "Allgemeine Sortiments- und<br />

Handelsgesellschaft", im Urselbachtal niedergelassen, umgeben von Wiesen und Wäldern,<br />

eingekeilt zwischen Ackerzäunen und dörflicher Fachwerkidylle. Lediglich die an der Peripherie des<br />

Firmengeländes verlaufene Autobahn sichert den schnellen Zugriff nach Frankfurt am Main - jener<br />

Wirtschafts- und Bankenmetropole, ohne die der steile Aufstieg des Handelskonzerns undenkbar<br />

gewesen wäre.<br />

Die Historie des Unternehmens ist die klassische Entstehungsgeschichte bundesdeutscher<br />

Schattenökonomie. Was mit Schwarzarbeit in einem Frankfurter Hinterhof begann, mündete in die<br />

bürgerliche Rechtsform einer GmbH. Den Anfang machte eine Fünf-Mann-Truppe mit Maler- und<br />

Renovierungsarbeiten in Frankfurter Großbürger-Wohnungen. Mit unversteuerten Geldern (Slogan<br />

von dam<strong>als</strong>: "Cash in die Täsch") wurden klapprige VW-Busse sowie TÜV-überfällige Laster<br />

aufgekauft und in nächtlicher Heimarbeit wieder zusammengeflickt. In der zweiten Phase kamen<br />

auf diese Weise Transporte, Umzüge, Entrümpelungen zustande.<br />

Im dritten Abschnitt spezialisierte sich das Team auf den An- und Verkauf von<br />

Gebrauchtmöbeln. Nach dem Motto "learning by doing" begann nunmehr der Aufbau einer<br />

Werkstatt zur Möbelrestaurierung. Eine moderne Druckerei, die bis zum DIN-A2-Format das<br />

Rhein-Main-Gebiet mit Anzeigenblättern, aber auch PR-Broschüren versorgt, schuf das zweite<br />

Standbein. Daraus entwickelte sich die Planung eines Cafés und schließlich die Idee eines<br />

angeschlossenen Restaurants - eine Art Kommunikationszentrum für Theater-, Informations-und<br />

Diskussionsveranstaltungen.<br />

Inzwischen bewegt die "Allgemeine Sortiments- und Handelsgesellschaft"<br />

Millionenbeträge. Entgegen einem depressiv ausgerichtetem Konjunkturbarometer sowie<br />

wirtschaftlichen Struktureinbrüchen erschließt sich die Handelskette unvermutete<br />

Wachstumsnischen. Trotz Hochzinspolitik konnte sie sich im Jahre 1981 etwa ihr 25.000<br />

448


Quadratmeter großes Firmenareal für 2,2 Millionen Mark kaufen. Trotz mannigfacher<br />

Unternehmenspleiten baute sie in den angrenzenden Orten Bad Homburg und Kirdorf weitere<br />

Produktionsstätten auf, investierte in Maschinen und Fuhrpark. Trotz Einstellungsstopp vielerorts<br />

engagierte sie unentwegt neue Mitarbeiter.<br />

Ob Gesellschafter, Manager oder Angestellte - manchmal ungläubig, zuweilen euphorisch<br />

sehen sich die Betreiber der "Allgemeinen Sortiments- und Handelsgesellschaft" mit ihrem<br />

Ertragssegen konfrontiert. Ein Overhead-Projektor wirft im Konferenzsaal expansive Zukunfts-<br />

Visionen auf die Leinwand. Und immer wieder zirkuliert im Konzern der eine, scheinbar alles<br />

erklärende Satz: "Wir befinden einfach in einem wahnsinnigen Investitions-Rausch."<br />

Natürlich ist die "Allgemeine Sortiments- und Handelsgesellschaft mbH" kein<br />

bundesdeutscher Konzern im herkömmlichen Sinne, hielte er einem Bilanzsummenvergleich mit<br />

den kleinsten unter den großen Unternehmen erst gar nicht stand. Denn hinter der "Allgemeinen<br />

Sortiments- und Handelsgesellschaft mbH" verbirgt sich tatsächlich die "Arbeiterselbsthilfe (ASH)<br />

- ein selbstverwalteter Betrieb aus dem alternativen Deutschland.<br />

Unter der westdeutschen Gegenwirtschaft freilich nimmt die "Arbeiterselbsthilfe" eine Art<br />

Konzernstellung ein. Und das nicht nur, weil die 40 ASH-Mitarbeiter einen für Alternative<br />

traumhaften Umsatz von jährlich 1,2 Millionen Mark erreichen. Auch ihr Außenverhältnis passt<br />

sich nahtlos in die juristischen Normen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ein. So werden<br />

Gebäude nebst Grundstücken nach allen Regeln fiskalischer Kniffe von einem "Verein zur<br />

Selbsthilfe", der gemeinnützig und damit steuerbegünstigt ist, mit monatlichen Raten erworben.<br />

Das Sortimentgeschäft dagegen betreibt die im Handelsregister beim Amtsgericht eingetragene<br />

GmbH. Steuerberater und Rechtsanwälte stehen helfend zur Seite, wenn es darum geht, gegenüber<br />

der Renten- und Sozialversicherung ein fingiertes Monatseinkommen in Höhe von 1.200 Mark<br />

netto pro Mitarbeiter anzumelden, wenn es ferner darum geht, ASH-Angestellte zu, um auf diesem<br />

Wege Arbeitslosengelder zu kassieren, obwohl in Wirklichkeit keiner um seinen alternativen Job<br />

bangen muss.<br />

Im Innenverhältnis hingegen gibt es keine unternehmerischen Finessen, wird keinerlei<br />

Hierarchie zwischen nach außen deklarierten Gesellschaftern, Managern und Angestellten geduldet.<br />

Vielmehr sieht sich die ASH, wie sie von sich sagt, <strong>als</strong> ein "Reservat für Sensible und Utopisten".<br />

Für alteingesessene Handwerks- sowie Industrie- und Handelskammern im Rhein-Main-Gebiet<br />

indes verkörpert die ASH "den Zoo des Kapitalismus" schlechthin. Was heißt, dort draußen im<br />

Urselbachtal dominieren keine Chefs, keine Meister, keine Vorarbeiter. Folglich zählt sich auch<br />

niemand zum Fußvolk der Nachgesetzten. Alle fühlen sich gleichberechtigt und<br />

gleichverantwortlich für Investitionen, Etat-Umschichtungen, Einstellungen oder Entlassungen.<br />

Realistisch zu sein, das Unmögliche zu fordern, diese allgegenwärtige ASH-<br />

Unternehmensmaxime zieht nur vordergründig auf Absatzmärkte, die es zu erobern gilt. In ihrer<br />

Tiefenschärfe reflektiert sie eine fundamentale Abkehr von der bundesdeutschen<br />

Mehrheitsgesellschaft -sowohl soziokulturell <strong>als</strong> auch ökonomisch. Sie gilt dem Versuch, neue<br />

Inhalte und Formen des menschlichen Miteinanders zu ertasten, um aus dieser andersgearteten<br />

Interessenlage heraus die wirtschaftlichen Bedürfnisse selbst zu bestimmen.<br />

Wer keine Vorgesetzten und Nachgesetzten akzeptiert, setzt auf Einsicht und<br />

Eigenverantwortung. Wer die Aufteilung zwischen Kopf und Handarbeit aufzuheben trachtet,<br />

sucht der unweigerlichen Entfremdung durch Sachzwänge sowie Expertokratie zu entgehen. Wer<br />

ferner den täglichen Betriebsablauf so organisiert, dass jeder nach einem ausgetüftelten<br />

449


Rotationsprinzip alle anfallenden Aufgaben zu erledigen hat, glaubt an eine egalitäre, auf gleichem<br />

Wissen beruhende Ausgangsposition, die erst gemeinsames Engagement ermöglicht. Und wer<br />

außerdem die oft strikte Trennung zwischen Arbeitsbereich und Privatsphäre einebnet, will sein<br />

rationales Handeln mit seiner nicht selten widerstrebenden seelischen Befindlichkeit in Einklang<br />

bringen.<br />

Nur so ist es zu erklären, warum die nach außen deklarierten ASH-Gehälter nach innen<br />

keinerlei Bedeutung haben. Da nimmt sich halt ein jeder, was er braucht. Und das ist gemeinhin<br />

nicht sonderlich viel. Denn das Wesensmerkmal der Alternativen ist ihr Eid auf den Arbeitsfaktor<br />

Idealismus, der sich nun mal nicht in eine finanziell greifbare Größenordnung umrechnen lässt.<br />

Herkömmliche, meist arbeitsrechtlich festgeschriebene Ver- und Gebote sind außer Kraft<br />

gesetzt, Strafen oder Sanktionen untereinander verpönt. Begriffe wie Disziplinierungsmaßnahmen<br />

scheinen Formulierungen aus einem fremden Kulturkreis zu sein. Allenfalls der ab und zu fällige<br />

"Liebesentzug" der Gruppe zum einzelnen, der mitunter in eine zeitweilige Isolation führen kann,<br />

soll "Fehlverhalten" im ASH-Unternehmen korrigieren helfen.<br />

Die alternative Bewegung, die Mitte der siebziger Jahre in den städtischen Gettos von<br />

Berlin und Frankfurt ihren Ausgangspunkt nahm, hat in der Bundesrepublik längst einen<br />

volkswirtschaftlichen Stellenwert erklommen. Gewiss sind es wohl kaum die bis zum gängigen<br />

Klischee vermarkteten lila Latzhosen oder der inzwischen allseits obligate Hirsebrei, der den<br />

Alternativen eine ernst zu nehmende ökonomische Stellung zu wies.<br />

Wohl aber Schreinerbetriebe und Frauenkneipen, Anwaltskollektive, alternative<br />

Drogenberatung und Psycho-Therapie-Gruppen, der alternative Weinhandel ebenso wie die Öko-<br />

Druckerei, die Naturkostläden und Bio-Bauernhöfe auf dem Lande, die Keramik-Werkstatt, die<br />

Trödel-Shops und die Second-hand-Boutique, die Textil- oder Töpferläden, die Buchhandlungen,<br />

Kinos, Galerien, Theater, Zeitungen, Magazine der auch die Selbstfindungsgruppen.<br />

Mittlerweile hat die alternative Szene in jeder westdeutschen Großstadt ihr Heimatrecht<br />

angemeldet. Eine kunterbunte Gegengesellschaft, die sich nicht damit begnügt, Fahrräder zu<br />

reparieren und zu bemalen oder Wolle zu spinnen, die gleichfalls HiFi-Anlagen baut, mit Video-<br />

Geräten, Computer hantiert, Windräder konstruiert, mit Sonnenkollektoren und<br />

Elektronikrechnern umzugehen weiß.<br />

Die anfängliche Verachtung, die den Aussteigern aus der Wohlstandsecke allzu oft<br />

emotional entgegenschlug, das Vorurteil, sei seien die kaputten Parasiten der Republik, ist<br />

inzwischen einer behutsameren Betrachtungsweise gewichen. Immerhin arbeiten und leben<br />

zwischen 80.000 und 130.000 vornehmlich junge Leute in 12.000 bis 15.000 Projekten - und das<br />

bundesweit. Auf etwa 400.000 Menschen wird die Zahl deren geschätzt, die Alternativgruppen<br />

unterstützen - sei es durch Geld, durch sporadische Mitarbeit oder auch nur <strong>als</strong> Kunden.<br />

Nach einer demoskopischen Untersuchung des Marplan-Instituts stehen fast 20 Prozent<br />

der Bundesbürger zwischen 14 und 45 Jahren dem alternativen Leben höchst aufgeschlossen<br />

gegenüber. Das heißt, etwa sechs Millionen Menschen in Deutschland liebäugeln mit grün<br />

gefärbten Lebensformen - weniger konsumieren, Umwelt schützen, gesund leben, handwerklich<br />

arbeiten, mehr Muße, mehr Sinnlichkeit in einer durch zunehmender menschlicher Kälte<br />

entäußerten Welt.<br />

Dessen ungeachtet bewegt sich ein Großteil der alternativen Ökonomie in einer<br />

"Grauzone des Erwerbsverhaltens". Ihre effektiven Leistungen finden kaum Niederschlag im<br />

450


Bruttosozialprodukt. Zum einen sprengt die alternative Ökonomie das bisher eingespielte Schema<br />

von Erwerbs- und Nichterwerbsrollen in der Gesellschaft. Ihr individueller Zuschnitt sowie ihre<br />

Eigendefinition von Arbeit und Leben setzen ein qualitativ verändertes Berufs- und<br />

Arbeitsmarktverhalten voraus - ein weitreichender, bisher kaum abschätzbarer wirtschaftlicher und<br />

sozialer Wandel, den aber weder die Erwerbstätigen- noch die Arbeitslosenstatistik hinreichend<br />

berücksichtigen. Aussteiger oder Verweigerer fallen aus dem staatlichen Erfassungsraster heraus.<br />

Amtliche Erhebungen sind daher ein untaugliches Mittel, Grauzonen des alternativen<br />

Erwerbsverhaltens auszuleuchten. Sie lassen keinerlei Aufschlüsse sowie zukunftweisende<br />

Interpretationen zu, sie verschließen sich mit ihrer teils starren, teils überholten Erfassungskriterien<br />

einem bislang unbekannten Phänomen - der alternativen Wirtschaft.<br />

Zum anderen entzieht sich die alternative Ökonomie selbst der offiziellen Wertschöpfung,<br />

weil die meisten ihrer Betriebe weder Steuern noch Sozialabgaben abführen wollen. Selbst<br />

kontrollierbare Absatzmärkte liefern kaum vergleichbare Ansatzpunkte, zufällige Stichproben<br />

schlagen meistens fehl. Denn für alternative Erzeugnisse oder Dienstleistungen gibt der Markt in<br />

der Regel eine Marktpreise her. Finanzwissenschaftler, wie Klaus Gretschmann von der Universität<br />

Köln, haben aus diesem Grund die alternative Ökonomie im Bereich der Schattenwirtschaft<br />

angesiedelt, jenem informellen Sektor, in dem traditionell die Schwarzarbeit blüht und gedeiht.<br />

Doch schon in ihren Kernpunkten unterscheidet sich die alternative Ökonomie von der<br />

Steuerhinterziehenden Schwarzarbeit, geht ihre Wirtschafts- und Lebensphilosophie von gänzlich<br />

anderen Grundsätze aus. Alternative Projekte sind gemeinwirtschaftlich ausgerichtet, orientieren<br />

sich ausschließlich an neuen Bedürfnissen und dem tatsächlichen Gebrauchswert. Der hohe<br />

persönliche Einsatz und der Arbeitsfaktor Idealismus gleichen konkursträchtige<br />

Betriebskalkulationen aus. So betrachtet zeigt die alternative Wirtschaft ein Mehr an moralischer<br />

Legitimation <strong>als</strong> der Steuer abführende Normalbetrieb.<br />

Ihr unveräußerliches Kennzeichen ist ferner Arbeitszufriedenheit statt Profitinteresse.<br />

Ihre Güter und Dienstleistungen verdrängten kaum andere, da sie den etablierten<br />

Wirtschaftskreislauf nur selten erreichen, sondern sich ihre Zielgruppen in den städtischen Gettos<br />

des alternativen Deutschlands suchen.<br />

So unterschiedlich die Beweggründe fürs alternative Wirtschaften sein mögen, so<br />

heterogen die Zielvorstellungen von Bunten oder Grünen sind, so diffus und laienhaft für<br />

Außenstehende sich ihre Betriebe auch ausnehmen - dennoch haben sich im Laufe der Jahre neun<br />

Alternativ-Gebote herauskristallisiert, die <strong>als</strong> unumstößlich gelten:<br />

• Jeder Betrieb wird selbstverwaltet. Chefs und Hierarchie sind abgeschafft. Jedem<br />

Mitarbeiter sind sämtliche Informationen zugänglich. Alle Unternehmens-<br />

Entscheidungen werden gemeinsam getroffen.<br />

• Jeder macht jeden Job. Spezialisierungen gibt es nicht, weil sie zur Entfremdung<br />

gegenüber der Arbeit und zum heimlichen Ausbau etwaige Machtpositionen<br />

beitragen.<br />

• Konkurrenz untereinander und zu den anderen Alternativprojekten finden nicht statt.<br />

• Alle bekommen den gleichen Lohn, oder es werden überhaupt keine Gelder verteilt.<br />

Jeder nimmt sich nur soviel aus der Betriebskasse, wie er tatsächlich braucht.<br />

451


• Kapital darf allerhöchstens ein Mittel zum Zweck sein, niem<strong>als</strong> darf seine<br />

Vermehrung zum Selbstzweck geraten. Privates Eigentum an Produktionsmitteln ist<br />

ausgeschlossen. Der Betrieb gehört allen, die am Projekt beteiligt sind. Wer<br />

ausscheidet, wird nicht ausgezahlt.<br />

• Konsum und Luxus werden generell auf das Nötigste und ebenfalls Sinnvolle<br />

beschränkt.<br />

• Nur nützliche, das heißt ökologisch saubere Produkte werden hergestellt, und nur<br />

sozial sinnvolle Dienste werden angeboten.<br />

• Die Trennung von Arbeit und privatem Leben wird aufgehoben. Der Betrieb dient<br />

nicht nur zum Lebensunterhalt, sondern soll gleichzeitig soziale Sicherheit und<br />

Geborgenheit vermitteln.<br />

Jugendliche, die sich im Sinne Erich Fromms von einer Welt abwenden, "die sich um<br />

Sachen und um das Besitzen von Sachen dreht", die deshalb mit Kopf und Bauch ausgewandert<br />

sind - und das im eigenen Land - diese Jugendlichen zählen in den seltensten Fällen zu den<br />

Begüterten dieser Republik. Aussteiger verfügen über keine gutgefüllten Bankkonten, kennen keine<br />

dehnbaren Dispositionskredite oder zinsgünstige Existenzgründungs-Darlehen. Ihr ständiger<br />

Wegbegleiter in den alternativen Lebenszusammenhang heißt vielmehr Kapitalmangel. Ein Dasein,<br />

das täglich aufs Neue durch Unterkonsum und Selbstausbeutung gemeistert werden muss.<br />

Für die Arbeiterselbsthilfe, dort draußen im Urselbachtal, vor den Toren Frankfurts,<br />

gehört das Leben an der Hungerschwelle inzwischen zur Unternehmens-Geschichte. Es war ein<br />

dorniger Existenzkampf, über den die Anteilseigner der "Allgemeinen Sortiments- und<br />

Handelsgesellschaft" heute gern mit einem Quäntchen Genugtuung berichtet. Michael, Stefan,<br />

Roswitha hocken am runden Nussbaum tisch im weitläufig ausgebauten ASH-Café. Roswitha sagt:<br />

"Zwei Jahre sind wir über Hinterhöfe und Schrottplätze gezogen. Es gab nur Billig-Bier und jeden<br />

zweiten Tag Spaghetti. Nur wenn es uns einigermaßen ging, leerten wir gemeinsam eine Zwei-Liter-<br />

Flasche von Aldi aus.<br />

Michael erzählt: "Natürlich hatten wir kein Geld. Und wo kein Kapital ist, da bleiben halt<br />

nur die Schrottplätze. Aber es waren deprimierende Drecklöcher. Im Winter haben wir uns in einer<br />

schimmelfeuchten Baracke alle in einem Umkreis von zwei bis drei Metern um einen Kohleofen<br />

gedrängt. Wir guckten durch ein vergittertes Fenster auf die Schrottberge und sahen nicht einmal<br />

dort eine Perspektive für uns, weil hier schon Neubauten angesagt waren." Stefan ergänzt: "Wir<br />

zogen in die leerstehende Fabona-Fabrik um. Dort hatte der Wind jeden Schlupfwinkel<br />

ausgemacht. Mit zehn Mann wohnten wir in einem durch Gipswände notdürftig hergerichteten<br />

Zimmer. Vor der großen Tür begann gleich unser Möbelverkaufsraum. Auf der Suche nach<br />

passenden Möbeln standen die Kunden plötzlich vor unseren Matratzen."<br />

Roswitha meint: "Ein Albtraum war das dam<strong>als</strong>. Über achtzig Stunden malochten wir in<br />

der Woche. Wir renovierten, tapezierten, restaurierten, nachts schrieben wir die Verkaufs-<br />

Flugblätter und Zeitungsannoncen. Morgens bibberten wir überreizt den ersten Kunden entgegen.<br />

Und das alles für einen Stundenlohn von maximal 30 Pfennig. Einige sind dann vom Ausstieg<br />

wieder ausgestiegen. Die haben sich gesagt: Aber für die meisten gab es nur eine Alternative:<br />

weitermachen oder untergehen. Zurück ins normale Leben? Nein Danke."<br />

So harrten Michael, Stefan, Roswitha und Co. Jahr um Jahr in ihren Verliesen aus, bis sie<br />

endlich ihre Marktlücke fanden und sich zu einer bürgerlichen GmbH durchgenagt hatten. Ihre<br />

452


gemeinsame und immer wieder ins Gedächtnis zurückbeorderte Erfahrung aus den siebziger Jahren<br />

half ihnen dabei. Es waren jene Zeiten, in denen in Frankfurt die Häuserkämpfe zu paramilitärischen<br />

Auseinandersetzungen entglitten, in denen der Spruch "keine Macht für niemand" die<br />

Entfremdung artikulierte, die zwischen Staat und Jugendlichen oft in Zehntelsekunden entstehen<br />

konnte und heute in der alternativen Szene fortlebt.<br />

Der dam<strong>als</strong> vollzogene Bruch ließ noch keine volkswirtschaftliche Eigendynamik erahnen,<br />

wurde zunächst erst einmal gar nicht zur Kenntnis genommen.<br />

Anfang der achtziger Jahre hingegen existiert bundesweit eine Wirtschaft, die ihre eigenen<br />

Maßstäbe in sich trägt. So sind alternative Betriebe in erster Linie für Grüne, Bunte, Heteros,<br />

Homos, Ökos und Sparökonomen da. Fast 65 Prozent aller Unternehmen werkeln fürs eigene<br />

Milieu. Die übrigen 30 Prozent zählen zu den reinen Eigenarbeits-Projekten, die sich auf Therapieund<br />

Frauengruppen oder Stadtteil-Zentren konzentrieren.<br />

Eine alternative Bewegung, deren wichtigstes Ziel die Selbstverwirklichung oder auch die<br />

neue Sinnlichkeit ist, sieht natürlich kaum ihr Primat darin, irgendeine Ware herzustellen und diese<br />

im bürgerlich-kapitalistischen Sinne an den Mann oder auch die Frau zu bringen. Der Berliner<br />

Politologe Joseph Huber recherchierte, dass nur zwölf Prozent im engeren Sinne produktiv tätig<br />

sind - in der Landwirtschaft und im Handwerk. Ganze neun Prozent der Szene engagieren sich in<br />

Handel und Verkehr, 18 Prozent widmen sich ausschließlich der politischen Arbeit. Den<br />

Löwenanteil von 60 Prozent machen Buchläden, Kinos, Galerien, Theater, pädagogische<br />

Einrichtungen, Zeitschrift und Publikationen aus.<br />

Die alternative Presse - meist Stadtteilzeitungen oder Flugschriften - begreift sich <strong>als</strong><br />

Gegenöffentlichkeit für unterbliebene, oft auch zu kurz gekommene Nachrichten in den<br />

professionellen Medien. Ihr Wesensmerkmal ist Spontaneität und Betroffenheit. Die Trennung von<br />

Machern und Konsumenten ist Größenteils aufgehoben. Schon 1976 kamen nach einer<br />

Bestandsaufnahme des Bonner Familienministeriums 100 alternative Publikationen auf dem Markt.<br />

Zwei Jahre später schlossen sich die zwölf größten alternativen Stadtillustrierten zur "Szene-<br />

Programm-Presse" zusammen und erreichten seither eine Gesamtauflage von über 200.000<br />

Exemplaren. Bereits 1980 zählte das alternative Deutschland über 240 Zeitungen.<br />

Gegenwärtig addiert sich die Gesamtauflage auf mehr auf 1,6 Millionen Exemplare<br />

monatlich.<br />

An der Spitze der Gegen-Öffentlichkeit rangieren die beiden Frauen-Zeitschriften Emma<br />

(Auflage: 130.000) und Courage (70.000), gefolgt von Zitty, Berlin (45.000), Szene, (Hamburg<br />

(40.000), Oxmox , Hamburg (42.000), tageszeitung, Berlin (15.000), Pflasterstrand, Frankfurt<br />

(15.000), Auftritt, Frankfurt (25.000), Stadtrevue, Köln (22,00), Hamburger Rundschau (18.000),<br />

Blatt, München (15.000) und dem Plärrer aus Nürnberg mit 10.000 Exemplaren.<br />

Die oft verbreitete Ansicht, der Ausstieg aus der bundesdeutschen Gesellschaft ziehe<br />

sogleich eine radikale Abkopplung vom eingespielten Wirtschaftsgefüge nach sich, ist ein<br />

Trugschluss. Betriebswirtschaftlich gesehen, können zahlreiche Projekte nur überleben, weil ihnen<br />

Zuschüsse aus dem etablierten Wirtschaftskreislauf sicher sind. Nur etwa 40 Prozent der<br />

Einnahmen in den alternativen Projekten stammen aus eigenständig erwirtschafteten Erlösen, an<br />

die 60 Prozent rekrutieren sich überwiegend aus Zuschüssen von Kirche und Staat. Oder sie<br />

453


fließen aus Eigensubventionen wie etwa abgezwackten Privateinkommen, Solidaritätsspenden,<br />

Fördervereinen und so weiter.<br />

Folglich sind alternative Betriebe gegenwärtig auch kaum imstande, ihre Leute zu<br />

ernähren. In der Hälfte der Projekte beziehen alle Mitarbeiter ihre Überlebensgelder von<br />

Ehepartnern, Eltern, Freunden, oder sie kassieren Sozialleistungen wie BAföG, Wohn-,<br />

Arbeitslosen- und Sozialhilfe - im modernen Hochdeutsch Hartz IV genannt. Weitere 30 Prozent<br />

der Unternehmen können nur einem Teil ihrer Mitglieder ein kleines Salär auszahlen. Lediglich 20<br />

Prozent der alternativen Projekte erwirtschaften für alle Mitarbeiter ein regelmäßig abrufbares<br />

Gehalt: Monatliche Vergütungen, die sich zwischen 500 und 1.000 Mark, in den seltensten Fällen<br />

um die 1.500 Mark bewegen. Und die auch oft nur deshalb diese Größenordnung erreichen, weil<br />

Steuern, Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge erst gar nicht abgeführt werden.<br />

Im Herbst 1978 gründeten Alternativen und ihre Sympathisanten in Berlin das "Netzwerk<br />

Selbsthilfe e. V." In der Praxis bewährt sich dieser eingetragene Verein <strong>als</strong> eine Bank ohne Zinsen.<br />

Er vergibt nach Maßgabe seines Kreditausschusses Darlehen und Zuschüsse an unterkapitalisierte<br />

Projekte, "die<br />

• demokratische Selbstverwaltung praktizieren<br />

• nicht auf indiviuellen Profit ausgerichtet sind;<br />

• modellhaft alternatives Lebens- und Arbeitsformen erproben beziehungsweise<br />

emanzipatorischen oder aufklärerischen Charakter haben;<br />

• mit ähnlichen Projekten kooperieren statt konkurrieren;<br />

• personell und organisatorisch Kontinuität und längerfristig wirtschaftliche<br />

Tragfähigkeit gewährleisten".<br />

Mitglied des Netzwerkes kann jeder werden, der bereit ist, monatlich einen Spendenbetrag<br />

zu zeichnen. Ihr Erkennungszeichen, ein rasendes Sparschwein, hat auf diese Weise schon über<br />

vier Millionen Mark verschluckt und in mehr <strong>als</strong> 100 Alternativ-Betrieben bundesweit wieder<br />

ausgespuckt. Ob beim unabhängigen Jugendzentrum in Hannover, im Bremer Frauenhaus, bei der<br />

Frankfurter Arbeiterselbsthilfe oder in der Berliner "Fabrik für Kultur, Sport und Handwerk" - die<br />

Bank ohne Zinsen planiert für die oft idealistischen Lebensziele zumindest ein Stück es Weges und<br />

sorgt dafür, dass sich Alternative nicht nur um sich selbst, sondern auch um Ausländer und<br />

Behinderte, Drogenabhängige und Trebegänger kümmern können.<br />

Dass in der Bundesrepublik innerhalb eines knappen Jahrzehnts eine im wahrsten Sinne<br />

des Wortes alternative Wirtschaft entstand und dass diese Gruppierung, die wegen ihrer<br />

vielschichtigen Struktur wohl besser <strong>als</strong> "Szene" bezeichnet wird, immer noch wächst, bringt nicht<br />

zuletzt mit Krise des Wirtschafts-Wachstums zusammen. Denn die Grenzen des wirtschaftlichen<br />

Wachstums sind zugleich Grenzen des Sozi<strong>als</strong>taats. Der vor allem in den siebziger Jahren<br />

vertretene Staatsanspruch, für den Bürger alles regeln und lenken zu wollen, wird künftig schon aus<br />

finanziellen Gründen nicht mehr einzulösen sein. Die atemberaubenden technologischen<br />

Innovationsschübe, auf den Weltmärkten, insbesondere in den Bereiche Mikroelektronik und<br />

Informationstechnologie, drücken in diesem Jahrzehnt den Arbeitsfaktor Mensch immer stetiger<br />

und unausweichlicher aus dem Wettbewerb heraus.<br />

Dem technischen Wandel und der damit verbundenen Rationalisierung fielen schon<br />

Anfang der siebziger Jahre jährlich drei Prozent aller Arbeitsplätze zum Opfer. Vertrauliche<br />

454


Gutachten der Industriegewerkschaft Metall gehen bereits davon aus, dass dieses Land Ende der<br />

achtziger Jahre sechs Millionen arbeitslose Menschen beherbergen dürfte.<br />

Während die Mehrzahl der etablierten Politiker noch immer glaubt, die negativen Folgen<br />

des technischen Fortschritts und der Wirtschaftskrise mit den konventionellen Wachstumsrezepten<br />

kurieren zu können, fehlt es der Alternativbewegung an Motivation, diesen mitzutragen. Kaum<br />

einer weiß, welche Fundamente die pathetisch hochgepriesene Zukunft noch hat. Unübersehbar<br />

dagegen ist, wie Wälder vernichtet, Städte zubetoniert, Flüsse und Luft verseucht werden oder<br />

Kernkraftwerke mit ihren uneinschätzbaren Risiken entstehen - und das alles nur um des<br />

Wachstums willen. Die geradezu trotzigen Anstrengungen, durch einen erneuten wirtschaftlichen<br />

Boom wieder eine Dekade des Wohlstands und damit der sozialen Versorgung erreichen zu<br />

können, lassen geflissentlich außer acht, dass gerade dieses Wachstum den emotionalen und<br />

psychischen Grundbedürfnissen der Alternativszene diametral entgegensteht.<br />

Für die alternative Schattenwirtschaft kommentierte der Frankfurter Pflasterstrand, das<br />

Zentralorgan der Spontis, die eklatanten Einbrüche der bürgerlichen Wirtschaft so: "Diese Krise ist<br />

keine Flaute, sie hat Substanz. Die Überflussgesellschaft ist realisiert, und in ihrer Realisierung<br />

steckt ihr Zerfall. Liest man die Wirtschaftsseiten der Zeitungen genau, kommt eine simple<br />

Botschaft heraus: Ökonomisches Wachstum gibt es immer dann, wenn bei breiten Schichten<br />

Mangel und Bedürfnis herrschen. In einem Zeitalter, in dem 98 Prozent einen Kühlschrank und<br />

jeder Zweite ein Auto besitzt, stagnieren die Märkte: Mehr Konsum mit anderen Produkten,<br />

Kapitalisierung des Dienstleistungsgewerbes, Verkabelung, Digitalisierung der TV-Kanäle - all dies<br />

wird den ökonomischen Verfall bremsen, aufhalten vielleicht, aber irgendwann ist selbst das<br />

hungrigste Schwein einmal satt . . . Eine Alternative dazu müsste, ebenso wie die Krise selbst, mehr<br />

Substanz besitzen, auf einen völlig anderen Umgang mit Zeit, Geld, Arbeit und Konsum<br />

hinarbeiten, die notwendige Stagnation des Wachstums umverteilen."<br />

Zu ähnlichen Ergebnissen wie der von Daniel Cohn-Bendit herausgegebene Pflasterstrand<br />

(1976-1990) kam der von Alternativen viel gelesene Franzose Alain Touraine seines Zeichens ein<br />

Industriesoziologe des sozialen Wandels Mitte der siebziger Jahre. Er schrieb: "Wir leben in einer<br />

Zwischenzeit, in der sich kulturelle Veränderungen und gesellschaftliche Konflikte so sehr<br />

vermische, dass sie sich nicht voneinander trennen lassen", textete Touraine in seinem Buch<br />

"Jenseits der Krise" (Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1976). Gemeint ist damit ein schleichender<br />

Strukturumbruch in den westlichen Arbeitsgesellschaften, der sich erst allmählich und nur über<br />

veränderte Werteinstellungen in der Praxis durchzusetzen vermag. Touraine benennt fünf<br />

aufeinanderfolgende Entwicklungsphasen des Übergangs von der Industriegesellschaft in die<br />

nachindustrielle Gesellschaft: Soziale Krise, kulturelle Krise, kultureller Wandel, sozialer Wandel,<br />

politische Auseinandersetzung.<br />

Er prophezeite ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft in große technokratische<br />

Einheiten auf der einen Seite und eine Bewegung der Verweigerung und Gewalt auf der anderen.<br />

Die neuen, klassenunabhängigen, gesellschaftlichen Strömungen, so Touraine, müssten zum<br />

Gegenangriff übergehen, um die Herrschaft über die Entwicklungskräfte zu übernehmen. Ihr Ziel<br />

sei die Wiederherstellung sozialer Beziehungen, der Bestand einer Gesellschaft, die sich <strong>als</strong> Netz<br />

kommunikativer Beziehungen und nicht mehr <strong>als</strong> Energie verbrauchende Maschine definiere.<br />

Touraine: "Wollen wir aus der Krise herauskommen, so müssen wir lernen, die neuen Ufer, auf die<br />

wir zusteuern, die Imperien, die sich herausbilden, und die Kräfte, die ihnen im Kampf<br />

entgegentreten können, ins Auge zu fassen."<br />

455


Ob bewusst oder unbeabsichtigt, ob aus eigener unternehmerischer Kraft oder mit Hilfe<br />

der angeschlagenen kapitalistischen Wirtschaft - in die Rolle einer sozial-ökonomischen Avantgarde<br />

ist die alternative Bewegung bereits hineingewachsen. Beinahe unmerklich und für viele noch<br />

immer nicht erkennbar, hat sie die Grenzen überschritten, die gemeinhin das Wirtschaftliche vom<br />

Kulturellen, den Gelderwerb von der Selbstverwirklichung trennen. Die althergebrachte These, die<br />

Bedeutung schattenökonomischer Betriebsamkeit nehme besonders in Depressionszeiten zu, ist<br />

sicher richtig. Aber sie reicht nicht mehr aus, die Existenz der Alternativ-Bewegung zu erklären.<br />

Denn sie verkürzt die Alternativ-Wirtschaft auf eine mehr oder minder saisonale<br />

Erscheinungsform, die sich bei entsprechender Konjunktur auch wieder eindämmen ließe. Was der<br />

alternativen Schattenwirtschaft dagegen ihre Dimension gibt, ist die Tatsache, dass sie schon heute<br />

volkswirtschaftlich und sozialpolitisch bedeutende Felder besetzt und mit ihren facettenreichen<br />

Wesensmerkmalen neu gestalten dürfte.<br />

Einen deutlichen Hinweis darauf lieferte eine Untersuchung des Zentralinstituts für<br />

sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin. Anhand von 64 Berliner<br />

Alternativ-Projekten wiesen Wissenschaftler nach, welche öffentlichen Aufgaben die so genannte<br />

Aussteiger-Generation in eigener Regie bereits übernommen hat und weitsichtig lösen will.<br />

Auszüge aus der Stellungnahme:<br />

• Beschäftigungspolitisch schaffen Alternativprojekte Arbeitsplätze. Allein in Berlin<br />

haben sie aus eigener Kraft mindestens 4.000 bis 5.000 Arbeitsplätze neu eingerichtet.<br />

Es ist allgemein bekannt, dass Großunternehmen trotz aller Riesensubventionen in<br />

den letzten zehn Jahren keinen Arbeitslosen von der Straße geholt haben. Der<br />

Zuwachs an Arbeitsplätzen kommt heute ausschließlich von Klein- und<br />

Mittelbetrieben sowie von Dienstleistungsprojekten. Dies gilt für alle westlichen<br />

Industrieländer.<br />

• Wirtschaftspolitisch tragen Alternativ-Projekte dazu bei, die durch Konzentration<br />

und Monopolisierung schwer beschädigte Struktur von Kleinbetrieben wieder<br />

aufzubauen. Kleinbetriebe und Einrichtungen vor Ort sind das A und O einer<br />

lebensnahen Versorgung der Bevölkerung.<br />

• Stadtpolitisch helfen Alternativ-Projekte damit, mehr Lebensqualität zu ermöglichen.<br />

Sie sind überwiegend Stadtteil- und auf die Nachbarschaft bezogen. Sie sind ein<br />

Stück praktizierte Stadtteil- und Gemeinde-Entwicklung.<br />

• Jugendpolitisch sind Alternativ-Projekte weit wirksamer <strong>als</strong> vergleichbare staatliche<br />

Einrichtungen. Die Einbindung in lebendige Arbeits- und Lebenszusammenhänge<br />

erfolgt in Alternativ-Projekten eben tatsächlich und ist keine aufgepfropfte<br />

institutionelle Kontrolle.<br />

456<br />

• Sozialpolitisch sind Alternativ-Projekte Kosten sparend und in der Methode<br />

wegweisend. An Sozialarbeiterschulen werden sie nicht umsonst <strong>als</strong> eine Möglichkeit<br />

"präventiver Sozialarbeit" betrachtet. Sie entlasten Arbeitsmarkt und Sozialhaushalt<br />

gleichermaßen, indem sie Menschen auffangen, die anderenfalls <strong>als</strong> sozial<br />

Benachteiligte den Sozi<strong>als</strong>taat in Anspruch nehmen müssten. Darüber hinaus<br />

schaffen die Projekte für ihre Mitglieder Einkommen, erübrigen teure Gebäude-,<br />

Einrichtungs-, Betriebs- und Personalkosten und ersparen Arbeitslosen- und<br />

Sozialgelder.


Folgerichtig beantragen die 64 Alternativprojekte einen finanziellen Zuschuss vom<br />

Berliner Senat. Mit zunächst 20 Millionen Mark sollen weitere 500 neue Arbeitsplätze eingerichtet<br />

werden. Schon in naher Zukunft würden jährlich etwa 40 bis 50 Millionen Mark benötigt, weil nur<br />

"die echte Hilfe zur Selbsthilfe" den Menschen Arbeitsplatz orientierte Perspektiven vermitteln<br />

könne. Zu dem von Aussteigern und Verweigerern bisher ungewohnten Ansinnen, ihre Arbeit mit<br />

der Unterstützung von Steuergeldern auszubauen, machte der Berliner Hochschullehrer Peter<br />

Grottian den Parlamentariern folgende Rechnung auf. "Wenn Arbeitsmarkt-Programme von 960<br />

Millionen Mark lächerliche 1.517 Arbeitsplätze gebracht haben und die laut Helmut Schmidt<br />

(Bundeskanzler 1974-1982) investierten 55 Milliarden Mark bei angeblich 900.000 erhaltenen oder<br />

neu geschaffenen Arbeitsplätzen pro Arbeitsplatz 55.000 Mark an Steuergeldern gekostet haben,<br />

wird die Frage erlaubt sein, wie viele selbstorganisierte Arbeitsplätze in kollektiven<br />

Alternativbetrieben mit diesem Geld hätten geschaffen werden können."<br />

Das langsame Eindringen der Alternativ-Bewegungen in die etablierten sozialen<br />

Versorgungssysteme und in die offiziellen Wirtschaftskreisläufe bestätigt die Theorie des<br />

Sozialwissenschaftlers Gerd Vonderach. Der Oldenburger Hochschullehrer entwickelte die<br />

inzwischen weithin anerkannte These, dass sich die alternative Schatten-Ökonomie "eine neue Art<br />

von Selbständigkeit" abzeichnet. Sie sei Resultat eines krisenhaften Strukturumbruchs und werde<br />

vor allem von jungen Menschen <strong>als</strong> Ausweg aus erschwerten Berufskarrieren und <strong>als</strong> Alternative zu<br />

den vorherrschenden Arbeitsrollen angestrebt. Ausgangspunkt und Wertorientierung der neuen<br />

Selbständigen, so Gerd Vonderach, unterschieden sich von den Selbständigen bisheriger Art.<br />

Denn, so seine Analyse, die meisten neuen Selbständigen fänden weder durch ererbten Besitz oder<br />

familiäre Tradition noch in professioneller Weise zur selbständigen Existenz. Ihre Arbeit sei<br />

einerseits für sie ökonomisch notwendig, andererseits aber Ausdruck ihres Versuchs,<br />

selbstbestimmte und unentfremdete Arbeits- und Lebensformen zu entwickeln. Vonderach: "Der<br />

neue Selbständige ist einerseits engagiert und ernsthaft, andererseits spielerisch und experimentell.<br />

"So kennt er für seinen Job im Vergleich zur bürgerlichen Gesellschaft nur eine geringe<br />

Professionalisierung, in den seltensten Fällen eine diplomierte Qualifikation für seinen Beruf.<br />

Gleichwohl kann er auf ein meist überdurchschnittliches Schul- und Ausbildungsniveau verweisen.<br />

Berufliche Fertigkeiten lernt er erst bei der Arbeit.<br />

Eigenschaften dieser Art lassen wohl kaum auf eine Sorte Mensch schließen. Die teilweise<br />

ganz vollzogene Abwendung von den erwerbswirtschaftlichen, bürokratischen Arbeitsformen und -<br />

inhalten ebnet vielmehr im alltäglichen Leben die Chance zur Selbstverwirklichung und zur<br />

Sinnvermittlung. So glaubt Vonderach, dass de oder Selbständigkeit "<strong>als</strong> eine praktische Dominanz<br />

des kulturellen Selbstentfaltungsanspruchs über die Effektivitätsprinzipien der vorherrschenden<br />

berufswirtschaftlichen Sphäre" verstanden werden sollte.<br />

Dennoch zwingt die chronische Unterkapitalisierung und schwache Konkurrenz-Situation<br />

viele neue Selbständige zu Kompromissen zwischen ihren Ansprüchen und der wirtschaftlichen<br />

Realität. So fließen die Grenzen vom informellen Schattensektor zum formellen Absatzmarkt<br />

nahtlos ineinander über - ein ökonomisches Spektrum, das von Eigen- und Gemeinschaftsarbeit<br />

bis hin zur Geld- und Erwerbswirtschaft reicht. Dessen ungeachtet sind die Weichen in Richtung<br />

eines zweigeteilten Wirtschaftssystems in Deutschland längst gestellt. Die alternative<br />

Schattenwirtschaft bildet den Ausgangspunkt.<br />

Sie verkörpert schon heute einen Gegenbereich der dezentralen Produktion und<br />

Versorgung, der sich von der zentralen Großtechnologie und Bürokratie abhebt. Für Jugendliche,<br />

die offiziell arbeitslos sind, ohne je gearbeitet zu haben, ist er zumindest zeitweilig eine Art<br />

457


Auffangbecken. Für ältere Menschen, die aus dem Berufsleben ausgesiebt worden sind, könnte die<br />

alternative Schattenwirtschaft ein Übergangsstadium bis zur Pensionierung sein. Ganz im Sinne<br />

eines abgewandelten Zitats von Emile Durkheim (französischer Soziologe, Ethnologe<br />

*1858+1917), der schon 1895 notierte: "Wäre es auch richtig, dass wir gegenwärtig unser Glück in<br />

einer industriellen Zivilisation suchen, so ist es keineswegs gewiss, dass wir es später nicht<br />

anderwärts suchen werden."<br />

458


1984<br />

Betrogene Betrüger: größtes journalistisches Gaunerstück<br />

Voilà, das ist Monsieur Möllemann (*1945+2003)<br />

459


BETROGENE BETRÜGER - GRÖßTE JOURNALISTISCHE<br />

GAUNERSTÜCKE ALLER ZEITEN<br />

Die Haupt-Akteure :<br />

Henri Nannen (*1913+1996) war der Hans Albers des deutschen Journalismus. Ein<br />

Mann der Legenden nicht nur auf der Reeperbahn nachts um halb eins; mit verbrannter Erde sein<br />

Leben bestrittenn<br />

Peter Koch (*1938+1988) wollte bedeutend werden, hatte Rasierklingen an den<br />

Ellenbogen. Es reichte nur zur Fußnote einer Stern-Skandalgeschichte. Mit 1,5 Millionen Euro<br />

Abfindung nach Hause geschickt<br />

Thomas Walde war einer der fundiertesten Journalisten im deutschen Blätterwald; verlor<br />

im Sog der Sensationen den Überblick. Tragisch. Opfer des Hamburger Presse-Milieus<br />

Gerd Heidemann ein Mann mit Nazi-Affinitäten, Nazi-Lieder, Göring-Maskerade und<br />

einer Ehefrau mit BDM-Frisur: hoch gepokert, alles verloren - in den Knast eingefahren. Vom<br />

Star-Reporter zum Sozialhilfeempfänger<br />

Die sogenannten Hitler-Tagebücher und ihre Veröffentlichung in der Hamburger<br />

Illustrierten stern gilt <strong>als</strong> einer der größten Skandal in der Geschichte der deutschen<br />

Presse, <strong>als</strong> Paradebeispiel für Scheckbuch-Journalismus. Der stern hatte für 4,65 Millionen<br />

Euro 62 Bände gefälschter Tagebücher erworben. Auf einer Pressekonferenz kündigte<br />

Chefredakteur Peter Koch an, "große Teile der deutschen Geschichte müssen<br />

umgeschrieben werden". Beschaffer, Gerd Heidemann, ließ sich in Siegerpose zu einem<br />

"Victory"-Zeichen hinreißen. Welterfolg.<br />

Gerd Heidemann musste wegen Unterschlagung eine Haftstrafe von vier Jahren<br />

und acht Monaten Haft antreten; lebt seither von Sozialhilfe. Konrad Kujau (*1938+2000)<br />

wurde durch seine Fälschung populär und gleichfalls wegen Betrugs mit vier Jahren und<br />

sechs Monaten Freiheitsentzug belegt. Aufgrund seiner Kehlkopf-Krebserkrankung<br />

verbüßte Kujau lediglich drei Jahre Haft. Er starb im Jahr 2000.<br />

Chefredakteur Peter Koch trat von seinem Amt zurück - notgedrungenerweise. Er<br />

ließ sich für sein Tagebuch-Abenteuer mit einer stattlichen Abfindung in Höhe von 1,5<br />

Millionen Euro belohnen. Als neuer Blattmacher im Springer-Verlag scheiterte Peter Koch<br />

mit seiner Illustrierte "Ja" aberm<strong>als</strong>. Sie musste schon nach wenigen Ausgaben wegen<br />

mangelnder Auflage und wirtschaftlichen Misserfolges eingestellt werden. Er starb im<br />

Alter von 50 Jahren 1989 auf seinem Landsitz in Florida an Krebs.<br />

Auftritt, Rhein-Main-Illustrierte, Frankfurt a/M vom 3. September 1984<br />

Es war einer jener seltenen Sommertage, der die Gemüter ungeahnt vibrieren lässt. Im<br />

klinkerverputzten Hamburg, der Hochburg des Hochmuts, kriechen die Bürger aus ihren Burgen.<br />

Der Volkspark wimmelt voller euphorischer Menschen samt lebenslustiger Hunde. Auf der<br />

Außen<strong>als</strong>ter ziehen Segelboote ihre beschaulichen Schleifen. Und in der Fabrik rockt Ulrich Klose,<br />

dam<strong>als</strong> Regierungschef der Hansestadt (1974-1981), in Udo Lindenbergs Aufbruch-Stimmung<br />

hinein - ("Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt und sonst gar nichts").<br />

460


Nur am Ausschläger Elbdeich plätschert das Wochenende eher freudlos vor sich hin.<br />

Genauer gesagt auf der "Carin II", einer Privatjacht, die dem stern-Journalisten Gerd Heidemann<br />

gehört. Heidemann, auch Gerdsche genannt, zählt allseits unbestritten zu den hochkarätigen<br />

Rechercheuren der Illustrierten - und das schon seit mehreren Jahrzehnten. Eben der<br />

"hartnäckigste, raffinierteste Reporter Deutschlands, der zäheste Spürhund, der sich überhaupt<br />

denken lässt". Eben ein klassischer Karriere-Mann, der sich während seiner Laufbahn nicht einmal<br />

eine Gegendarstellung, keine Klage, keinen Prozess einhandelte, wie der stern großspurig kundtat.<br />

An diesem Wochenende im Jahre 1978 hockt der stern-Star ein wenig gelangweilt in<br />

seinem Schiffssalon. Ihm missfällt jeder Stillstand, jede Minute, die Heidemann mit Heidemann zu<br />

konfrontieren droht. Er hasst erst recht jeden Urlaub, den er immer wieder <strong>als</strong> eine "empfindliche<br />

Strafe" wahrnimmt. Ferien zu machen, auszuspannen, das hieße ja, von der nahezu manischen,<br />

ureigensten Besessenheit, vom rasenden Fanatismus abzuschalten, sei es auch nur für ganze sechs<br />

Wochen. Wenn innere Ruhe <strong>als</strong> Bedrohung empfunden wird ...<br />

Aus dem Bord-Kassettenrecorder scheppert stattdessen der Radetzky-Marsch,<br />

Heidemann, in der Prachtuniform des Reichsmarschalls Hermann Göring (*1893+1946), wartet<br />

auf seinen Erbseneintopf. Das Ambiente um ihn herum: Göringsches Tafelsilber, Göringsche<br />

Aschenbecher. Selbst die Kissenbezüge stamme aus Görings Bademantel. In der Kombüse bekocht<br />

ihn Gina. Natürlich hat Gina wasserblaue Augen, ist groß wie blond, eine Frau, die an Lebensborn<br />

wie Rassenglück erinnert, an jene vollends entgeisterten Arierinnen, die den Führer ein Kind<br />

schenkten; <strong>als</strong>bald darf Gina sich dennoch Frau Heidemann IV. nennen. Szenen wie aus<br />

Hollywood, nur mit dem kleinen Unterschied, dass derlei Anwandlungen im Hamburg der siebziger<br />

Jahre irgendwo auf einem Kahn im Wasser der Wirklichkeit entsprachen.<br />

Keine anderen <strong>als</strong> der ehemalige Waffen-SS-General und unbelehrbare Verteidiger der<br />

Reichskanzlei Wilhelm Monke (*1911+1977) wie auch der frühere Waffen-SS- General und<br />

Himmler-Intimus Karl Wolff (*1900+1984) werden in wenigen Wochen später die Heidemanns <strong>als</strong><br />

Trauzeugen zum Standesamt eskortieren. Wolff, ein Nazi-Karrierist und Scherge, der wegen<br />

Ermordung von 300.000 Juden zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Wolff, den<br />

Heidemann stets <strong>als</strong> "Wölfchen" liebkost; einfach, weil er doch so "ein netter Mann ist".<br />

Die "Carin II" - das war einmal Görings Schiff. Im Jahre 1937 bekam er es im Werte von<br />

1,3 Millionen Reichsmark von der Automobilindustrie geschenkt. Im Jahre 1973 kaufte es<br />

Heidemann im ziemlich verrotteten Zustand einem Bonner Druckerei-Besitzer für immerhin<br />

160.000 Mark ab. Zwischenzeitlich diente es unter dem Namen "Prince Charles" dem englischen<br />

Königshaus <strong>als</strong> Prominentenjacht. Die "Carin II" - sie wurde zu Heidemanns Refugium. Eine tief<br />

verwurzelte, emotionale Heimstatt, für die er sein Haus veräußerte, für die er sich bei der<br />

Deutschen Bank wegen der immensen Renovierungskosten sogar um 300.000 Mark verschuldete<br />

(Kontonummer: 521.815.101)<br />

Eine Affinität, die Heidemann geschickt mit Geschäftsinteressen oder "zeitgeschichtlichen<br />

Nachforschungen" zu kaschieren wusste, aber tatsächlich bereits im Jahre 1945 ihren nachhaltig<br />

prägenden Ausgangspunkt nahm. Dam<strong>als</strong> war Gerd Heidemann gerade dreizehn Jahre alt, <strong>als</strong> die<br />

aus Holland zurückbeorderte Panzer-Division "Hitler-Jugend" in Dorfmark am Rande der<br />

Lüneburger Heide ihm das Zerlegen von MGs und Schießen beibrachte, Pimpf Heidemann mit<br />

"feucht-glänzenden Augen" zu den 17jährigen Waffen-SS-Männern aufblickte.<br />

Auf diesem Geisterboot schuf Gerd Heidemann sich nach all den verwirrenden<br />

Verirrungen eines Reporterlebens seine Wirklichkeit; die der Nazis ("Kamerad-weißt-du-noch"), die<br />

461


der Waffenhändler, Neofaschisten und Geheimdienstagenten. Allesamt gingen sie auf der "Carin<br />

II" liebend gern ein und aus. Saufgelage, Weiber, Blutfahne, Fressplatten vom Hotel<br />

Intercontinental mit Lachs- und Kaviarschnittchen samt Reh-rücken-Filet, Nazi-Lieder, Göring-<br />

Maskerade, Görings Lokusschüssel und natürlich der lallende Eintrag ins Heidemann'sche<br />

Bordbuch. Der Starreporter auf Recherche, auf Rechnung des stern selbstverständlich.<br />

Auf diesem Kahn, der traumatisch minutiös jenes braune Despoten-Dasein aktualisiert,<br />

fand Heidemann endlich seinen ersehnten Platz, seine NS-beseelte Genugtuung oder<br />

Anerkennung, seine menschlichen Bezugspunkte. Gerd Heidemann war richtig angekommen, er<br />

konnte sich allmählich zu dem häuten, der er schon immer war. Ein autoritätshöriger,<br />

enthusiastischer Verehrer überlebensgroßer Männer", hart wie Stahl und mit eisenbeschlagenen<br />

Schuhabsätzen - hießen sie nun SS-Wolff, SS-Mohnke, Schlächter Barbie in Lyon, Stern-Nannen<br />

oder Stern-Koch. Wer auch immer von den drahtigen "Mustermännern" sein Gegenüber war.<br />

Heidemanns Hingabe bestand aus winselnder Abhängigkeit.<br />

Mit den Hitler-Tagebüchern, dem bislang umfangreichsten Fälschungswerk der<br />

Geschichte, wollte Heidemann zum Gröraz, zum größten Reporter aller Zeiten werden. Neun<br />

Millionen Mark (4,65 Millionen Euro) blätterte der Verlag Gruner + Jahr für Konrad Kujaus<br />

F<strong>als</strong>ifikate hin, auf etwa 20 Millionen Mark beläuft sich der Gesamtverlust. Es war der letzte<br />

Versuch eines ausgebrannten Reporters, dem drohenden Rausschmiss mit dem "Bravourstück"<br />

doch noch die entscheidende Wende zu geben, der Weltöffentlichkeit nach konspirativer Vorarbeit<br />

eine Weltsensation zu präsentieren, den "größten journalistischen Scoop seit Watergate" (politische<br />

Vertrauens- und Verfassungskrise in den Vereinigten Staaten von 1972-1974).<br />

Denn vor nichts zitterte der dam<strong>als</strong> 49jährige Heidemann mehr <strong>als</strong> vorm stern, der<br />

größten deutschen Illustrierten (Auflage: 1,49 Millionen), den Fußtritt zu kassieren. Schon längst<br />

hatte er nicht mehr die Leistungskraft früherer Jahre, Schulden plagten ihn, Pfändungsbescheide<br />

flatterten ins Haus. Das, was Heidemann darstellte oder hermachte, verdankte er ausschließlich<br />

seiner Illustrierten. Ihr verschrieb er sich, von ihr ließ er sich enteignen. Sie ermöglichte ihm den<br />

einzigartigen Aufstieg vom Elektriker zum First-Class-Jetset, sie machte ihn x-beliebig gefügig,<br />

bestimmte durchschlagend seine Höhen und Tiefen. Heidemann merkte nicht, dass dieser Stern<br />

ihn hingerichtet hat, Stück um Stück mehr in den Wahnsinn trieb, seine Glanz- und<br />

Glimmerexistenz nicht mehr <strong>als</strong> ein beklagenswerter Trümmerhaufen war.<br />

Die gefälschten Hitler-Tagebücher verletzten bekanntlich ja nicht nur das geschichtliche<br />

Bild der Deutschen samt ihrer Millionen-Opfer. Sie sind gleichfalls Ausdruck eines beispiellosen<br />

Grenzgänger- oder Scheckbuch-Journalismus, der die Fronten zwischen Reportern, V-Leuten und<br />

Agenten gefährlich verwischt, folgerichtig in Medien-Exzessen endet. Die Käuflichkeit von<br />

Nachrichten wie Informanten zählt seit zwanzig Jahren in den internen Redaktionsabläufen zur<br />

bewährten Praxis - und dies ausnahmslos, ob Spiegel, Focus, Stern, oder auch Bunte; vom<br />

Privatfernsehen um RTL und SAT 1 ganz zu schweigen.<br />

Gewiss ohne Heidemanns "Beschaffung" hätte der stern Hitlers Tagebücher wohl kaum<br />

drucken können. Doch seine Lebens - wie Reporter-Geschichte ist ohne Henri Nannen so nicht<br />

denkbar und der stern ohne Nannen ebenfalls nicht. In Wirklichkeit sitzen vor dem Hamburger<br />

Landgericht neben Heidemann/Kujau die verantwortlichen Manager und Chefredakteure auf der<br />

Anklagebank. Es sind Spitzenverdiener eines "maroden spätkapitalistischen<br />

Monsterunternehmens", die den Führer in der Öffentlichkeit wie eine Delikatesse servierten,<br />

schrieb Ex-Autor Erich Kuby (*1910+2005) in seinem Buch, "Der Stern und die Folgen". Ob<br />

hemmungslose Profitgier oder kaltschnäuzige Knüller-Mentalität, "die wöchentliche Aufschneiderei<br />

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is eben hin zur Fälschung", bemerkt der einstige Nannen-Stellvertreter Manfred Bissinger, "sei der<br />

eigentliche Nährboden gewesen, in diesem Klima konnte Heidemann gedeihen."<br />

Dieser stern, der sich seinen Lesern mit einfühlsamen Sozialreportagen, mit Serien gegen<br />

Berufsverbote, Militarismus, Folter, Rüstungswahn empfiehlt, in diesem stern spielte Henri<br />

Nannen "das Schwein", um den stern zu retten" (Nannen über Nannen). Er beritt Frauen nach<br />

Lust und Laune; alle staunten, tuschelten und schauten weg. Er bürstete seine verängstigten<br />

Mitarbeiter menschenverächtlich ab, furzte in den Konferenzen herum, ließ seine Leute im<br />

Gestank schmunzelnd strammstehen. Er feuerte oder heuerte Redakteure von einer Minute zur<br />

anderen. Wer aufmuckte - gegen den "Hans Albers des Journalismus"- der bekam in späteren<br />

Jahren nicht etwa den neureich <strong>als</strong> TV-event aufgemotzten "Henri-Nannen-Preis", sondern nicht<br />

selten Hausverbot - postwendend. Und wer gar zaghafte Schwäche zeigte, den beutelte er oft<br />

genüsslich bis zur Selbstaufgabe. Sie hießen Peter Heinke, Wolfgang Barthel oder auch Paul-Heinz<br />

Kösters - sie schieden alle - über kurz oder lang, Jahre hin, Jahre her - freiwillig nicht nur vom stern<br />

- aus ihrem Leben. Ein Redakteur um die 50 Jahre alt, flehte ihn weinend an, ihn doch wenigstens<br />

erst in einem Jahr zu feuern, wenn sein Sohn das Studium beendet habe. Fehlanzeige. Dieser<br />

"perfekte", "radikale Opportunist", wie Erich Kuby ihn charakterisierte, der sich bei Nannen<br />

immerhin 16 Jahre verdingte, prügelte sein Blatt mit Bauch und Geruchssinn zum einsamen Erfolg;<br />

zu acht Millionen Lesern wöchentlich.<br />

Unter Nannens Ägide brodelte ein Klima, das in Kasernen oder Gefängnissen den<br />

zermürbenden Alltag durchdringt.<br />

Eine luxuriöse Psycho-Folter, der sich kaum einer entziehen kann, der auch nur halbwegs<br />

in diesem Haifischbecken überleben will. Der einstige Stern Reporter Kai Hermann trat ihm<br />

jedenfalls vor Zorn im Jahre 1978 die Glastür ein, weil er sich der Auflage willen wieder einmal<br />

über eine Absprache hinweggesetzt hat und das Konterfei der Christine F. ("Wir Kinder vom<br />

Bahnhof Zoo") fast identifizierbar auf den Titel pustete. Dem Triebtäter Nannen folgte der<br />

Kompaniefeldwebel Peter Koch, der Mann "mit den Rasierklingen an den Ellenbogen".<br />

Diese "deutschen Großhans-Arroganten" stapften gut gelaunt über Leichen. Was macht<br />

es schon es da schon, wenn sich eine Redakteurin vor beruflicher Ohnmacht ihre Pulsadern<br />

aufritzt, quasi in letzter Minute gerettet wird. Ein Bonner Korrespondent sich aus dem Fenster<br />

stürzen will, weil er dem "Leistungsknüppel" nichts mehr entgegen zu setzen hatte, nunmehr <strong>als</strong><br />

Bonner Frührentner sein Leben mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker meistert. Ein anderer, der<br />

den einjährigen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik regelrecht <strong>als</strong> "Befreiung" feiert, ein<br />

weiterer mit 40 Jahren ins Gras beißt, weil der dem Stress nicht mehr standhielt und sich zu Tode<br />

soff. Was macht es da schon, wenn der frühere "stern"-Reporter Karl Robert Pfeffer in Beirut,<br />

Hans Bollinger und Wolfgang Stiens am Victoria-See in Uganda erschossen werden. Ihre Leichen<br />

geben zumindest soviel her: eine hautnah erlebte Illustrierten-Story mit faktenreichem<br />

Betroffenheit-Habitus, von der Nannen schon längst geträumt hatte - im doppelseitigen,<br />

Vierfarbformat versteht sich.<br />

Für die stern-Oberen ist die Welt, ist jedermann käuflich, alles verfügbar, der ganze<br />

Erdball ein einziger Puff; Spesen selbstverständlich qua Ersatzbeleg für "Übersetzungskosten".<br />

Bekanntlich 9,34 Millionen für die Tagebücher, 100.000 Mark für die degoutante Serie über<br />

Marianne Bachmeier (*1950+1996 - sie hatte im Gerichtssaal den mutmaßlichen Mörder ihrer<br />

Tochter erschossen), ganze 80.000 Mark für den Kronzeugen gegen den KGB, 250.000 Mark für<br />

Beckenbauer, 125.000 Mark für Jimmy Carter usw. usf. Und einen Chefredakteur Peter Koch, der<br />

sich seine Tapeten fürs neue Haus im Villenvorort Övelgönne an der Elbchaussee aus New York<br />

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einfliegen lässt, ansonsten aber die Erster-Klasse-Flüge <strong>als</strong> nicht standesgemäß pfeift. Stattdessen<br />

lieber wie der Serienheld Lord Carrington aus dem Soap Denver-Clan mit einem Lear-Jet andere<br />

Länder beglückt. So mal eben nach Madrid (Kostenpunkt 18.000 Mark), vier gestotterte Fragen an<br />

den damaligen Ministerpräsidenten Felipe Gonzalez (1982-1996), dann zum Spanferkel-Menu,<br />

zwischendurch einen kleinen Fick. Schließlich wieder nach Hamburg in die Redaktion, um die<br />

"Faulenzer" zusammenzuscheißen, "weil der stern kein Mädchen-Pensionat, keine Invalidenstation<br />

und kein Sozialwerk ist."<br />

Gerd Heidemann jedenfalls war die Anti-Figur zum lauten Möchtegern-Reporter. In<br />

seinem meist blauen Anzug mit Tüchlein und dem ewigen Seminargesicht hätte er auch gut einen<br />

gestandenen Abteilungsleiter im Supermarkt an der Hamburger Alster abgeben können. Ein<br />

zurückhaltender Typ, leise, gleichmütig, bescheiden. Heidemanns Kapital: er hat eine ausgeprägte<br />

Nase für die Schwächen anderer. Sein Risiko: Wenn er sich voll mit seiner jeweiligen Rolle<br />

identifiziert, kann er nicht mehr auf Distanz gehen - weder zu seiner Maske noch zu dem<br />

Gesprächspartner. Die Gedankenwelt muss er sich erarbeiten. Denn er ist derjenige, der täuscht,<br />

manipuliert, reinlegt.<br />

Zwei klassische Szenen aus dem Arsenal der stern-Recherche. Gemeinsam mit Thomas<br />

Walde, Ressortchef Zeitgeschichte, er promovierte über die Nachrichtendienste, reist Heidemann<br />

zum angeblichen Fundort der Tagebücher nach Börnesdorf in der damaligen DDR. Dort war zu<br />

Kriegsschluss die Junker Ju 352 abgestürzt, die vermeintliche Aufzeichnungen Hitlers nach<br />

Berchtesgaden in Sicherheit schaffen sollte. Heidemann:<br />

Doktor Walde und ich flogen am 14. November 1980 nach West-Berlin, übernachteten im<br />

Hotel 'Schweizer Hof' und fuhren am nächsten Morgen vom Bahnhof Zoo mit der S-Bahn zum<br />

Bahnhof Friedrichsstraße." In Ost-Berlin warteten bereits zwei Agenten des Ministeriums für<br />

Staatssicherheit (MfS) auf die stern-Leute. Der Tag schließt mit einem "fürchterlichen Besäufnis,<br />

denn wir hatten zwei Flaschen Whisky mitgebracht. Als erster kippte ein Stasi-Mann um, donnerte<br />

mit dem Kopf an die Heizung. Heidemann weiter: "Doktor Walde und ich gingen dann noch<br />

einmal in die Hotelhalle. Inzwischen war Walde so voll, dass er Dummheiten machte. Er klappte<br />

seinen Kugelschreiber auf, in dem ein Namens-stempel war, und drückte seine volle Adresse auf<br />

die Meldezettel und auf den Empfangstresen an der Rezeption. Die Sache war nicht ungefährlich -<br />

denn die MfS-Leute hatten uns gar nicht angemeldet."<br />

Am nächsten Morgen mit dicken Kopf und ein paar Alka-Seltzer-Tabletten intus in<br />

Börnesdorf. Heidemann stellte sich dem Dorfbewohner Göbel <strong>als</strong> Neffe des Bruchpiloten Liebig<br />

vor. Um die Bewohner gesprächig zu machen, verteilte er westdeutschen Kaffee. Am Grabe seines<br />

"Onkels" legt er bedächtig mit ernster Miene Blumen ans Kreuz.<br />

Für Übervater Nannen ist Heidemann sein ausgemachter Lieblingsreporter, mit dem er<br />

sich duzt. Denn kaum einer wie Heidemann hat Nannens handwerklichen Rat so beherzigt: "Ein<br />

Reporter, der keine Frauen aufreißt, ist kein richtiger Reporter." Und Heidemann reist und reißt.<br />

Kaum kehrte von seinen Ausflügen zurück, musste er dem grunzenden Nannen unverzüglich<br />

Bericht erstatten. Hier mit Etta Schiller gebumst, dabei sogar das Tonband laufen lassen. Frau<br />

Schiller trennte sich gerade vom damaligen Wirtschaftsminister Karl Schiller (*1911+1994,<br />

Bundesminister für Wirtschaft 1966-1973) zu Beginn der sozialliberalen Koalition im Jahre 1972.<br />

Etta Schiller war verzweifelt, suchte Halt. Heidemann lieferte Halt mit Tonband- Aufzeichnungen<br />

aus dem Bett. Schlagzeile im stern: "Kabale und Hiebe". Dort mit Edda Göring geschlafen, um das<br />

Mokkaservice vom Reichsfeldmarschall abzustauben. Immer schauspielerte Heidemann dieselbe<br />

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Masche mit überhöflichem Getue. "Dürfen wir stören?" - "Aber wir wollen Ihnen keine Umstände<br />

machen." - "Das ist aber sehr freundlich von Ihnen." - "Dürfen wir wieder vorbeischauen."<br />

Nur auf fernen Kontinenten kehrt er den "Fremdenlegionär" heraus. stern-Reporter<br />

Peter-Hannes Lehmann, der am liebsten in englischen Militärhemden herumläuft, schildert ein<br />

Erlebnis mit seinem Kumpanen Gerd: "Als es in Guinea-Bissau plötzlich krachte, haben wir uns<br />

hinter einen Termitenhaufen geworfen. Es war kein Feind zu sehen. Nur wildes Geschieße.<br />

Während ich mich so flach wie möglich machte, fluchte Gerd: "Scheiße, hier gibt's ja nichts zu<br />

fotografieren, überhaupt kein Motiv." Dafür spätestens aber am Abend in Mombasa. Da holt<br />

Heidemann sich drei "Negerweiber" aufs Hotelzimmer, stellt sie unter die Dusche, hantiert mit<br />

dem Selbstauslöser. Ist es etwa Rassismus, vielleicht lästiger Hormon-Überschuss oder was treibt<br />

ihn immer wieder in derlei Abenteuer? Ab welchem Punkt wird journalistische Besessenheit<br />

krankenscheinpflichtig?<br />

Die stern-Redaktion, die im Verlag <strong>als</strong> arrogant gilt, arbeitete immerhin über dreißig Jahre<br />

mit ihm zusammen. "Immer, wenn es brenzlich wird, muss Gerd Heidemann ran. Immer, wenn's<br />

ums Bescheißen geht." Heidemann hingegen ist nicht der einzige im stern, der Nazi-Trophäen<br />

sammelt. Einige Kollegen hatten schon vor ihm mit diesem einträglichen Geschäft begonnen. Stolz<br />

zeigt Heidemann ihnen seinen SS-Ehrendolch, wandert damit von Stockwerk zu Stockwerk.<br />

Dieser stern, der stets so viel Wind ins Land pustet, wenn er den Mächtigen der Republik<br />

angebliches Fehlverhalten nachweisen will, für diesen linksliberalen aufgeklärten stern ist der rechts<br />

gestrikte Heidemann "übergroß". Wo war die angeblich so selbstbewusste Redaktion, <strong>als</strong> nach der<br />

merkwürdigen ZDF-Fernsehsendung Peter Koch alle Skeptiker, veritable Historiker, die an der<br />

Echtheit der Hitler-Tagebücher arge Zweifel hegten; sie coram publico <strong>als</strong> Dummköpfe, Fälscher<br />

und Neider bezeichnete? Am nächsten Morgen saßen sie einträglich im Konferenzraum<br />

zusammen, jubelten ihrem Chef-Koch für die Meisterleistung zu. Endlich eine Sensation, endlich<br />

wieder in aller Munde. Ganz nach dem Motto: "Was so teuer ist, kann nur echt sein."<br />

Geldgier mit ein gegerbten Parvenü-Allüren hatten bei allen Beteiligten am Unternehmen<br />

"Grünes Gewölbe" jäh den Verstand ausgeschaltet. Heidemann wurde vorab 1,5 Millionen<br />

zugesagt, Walde sollte mit 560.000 Mark beteiligt werden, Co-Autor Leo Pesch rechnete sich Extra-<br />

Gagen in Höhe von 280.000 Mark aus. Kritische Einwände, es könne doch gar nicht möglich sein,<br />

dass Hitler sich bei solch einem Konvolut seiner Aufzeichnungen (60 Bände) nicht einmal<br />

verschriebe, konterte Dr. Walde mit der Bemerkung: "Unser Führer verschreibt sich nicht."<br />

Für die Konzernspitze war es ein sinnliches Erlebnis, ein Hitler-Tagebuch in den Händen<br />

zu halten. Ganz egal, was sie auch verhökert, Bananen, Autos oder ein Magazin, Geld muss es<br />

bringen. Auszug aus Bissingers Buch, Hitlers Stern-Stunde-Kujau, Heidemann und die Millionen:<br />

"Am 9. März 1981 bekam das Unternehmen Grünes Gewölbe einen neuen Mitwisser.<br />

Manfred Fischer (*1934 +2002), dam<strong>als</strong> Vorstandschef von Gruner + Jahr, fuhr zu einer Sitzung<br />

der Konzernzentrale nach Gütersloh. Dort traf er seinen Boss, den Inhaber, Noch-<br />

Vorstandsvorsitzenden und designierten Aufsichtsratsvorsitzenden von Bertelsmann, Reinhard<br />

Mohn (Konzernumsatz: 6,04 Milliarden Mark jährlich). Der wollte Fischer an seinem sechzigsten<br />

Geburtstag am 29. Juni zu seinem Nachfolger machen. Fischer bat um ein Gespräch unter vier<br />

Augen.<br />

Das Sekretariat wurde angewiesen, keinen Besucher vorzulassen, dann zog Fischer<br />

Heidemanns Dossier aus der Aktentasche und legte es 'durchaus ein bisschen stolz' dem<br />

Bertelsmann-Boss vor. Mit dem Finger fuhr er über die Aussage von Hitlers Chefpilot Baur, in der<br />

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von wichtigen verlorenen Dokumenten die Rede war. 'Die haben wir jetzt gefunden.' Fischer langte<br />

wieder in seine Tasche und legte mehrere Hitler-Tagebücher auf den Tisch. 'Das sind die<br />

Tagebücher'. Hier sind sie.' Mohn nahm die Kladden in die Hand, 'war fasziniert' und sagte:<br />

'Ungeheuer Manfred!' Und dann fielen die Sätze, die später die Runde machten: "Das ist das<br />

unglaublichste Manuskript, das je meinen Schreibtisch passiert hat. Das ist die Sensation des<br />

Jahrhunderts. Es ist unglaublich, wenn es stimmt.'<br />

Tatsächlich entsprach nach Geldforderung wie such nach Heidemann Auftreten präzis<br />

dem Befund, den sich die Herren aus dem provinziellen Gütersloh über einen Hamburger<br />

Journalisten gezimmert hatten. Heidemann erhält blind jede Summe, die er will. Als zum Beispiel<br />

am 27. Januar 1981 die Banken schon geschlossen haben, Heidemann hingegen die erste Rate in<br />

Höhe von 200.000 Mark anfordert, muss Vorstandsmitglied Peter Kühsel die Summe am<br />

Spätschalter des Hamburger Flughafens lockermachen. In den folgenden Jahren kassiert<br />

Heidemann in regelmäßigen Abständen zwischen 200.000 bis 900.000 Mark. Über das Geld kann<br />

er quasi verfügen, wie er will, Rechenschaft fordert niemand von ihm.<br />

"Auch in den letzten Wochen vor dem Auffliegen der Fälschung", heißt es in der Sterninternen-Klug-Untersuchungskommission,<br />

"ist der Mythos von der Echtheit der Tagebücher im<br />

Ressort Zeitgeschichte noch so stark, dass man sich sagt, selbst wenn Heidemann in psychiatrische<br />

Behandlung müsse, dann aber erst nach der Beschaffung der letzten fehlenden Stücke." Als die<br />

Hitler-Sondernummer in der stern-Grafik ausgelegt war, griff Gerd Heidemann feist zum<br />

Telefonhörer, wählte eine Nummer in Südamerika. Er tat so, <strong>als</strong> telefonierte er mit dem Hitler-<br />

Vertrauten Bormann, der bereits nach stern-Recherchen nach-weislich nicht mehr lebt.<br />

Heidemann: "Martin, wir haben zwölf Doppelseiten." Und Kujau erinnerte sich an folgendes<br />

Erlebnis: "Plötzlich stand er auf, stützte seine Hände auf den Schreibtisch und fragte: "Konni<br />

glaubst du, Hitler ist im Himmel? ... "<br />

Nach einem Jahr Untersuchungshaft recherchierte Gerd Heidemann aus dem Gefängnis<br />

heraus jedenfalls eine völlig neue, unerwartete Spur. Die endgültige Story über den Ort, an dem<br />

Jesus Christus begraben wurde. Bislang hat Gruner + Jahr die Weltrechte noch nicht gekauft.<br />

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"VOILÀ, DAS IST MONSIEUR MÖLLEMANN" (*1945<br />

+2003) - SEIN UND SCHEIN DEUTSCHER POLITIK-ELITE<br />

Er passte sich an. Er verhielt sich servil nach oben. Und er redete schnodderig<br />

über die Kleinen hinweg. Er stand früh auf und trat forsch auf. Er war pausenlos aktiv,<br />

ohne sich um Inhalte zu kümmern. Er stand für viele deutsche Karrieristen im<br />

Politikgeschäft. Rasant verlief sein Aufstieg nach oben; Bundestagsabgeordneter,<br />

Staatsminister im Auswärtigen Amt, Bildungs- und Wirtschaftsminister, Vizekanzler der<br />

Republik etc. Eine politische Bilderbuch-Karriere, die am 5. Juni 2003 mit seinem<br />

Fallschirm-Todessprung jäh endete. Hintergründe waren undurchsichtige<br />

Finanzgeschäfte, Verdacht auf Steuerhinterziehungen, Hausdurchsuchungen,<br />

Parteiausschluss aus der FDP. Der Name Möllemann geriet zu jener Zeit zu einem<br />

Synonym verbogener Charaktere in der Politik, die die Grenzen zwischen Legalität und<br />

Kriminalität überschritten hatten. - Der menschliche Sumpf und Tragödien deutscher<br />

Machteliten. Kurz vor seinem Tod hatte der Deutsche Bundestag seine Immunität<br />

aufgehoben. Frau wie Kinder hinterließ Möllemann ein Erbe von drei Millionen Euro<br />

Schulden. Er wurde auf dem Zentralfriedhof im westfälischen Münster bestattet<br />

Momentaufnahmen aus dem Möllemann-Leben.<br />

Der Spiegel, Hamburg vom 4. August 1984 - Nr. 39/ 1984<br />

An diesem Morgen greift Jürgen W. Möllemann etwas fahrig zum Radiowecker, der ihn<br />

exakt zehn Minuten vor den 6-Uhr-Nachrichten in die Wirklichkeit der Agentur-Meldungen aus<br />

aller Welt, der Bonn-Meldungen, der Möllemann-Meldungen zurückholt. Seine Hand gleitet über<br />

das Bettregal, auf dem die geladene Politiker-Pistole liegt, zum Radioknopf. Er dreht lauf auf.<br />

An diesem Tag vermelden die 6-Uhr-Nachrichten nichts Spektakuläres. Aber das ist es<br />

gerade, was Möllemann antreibt. Er wittert seine "Marktlücke", boxt sich konsequent in die<br />

Frühmagazine, "wo die doch zu Tagesbeginn eine unheimliche Faktennot haben und deshalb<br />

gerade die Geschichten aus Amerika bringen - wegen der Zeitverschiebung, versteht sich".<br />

Im Bademantel hastet er zum Telefon, wählt die Bonner Nummer 23 20 98. Für die<br />

Redakteure der Nachrichtenagentur ddp zählen die morgendlichen Möllemann-Anrufe schon zur<br />

Routine. Der Deutsche Depeschen Dienst gehört zu den kleineren Agenturen in der Bundeshauptstadt.<br />

Für Möllemann ist "dieser Laden besonders fleißig, weil er natürlich schwächer ist".<br />

"Hier Möllemann, guten Morgen Herr Schmidt, ich habe wieder was auf der Pfanne, was<br />

ihr gleich raus-jagen könnt. Sieht ja sonst ziemlich mau aus." Da bitte dann der Herr Schmidt um<br />

etwas Geduld, er schreibe gleich alles mit. Eine halbe Stunde später läuft alles über den Ticker.<br />

Das macht dem Politiker Möllemann Spaß, "denn man merkt, es geht. Da liegen doch die<br />

Politiker noch faul im Bett, dann muss ich schnell für die FDP eine Stellungnahme abgegeben, aber<br />

nicht 08/15. Meine Kollegen machen um sieben Uhr das Radio an, und schon hören sie wieder den<br />

Möllemann. Und die Partei sagt, Mensch, da hast du ja schon wieder. Da sag' ich, Mensch, was hab'<br />

ich denn gesagt? Da merke ich, die Leute hören Nachrichten".<br />

In der Fraktion ist er auch schon kritisiert worden, weil er morgens um sieben zum dritten<br />

Mal in drei Tagen über den Sender lief. Da hat sich der Lambsdorff (Bundeswirtschaftsminister<br />

1977-1984; FDP-Chef 19881993) zu Wort gemeldet und Möllemann verteidigt. Er finde es<br />

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unmöglich, dass die Kollegen, die zu faul seien, einmal früh aufzustehen, den kritisierten, der fleißig<br />

arbeite, sich pressemäßig vernünftig verhalte. "Na gut", sagt Möllemann, "vielleicht habe ich<br />

manchmal auch zu dick gebuttert."<br />

So hat Möllemann schon in manchen Interviews einen Versuchsballon gestartet. Da<br />

erklärte er, noch in der sozialliberalen Regierungszeit, er sei dafür, Hans-Dietrich Genscher<br />

(Bundesaußenminister 1974-1992) zum Bundeskanzler zu machen. Denn die CDU hätte doch<br />

ihren Helmut. Nur Helmut zu heißen, reiche für den Kohl (19821998) im Kanzleramt auf Dauer<br />

sicherlich nicht aus.<br />

"Diese Meldung lief bombig, überall. Da hat Genscher mich hinterher angerufen und<br />

meinte, ich sollte doch nicht zu dick buttern, das würde uns nur in arge Schwulitäten bringen. Ich<br />

erwiderte, aber Herr Genscher, hören Sie mal, das war doch nur ein Vorschlag, ein<br />

diskussionswürdiges Denkmodell. Was die Journalisten daraus machen, dafür kann ich doch nicht.<br />

Nun ja, schließlich habe ich die Sache nicht weiter verfolgt."<br />

Wirbel zu entfachen, mit "Highlights" in aller Munde zu sein, das verschafft ihm lang<br />

ersehnte Anerkennung, das ist ihm allemal wichtiger <strong>als</strong> Kärrnerarbeit; ganz im Sinne des stoischen<br />

Philosophen Epiktet, den er für sich reklamiert: "Nicht die Tatsachen, sondern Meinungen über<br />

Tatsachen bestimmen das Zusammenleben."<br />

Und Meinungen hat er viele. Mal eben das Ende der sozialliberalen Ära in den Stenoblock<br />

diktieren, den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin (*1913+1992) einen<br />

"Kriegsverbrecher" nennen, den Einmarsch sowjetischer Truppen in Polen "binnen zweier<br />

Wochen" prophezeien, von der Gefahr "eines neuen Weltkrieges" reden.<br />

Innerhalb von vierzehn Tagen jettet er um den halben Globus. Mal eben nach New York<br />

zum UNO-Gener<strong>als</strong>ekretär, einen Abstecher nach Washington zum US-Verteidungsminister<br />

Caspar Weinberger (*1917+2006). Vom Pentagon direkt zu Fidel Castro (Regierungschef 1959-<br />

2006) nach Havanna, dann weiter nach Amman zu König Hussein (*1935+1999).<br />

Auf dem Rückflug nach Bonn-Wahn baut er auch noch eine Unterredung mit dem<br />

libyschen Staatschef Muam-mar el-Gaddafi in Tripolis ein, der prompt Möllemanns Einladung zum<br />

Besuch der Bundesrepublik akzeptiert.<br />

"Ein stärkeres Engagement bringt mehr Erfahrungen, mehr Bekanntschaften, mehr<br />

Wirkungsmöglichkeiten", erklärt er, "und ein bisschen muss man gewiss auf dem Klavier spielen<br />

können. Das ist ein ganz merkwürdiger Mechanismus. In dem Moment, wo ich mit PLO-Chef<br />

Jassir Arafat (*1929 +2004) geredet hatte, habe ich gesagt, jetzt will ich mit Gaddafi sprechen. Da<br />

hat er gesagt, da soll der Möllemann mal kommen."<br />

Oder Castro oder die amerikanische Regierung, das ergibt sich nacheinander. "Im Grunde<br />

genommen ist das wirklich ein Abenteuer. Die ganze protokollarische Behandlung, dass da <strong>als</strong>o der<br />

Staatschef von Südkorea sowie Sambia draußen warten mussten, bis ich meine Gespräche beendet<br />

hatte. Die arabischen Gastgeber entschuldigten die Termin-Verzögerung höflich mit der<br />

Bemerkung, 'voilà, das ist Monsieur Möllemann aus der République fédérale d'Allemagne'. Das<br />

macht einem Spaß, das motiviert ungeheuer."<br />

An diesem Morgen gibt er dem "Frieden" eine Nachrichtenchance - eine Meldung, mit<br />

der er den Grünen den Wind aus den Segeln nehmen will. Einfach deshalb, weil er mit der<br />

Standardformel von "Effizienz und knall-harten Fakten", den Dreisprengkopfmittelstrecken-<br />

Raketen, Anti-Raketen-Raketen, Trident 2, SS 20, Pershing 2, ICBM-Raketen, Luft-Luft-Raketen,<br />

468


operativ-taktischen Raketen in den öffentlichen Diskussionen nicht mehr ankommt. "Möllemanns<br />

Vorschlag für Zone ohne Kernwaffen", lautet nunmehr seine Schlagzeile.<br />

Dabei handelt es sich um eine uralte FDP-Idee, die bereits Mitte der sechziger Jahre zur<br />

Parteiprogrammatik gehörte. Aber Möllemann weiß, wie man Nach-richten verhökert, wie man<br />

verstaubte, in der Sache längst überholte FDP-Propaganda <strong>als</strong> "brandneu" serviert, "wo doch die<br />

Politik ohnehin von Wiederholungen lebt."<br />

Um acht Uhr sitzt er mit seiner Frau Carola Möllemann-Appelhoff, einer Lehrerin und<br />

FDP-Rathaus-Politikerin in Münster, am Frühstückstisch, <strong>als</strong> seine "Auffassung über eine<br />

atomwaffenfreie Zone im Geltungsbereich der KSZE-Schlussakte von Helsinki" aus dem Radio<br />

dröhnt. In solchen Glücksminuten kann er sich gar nicht beruhigen, er klopft sich triumphierend<br />

auf den durchtrainierten Schenkel. "Carola", sagt er da, " der Tag beginnt. Bin wirklich gespannt,<br />

was der Dicke dazu meint."<br />

Die Ansichten des "Dicken", wie Möllemann seinen Parteivorsitzenden Hans-Dietrich<br />

Genscher nennt, durchdringen sein Seelenleben. Dieser Genscher bestimmt Höhen und Tiefen,<br />

bewirkt Euphorie oder Motivationsabfall. Ihm hat er sich unmerklich verschrieben, dem Ziehvater<br />

verdankt er so ziemlich alles, was aus ihm in Bonn geworden ist.<br />

Ohne Genscher wäre Möllemann ein Hinterbänkler geblieben. Genscher brachte ihn über<br />

den parteipolitischen Proporz-Anspruch ins Fernsehen, schickte ihn auf Erkundungs-fahrt um den<br />

Globus, ohne Genscher hätte Möllemann nie und nimmer in die Vermittlung von Arabien-<br />

Geschäften einsteigen können.<br />

Mit Genscher im Hintergrund schafft er das Entree, avancierte zum jüngsten<br />

Staatsminister der Regierung Kohl, zum Landesvorsitzenden und Spitzenkandidaten der nordrheinwestfälischen<br />

FDP. Und über Genscher knüpfte Möllemann seine Bande zu Lambsdorff, die<br />

immer dichter, immer menschlicher gediehen, bis er im Grafen "so etwas wie einen Onkel"<br />

ausmachte; zu dritt betrieben sie die Bonner Wende.<br />

Einfach außergewöhnlich, fast übermenschlich umwerfend, muss dieser Genscher auf ihn<br />

wirken, eine von Außenstehenden bislang nicht erkannte faszinierende Persönlichkeit, die ihn selbst<br />

in den späten Abendstunden in "Kuhlmanns Eck" , der Stammkneipe in Münster, <strong>als</strong><br />

charismatisches, väterliches Über-Ich beschäftigt: Möllemanns profane wie distanzlose Elogen auf<br />

den Meister geraten zu langatmigen Selbstgesprächen.<br />

Nach misslungenen Veranstaltungen hat er sich in seiner ziemlich einseitigen Bindung oft<br />

gefragt: "Was würde wohl Genscher dazu sagen?" Und überhaupt hat doch auch Genscher<br />

angedeutet, "dass Vorsicht geboten sei vor den fanatischen, verbiesterten, verkrampften Gesichtern<br />

aus der Friedensecke".<br />

"Schon wenn die von ihren Ängsten lamentieren", fährt Möllemann fort, "kommt es in<br />

mir übel hoch. Als hätten wir etwa keine Ängste. Die hatte ich gewaltig im Flugzeug beim ersten<br />

Fallschirmsprung. Auch noch <strong>als</strong> ich im Wahlkampf für die Partei vom Himmel geplumpst bin.<br />

Immer wieder habe ich den inneren Schweinehund überwunden."<br />

Mit der leise gemeinten Bemerkung, "erst am letzten Sonntag hat Genscher bei uns zu<br />

Hause wieder angerufen", erhöht Möllemann unter seinen Zuhörern gern die abgeschlaffte<br />

Aufmerksamkeit. Natürlich will einer unverzüglich wissen, was Hans-Dietrich Genscher denn so<br />

wollte: "Eigentlich gar nichts. Der klingelt immer mal durch, wenn er am Wochenende Langeweile<br />

hat und vom Telefon nicht lassen kann. Diesmal musste er die Namen der Personen raten, die sich<br />

469


gerade im Zimmer aufhielten. Das war selbstverständlich die ganze Familie einschließlich der<br />

Schwiegereltern. Dann hat doch die freche Maike zu ihm noch gesagt. 'Du bist im Fernsehen<br />

immer so ein Lachsack, manchmal und so.' So etwas hört der Genscher sehr gern, das bringt ihm<br />

halt Spaß."<br />

Es ist ja auch nicht so, dass Genscher "nur bei uns anruft", verrät Möllemann, "Carola<br />

und ich fahren auch schon mal zu ihm nach Hause, da in Bonn-Pech.<br />

"Außer Lambsdorff und Mischnick kommen da nur sehr wenige von der Partei aufs<br />

Grundstück. Da sitzen wir munter mit ihm und seiner Barbara am Swimmingpool, knabbern<br />

Salzstangen, trinken Campari. Des Öfteren sind Genscher und ich richtig magnetisiert, da lassen<br />

wir zwischen uns nur so die Erdkugel tanzen. - Das ist schon befriedigend, da weiß ich dann auch,<br />

wofür ich das alles so mache. Da merkst du dann urplötzlich, dass der mit dir turnt, dich auch nicht<br />

im Regen stehen lassen will, wenn es heikel wird. Das gibt mir natürlich die Möglichkeit, in der<br />

Fraktion ganz schön selbstbewusst aufzutreten."<br />

"So, Freunde, sage ich dann, die Sache sieht völlig anders aus, da geht's lang. Fragt nicht<br />

lange, vergeudet die kostbare Zeit nicht, ich weiß es ganz genau, das habe ich alles mit den<br />

zuständigen Stellen überprüft. In Wirklichkeit weiß jeder von den Kollegen, dass ich Genschers<br />

Libero bin."<br />

Nur wenn Genscher seinen Möllemann "zusammenscheißt", ihn mit Nichtachtung straft,<br />

dann zweifelt Möllemann, ob er auf Dauer in der Politik bleiben soll, zieht sich sein Magen<br />

zusammen, Essstörungen plagen ihn.<br />

"Herr Genscher", reagiert er dann, "hören Sie mal zu, das können Sie mit mir wirklich<br />

nicht machen. Dann guckt der mich sibyllinisch an und erklärt, wir müssen nüchtern rekapitulieren.<br />

Dann sage ich, Herr Genscher, Loyalität und Solidarität ist keine Einbahn-, sondern eine<br />

Zweibahnstraße."<br />

"Er hat mich ja mehrfach im Regen stehen lassen. Zum Beispiel <strong>als</strong> ich für die Einführung<br />

der Neutronenbombe in der Öffentlichkeit eingetreten bin, wo wir uns doch zuvor sorgfältig bis<br />

ins Detail abgestimmt haben. Als die heftigen Proteste kamen, distanzierte er sich einfach. Dies<br />

führte dazu, dass ich erklärte, Herr Genscher, so geht das nicht mehr. Entweder wir ziehen das<br />

künftig gemeinsam durch, dann müssen wir Risiko-Sharing machen."<br />

"Das ist eine Situation, in der es nicht darum geht, dass er <strong>als</strong> Außenminister eine<br />

öffentliche Erklärung abgibt, hiermit identifiziere ich mich, aber es darf auch nicht das Gegenteil<br />

der Fall sein, wo doch jeder weiß, was gespielt wird. Auch mit dem Kabinettsposten <strong>als</strong><br />

Staatsminister im Auswärtigen Amt war das ja so eine Sache. Den hatte er mir schon zur<br />

Bundestagswahl 1980 zugesagt."<br />

Drei Jahre hat Möllemann auf eine Berufung in ein Staatsamt gewartet. "Ganze 36<br />

Monate", sagt er, "das ist eine verdammt lange Zeit, das haut rein" - dieses Ausharren, diese<br />

Ungeduld, diese Unsicherheit, dieses Ausgeliefertsein. "Mensch, da merkte ich auf einmal, wie ich<br />

zusehends dünnhäutiger, sensibler wurde, Mensch, Möllemann, verdeutlichte ich mir, reiß dich<br />

zusammen, das darfst du auf keinen Fall zeigen, das zieht erst recht nicht."<br />

Aber was er auch anpackte, wo immer er Luft holend herum düste, der alles<br />

entscheidende Genscher-Satz galoppierte nah und dennoch uneinholbar vor ihm her: "Möllemann,<br />

wir müssen jetzt was tun. Bei nächster Gelegenheit kommen Sie in die Regierung rein, das<br />

verspreche ich Ihnen."<br />

470


"Ja, ja, da habe ich mich riesig gefreut. Der Möllemann wird was", sagt Möllemann, und er<br />

ist ja auch was geworden.<br />

In Kuhlmanns Kneipe, wenn die Uhr die Zwölf überrundet, zieht er gern Bilanz. Das geht<br />

so lange, bis Axel Hoffmann, der Referent, den Euro-Piep auf den Tisch legt - diesen schmalen,<br />

einem Funkgerät ähnelnden Apparat den Hoffmann dann mahnend aus der Jackett-Tasche holt,<br />

um anzudeuten, Möllemann möge zum Schluss kommen.<br />

Ansonsten funktioniert der Euro-Piep <strong>als</strong> das I-Tüpfelchen eines ausgeklügelten<br />

Informationssystems. Ob auf ihren wahlkämpfenden Tourneen durch die Provinz, in den<br />

Flugzeugen oder nachts in den Hotels, der Euro-Piep sorgt für die Gewissheit, dass ihnen nichts<br />

Wesentliches entgehen kann.<br />

Der Kanal eins ist dem Bonner Büro reserviert, der zweite gilt Möllemanns Ehefrau<br />

Carola, der dritte seinen Public Relations treibenden Geschäftspartner in München, und die vierte<br />

Linie bleibt Genscher für den Fall vorbehalten, dass "der mal anbeißt".<br />

Immer, wenn es piept und rot aufleuchtet, wissen die beiden, dass irgendwo "der Hammer<br />

geschwungen wird". Dann rast einer zum nächstliegenden Telefon. Und immer sind es dieselben<br />

hastigen, halb verschluckten Wörter, die in den Hörer sausen. "Was ist los, was ist passiert, na was<br />

denn schon?"<br />

Meist kehrt er dann enttäuscht zurück, weil die aufgeregte Erwartung sich so gar nicht der<br />

Bonner Banalität fügen mag. Da erklärte eben nur ein "FDP-Zausel aus Baden-Württemberg, es<br />

geht doch nicht an, dass uns jeder Furz, den Herr Möllemann lässt, <strong>als</strong> besonders wohlriechend<br />

verkauft wird, bloß weil er ein Vertrauter unseres Parteivorsitzenden Genscher ist". Da hat er<br />

seiner Sekretärin lediglich geantwortet: "Frau Perlewitz, beruhigen Sie sich. Das hat keine Eile.<br />

Dem gebe ich nächste Woche eins zwischen die Augen."<br />

Mit 27 Jahren ist er nach Bonn gekommen, ins Zentrum seiner Aufsteiger-Sehnsüchte.<br />

"Achten Sie mal auf den", empfahl die "Bild"-Zeitung ihrem Millionen-Publikum schon, <strong>als</strong> sich<br />

Möllemann noch am MdB-Telefon mit dem Spruch "Hier die Städtischen Bühnen" zu erkennen<br />

gab.<br />

Popularität, das hat er schnell begriffen, hebt den Marktwert. Früh verknüpfen sich<br />

konkrete Assoziationen mit Bonn - der Ort von Angebot und Nachfrage, ein Börsenplatz, auf dem<br />

Politiker ihre Aktien makeln.<br />

Möllemanns Management <strong>als</strong> Imageträger, die Wählerstimme <strong>als</strong> Kundenauftrag, für die<br />

es zudem fünf Mark gibt, das Parteiprogramm <strong>als</strong> konjunkturbedingte Produktpalette. die F.D.P.<br />

mit ihren drei exklusiven Punkten <strong>als</strong> erlesene Großstadt-Boutique für den gehobenen,<br />

finanzkräftigen Mittelstand und noch für einige darüber.<br />

Er kann sich unumwunden eingestehen, dass seine FDP-Mitgliedschaft nicht mehr <strong>als</strong><br />

eine von Tantiemen bestimmte Firmenzugehörigkeit bedeutet, etwa "die bei Opel oder VW"; dass<br />

er im Jahre 1969 mit Beginn der sozialliberalen Ära aus der CDU nach siebenjähriger<br />

Verbundenheit austrat, weil keine Partei in der Bundesrepublik "Risiko und Chance so gerecht<br />

verteilt wie die FDP".<br />

Da können noch "wirkliche Blitzkarrieren gestartet werden", vergewisserte er sich dam<strong>als</strong><br />

vorsichtshalber, und er brauchte auch Themen, an denen er sich empor-hangeln konnte.<br />

471


Die Bildungspolitik, der er im Bundestag vier Jahre gewissenhaft nachging, das zählebige<br />

Gezeter um Hochschulrahmengesetz, die fusseligen Bafög-Regelungen, Bund-Länder-Kommission,<br />

Kultusministerkonferenz, all die ermattende Kleinarbeit versprach seinem Ego bald keine<br />

Reizschwelle, keine neugierig aufgenommene Selbstentfaltung mehr.<br />

Folglich hat ihn sein marktlückengeprüftes Bewusstsein zur Palästinensischen<br />

Befreiungsorganisation (PLO) gebracht, intuitiv den Trend kommender Jahre im Bauch, dazu noch<br />

ein Novum für ihn und natürlich für seine FDP. In der VIP-Lounge des Beiruter Flughafens<br />

empfingen ihn PLO-Revolver-Männer wie einen Staatsgast.<br />

In einer <strong>als</strong> tollkühn erlebten Zickzackfahrt ging es durch verwirrende Gassen, vorbei an<br />

aufgetürmten Straßenbarrieren, Plätzen und ausgebrannten Autos. In der Rue Université Arabe 155<br />

sicherten Jugendliche mit ihren Kalaschnikows das Portal, "Ja, ja, spannend, wahnsinnig spannend<br />

ist das da, Schmauch und Rauch am Horizont."<br />

Im vierten Stock, in einer konspirativen Wohnung, residierte sein Gesprächspartner im<br />

Kampfanzug mit umgeschnalltem 9-mm-Colt und blank polierten Patronen im Gurt. Gläserne<br />

Nippes-Fische auf den Regalen, Brokatdeckchen, zierlich vergoldete Stühle und dann ein höchstens<br />

16jähriger Jung im grünen Military-Look, der für ihn die Seven-Up-Limonadenflasche mit dem<br />

Griff seiner Maschinenpistole öffnete.<br />

Exakte 87 Minuten dauerte die vorsichtig abtastende Unterhaltung, die bei Schummerlicht<br />

ablief, weil es keinen Strom gab in der Stadt. 87 Minuten, das weiß er noch hundertprozentig. Er<br />

hatte seine Uhr gestellt, wie einst bei den Pfadfindern, mit denen er Madagaskar besingend auf<br />

Erkundungsfahrt war.<br />

Keineswegs nur die oft gefälligen Medien in der kleinen Bundesrepublik, sondern Welt<br />

weit raunte die Presse über einen acht Punkte umfassenden Geheimplan zur Befriedung der<br />

Nahost-Region unter Einbeziehung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinensern sowie ihrer<br />

staatlichen Souveränität. Ein streng vertrauliches Papier, das Möllemann in stiller Abstimmung mit<br />

der Bonner Vertretung Arafat übergeben haben soll.<br />

Natürlich lag im Köfferchen kein ernst zu nehmendes Dossier, wie stets war es eine<br />

wahllos gebündelte Zettelwirtschaft. Ein Übersetzungsfehler hatte die westliche Allianz erschreckt.<br />

Und Möllemann war Opfer seiner Knüller-Prophetie geworden, die im Beiruter Hotel "Napoléon"<br />

ein deutscher Journalist allzu genau genommen hatte.<br />

Für den Möllemann-unerfahrenen Berichterstatter im Libanon sind Bonner Bugwellen-<br />

Usancen auch nicht von vornherein zu durchschauen. Vor allem, wenn da einer anreist, der sich<br />

zwischen Trümmerbesichtigungen aus der Jeep-Perspektive und Friseurbesuchen in<br />

Hintergrundgesprächen an der Hotel-Bar <strong>als</strong> "Genschers Minenhund" andient.<br />

Nach Rückkehr sah Möllemann sein jähes politisches Ende, den Abgrund seiner Karriere<br />

vor sich. Keiner aus der Fraktion, keiner in der Partei, der auch nur ansatzweise auf die misslichen<br />

Begleitumstände verwies. Alle-samt ließen sie ihn dort stehen, wo er schon immer stand - in<br />

Genschers Vorzimmer, gestikulierend und sich hektisch anbiedernd, obwohl ihm dort nach dem<br />

Beiruter Abenteuer kein kesser Spruch mehr unter dem Schnäuzer heraus flutschen wollte.<br />

Allenfalls sein Selbstmitleid streichelte ihn noch in einer Sprache, die sonst so gar nicht zu<br />

seiner verkarsteten Diktion passte, insbesondere dann, wenn er über schwächere Kollegen herfiel.<br />

472


"Unbarmherzig die Beschimpfungen und Drohungen von allen Seiten Tag und Nacht,<br />

grausam dieses Sperr-feuer, die alles durchbohrende Häme, Beirut sei kein geeignetes<br />

Übungsgelände der Bundeswehr-Reserve, Genscher, ich erkannte ihn nicht wieder, so stinkmies<br />

schiss er mich zusammen. Ich dachte, das packe ich nicht mehr. Jetzt geben sie mir milde lächelnd<br />

den Genickschuss. So etwas habe ich vorher noch nicht erlebt."<br />

Nach Beirut sagte er: "Ich will nicht mehr nach Appeldorn. Meine Brüder wollen auch<br />

nicht mehr nach Appeldorn." Jener kleinen Dorfgemeinschaft bei Kalkar am Niederrhein, in der er<br />

seine weniger begüterte Kindheit ertrug, die erste Ehe mit einer umsorgenden Verkäuferin einging.<br />

Dort, wo er sich im Besitz der frisch erworbenen Abgeordneten-Immunität mit einem<br />

funkelnagelneuen Audi unaufgefordert zeigte, Lichthupenimpulse die erhoffte Anerkennung aus<br />

dem örtlichen Seelenleben heraus leuchteten: "Das ist doch der Jürgen aus der großen Politik."<br />

Er sagte: "Ich will nicht mehr nach Beckum, dieses läppische Beckum", wo er für kurze<br />

Zeit <strong>als</strong> Lehrer arbeitete. Und das "bei einem reaktionären Rektor", der ihn öfter <strong>als</strong> einen<br />

"Dünnbrettbohrer" zu entlarven suche, "so unverschämt war dieser Kerl".<br />

Erinnerungen an Appeldorn und Beckum lähmen ihn. Diese Vergangenheit hat er<br />

überwunden: Staatsminister im Auswärtigen Amt - in dieser Position erst kann er sich in der<br />

äußeren Darstellung so akzeptieren, wie es der Logik seiner Gefühle entspricht.<br />

Immer wieder lugt Möllemann begierig und staunend auf die Insignien Bonner<br />

Staatsmacht. Irgendwo kann er es immer noch nicht richtig fassen, bricht aus ihm ein unsicheres,<br />

unbeholfenes Lachen heraus. Irgendwie ist er sich in solchen intensiven Momenten selber<br />

unheimlich, dass seine Lebensmaxime so rasch Wirklichkeit wurde. "Irgendwas mache ich mal,<br />

dann komme ich ganz groß raus."<br />

Und das ausgerechnet im Auswärtigen Amt, in einem großflächigen, mit Velourteppichen<br />

ausgelegten Büro, das einer schnörkellosen Hotel-Suite ähnelt, "ganz dicht beim Dicken", den er ja<br />

fernsehwirksam an der Seite des Bundeskanzlers vertreten soll.<br />

"Mensch, Jürgen", sagt er sich da zu sich. Die Bundesluftwaffe, der 280er Dienst-<br />

Mercedes mit Fahrer und Autotelefon. Mal eben durch Münsters City, zwei persönliche<br />

Referenten, zwei Sekretärinnen, die Sicherheitsbeamten, die Empfänge in der Godesberger<br />

Redoute, Gobelin, Satin, die Cocktails bei den Saudis, Akkuratesse in Gesicht und Zwirn, "mit<br />

Carola bei Frau Bundespräsident zum Teetrinken". Das überwältigt den Mann aus Appeldorn:<br />

"Das ist schon ein wenig wie Weihnachten und Pfingsten auf einen Tag." So hatte seine erste<br />

Amtshandlung darin bestanden, erst einmal diese Bonner Kinofassade den Schwiegereltern und<br />

den Kegelbrüdern vorzuführen. Und alle staunten. Nur einen Besucher wollte der Staatsminister<br />

nicht so recht verknusen. Seinen um fünf Jahre jüngeren Bruder Norbert, der aus Berlin angereist<br />

war.<br />

Norbert, ein Lehrer, der in Kreuzberg das alternative Tischlerhandwerk ausübt, sucht<br />

schon seit Jahren in der Vergangenheit nach seiner Identität.<br />

Wenigstens einmal wollte er mit Bruder Jürgen reden, richtig reden, wo sie doch beim<br />

Tode ihrer Mutter sprachlos, schnurstraks nach der Beerdigung auseinandergelaufen sind.<br />

Er wollte seinen Bruder fragen, warum er, der Junge aus der Sattlerfamilie, sich eigentlich<br />

derart auf die Bildungsbürger fixiere. Er wollte ihn fragen, ob der Bruder denn nicht merke, dass<br />

473


eine krasse Trennung von Persönlichkeit und Staatsfunktion ihn allmählich, aber systematisch<br />

verbiege, hinrichte.<br />

Das alles wollte der Nobert Möllemann aus der Berliner Gegenkultur mit seinem großen<br />

Bruder einmal offen bereden. Deshalb war er nach Bonn gekommen, um ein Stück Vergangenheit<br />

aufzuarbeiten, mit den eigenen Enttäuschungen wie Unfertigkeiten umgehen zu können. Doch<br />

Nobert, der sich so viel vorgenommen hatte, brachte keinen zusammenhängenden Satz über die<br />

Lippen. Beide saßen sich stumm im Restaurant des Bundestages gegenüber.<br />

Es war ein nasskalter Herbstabend, der Bruder reiste vorzeitig ab. Jürgen W. Möllemann<br />

zieht sich auf sein Appartement zurück. Noch vor dem Einschlafen konzipiert er die<br />

Pressemeldung 127 im fortlaufenden Jahr, schreibt eine Notiz für seine Sekretärin Frau Walter.<br />

"Bitte die Einschaltquote meiner letzten Fernsehsendung beim WDR feststellen."<br />

Postscriptum. -23 Jahre später - am 5. Juni 2003 -stürzte sich Jürgen W. Möllemann auf<br />

dem Übungsgelände Marl-Leomühle mit seinem Fallschirm in den Tod. Knapp eine halbe Stunde<br />

zuvor hatte der Deutsche Bundestag zwecks Strafverfolgung Möllemanns Immunität aufgehoben.<br />

Daraufhin durchsuchten Polizei und Staatsanwaltschaft Möllemann-Geschäftsräume und seinen<br />

privaten Bungalow. Der am 9. Juli 2003 vorlegte Abschlussbericht der Staatsanwalt über die<br />

Todesursache Möllemanns, schloss ein Fremdverschulden aus. Im Dezember 2oo4 wurde ein<br />

Insolvenzverfahren über seinen Nachlass eröffnet. - Die Akte Jürgen Wilhelm Möllemann ist damit<br />

geschlossen.<br />

474


1986<br />

Die Bonner Republik – Verlust an Wirklichkeit<br />

475


ERINNERUNGEN AN DIE BONNER REPUBLIK - VERLUST<br />

VON WIRKLICHKEIT IM MACHTGETTO. EIN MANN<br />

NAMENS HEINER GEIßLER<br />

Einst glich Bonn am Rhein einer dunstigen Käseglocke, unter der gewachsene<br />

Bindungen verkümmerten, ungezwungene Mitmenschlichkeit nahezu Ausnahmen waren.<br />

Das Politik-Milieu am Rhein schien geprägt vom Überlebenskampf jedes einzelnen: Ein<br />

Überleben mit Aktenzeichen im Fraktionszwang, mit Intrigen und Affären, mit<br />

Staatskarossen und Helikoptern, in Parteizentralen und Lobbyburgen, behütet von<br />

Staatssicherheitsbeamten und Schützenpanzerwagen, zwischen Stacheldrahtverhauen und<br />

Videokameras. Nichts kennzeichnet den Verlust von Wirklichkeit, die Deformation der<br />

eigenen Person deutlicher <strong>als</strong> das einstige schrille Politiker-Leben des CDU-<br />

Gener<strong>als</strong>ekretärs und Bundesministers Dr. Heiner Geißler. Ein Mann, der von sich sagte,<br />

in Bonn sei er schmerzfrei geworden. Ein Jesuiten-Schüler, der ohne knallharte<br />

Konfrontation nicht mehr leben konnte. Diagnose: suchtkrank. Ursache: Bonn - bis zu<br />

jenem Tag des 10. Dezember 2003 jedenfalls, an dem die Parteizentrale - das "Konrad-<br />

Adenauer-Haus" - gesprengt wurde. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war auch die Ära<br />

Geißler Vergangenheit.<br />

Der Intrigant oder Die Bonner Operetten-Republik, Eichborn-Verlag, Frankfurt a/M 11. November 1986<br />

Das Konrad-Adenauer-Haus liegt an der Friedrich-Ebert-Allee, einer vierspurigen<br />

Ausfallstraße Richtung Bad Godesberg. Der schmucklose, zehnstöckige Beton- und Glaskasten<br />

grenzt an die britische Botschaft, vis-à-vis haben Polizeipräsident aber auch Sozialdemokraten ihre<br />

Bonner Heimstatt gefunden. Nachts wachen unübersehbar die knallig roten, fast drei Meter hohen,<br />

über zwölf Meter breiten CDU-Leuchtbuchstaben auf dem Dach der Parteizentrale über die<br />

provinziell schlummernde Bundeshauptstadt Bonn. Nur der auf dem Steigenberger Hotel postierte,<br />

blau-illuminierte Mercedes-Stern signalisiert von Ferne eher einvernehmliche Zweisamkeit.<br />

Weihnachtsfeier im Bonner Konrad-Adenauer-Haus, der Parteizentrale der CDU.<br />

Lametta geschmückte Tannenbäume, ein von Steigenberger arrangiertes Büfett für knapp 20.000<br />

Mark, schummrige Wohnzimmer-Beleuchtung, Akkuratesse in Gesicht und Zwirn.<br />

An diesem Abend suchen Menschen die Nähe anderer, denen sie in der Hauptstadt sonst<br />

nicht nah sein dürfen. Durch die herausgeputzte Weitläufigkeit bundesdeutschen<br />

Aufsichtsratsinterieurs, einem holzgetäfelten Verschnitt aus Kunst und Knoll, dröhnt gedämpft der<br />

Stereo-Sound, "Yes Sir I can buggy". Im Arbeitszimmer des Herrn Dr. Kohl (CDU-<br />

Parteivorsitzender 1973-1998) tanz das Adenauer-Sekretariat mit der abgeordneten Sicherheit aus<br />

dem Bundeskriminalamt in die Nacht hinein.<br />

Die meisten kennen sich schon recht lange, aber nur für den Dienstgebrauch. Dieser wird<br />

im Adenauer-Haus von Pietät und Takt diktiert. Keine hautengen Blue-Jeans, klein Blouson,<br />

allenfalls zart aufgetupftes Make-up mit blass bemalten Lippen. Vergilbte Benimm-Regularien<br />

kleinstädtischer Tanzschulen prägen unausgesprochen Umgang und Beritt, unterscheiden<br />

feinsäuberlich zwischen Empfindung und Empfindsamkeit, zwischen Schüchternheit und<br />

Verklemmtheit.<br />

476


Dass auf dem Kieler CDU-Bundesparteitag 1979 barbusige, aus Paris eingeflogene<br />

Ballettdamen über die Bühne huschten, war für den Vorsitzenden ohnehin eine<br />

"Geschmacklosigkeit sondergleichen", die sich nicht wiederholen dürfe. Dafür halten es die<br />

Männer aus Präsidium und Parteibürokratie mit Walther von der Vogelweides "Lieder von der<br />

niederen Minne" - verdeckte Techtelmechtel mit "unebenbürtigen Mädchen".<br />

Der scheinbar endlos lange, schmale Flur im zehnten Stockwerk des Konrad-Adenauer-<br />

Hauses ist das vertraute Bonn-Interieur des Dr. jur. Heinrich Geißler ( Jahrgang 1930, CDU-<br />

Gener<strong>als</strong>ekretär von 1977 bis 1989, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit von 1982<br />

bis 1985). Geißlers Milieu. Wenn die Fahrstuhltür sich beiseite schiebt, springt dem Ankömmling<br />

das stattlich-staatliche Konterfei des Parteivorsitzenden entgegen. Helmut Kohl milde lächelnd im<br />

bewährten Dialog mit der wissbegierigen Jugend. Auf dem mit gelben Teppich ausgelegten Flur<br />

und im Sitzungszimmer neben den überall präsenten Überwachungsmonitoren hat sich die<br />

Ahnengalerie der CDU-Kanzler samt ihrer Wahlplakate wie in einem Museum angesammelt.<br />

Konrad Adenauer (*1876+1967, Bundeskanzler 1949-1963), der "keine Experimente" wollte und<br />

mit seiner reduzierten Sprache den "Wir-sind-wieder-wer-Konsens" im Nachkriegs-Deutschland<br />

einläutete. Ludwig Erhard (*1897 +1977, Bundeskanzler 1963-1966), der <strong>als</strong> "Mister<br />

Wirtschaftswunder" den aufbrechenden Widersprüchen einer schnell wachsenden Industrienation<br />

mit seiner "formierten Gesellschaft" zu begegnen glaubte. Und schließlich Kurt-Georg Kiesinger<br />

(*1904+1988, Bundeskanzler 1966-1969, der schöngeistige Übergangsregierende während der<br />

Großen Koalition in den sechziger Jahren.<br />

Heiner Geißlers Räumlichkeiten liegen exakt unter den knalligen CDU-Leuchtbuchstaben.<br />

Das U steht fürs Büro, zugleich auch sein Wohnzimmer mit Video, Fernseher und CD-Spieler.<br />

Unterm D sind Sekretariat und Abstellraum für Kühlschrank, Gefrier-Box nebst Pressearchiv<br />

platziert. In dieser Aktenkammer isst der Gener<strong>als</strong>ekretär mit Vorliebe zu Abend - und das immer<br />

hast, fast immer allein. Ihm ist es allemal angenehmer, sich vom Chinesen in Aluminium-Folien<br />

verpackte Platten servieren zu lassen, <strong>als</strong> sich in Bonner Restaurants den nur zu bekannten<br />

Gesichtern zu nähern. Und unter dem C verbirgt sich sein winziges Schlafverlies. Ein schmales,<br />

kärgliches Zimmer, eine Pritsche <strong>als</strong> Bett, Tisch und Stuhl, ein Spind <strong>als</strong> Schrank, eingebautes Klo,<br />

Dusche. Schnörkellose, triste Lebensumstände, diktiert von der gängigen Vorstellung von<br />

Funktionalität und Effizienz. -Bonner Jahre. Junggesellen-Jahre.<br />

Das einzige Private, das er sich genehmigte, ist eine zwei mal zwei Meter große Fotowand.<br />

Schwarz-weiße Bilder, halbmatt, zeigen ferne Gipfel. Es sind die Spitzen des österreichischen<br />

Zillert<strong>als</strong>. Dort, wo die Geißlers ihre Vorfahren ausfindig gemacht haben, die <strong>als</strong> berüchtigte<br />

Raufbolde und Dickschädel um sich schlugen. Die Zillertal-Zinnen sollen einen direkten Hinweis<br />

auf die Gemütswallungen des Gener<strong>als</strong>ekretärs liefern, "nur über den Wolken kann die Freiheit<br />

grenzenlos sein". Er präsentiert sich keineswegs nur in der Superrolle à la Henry Kissinger (US-<br />

Außenminister 1973-1977), er will darüber hinaus auch noch <strong>als</strong> Reinhold Messner der CDU<br />

gesehen werden. Verwegen, unwiderstehlich, unverwüstlich. Ein Image-Mann mit Image-Gesetzen,<br />

der das politische Gewerbe in unmittelbarer Nachbarschaft schauspielernder Stuntmen ansiedelt,<br />

der sich ansonsten kontaktscheu in sich verkröche, sympathisierte das Publikum nicht nachweislich<br />

mit seiner Bergsteiger-Pose. Immerhin so beeindruckend nachhaltig, dass selbst die alternative<br />

Tageszeitung in Berlin ihn ironisch zum "attraktivsten Mann der Politszene" kürte.<br />

Auf dem Flur schräg gegenüber wachen Nächtens zwei Polizisten des<br />

Bundeskriminalamtes über die Unversehrtheit dieses Unions-Kastellans in der Mönchzelle.<br />

Augenscheinliche Parallelen zu dem früheren BKA-Präsidenten drängen sich auf. Horst Herold<br />

477


(1971-1981) reduzierte sich Privatleben ebenfalls auf null. Er hatte sich in der Wiesbadener<br />

Elektronik-Zentrale nach jahrelanger Terroristenjagd systematisch zugemauert, von der Außenwelt<br />

hermetisch abgeschottet. Mit seiner Frau redete der ranghöchste Polizist der Republik nicht mehr,<br />

ließ sich schließlich scheiden. DISPOL-, PISA-, LISA, PIOS und der INPOL-Fahndungscomputer<br />

waren längst zu seinem alleinigen Bezugspunkt geworden, ein Gegenüber, über das er x-beliebig<br />

verfügen, mit dem er sich reibungslos verständigen konnte.<br />

Meistens tief in der Nacht, wenn sich Dr. Geißler von der aufreibenden Tagesroutine<br />

entfernt weiß, arbeitet er "für unsere gemeinsame Zukunft, für eine Gesellschaft mit<br />

menschlicherem Gesicht". Er braucht nicht viel Schlaf, er hasst ihn eigentlich. Will er doch seine<br />

kostbare Zeit effektiv nutzen, um Visionäres der Wirklichkeit ein Stückchen näher zu bringen. Für<br />

seine Politikaufrisse benötigt er keine Menschen, er verachtet sie insgeheim. Er liebt die abstrakte<br />

Planung. Die Gesellschaft mit empirischen Instrumentarien in Segmente zu zerlegen, weitsichtig<br />

Entscheidungsbedarf von morgen und übermorgen vorzubereiten, das fasziniert ihn ungemein -<br />

etwa beim Krankenhausbau.<br />

Schon seit 1977 macht Heiner Geißler aus Koffern Politik. Sich in Bonn für die<br />

angepeilten Jahrzehnte ein bisschen einzurichten, sich womöglich lebensfroh einzugestehen, dass<br />

diese Stadt keineswegs nur aus verqualmten Buden, Aktenböcken und flanellgarnierten<br />

Prestigefiguren besteht - solch naheliegende Gedanken rührten sich in ihm bisher nicht. Bonn sei<br />

nolens volens eine vertrackte Raumkapsel, in der viel schwadroniert werde, die geschwätzige<br />

Verlogenheit sich von der einen in die andere Alltagspathologie transferiere. Nein, beschied<br />

Geißler, dies sei nun wirklich nicht seine Umgebung. Er wolle ja schließlich das neue Deutschland<br />

bauen, zukunftsweisende Perspektiven entwerfen. Deshalb könne ihn auch niemands zu den<br />

Cocktail-Empfängen locken, wo Gewichtiges und Nettes sich augenzwinkernd in seltener Noblesse<br />

mit ihren ewigen Déjà-vu-Erlebnissen therapieren.<br />

Seine Welt, sein Milieu ist ein Betonkasten aus zehn Etagen -das Konrad-Adenauer-Haus.<br />

Dort - managt er mit monotoner Beharrlichkeit ein Vierecks-Verhältnis, seinen Lebensinhalt:<br />

Politik und nochm<strong>als</strong> Politik, Taktik und nochm<strong>als</strong> Taktik, Strategie und nochm<strong>als</strong> Strategie, Macht<br />

und nochm<strong>als</strong> Macht.<br />

Überall surrt es auf Geißlers Etage zu Bonn.. Überall arbeiten die kleinen Reißwölfe vor<br />

sich hin. Im Kopierraum neben der Kaffeeküche, in den Sekretariaten unter den Schreibtischen.<br />

Immer, wenn vertrauliche Informationen übers Telefon den Leitungsstab erreichen, werden sie<br />

aufgeschrieben und unverzüglich den jeweiligen Adressaten ausgehändigt. Die speichern dann ihre<br />

exklusive Neuigkeit im Kopf, und der Reißwolf zerhackt das Papier. Spione vielleicht, Misstrauen<br />

überall.<br />

Gleich neben seinem Schlafverlies stapeln sich über 160 vollgepfropfte Presseordner, die<br />

mir mir quasi cool nebenbei zeigt. Sie füllen seine Aktenschränke. Selbst für den CDU-<br />

Gener<strong>als</strong>ekretär eine bemerkenswerte Anzahl. Von einem durchschnittlichen Parlamentarier erst<br />

gar nicht zu sprechen, der in vier Jahren im Bundeshausarchiv etwa eine halbe Leitzmappe<br />

zusammen-bringt. - Unausgesprochen und dennoch ausnahmslos machen sich am Gedruckten<br />

Leistungskriterien fest. - Geißler Gipfel.<br />

Pressedokumentationen entpuppen sich Knall auf Fall <strong>als</strong> untrügerische Bonn-<br />

Seismografen. Sie zeigen Zugehörigkeit oder Außenseitertum an. Die Teilhabe an der Macht<br />

spiegelt sich in der Quantität angehäufter Zeitungsstapel und Agenturmeldungen wider.<br />

478


Heiner Geißler hat kein Zuhause mehr. Freunde kann er auch keine benennen. Allesamt<br />

sind sie ihm entrückt. Schemenhaft blieben ein paar Namen in Erinnnerung - aus Schule,<br />

Studienzeit und Junger Union. Lang ist es her, zu lang für politische Charaktere seines Kalibers.<br />

Und heute? "Das lässt der Job nicht zu", murrt er knapp. Wenn, dann sind die pflegsam<br />

behandelten Bekannt-schaften allenfalls "politischer Natur". Seine alltäglichen Kontakte kappte er<br />

schon in jungen Jahren, dam<strong>als</strong>, <strong>als</strong> er aufbrach, die politische Spitze zu erobern. Wäre er kein<br />

hochkarätiger CDU-Politiker, sondern ein medizinischer Fall der Drogenberatung in Bonn.<br />

Diagnose: suchtkrank. Ursache Politik in Bonn. Keine Frage, viele Symptome würden den<br />

Verdacht innerer Verwahrlosung erhärten.<br />

Im ordentlichen Mainzer Vorort Gonsenheim lebt seine Familie - ist auch er dort<br />

polizeilich gemeldet. Von außen Eigenheim, von innen Villa mit acht Zimmern, Schaffellteppiche,<br />

Atrium, Goldfische im kleinen Teich. Für ihn gibt das Ambiente nichts her, ist Attrappe, die sich<br />

beziehungsarm aneinanderfügt. Schaublindpackung. Kein hospitalistischer Blick, sondern die<br />

Sichtweise des einstigen Familienministers, der auszog, den Deutschen wieder heimatfühlende<br />

Nestwärme, Geborgenheit und Familiensinn einzuschärfen, der gegen "die Camping-Sozialisten"<br />

unentwegt zu Felde zieht, "weil der Sozialismus entwurzelte Menschen braucht, damit er ihn<br />

manipulieren kann".<br />

Dabei ist es Heiner Geißler selber, der nach den Jahren in Bonn seiner Familie fremd<br />

geworden ist. Wo die Entfremdung begann, was der eigentliche Auslöser dafür war, wer will das im<br />

Nachhinein noch auseinanderhalten, zumal Politiker-Erfolge die Schatten überstrahlen und für<br />

lichte Momente vorsorglich eine Dunkelkammer reserviert ist. Entfremdung vollzieht sich ja meist<br />

unmerklich, achselzuckend, lässt in den seltensten Fällen ohnmächtige Aggressionen herauskommen.<br />

Jedenfalls wollte der "Bonn-Geißler" seine Familie aus dem "mörderischen Hauptstadt-<br />

Geschäft" unbedingt heraushalten, die Pressemeute von seiner Haustüre in Gonsenheim<br />

verscheuchen.<br />

Vor dem kleinen Sitzungssaal im Konrad-Adenauer-Haus wartet ein Fernsehteam des<br />

Westdeutschen Rundfunks mit ihrem Berichterstatter Ernst-Dieter Lueg (*1930+2000) schon über<br />

eine halbe Stunde auf den CDU-Gener<strong>als</strong>ekretär. Eingeschnürt vor stickiger Casino-Atmosphäre<br />

aus Gummibaum, Rundlampen und Bohnerwachsgeruch fläzen sich die Kamera- und Tonmänner<br />

in den Garnituren. Endlich.<br />

Ein Postensteher öffnet die Tür. Heiner Geißler kurvt um die Ecke. Hektik und Gestik<br />

haben jedweden Zweifel weggefegt. Keine Frage, "zu Geißler drängt's, an Geißler hängt's". - "Wie<br />

viel Minuten", will er wissen. "Drei", ist die Antwort. "Um was geht es eigentlich noch?", fragt er<br />

nun. Stichwort: Kriegsdienstverweigerung. Kommando: Kamera läuft, Ton ab, Klappe. Nach drei<br />

Minuten und zwanzig Sekunden: "Hat ja prima hingehauen. Macht es gut Jungs, bis zum nächsten<br />

Mal". sagt er, weg ist er. An diesem Tag hatte schon früh morgens der Bayerische Rundfunk die<br />

Aufwartung im Ministerium gemacht. Ein Termin beim NDR steht noch aus. Und in Kürze wird<br />

Geißler <strong>als</strong> Winzer verkleidet mit Bauern aus der südlichen Pfalz frisch gekelterten Wein auf einem<br />

Bollerwagen zu Helmut Kohl ins Kanzleramt karren -selbstverständlich für den "Bericht aus Bonn"<br />

am Freitagabend.<br />

Fernseh-Mattscheiben sozialisierten Geißler zu einem Zeitgenossen des eingefrorenen<br />

Dauerlächelns. Sein nonverbales Repertoire meidet spontane, unkontrollierte, intensive Affekte, da<br />

diese mitunter Nervosität, Zynismus, Kontaktschwäche, Unverbindlichkeit freilegten. Sein<br />

Gesichtsausdruck verrät kaum Auffallendes - außer der gezielten Steuerung des ewigen<br />

479


Dauerlächelns. Langsam zieht Geißler sein Mundwinkel hoch, langsam rasten seine Lachfalten auf<br />

dem gen-wünschten Charmepegeln ein. Im Zeitlupentempo dreht er seine Mimik behutsam zurück.<br />

Ein Ausbund von Freundlichkeit, ein Vorbild möchte er in seiner Wunschvorstellung abgeben,<br />

Identifikationen glaubt er so auf sich zu vereinen.<br />

Diese kraftzehrende, nach außen gerichtete Theatralik begräbt individuelle Bedürftigkeit,<br />

persönliche Konturen zerfließen allmählich ins Unkenntliche. Das Magnetfeld allgegenwärtiger<br />

Sachlogik und politischer Zweckmäßigkeit geht einher mit der Abstraktion des Ichs.<br />

Unaufgefordert, beinahe beflissen unterdrückt da ein jeder seine persönliche menschliche<br />

Anteilnahme: elementare Lebensgefühle verdorren.<br />

Auf dem Sportplatz Gronau am Rhein im Bonner Regierungsviertel gleich neben dem<br />

Abgeordneten-Hochhaus Langer Eugen wartet im Dunkel ein Bundeswehr-Hubschrauber auf<br />

seinen Passagier. Von hier ist das Bundeshaus kaum mehr <strong>als</strong> einen Steinwurf entfernt, das<br />

Kanzleramt liegt unmittelbar dahinter. Es ist ein grauslig-diesiger, nasskalter Dezember-Abend.<br />

Böige Winde und anhaltende Regenfälle haben schon einige Tage zuvor den Rhein über die Ufer<br />

getrieben, die Promenade weitflächig überspült, die Bänke aus ihren Halterungen fortgerissen,<br />

Treibgut klatscht ans Gemäuer der Uferstraße. Auch der Fußballplatz, auf dem in freundlicher<br />

Jahreszeit Ex-Nation<strong>als</strong>pieler Wolfgang Overrath Bierrunden Parlamentariern das Ballkullern lehrt,<br />

suppt unter lehmig aufgewühltem Wasser.<br />

Nicht weit vom Anstoßpunkt steht der Helikopter. Die Piloten vom BMVg, wie das<br />

Bundesministerium für Verteidigung im Kürzel heißt, warten gelangweilt , Frau Dorothea Göbel,<br />

Geißlers treu ergebene Assistentin, bibbert dem Abflug entgegen. Die "Bundeswehr-Männer", sagt<br />

Frau Göbel, waren ausgesprochen hilfsbereit, verstauten flugs die Geißler'schen PR-Sektflaschen,<br />

die sie resolut über den triefenden Rasen geschleppt hatte. Die Bundeswehr ist für diesen Abend<br />

und für den nächsten Morgen geordert worden, weil nach dem Terminplan "Gesindepflege" auf<br />

dem Programm steht -Kurzvisite des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit und<br />

Gener<strong>als</strong>ekretär der Christlich Demokratischen Union in seinem Wahl-kreis 161, Landau, Südliche<br />

Weinstraße.<br />

Ein Direktmandat, das Geißler schon 1980 im ersten Anlauf eroberte und seither bequem<br />

hält. Vereinbarungsgemäß hatten auch die beiden Limousinen ihre Stellungen bezogen. Die aus<br />

dem Ministerium vor dem Kanzleramt, aus dem Heiner Geißler abgeholt werden soll, die aus dem<br />

Adenauer-Haus in der Pfalzklinik Landeck, wo Geißler landen soll.<br />

Die Bonner "Schedule", was soviel wie Zeittafel bedeutet, ist mittlerweile durcheinander<br />

geraten; Geißler "taucht und taucht nicht auf - fährt und fährt nicht vor". Die Maschinerie steht<br />

still.<br />

Stille zieht auch durchs Regierungsviertel. Vom Langen Eugen schimmern nur vereinzelt<br />

Lichter aus Büro-fenstern. Nur wenige Bundestagsabgeordnete harren noch in ihren<br />

Dienstzimmern. Sie haben eine sitzungs-freie Woche. Die Straßen menschenleer, hin und wieder<br />

ein paar Autos, Panzerspähwagen der Polizei. Irgendwo versteckt piepsen Sprechfunkgeräte des<br />

Objektschutzes. Scheinwerfer liefern die Silhouetten von Amtsgebäuden, hinter denen sich<br />

Kakteen oder Gummibaumgewächse abwechseln und endlose Flure verbergen. Lediglich der Lange<br />

Eugen überragt dieses lieblos dahin gestoppelte Häusergekrümel aus den Nachkriegsjahren -Bonn<br />

ein Provisorium.<br />

Die Ruhe und die frische Brise am Rhein erinnern an ein ausgestorbenes Seebad zur<br />

Winterzeit. So mitten drin, so eng auf Tuchfühlung mit der politischen Macht, umgeben von ihrer<br />

480


dumpfen Alltäglichkeit, da sind die Mächtigen entrückter unnahbarer, austauschbarer denn je.<br />

Gleichbleibende Sterilität trocknet Gefühle aus, kappt Bezugspunkte, zermürbt Fantasie. In<br />

Frankfurt am Main, Hamburg, München, Berlin, in den Ballungszentren des Ruhrgebiets, dort, wo<br />

die Menschen sich in ihrer Widersprüchen an konkreten Widerständen wund reiben, dort sind die<br />

Mächtigen des Landes fassbar. Im eingeweckten Regierungsviertel, noch dazu aus der<br />

Hubschrauberperspektive vor dem Abflug, verlieren sich verlässliche Konturen in eine geordnete<br />

Unkenntlichkeit.<br />

Der Gener<strong>als</strong>ekretär konferiert mit seinem Helmut Kohl bereits seit mehreren Stunden;<br />

Gespräche, die nicht enden wollen ... ...<br />

481


482


1987<br />

Deutschland von übermorgen: Frankfurts City<br />

483


DEUTSCHLAND VON ÜBERMORGEN - UNBÄNDIGE<br />

AGGRESSIONEN IN FRANKFURTS CITY<br />

Märkte geöffnet, neue Konsum-Tempel gebaut, riesige Büroflächen hochgezogen.<br />

Arme, Arbeitslose und Alte umgesiedelt - im Umland "versteckt". Bankfurt, Krankfurt,<br />

Zankfurt. Das CDU-Vermächtnis einer maroden Metropole; für Profite optimal, für<br />

Menschen seelenlos. Alle 23 Sekunden passiert ein Verbrechen. Jeden dritten Tag bringt<br />

sich ein Mensch um. Jeden Tag werden Frauen wehrlose Opfer einer Vergewaltigung.<br />

Hinter neureichen Fassaden nistet Wut, Verzweiflung, Hass. Frankfurt Ende der achtziger<br />

Jahre - das sind Ereignisse in einer durch Ohnmacht und Gewalt gekennzeichneten<br />

Wirklichkeit - Bilder einer deutschen Metropole.<br />

Vorwärts, Bonn vom 28. Februar 1987 – Spiegel-Buch, Hamburg vom 2. September 1981<br />

Vom Taunus her betrachtet gleicht Frankfurt einer panoptischen Filmvision des<br />

kommenden Jahrhunderts. Silhouetten liefern den Aufriss einer schnörkellosen Metropole der<br />

scharfen Spiegelglas-Kanten, die mehr Digitaluhren <strong>als</strong> Bäume, demnächst vielleicht auch mehr<br />

Brunnen <strong>als</strong> Parkflächen, mehr Grashalme <strong>als</strong> Arbeitsplätze kennt. In Spiegelglas verkleidete<br />

Wolkenkratzer überragen wahllos ein mausgraues Häuser-Gekrümel. An die drei Dutzend Beton-<br />

Bananen prägen die so genannte "städtebauliche Dominanz" für Versicherungen, Banken,<br />

Gewerkschaften, Konzerne - und natürlich fürs Fernsehen mit seinem 331 Meter hohen<br />

Turmschaft. An den ausgefransten Stadträndern haben sich wachstumsbesessene Industriegiganten<br />

festgebissen. Riesenkrebse, die Flüsse verseuchen, Wiesen vergiften und trickreich eine Schneise<br />

nach der anderen in die angrenzenden Wälder schlagen.<br />

Frankfurt am Main, das ist die Metropole für die Wirtschafts- und Finanzwelt in diesem<br />

Land, ein Banken- und Börsenimperium mit 338 Kreditinstituten. Über 600.000 Mitarbeiter im Inund<br />

Ausland lassen sich aus dieser Stadt steuern. Der Umsatz ihrer Produkte kletterte erst 1986 auf<br />

mehr <strong>als</strong> 50 Milliarden Mark. Frankfurt am Main - das ist auch der Verkehrsknotenpunkt der<br />

Republik. Allein der Flughafen: Über 235.000 Starts und Landungen, über 17 Millionen Menschen<br />

schnaufen jährlich über die computergesteuerten Verladerampen. Frankfurt am Main ist schließlich<br />

die teuerste Stadt in Europa. Einer Expertise des Europäischen Management-Zentrums zufolge<br />

muss ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz zwischen 36 bis 72 Millionen Mark für den<br />

Unterhalt eines Verkaufsmanagers und dessen Büro in Frankfurt rund 231.000 Mark per anno<br />

aufwenden. Frankfurt am Main - das ist teuerste Stadt in Europa. Einer Expertise des<br />

Europäischen Management-Zentrums zufolge muss ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz<br />

zwischen 36 bis 72 Millionen Mark für den Unterhalt eines Verkaufsmanagers und dessen Büro in<br />

Frankfurt rund 231.000 Mark per anno aufwenden.<br />

Frankfurt am Main - das ist aber auch der Kristallisationspunkt der ausgebufften<br />

Werbebranche zwischen Glanz und Glimmer, zwischen Empfindungen und Befindlichkeiten,<br />

zwischen Stars und Strips - eben ein Warentextmarkt für Deutschland. Übersättigt und ausgelaugt<br />

ist er allemal, auf dem es aber stets neue Konsumgier und Kauflust zu entfachen gilt. Ob Marlboro,<br />

Camel oder West, ob Durchbruch oder Aufbruch, nicht weniger <strong>als</strong> 300 Werbeagenturen proben<br />

hier produktbezogene Enthemmungsstrategien.<br />

Tatsächlich sind Bankfurt, Zankfurt, Krankfurt längst zu Synonymen für Frankfurt<br />

geworden. Eine Stadt, die sich selber frisst, die Lebensräume abkappt und Nischen zuschüttet. Hier<br />

484


wurden schon Häuser besetzt, <strong>als</strong> noch nirgendwo von Hausbesetzungen die Rede war. Hier wurde<br />

demonstriert, spekuliert, kaputtgemacht, gewuchert, vergeudet, radikaler, brutaler, besinnungsloser<br />

<strong>als</strong> in irgendeiner vergleichbaren Stadt.<br />

Zum Dunstkreis der sattsam Arrivierten dieser Rhein-Main-Region zählen ihre exquisiten<br />

Klubs: Rotary Club, Union Club, Handelsclub, einflussbesessene Inzuchtvereinigungen. Eine<br />

vornehmlich konservative Welt ist das, die den Frankfurter Sparkassen-Werbeslogan aus den<br />

fünfziger Jahren zum Credo erhob. "Haste was, biste was." Einst Walter Wallmann (1977-1986) <strong>als</strong><br />

Oberbürgermeister, dann Wolfram Brück (1986-1989) seit 1995 beinahe zwei Jahrzehnte die<br />

CDU-Kommunalpolitikerin Petra Roth finden in diesen diskreten Kapital-Klubs ihre fundamentale<br />

Stütze, seit sie mit einem Erdrutschsieg im Jahre 1977 die absolute Mehrheit im Stadtparlament<br />

gewonnen haben. Schon dam<strong>als</strong> sagte sich erst zaghaft, dann immer vehementer der CDU-Staat<br />

dieser Tage an; stets auf der Suche nach Alternativen zu den Alternativen.<br />

Denn früher, krasser, auch gewalttätiger <strong>als</strong> anders wo in Deutschland, Berlin<br />

ausgenommen, hatte sich hier ein aufgetan: Stadtindianer, Stadtguerillas, einfache RAF-<br />

Sympathisanten aus Folterkomitee und roter Hilfe, Sponti und Grüne, Homos und Heteros,<br />

Frauengruppen und Gastarbeiterkinder, arbeitslose Mädchen und Jungen, heimatlose Mischlinge<br />

aus amerikanischen Kasernen, Rocker und Punks - eine kunterbunte Verweigerungs-Gesellschaft,<br />

die alles oder nichts ist, die kein einheitliches Gesicht hat, die ihre Vitalität aus eigenen und<br />

fremden Widersprüchen bezieht und sich nur in einem Punkt einig weiß: in der Negativ-<br />

Abgrenzung gegenüber der Wirklichkeit.<br />

Dieses Gegenkultur, von der bürgerlichen Welt oft <strong>als</strong> "Neurosen- und Exhibitionismus-<br />

GmbH" belächelt, arbeitet sich seit einem Jahrzehnt am Widerstrebenden ab. Ständig auf der Suche<br />

nach sich selbst, absprungbereit zu einer lang herbeigesehnten, neuen Identität. Frankfurt ist für die<br />

Spontis ihr Schauplatz, für den sie Hass und Verachtung empfinden, der sie zu Gegnern dieses<br />

Staates werden ließ, ohne den aber ihr Weltbild erst recht lädiert wäre. Eine Hassliebe, die keinen<br />

Stillstand kennt, immer neue Nahrung findet.<br />

So steht's im PflasterStrand (1976-1990), dem Zentralorgan der Spontis, geschrieben: "<br />

Frankfurt - eine erotische Stadt. In Berlin ist alles so halbseiden, selbst die Subkultur lebt von der<br />

Staatskrediten. In Hamburg gibt es mehr Häuser im englischen Stil, dafür sind die Leute stämmig<br />

und wetterfest. In Berlin machen die Punks das, was hier vor zehn Jahren die Anarchos gemacht<br />

haben. In Frankfurt weigern sich die Punks, das kaputtzumachen, was uns kaputtmacht. Sie<br />

machen lieber das kaputt, was sie kaputtmacht. Alle Leute fragen sich, was machen<br />

Hunderttausende in Poona, aber niemand fragt sich, was machen Fünfzigtausende in Höchst.<br />

München ist auch eine schöne Stadt, von Dachau aus gesehen.<br />

Gewiss, Frankfurt ist nicht Deutschland und die Sponti-Szene auch die viel zitierte<br />

deutsche Jugend. Aber wenn Ernst Blochs (*1885+1977) These von der Ungleichzeitigkeit zutrifft,<br />

dann zwischen Frankfurt und dem Rest des Landes. Frankfurt, Mitte der achtziger Jahre ist<br />

eventuell die Bundesrepublik von übermorgen. Parallelen, die nicht augenscheinlich verlaufen, oft<br />

erst durch Zeitlupentempo im nachhinein greifbar werden. Tatsächlich ist Frankfurt eine<br />

Metropole, die Verwirrung stiftet, gedankliche Grenzüberschreitungen auslöst; eben eine<br />

Metropole der bewussten Missverständnisse und unbewussten Genauigkeiten, Alles, was in<br />

Frankfurt passiert, ist missverständlich und genau. Schon allein deshalb wäre Frankfurt nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg (1939-1945) die ehrlichere Hauptstadt für dieses Land gewesen. Ein<br />

Missverständnis ist schon die Außenausstattung der Stadt. Menschen wurden entwurzelt, an ihren<br />

Rand ausgebürgert und vom Beton verschluckt. Urbane Viertel mit alter Bausubstanz und Parks<br />

485


wurden achtlos dem Erdboden gleichgemacht. Beton entstand, Banken und Bonzen zogen dort<br />

ein.<br />

Genau sind dagegen Profite oder auch Spekulations-Gewinne an der Börse zu kalkulieren,<br />

scheinbar. Grund und Boden sind im Zentrum ausverkauft, bei Quadratmeterpreisen bis zu 14.000<br />

Mark. Genau ist auch die Zahl derer, die eine Wohnung bitter benötigen: 20.500, wobei 1.000<br />

Luxuswohnungen leer stehen. Genau ist die Zahl von 153 Häusern mit insgesamt 430 Wohnungen,<br />

die zuletzt den Bulldozern und Spekulanten zum Opfer fielen. Genau sind auch die Manager, die in<br />

ihren klimatisierten Hochhäusern den Panorama-Blick ihr eigen nennen und die Stadt unter sich<br />

wissen. Kaum eine Dollar-Talfahrt ohne Intervention der Deutschen Bundesbank, kein<br />

Metallarbeiter-Streik ohne Eugen Loderer (1972-1983; *1920+1995) und später Franz Steinkühler<br />

(1989-1992) samt der Bank für Gemeinwirtschaft, keine Hoffnung auf sichere Arbeitsplätze im<br />

Norden und Süden des Landes, wenn Banken mit Sitz in Frankfurt, kränkelnde Unternehmen<br />

Kredite oder Bürgschaften entziehen.<br />

Ein deutsches Missverständnis ist auch die Sozialdemokratie in dieser Stadt, die<br />

programmatisch und emotional abgewirtschaftet hat. Eine Orts-SPD, weil links von der<br />

Bundespartei, förderte die Spekulationsprofite am Börsenplatz Frankfurt, City-Zerstörung und<br />

Mietwucher. Genau sind dafür Skandale und Affären, bis auf Heller und Pfennig, Euro und Cent.<br />

Millionen-Verluste der Hessischen Landesbank (Helaba) bei merkwürdigen Investitionen unter<br />

SPD-Aufsicht. Spenden-Geschichten, die in Wirklichkeit Schmiergelder waren.<br />

Ein weiteres Frankfurter Missverständnis ist ferner, dass jeder vierte Polizeibeamte ein<br />

Versetzungsgesuch eingereicht hat. Vielen ist es egal, wohin, nur raus aus dieser Stadt. Genau<br />

waren und sind aber ihre paramilitärischen Aufmärsche und ihre Knüppelaktionen - gegen alles,<br />

was nach Demonstrant riecht und nach Hausbesetzer aussieht.<br />

Missverständnisse über all die Jahre, das macht nervös, so viel Genauigkeit und<br />

Geschäftigkeit macht sarkastisch. Denn die viel zitierte Betroffenheit ist offenkundig nur eine<br />

winzige Nische, die noch bleibt, um sich in einem hoffnungsvollen Rest zurechtzufinden. Sie ist die<br />

Maxime der Spontis und Frankfurt ihre Hochburg. So wie es Daniel Cohn-Bendit, der<br />

Studentenführer vom 68er Pariser Pflaster von einst, meinte: "Beim Bau der Barrikaden wurden die<br />

Grundlagen für die Entstehung neuer emotionaler Beziehungen gelegt. Diese Barrikaden-<br />

Gemeinschaft verkörperte den großen Einbruch der Zukunft in die Gegenwart. Diese Nacht hat<br />

viele Psychiater arbeitslos gemacht."<br />

Es sind vornehmlich die Psychotherapeuten, die in Frankfurt einer ungeahnten<br />

Hochkonjunktur entgegensehen. Wie die Lufthansa legte auch das Sigmund-Freud-Institut (1960<br />

gegründet, seit 1995 Forschungseinrichtung) eine allerdings auf Jahre währende Warteliste an.<br />

Hunderte von Menschen halten ihren Grundwiderspruch zwischen Denken und Fühlen, zwischen<br />

Kopf und Bauch zusehends schwerer aus. Der Besuch beim Psychiater gerät zur all wöchentlichen<br />

Routine; zählt im Bildungsbürgertum und einer arbeitslosen akademischen Jugend zum<br />

gesellschaftsfähigen, ichbezogenen Gesprächsstoff dieser Jahre.<br />

Das Bundesamt für Verfassungsschutz schreibt über die Spontis: "Die schwer<br />

überschaubare undogmatische links-extremistische Bewegung besteht nach wie vor aus zahlreichen<br />

meist kleinen Gruppen - oft nur lockere, kurzlebige Zusammenschlüsse ohne feste Mitgliedschaft<br />

und Programm - die die bestehende soziale und politische Ordnung revolutionär beseitigen wollen.<br />

Sie lehnen die marxistisch-leninistische Konzeption ab und treten für Autonomie, Spontaneität und<br />

486


Selbstorganisation der 'Unterdrückten' ein, von denen sich einige deshalb auch ausdrücklich<br />

Spontan-Gruppen oder 'Spontis' nennen."<br />

Linksextremistisch, wenngleich undogmatisch im Sinne Lenins, trotzdem revolutionär,<br />

auch wenn es sich oft nur um kurzlebige, lockere Zusammenschlüsse handelt? Ein Sponti , der<br />

solche Verfassungsschutz-Weisheiten ernst nimmt, ist in Wirklichkeit kein Sponti. Selbst<br />

Revolution, dieses rote Wörtchen, ist heute stumpf geworden. Zumindest für den Autokonzern<br />

BMW, der mit ihr wirbt, um seine schnellen Renner unters Volk - auf die Autobahnen zu bringen.<br />

Sponti-Betroffenheit kennt ganz andere Varianten - sie ist für Außenstehende in der Tat<br />

schwer zu überschauen. Vor allem reicht das verschlissene politische Links-Rechts-Vokabular nicht<br />

mehr aus, um sie zu erfassen. Auf eine ideologische Größenordnung ist sie ohnehin nicht mehr zu<br />

bringen. Hinter der Sponti-Wahrnehmung verbirgt sich, wie es Heinz Stephan Herzkas in der<br />

Zeitschrift psychosozial formulierte, der neue "Empfindungsmensch". Er ist misstrauisch<br />

gegenüber Institutionen, organisierten Gruppen und durchgeplanten Aktionen. Seine<br />

Lebensphilosophie ist vielmehr von dem Grundgefühl getragen, "dass die Organisiertheit der<br />

Gesellschaft den eigenen Grundwerten zuwiderlaufen und auf ihn verstümmelnd wirke" (Herzka).<br />

So glauben die meisten Jugendlichen, den Grundwiderspruch zwischen Denken und Fühlen,<br />

zwischen Kopf und Bauch nur in einem alternativen Lebenszusammenhang auflösen zu können.<br />

Ein Lebenszusammenhang, der die bürgerlichen Spielregeln außer Kraft setzt, in dem rationales<br />

Handeln nicht konträr zu den Gefühlen abläuft.<br />

Der PflasterStrand berichtet in jenen Jahren vom "Volk ohne Traum" am Main und<br />

schreibt: "Der große Traum von 1968 ist ausgeträumt, der alte schreckliche Traum der Deutschen<br />

der 50er, ein Leben in Frieden und eigenem Häuschen, wird nostalgisch wieder aufgewärmt,<br />

erreicht uns auch, aber ist noch zu schwach, um wirksam zu werden. Unsere Armut ist, keine<br />

Träume zu haben. Dass wir damit wieder dem übrigen Volk näherstehen <strong>als</strong> noch vor Jahren,<br />

macht die Lage nicht erträglicher. Der gemeinsame Mangel stärkt nicht, er hetzt gegeneinander<br />

auf."<br />

Frankfurt in diesen Tagen, Szenen aus dieser Stadt. Im mit Blumen geschmückten Dekor<br />

der Paulskirche, jenem historischen Gemäuer republikanischer Tradition, haben sich Manager,<br />

Minister, Stadtväter und Universitäts-Professoren eingefunden. Ein pompöser akademischer<br />

Festakt ist angesagt. Drei hochkarätigen Industriellen soll aus Dankbarkeit und Anerkennung die<br />

Ehrensenatorenwürde der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität verliehen werden. Unter den<br />

Geehrten: Rolf Sammet (*1920 +1997), Präsident des Chemieverbandes und Vorstands-<br />

Vorsitzender der Hoechst AG. Gerade dieser multinationale Konzern hat es in jüngster Zeit<br />

verstanden, einen Umweltskandal nach dem anderen zu inszenieren. Und nach einer Studie der<br />

Arbeitsgemeinschaft Rhein-Wasser-Werke gilt die Hoechst AG <strong>als</strong> der größte Wasserverschmutzer<br />

der Bundesrepublik. Mitte der 50er Jahre überschritt der Jahresumsatz des Konzerns erstm<strong>als</strong> eine<br />

Milliarde Mark. Ende der achtziger Jahre erreichte der Konzern mit über 170.000 Beschäftigten<br />

einen Jahresumsatz von 46 Milliarden Mark. Im Jahre 1994 wurde der Frankfurter Chemiekonzern<br />

in die französische Holding Rhône-Poulenc zur Aventis S.A. überführt. Der Name Hoechst<br />

verschwand 2004 ganz aus der Öffentlichkeit.<br />

Im Festsaal der Paulskirche im achtziger Jahrzehnt jedenfalls intonierte das<br />

Kammerorchester der Musikhochschule für den Hoechst-Manager Rolf Sammet noch Vivaldis<br />

"Concerto Grosso", draußen vor der Tür kreischten Polizei-Sirenen, rotierten Hubschrauber im<br />

Niedrigflug, fegten Wasserwerfer den Paulsplatz menschenleer. Etwa 300 Jugendliche waren dem<br />

Demonstrationsaufruf des Allgemeinen Studentenausschusses (ASTA) der Universität gefolgt, um<br />

487


gegen die zu kürenden Ehrensenatoren zu protestieren. Auf ihre Transparente hatten sie in großen<br />

Lettern gepinselt: "Die Schweine von heute sind die Braten von morgen." - "Umweltschutz ist<br />

wichtiger <strong>als</strong> de Gewinne der Farbwerkbosse." - "Aus Liebe zu den Senatoren kauft<br />

Schweineschwänzchen und Schweineohren."<br />

Von Sperrgittern und Wasserwerfern verbarrikadiert, von Polizeihundertschaften nebst<br />

Reiterstaffeln eingekreist, doziert im Kirchen-Interieur Uni-Ehrensenator Hartwig Kelm über die<br />

"schweigenden Mehrheiten" von Studierenden und Lehrenden, die sich aus der "Umklammerung<br />

von brutaler Gewalt und rücksichtsloser Missachtung demokratischer Gesetzmäßigkeiten" befreien<br />

wollen.<br />

Privatbankier Johann Philipp Freiheit von Bethmann (*1924+2007), der der hessischen<br />

CDU mit ihrem rechtslastigen Landeschef Alfred Dregger (*1920+2002) orakelt in seinem<br />

Festvortrag über die von Vertrauenskrisen geschüttelten westlichen Demokratien. Ihm fehle es<br />

insbesondere an politischer Führung in diesem Land. Vor allem sei es aber "der alles regelnde<br />

Wohlfahrtsstaat, der <strong>als</strong> riesig umverteilende Sozialbehörde mehr und mehr den Charakter der<br />

beschützenden Herrschaft- und Ordnungseinrichtung verliere." Politik und Perspektive,<br />

Akkuratesse im Gesicht und am Zwirn - in Frankfurt kommt und geht ein Ehrensenator selten<br />

allein. Draußen auf dem Paulsplatz fliegen Eier, Farbbeutel, Jauchetücher, Schweineschwänze,<br />

Stinkbomben, verdrecktes Main-Wasser wird kübelweise ausgekippt. Und immer wieder stimmen<br />

Jugendliche ihr eigens für diesen Tag getextetes Liedchen an: "In einer Kirche sitzen zu Frankfurt<br />

am Main Leute, die nichts nützen, und lassen keinen rein. Sie schwingen große Reden von ihrem<br />

Bürgerglück und schmieden schon die Waffen der Giftmüll-Republik."<br />

Zwei Welten, zwei gegensätzliche Milieus knallen aufeinander, die einander nichts zu<br />

sagen haben, die sich gegenseitig abstoßen, die folglich kaum noch Berührungspunkte kennen, die<br />

sich im Grunde aber gegenseitig bedingen. Frankfurt in diesen Tagen, der achtziger Jahre, Szenen<br />

aus dieser Stadt. Wie an jedem Samstag schieben sich Menschentrauben über den Eisernen Steg,<br />

eine schmale Fußgängerbrücke, die über den Main führt. Am Sachsenhäuser Ufer ist Flohmarkt-<br />

Zeit. Ein Treffpunkt für Trödler und Gaukler, für professionelle Schausteller und Schüler, die<br />

Nippes und Comix anpreisen. Aber auch Alternativler aus den umgebenden Landkommunen<br />

haben da ihre makrobiotischen Stände, heimgepilgerte Poona-Jünglinge treten im Pulk auf und<br />

lassen den plötzlichen Exodus aus dem transzendentalen indischen Jenseits erahnen. Und dann<br />

gibt's noch die Punks, die Angehörige des sogenannten "Schwarzen Blocks". Ihr Äußeres:<br />

Lederklamotten, Stiefel und Sporen, Bürstenschnitt mit Ohrringen. Ihr Habitus: Sie trinken schon<br />

frühmorgens Bier wie Limo und geben einen dummen Spruch nach dem anderen zum Besten.<br />

"Kein Schwanz ist so hart wie das Leben" - "Auch Flöhe husten manchmal".<br />

Von Flöhen und Hustinetten wollte jedenfalls keiner mehr etwas wissen, <strong>als</strong> an die 50<br />

Jugendlichen in der routinierten Manier einer Klebekolonne ihre Transparente und Plakate<br />

befestigten. "Wir lassen uns nicht einschüchtern", flattert es auf einmal vom Eisernen Steg. Ein<br />

durchgestrichenes 129a deutet an, dass es sich um die vom Staat unter Strafe gestellte<br />

Unterstützung einer terroristischen Vereinigung dreht. Auslöser für diese Aktion war eine bereits<br />

Wochen zurückliegende Demonstration gegen "Isolationsfolter" gewesen. Auf den Flugblättern<br />

heißt es nunmehr: "Das Kleben dieses Plakats wurde zum Anlass genommen, um gegen Jürgen D.<br />

und Miriam G. Haftbefehl zu erlassen ! In der Begründung des Ermittlungsrichters Kuhn<br />

(Bundesgerichtshof) steht: 'Die Forderung um Zusammenlegung von politischen Gefangenen stellt<br />

den Tatbestand der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung dar.' "<br />

488


Polizei rückt an, Visiere runter geklappt, Knüppel gezogen, Wasserwerfer in der obligaten<br />

Lauerstellung. Ihrer Aufforderung, die Straße unverzüglich zu räumen, folgen nur schaulustige<br />

Passanten und verängstigte Trödler. Zurück blieben etwa 150 Demonstranten. Ein seltsames<br />

Gemisch aus Punks, RAF-Sympathisanten und Hausbesetzern baut sich da spontan gegen die<br />

Staatsmacht auf. Aus Müllkasten werden Barrikaden, aus Bierflaschen gefährliche Wurfgeschosse.<br />

Für die Wohlsituierten dieser Stadt erlebt der "Bürgerkrieg" eine Neuauflage. Ihr Leitspruch: "Das<br />

Maß der jetzt aber voll." Doch für die distanzlosen Jugendlichen ist ihre Straßenschlacht "ein<br />

Rodeo auf hessisch, Gewalt-Momente in Frankfurt". Denn "wir gehen hier kaputt, und du gehst<br />

mit", lautet ihre Maxime. Über vier Stunden dauert die Massenschlägerei. Knüppel um Knüppel,<br />

Flasche um Flasche. Die Folgen: kilometerlange Autostaus auf den breiten Ausfallstraßen nach<br />

Süden, Verkehrschaos in die City, krankenhausreife Polizisten, Landfriedensbruch, Widerstand<br />

gegen die Staatsgewalt, Körperverletzung etc.<br />

Frankfurt im Sommer 1981, Szenen aus dieser Stadt. Aus dem Radio scheppert der<br />

Sechzigerjahre-Evergreen des Schlagersängers Drafi Deutscher (*1946+2005 "Marmor, Stein und<br />

Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht ...". Auf dem UKW-Kanal 100 bis 104 meldet sich der 25-<br />

Watt-Sender "Radio Isnogud" (zu Deutsch is nix gut). Ein Sprecher verkündet: "Wir brauchen<br />

keine Konzession, und wir machen auch keine." Denn "Radio Isnogud" lebt und überlebt im<br />

Schatten der Frankfurter Hochhäuser. Pfeilschnelle Gestalten sausen über die Dachböden. Sie<br />

zerren Antennen und Kabel hinter sich her und senden, was das Zeug hält. Heimlich. Und dabei<br />

wird ihnen langsam klamm. "Radio Isnogud" trifft sich an verborgenen Orten und heckt flüsternd<br />

finstere Pläne aus. Die Peiler von Post und Polizei heften sich verstohlen an seine Fersen. Kurzum,<br />

alles wie im Krimi und "einfach zum Kotzen".<br />

Jeden ersten und dritten Montag im Monat strahlt "Radio Isnogud" sein Programm aus,<br />

das sich nach einem bösen Comic-Wicht nennt. Terminhinweise für Demonstrationen, ob<br />

verboten oder genehmigt, Veranstaltungskalender aus dem Alternativen-Zentrum Batschkapp, dem<br />

Café Größenwahn oder aus "Inder-City", einer leerstehenden Eisenbahnhalle. Seit Monaten peilten<br />

Post und Polizei die Stadt nachdem ominösen Piratensender aus. Stets Fehlanzeige. Wie einst die<br />

Tupamaros (1963-1985) im fernen Uruguay, hatte nunmehr die "Isnogud-Intendanz" zu einem<br />

Geländespiel auf dem verwaisten Fabrik-Areal der Seifenfirma Mouson ("Die mit der<br />

Postkutsche") geladen, und alle kamen. Den Journalisten folgte die Polizei und ihr natürlich der<br />

grüne Peilwagen. Von den "Isnogud"-Leuten jedoch keine Spur, nur der Sender tönte irgendwo.<br />

Ganz im Stil einer hautnahen Kojak-Inszenierung hechelten Polizisten trotz offener Tore<br />

über den Zaun. Über eine Stunde gestikulieren, rätseln 15 Zivilbeamte und 3o Uniformierte, wo<br />

der Schwarzsender nun eigentlich steckt. Sie durchkämmen Hof und Häusertrümmer, latschen<br />

durch Pfützen und krabbeln unter Kellertreppen. Als nur noch der verrottete Fabrikturm<br />

übrigblieb, muss erst einmal die Feuerwehr um Amtshilfe gebeten werden. Schließlich fährt die<br />

Leiter aus, Beamte klettern hinauf, schlagen Scheiben ein. Mit Suchscheinwerfern geht's in die<br />

Räume. Für Radio "Isnogud" kein Grund, Funkstille einzulegen. "Our fantasy is your desaster",<br />

tönt es da. Eine Stunde später. Der Polizisten-Troß stapft die Feuerwehrleiter hinunter. Ein<br />

Beamter von der Spurensicherung bringt eine Angel mit, ein anderer eine Plastiktüte. Im Beutel: ein<br />

Kassettenrecorder, Transistoren und Spulen. Die "Isogon"-Freaks waren längst ausgeflogen. Der<br />

Feierabend hatte seine Beamten wieder.<br />

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht solche oder ähnliche Vorfälle registriert werden, mal<br />

dramatisch, mal weniger spektakulär. Längst hat sich die breite Mehrheit daran gewöhnt. Es ist ein<br />

schleichender Gewöhnungsprozess ans Ungewöhnliche in dieser Stadt, der das ohnehin nicht stark<br />

489


verankerte Unrechtsbewusstsein trübt, gleichzeitig aber noch von den hohen Postulaten<br />

unantastbarer Freiheits- und Lebensrechte ausgeht - Paradoxien dieser Zeit.<br />

Aber nicht die Gewalt, nicht die paramilitärischen Konfrontationen, mit dem<br />

Polizeiapparat sind erklärte Sponti-Ziele. Vielmehr treffen Happning artige Proteste, künstlerische<br />

Clownerie und private Muße <strong>als</strong> Selbstfindung sein eigentliches Lebensgefühl. Doch nur wenige<br />

wussten um den schmalen Pfad, auf dem sie sich bewegten. Denn wann und wo lassen sich<br />

eindeutig die Grenzlinien ziehen, etwa zwischen kleinfamiliären Verhaltensweisen und tatsächlich<br />

neuen Formen des Miteinanders, wo endet die unterdrückende Gruppennorm, wo beginnt die<br />

befreiende Solidarität, wann hat jemand eine Neurose, wann sagt man, ja, endlich, das ist die neue<br />

Identität, wann ist die zu leistende Arbeit nicht entfremdet, sondern selbstbestimmt, inwieweit<br />

muss man sich noch kapitalistischen Marktzwängen unterordnen?<br />

Die Grenzen sind oft fließend. Lehrlinge, Schüler und Studenten, Arbeitslose, Freaks und<br />

freiwillige Aussteiger zogen Ende der siebziger Jahre den aus der Ferne endlos erscheinenden<br />

Fluchtweg entlang, den andere, meist aus der Achtundsechziger-Generation bereits vorausgegangen<br />

waren: ob nach Nepal, Poona oder zur Landkommune in Niederbayern bleibt dabei einerlei. Doch<br />

nun ist ein Umkehrtrend erkennbar. Vorsichtig ertasten sie sich die Rückkehr ins städtische Getto.<br />

"Ach", stöhnt Uwe Döhn nach leidvollen Wanderjahren stellvertretend für die Frankfurter Szene,<br />

"hätte diese Erde doch einen Notausgang! Doch wohin ich auch schau, sehe ich doch nichts <strong>als</strong><br />

Ausweglosigkeit. Nichts geht mehr, die letzte Kugel rollt im Todesroulette der Zivilisation."<br />

Frankfurt galt ihnen früher nur noch <strong>als</strong> ein "Hundeklo", neuerdings ist von "Heimat" und<br />

"Lebensraum" die Rede.<br />

"Wer nicht kämpft geht unter, wer kämpft reibt sich auf " - dieses Sponti-Grunddilemma<br />

hat sich in all den Jahren nicht auflösen lassen. Gleichwohl ist der stille Rückzug aus der<br />

Wirklichkeit einer erneuten Abrechnung mit ihr gewichen. Darin mag einer der Gründe liegen,<br />

warum die Konfrontation zwischen dem Staat mit seiner strukturellen Gewalt und der Verweigerer-<br />

Kultur mit ihren ungesetzlichen Widerstand an Härte zunimmt, in den achtziger Jahren sogar<br />

brenzlig eskalieren wird.<br />

Was der neuen Jugendbewegung ihre übergreifende Dimension gibt ist die Tatsache, dass<br />

die Aussteiger-Philosophie weit ins Lager der so genannten politischen Mitte reicht. Ausstieg aus<br />

der Kernenergie, Ausstieg aus dem Konsum, Ausstieg aus der Wegwerf-Gesellschaft. Gerade das<br />

Rhein-Main-Ballungszentrum mit seiner kaputten Metropole Frankfurt hat die Schwelle von<br />

Wachstum und Vernichtung längst überschritten. Trotzdem jagen Staat und Wirtschaft<br />

atemberaubende Modernisierungsprozesse im beginnenden Zeitalter der Globalisierung<br />

hemmungsloser durch denn je. Sie zerstören natürliches Leben, um künstliches Leben zu schaffen,<br />

von dem keiner eine Vorahnung hat, wie es einmal tatsächlich aussehen dürfte.<br />

Schnellstraßen, Hochhäuser, Abgase, Smogalarm, Trinkwasser, das teilweise ungenießbar<br />

ist, Flüsse, die zu Kloaken vergammeln. In den vergangene 30 Jahren wurden bereits 3.700 Hektar<br />

Wald, das entspricht rund 6.000 Fußballplätzen, für Wachstum und Wohlstand abgeholzt. Über<br />

drei Millionen Bäume sollen 1981 für die neue Startbahn des Flughafens gekappt werden - und im<br />

Jahre 2009 für eine weitere Land- und Startpiste wieder und wieder werden intakte Grünreservate<br />

dem Erdboden gleich gemacht. Massiver Widerstand war und ist bereits angesagt: "Wir sind keine<br />

Hippies oder Landstreicher, sondern Menschen, die trotz Androhung von Knast und Prügel dem<br />

Staat trotzen", so steht's auf der Gemeinschafts-Pinnwand. Rund um die Uhr kreist ein<br />

Wachdienst, mit Handys ausgestattet, ums Besetzer-Dorf.<br />

490


Vorzeitige Schulabgänger, Studenten, Jugendliche, die nur gelegentlich jobben, Arbeitslose<br />

- das ist der Stamm der 40 Dauerbewohner. Hier dreht es sich kaum um alternative Lebensformen,<br />

auch nicht um die dienstbeflissene politische Feinabstimmung, hier wird Widerstand praktiziert.<br />

Pfarrer Wulf Boller aus dem Örtchen Walldorf ließ bei einer kleineren Holzfälleraktion<br />

vorsichtshalber schon einmal seine evangelischen Glocken bimmeln. "Wir handelten wie im<br />

Bauernkrieg", erklärte Pfarrer Boller, "ein kirchliches Zeichen in einer revolutionären Situation, in<br />

der alle gegen einen übermächtigen Gegner zusammenstehen müssen." Der 21jährige Alexander,<br />

eín ehemaliger Theologie-Student, hockt vor der provisorischen Holzkapelle, die für ökonomische<br />

Gottesdienste hergerichtet wurde. Er liest in dem Buch "Zärtlichkeit und Schmerz". Eine gelassene<br />

und zugleich doch sehr gespannte Atmosphäre durchdringt das Besetzerdorf, so, <strong>als</strong> ob es<br />

zwischen technologischen Fortschritt und der Rückbesinnung auf die Urwüchsigkeit, die<br />

Bewahrung der Lebenslust keine Zwischentöne mehr gäbe. - In Minuten-Abständen dröhnen<br />

überm Dorf im Tiefflug Jumbos und Airbusse aus anderen Kontinenten ihrer Landebahn entgegen.<br />

"Wussten Sie, dass Frankfurt menschlich gesehen heute Vorbild ist?" tönte es einst in der<br />

Hauspostille des Oberbürgermeisters Walter Wallmann -einer anheimelnden<br />

Informationsbroschüre mit feinstem "Corporate Design", ein Glanzpapier, das mit 230.000<br />

Exemplaren den Weltstadt-Habitus heraus posaunt. "Nirgendwo in Europa können Sie so gut<br />

Geschäfte machen wie in Frankfurt", empfahlen sich die Rathaus-Herren auf dem englischsprechenden<br />

Markt.<br />

Die zerrissenen, grau belegten Zustände von ehedem, die kaum zufälligen Parallelen mit<br />

den Kloaken von New York, Liverpool und Berlin, dam<strong>als</strong>, <strong>als</strong> Frankfurt in der Beliebtheitsskala<br />

mit Wanne-Eickel konkurrierte - all das scheint ignorant verdrängte Vergangenheit. Der<br />

Schriftsteller Ernst Herhaus (Kapitulation, Aufgang einer Krankheit, 1977) ein Chronist<br />

verflossener Tage, skizzierte "Frankfurt <strong>als</strong> ein Paradies und Canossa des Denkens, eine Symbiose<br />

aus Raubritterei, Schwerstarbeit und skrupelloser Theorie, berühmt durch den Ungehorsam und<br />

seinen Pessimismus, entschlossener <strong>als</strong> je zuvor, dem Rest seiner Zukunft abzutrotzen ...". Und<br />

Herhaus-Kollege Gerhard Zwerenz, der mit dem Rücken zur Stadt lebt, fürchtet, "dass auf die<br />

besinnungslose Ausbautätigkeit der sozialdemokratischen Stadt Frankfurt nun ein Rückschlag<br />

erfolgt, und dieser Rückschlag versucht, alte, überholte Strukturen wieder herzustellen. Wenn das<br />

gelingt, wird es sehr teuer werden, zweitens wird man damit Klassenstrukturen, die mit der<br />

demokratischen Grundordnung nicht übereinstimmen, auch restaurieren müssen. Davon<br />

abgesehen, fürchte ich, dass sich neue Konfliktfelder auftun, von denen die Baumeister des neuen<br />

restaurativen Frankfurts sich noch keine Vorstellung machen".<br />

"Nein, nein", sagt der Oberbürgermeister. "Ach, Sie können Ihren Notizblock einmal<br />

beiseite legen." Eine Stadt, in der die höchsten Umsätze, Gewinne und Steuererträge erwirtschaftet<br />

werden. Eine Stadt, die zur internationalen Drehscheibe für Waren und Güter avancierte. "Nein",<br />

erklärt Wolfram Brück, "die Stadt ist immer Kultur-träger gewesen, die Stadt ist Freiheit, die Stadt<br />

bedeutet Kultur, die Stadt ist westliche Zivilisation und Rationalität. Die Stadt heißt auch<br />

permanenter intellektueller Konflikt. Wer Stadt entwickeln wollte im Sinne von Disneyland, der irrt<br />

sich. Stadtluft macht frei, und hier in Deutschland steht Frankfurt in der allerersten Reihe der<br />

bürgerlichen Städte mit einer Freiheitsgewährung, die draußen auf dem Land nie hätte errungen<br />

werden können."<br />

Harmoniebeseelte Künstlichkeit, verkrampfte Anstrengungen nach neudeutscher<br />

Wohligkeit prägen trotz solcher kalenderreifen Lippenbekenntnisse die Rathaus-Herren und ihre<br />

emsigen Plakat-Schausteller. Schließlich darf sich die Frankfurter Zeil berühmteste und<br />

491


umsatzkräftigste Einkaufsstraße der Republik nennen. Über 80.000 Passanten, mehr <strong>als</strong> eine<br />

Milliarde Umsatz jährlich - und das auf nur 600 Metern. Fast 700 Plantagen wurden auf den Beton<br />

der U-Bahn-Röhren gepflanzt, an ein künstliches Bewässerungssystem angeschlossen. Dazu<br />

Hunderte von Parkbänken aufgestellt, ein paar Brunnen und Pavillons mit surrealen Effekten<br />

hergerichtet: eben ein artifizieller und scheinbar doch richtiger Wald mitten in der Stadt der Türme<br />

und Banken, im Aktionsradius der Manager und Bonzen.<br />

Vordergründig menschelt es auffällig laut in dieser Stadt. Gerade deshalb will sich ihr<br />

Oberbürgermeister künftig noch weitaus augenscheinlicher, weitaus "menschlicher" verausgaben,<br />

keimfrei und klug dazu. Frankfurt sei wieder "in", auch sein Renommee wüchse über die<br />

Stadtgrenzen hinaus, murmelt "Der Spiegel" Gedanken verloren. Das mag sicherlich fürs<br />

bildungsbürgerliche Ambiente und seine aufgemöbelten Großvillen am Museumsufer zutreffen.<br />

"Identifikationsbauten" heißen die umstrittenen Prestige-Projekte in unverkennbarer Amtsdiktion.<br />

Über sechs Milliarden Mark pumpte die Verwaltung über Rücklagen und Kredite in Neubauten<br />

und Stadtsanierung. Allein die alte Oper, dieser restaurierte Musen-Tempel früherer Epochen<br />

verschlang 200 Millionen Mark.<br />

Tatsächlich zerfressen aber unbändige Aggressionen die so herausgeputzte Innenstadt.<br />

Aggressionen der Angst, Aggressionen der gemeinsam erlebten Einsamkeit, der Isolierung,<br />

Aggressionen der Selbstbehauptung, Aggression der Triebe. Alle 23 Sekunden passiert ein<br />

Verbrechen. Jeden dritten Tag beendet ein Frankfurter freiwillig sein Leben. Ob nun Selbstmord<br />

oder Verkehrstod, ob äußere oder innere Aggression, die Grenzen sind fließend, längst nehmen<br />

sich die Zahlen nicht mehr viel.<br />

Immer häufiger wird die Schusswaffe zum unentbehrlichen Wegbegleiter. Schon in der<br />

City gelingen all monatlich zwei Morde. An die 25 Brandanschläge registriert die Feuerwehr in<br />

derselben Zeitspanne. Allein bei Rauschgiftdelikten klettert die Statistik auf 6,7 Fälle täglich.<br />

Gemeinhin teilt die Polizei Rauschgifttote nur noch unter fortlaufender Nummerierung mit. Halb<br />

resigniert, halb ohnmächtig spult sie ein Fahndungssonderprogramm nach dem anderen ab - immer<br />

mit der elegischen Gewissheit, "dass die Szene von uns nicht zu säuber ist", wie der<br />

Polizeipräsident bekennt.<br />

Alle 24 Stunden werden in Frankfurt Frauen Opfer einer Vergewaltigung. Und jeder<br />

Schüler tobt seine Wut im Durchschnitt für 35 Mark an PC-Rechnern oder Projektoren aus.<br />

Immerhin schlagen derlei Demolierungen im Stadthaushalt mit insgesamt 2,4 Millionen Mark zu<br />

Buche. Einmal stündlich, exakt 8.951 Mal im vorigen Jahr, reagieren sich irgendwelche Bürger<br />

irgendwo an Telefonzellen, Mülleimern, Wasserhäuschen oder Autos ab. Dabei handelt es sich nur<br />

um offizielles, meist frisiertes Zahlenmaterial. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher; sie übertrifft<br />

um ein Fünf- bis Zehnfaches die amtlichen Prozentsätze. Dieses Frankfurt steigerte binnen zehn<br />

Jahren seine Kriminalitätsrate um hundert Prozent und dieses Frankfurt steht vor allen anderen<br />

deutschen Großstädten einsam, beinahe unerreichbar an der Spitze. Und das, obwohl seine<br />

Einwohnerzahl nicht im entferntesten an Berlin, Hamburg oder München heranreicht.<br />

Der Zeitgeist quetscht sich in die Polizeiberichte, die in ihrer unnachahmlichen Diktion<br />

zwar keinen Rauschgifttoten, kein Phantombild auslassen. Die Motive jugendlicher Selbstmörder<br />

indes bleiben in der Grauzone. So wird in Frankfurt am Main mit seinem geschmeidigen<br />

Wachstums-Konservatismus die Erosion verwaltet, werden Tote akkurat mitgeschrieben,<br />

Statistiken <strong>als</strong> Selbstzweck angereichert. Frankfurt in diesen Tagen - bedrückende Ereignisse,<br />

Befindlichkeiten in einer durch Aggressionen gekennzeichneten Wirklichkeit.<br />

492


Tatort eins: Dreieichstraße in Sachsenhausen. Mittagszeit. Die 14jährige Anita hat sich<br />

nach Schulschluss auf den Heimweg gemacht. Drei Mädchen, darunter Anitas Freundin Katrin,<br />

lauern ihr entgegen. Katrin ist nämlich empört über Anita. Sie hat angeblich die "Freundespflicht"<br />

verletzt, gar "Geheimnisse" über den Freund Edgar verraten. Deshalb sei nunmehr ein Denkzettel<br />

unumgänglich.<br />

Katrin und Kumpaninnen packen die arglose Anita. Zwei halten sie fest, die Dritte schlägt<br />

hemmungslos zu. Erst mit den Fäusten, dann mit Füssen, schließlich mit einem Stock. Selbst<br />

Anitas Weinen und Bibbern kann nicht verhindern, dass die drei ihr brennende Zigaretten in die<br />

Arme drücken und den Pullover versengen. "Wir verbrennen dir auch noch das Gesicht", soll<br />

Katrin in ihrem ungestillten Zorn der einstigen Freundin angedroht haben. Die fünf Mark, die<br />

Anita bei sich trug, musste sie rausrücken. Eine dreiviertel Stunde dauerte für Anita die Qual auf<br />

der belebten Dreieichstraße zur Mittagszeit. Viele Passanten zogen ihres Weges - keine Reaktion.<br />

Für die erpressten fünf Mark kauften sich Katrin und Helferinnen übrigens eine Packung<br />

Zigaretten.<br />

Schließlich am späten Nachmittag, schnappte die Polizei die jungen Peinigerinnen. Die<br />

Kripo meint: Dieses seien die Resultate der Fernseh-und Videoerziehung. Die Boulevard-<br />

Zeitungen klotzten mit gewohnten Gewalt-Instinkt: Das sind die "Folter-Mädchen". Eine neues<br />

US-Untersuchung besagt: Das amerikanische Durchschnittskind sieht bis zu seinem 15. Lebensjahr<br />

die Totalvernichtung von 21.000 Menschen. Im Unterhaltungsprogramm flimmern alle dreizehn<br />

Minuten realistische Brutalität. im Kinderprogramm hingegen schon alle elf Minuten über die<br />

Mattscheibe.<br />

Tatort zwei: Frankfurt-Sachsenhausen. In einer der typischen Kneipen geht die Post ab.<br />

Aus der Musikbox hämmert Johnny Cash's "The Streets of Laredo". An der Theke hängt der<br />

41jährige Toni. Von Beruf eigentlich Arbeiter. Doch schon seit geraumer Zeit, wie insgesamt<br />

32.000 Frankfurter, ohne Job, ohne Aufgabe, ohne Selbstbestätigung. Toni kippt Biere und Körner<br />

in sich hinein. Irgendwann, so gegen Mitternacht lallt er apathisch: "Ich hab' die Rosi umgebracht."<br />

Mehr bringt er nicht über seine Lippen, da der schwere Seegang ihn schon längst überwältigt hat.<br />

Dieser karge Satz reicht indes für seine Mitsäufer aus, die Polizei zu benachrichtigen. Als<br />

die Beamten in der Wohnung eintreffen, regt sich nichts. Sie müssen die Tür aufbrechen. Im<br />

Schlafzimmer finden die Männer des 8. Reviers die offensichtlich erwürgte Rosi. Daneben schläft<br />

Toni. Er hat zum Alkohol sich auch mit Schlaftabletten vollgepumpt. Über Jahre litt Toni an der<br />

<strong>als</strong> Bedrohung empfundenen Einsamkeit in dieser Stadt. Schneidend wie bedrückend empfand er<br />

sie. Aus diesem Grunde war er ja einen Monat zuvor mit Rosi zusammengezogen. Ein Neubeginn<br />

sozusagen. Doch die inneren Aggressionen, der Alkohol hatte ihn schon schon längst hingerichtet,<br />

bis zur Besinnungslosigkeit mit ihm Fußball gespielt. Aber immer wieder schienen Toni Biere wie<br />

Körner ein probates Mittel, leichtfüßig die nagenden Depressionen mit der ersehnten Euphorie zu<br />

vertauschen. Er suchte eine Nähe, die er nicht kannte, die ihn zudem restlos überforderte. Der<br />

inneren Aggressionen folgte die äußere, dann wieder die innere - zu guter Letzt der Knast.<br />

Des Abends wagt sich die 70jährige Rentnerin Johanna Richter aus dem bürgerlichen<br />

Dornbusch-Viertel ohnehin nicht mehr auf die Straße. Aber sie traut sich wenigstens zur<br />

Mittagszeit auf die Zeil. Dort tätigt die rüstige Dame meist ihre Lebensmitteleinkäufe. Jedenfalls bis<br />

zu besagtem Freitag. Soeben will Johanna Richter zum Fleischerstand gehen, <strong>als</strong> ihr Timo, 16, und<br />

Harald,17, einen Handkantenschlag in Richtung Kniekehle versetzen. Johanna Richter stürzt zu<br />

Boden. Die beiden Jungen entreißen ihr die Tasche. Die Beute 6.000 Mark. Die Inflation in den<br />

zwanziger Jahren, die Geldabwertung nach dem Zweiten Weltkrieg haben Johanna Richter<br />

493


gegenüber den Banken unsäglich misstrauisch gemacht. Tragisch für die betagte Rentnerin, die auf<br />

diese Weise ihr gesamtes Bargeld verlor.<br />

Timo und Harald -das sind Wohlstandskinder unserer Zeit, die der Wohlstand dieser Tage<br />

rigoros ausgeschlossen hat. Sie wuchsen in der Nordweststadt, <strong>als</strong>o in Beton auf. Timo und Harald,<br />

zwei Jugendliche ohne Leerstelle, ohne Job, die ohne Selbstwertgefühl vor sich hinleben. Ihre<br />

Familien leiden unter arger Zerrüttung. Früher prügelte sie der Vater, damit sie nicht prügeln. Dann<br />

schlug sie die Mutter, damit ihnen die Schlägereien ein für allemal vergehen. Heute ist der Vater<br />

arbeitslos und Bierdosentrinker, Mutter laufend schwanger. An Streitereien mangelt es nie - nur am<br />

Geld. So zählen sie zu den 36.000 Sozialhilfeempfängern dieser Stadt, Menschen, die sich ihrer Not<br />

schämen und ihr Dasein an der Armutsschwelle fristen.<br />

Jugendliche, die seit ihrer Kindheit machen konnten, was sie wollten. Sie blieben doch die<br />

begossenen Vorstadt-Köter, eben Straßenkläffer, die keiner hören will und keiner ernst nimmt.<br />

Vom aggressiven Betteln in den U-Bahnschächten ("He Oma, mal ganz schnell fünf Mack rüber,<br />

sonst gibt's eins auf die Nuss") hatten beide genug, wegen der Kleckerbeträge und so. Deshalb<br />

spezialisiert sie sich kurz entschlossen auf die Handtaschen der Omis. Schließlich wollen Timo und<br />

Harald ihre Sehnsüchte nach Freiheit, Autobahn, Disco und Mädchen nicht vermasseln lassen,<br />

nicht nur mit einer lumpigen Mark dastehen, um aberm<strong>als</strong> eine weitere Abfuhr zu riskieren. In<br />

Zahlen: Insgesamt zwei Drittel aller Raubüberfälle auf deutschen Straßen gehen auf die Gruppe der<br />

16 bis 25jährigen.<br />

Tatort drei: gutbürgerliches Milieu, Kneipen-Milieu im Westend zu Frankfurt am Main.<br />

Hier rekeln sich nach Dienstschluss die Herren des Imponiergehabes, der Rücksichtslosigkeit, die<br />

Männerwelt der Schwänze, umgarnt von Flanell nebst Yves Saint Laurent Rive Gauche. Wer hier<br />

<strong>als</strong> Marketing-Manager etwas verkaufen , Umsatz machen will - der muss sich Geltung verschaffen.<br />

Und Geltung kommt in dieser Gesellschaft nun einmal von der potenziellen Möglichkeit einer<br />

Vergeltung.<br />

An einem der hinteren Tische mit trügerischem Kerzenlicht hocken Bernhard, Eddy und<br />

Werner. Allesamt sind sie schon etwas älteren Kalibers, Profis genannt. Der Arbeitstag ist längst<br />

passé, dennoch können sie von ihm nicht lassen. Ihr Bordmittel in den Jobs zu überleben, das heißt<br />

noch und nöcher Geldscheine zu ziehen, bedeutet aggressive Selbstbehauptung - und das Tag für<br />

Tag. Die spärlichen Stunden des Abends gelten sozusagen der seelischen Nachbereitung der <strong>als</strong><br />

völlig normal empfundenen Gewaltprotzerei. Vielleicht eint die Drei auch eine Art Hass-Liebe. Sie<br />

konkurrieren heftig miteinander, können aber nicht ohne den anderen. Sonst breitete sich ja eine<br />

gefährliche Stille aus. Das bindet sie, das treibt Bernhard, Eddy und Werner in ihren stärkenden<br />

Männerbund.<br />

Bernhard hat vor zwei Wochen eine neue Sekretärin angeheuert, "ne frische", wie er<br />

glaubt. "Bald werde ich sie über den Tisch ziehen. Hab ihr ja schon bei der Einstellung gesagt,<br />

3.500 brutto und einen Bums inklusive." Eddy will am nächsten Morgen seinem Texter "eins<br />

kräftig zwischen die Augen geben. You know, der Mann ist unfähig, der hat das Schreiben mit den<br />

Füssen gelernt, you know". Und Werner würde solche Pfeifen am liebsten sofort die Gehälter<br />

kürzen. Statt dessen "decke ich die jetzt so mit Arbeit ein, dass die auch am Wochenende ihre<br />

faulen Ärsche nicht pflanzen können. Wir sind doch keine Weichspüler, Mensch noch mal".<br />

Aber nun reicht ja der Gesprächsstoff über die allgegenwärtige Agentur kaum für eine<br />

ganze Nacht. Und außerdem wollen die drei sich hin und wieder über weniger brisante Themen<br />

streiten dürfen. Ihr zündender Funke ist dieses Mal die stramme Uniform. Eddy kämpfte für die<br />

494


US-Armee schon in Korea."Die Jungs waren einfach nicht hart genug." Bernhard steht auf den<br />

israelischen Geheimdienst: "Hoch-intelligent, stählerne Nerven." Der etwas jüngere Werner<br />

schwärmt von Mogadischu von der GSG9Elitetruppe des Bundesgrenzschutzes: "Eine<br />

Präzisionsarbeit par excellence". Derlei Heroensprüche regen Hermann sichtlich an. Er hütet schon<br />

seit etwa zwei Stunden einsam die Aperitif-Bar. Mit der Bemerkung, dass er Kampfflieger der<br />

Bundesluftwaffe gewesen sei, bringt sich der kurz geschorene Hermann in die trinkfeste Runde ein.<br />

Hermann bedeutet, dies könne jeder Kenner schon daran sehen, "weil ich niem<strong>als</strong> mit den<br />

Wimpern zucke und dem Feind zuallererst in die Augen schaue." Die Uhr zeigt auf eins. Die<br />

erfolgreichen Herren wollen aufbrechen, aber noch hören sie sich einen Halbsatz von diesem<br />

Hermann neugierig an, nämlich den, "dass ich auch ein Killer war". Ein ganz gewöhnlicher Abend<br />

in einer Kneipe im Westend zu Frankfurt am Main.<br />

Frankfurt-Ginnheim, die beschauliche Idylle der Kleingärtner. Gartenzwerge, eingelassene<br />

Springbrunnen, Radieschen, Tulpen und Äppelwoi. Hier hat auch der 41jährige Bahner Heinz<br />

Schröder sein eingezäuntes Refugium. Hier will er vom Alltag abschalten, im ärmellosen<br />

Unterhemd Holzhacken, Laube streichen, Beete ziehen. Hier bei Schröder dominiert aber ebenfalls<br />

die deutsche Gründlichkeit, die deutsche Ordnung, die deutschen Vorurteile, die deutsche Raserei.<br />

An diesem Sonntag erdreisten sich zwei Türken mit ihrer kleinen Tochter zu einem<br />

Spaziergang in der Nähe des Kleingarten-Vereins. Und statt des Feldweges erlauben sie sich gar,<br />

quer über den Acker zu laufen, der an Schröders beäugten Refugium angrenzt. So etwas mag<br />

Bahner Heinz Schröder nun gar nicht. Ganz nach dem Motto, im Hauptbahnhof so viele Türken<br />

und jetzt noch hier auf dem Acker. Zunächst schreit er nur: "Ihr Türken-Säue, runter vom Acker!"<br />

Als der eine daraufhin den Kopf schüttelt, der andere bloß lacht, holt Schröder ein etwa zwei Meter<br />

langes Kantholz, rennt hinter den nunmehr flüchtenden Türken her und drischt unentwegt auf sie<br />

ein.<br />

Derweil holt Anneliese Romberger, die die Auseinandersetzung beobachtet hatte, von der<br />

Nachbar-Parzelle Verstärkung. Frau Romberger befürchtet nämlich, "der Herr Schröder kann das<br />

gegen die Kanaken nicht allein durchstehen". Stets hilfsbereit, wenn es sich um solche Fälle dreht,<br />

rennt der 47jährige Siegfried Osten los, macht flugs den Konflikt zu seiner ureigensten<br />

Angelegenheit. Nach circa siebzig Metern springt er den einen Türken direkt an. Der wiederum<br />

wehrt sich jetzt mit seinem Taschenmesser, stößt Siegfried Osten in den Bauch. Alltag in Frankfurt<br />

am Main.<br />

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht solche oder ähnliche Vorfälle notiert werden. Längst<br />

hat sich die Mehrheit auch an die Street Gangs "Ducky Boys" und "Atomic Duke Kamerun", an<br />

Rauschgift, Waffenhandel , Zuhälterei gewöhnt. Von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis<br />

genommen, von verantwortlichen Institutionen geflissentlich heruntergespielt, steht dieses schöne<br />

CDU-Frankfurt vor einer neuen Dimension der Brutalisierung. Statistiken waren selten ein<br />

zuverlässiger Gradmesser, den qualitativen, unterschwelligen Wandel zu erfassen. Den Wandel der<br />

Werte und Normen, die irreparable Zerklüftung in eine Oben- Unten-Gesellschaft.<br />

Dieses Frankfurt - das ist ein hoffnungsloser Fall. Die alten Leute haben sich in den<br />

unwirtlichen Wohngettos versteckt, schlucken nicht selten ihre Todesangst in seelenlosen<br />

Altenheimen mit Aufmunterungsliedern wie "Gloria, Viktoria, Schnaps ist gut gegen Cholera"<br />

herunter. Sie wollen einfach nicht ins Stadtbild aus Profit, angestrengte Nettigkeit und hastiger<br />

Superlative passen. Anneliese Müller-Alt, eine 93jährige Dame, lebte 42 Jahre im selben Haus. Zwei<br />

neue Eigentümer verboten ihr über zwei Jahre, Wäsche zu waschen, Besucher zu empfangen. Sie<br />

rissen Leitungen heraus, sperrten der betagten Frau den Zugang zur Speisekammer. Dann hatten<br />

495


sie Anneliese Müller-Alt endlich in eines der Altenheime verfrachtet, in denen bekanntlich "eine<br />

erfüllte und mitgestaltete Lebensphase beginnt", und konnten endlich mit riesigen Profitmarge die<br />

Miet- in Eigentumswohnungen umwandeln. Die alte Dame lebte, vegetierte weiter, Tag für Tag mit<br />

einer Dosis Psychopharmaka – Ruhe auf Rezept.<br />

In kürzester Zeit sollen nunmehr auch noch die 3.000 Nutten vertrieben werden, Bordellund<br />

Pornobetriebe will die Konservativen dieser Stadt zurückerobern, ein gutbürgerlicher Wohnund<br />

Geschäftsbezirk soll dort entstehen. Das Bahnhofsviertel ist das letzte bizarre Relikt aus<br />

Frankfurts wilder Zeit - eben eine Bannmeile, innerhalb der sich die Extremen hautnah berühren:<br />

Puffs und Bürgertum, Religion und Kommerz, Deutsche und Exoten, Arme und Reiche, Gläubige<br />

und Ungläubige. Hier gibt es Massagesalons neben Asylantenheimen. Aussteiger residieren im<br />

selben Haus wie die Wohngemeinschaft der Callgirls. Pelzeinkäufer nisten neben den berüchtigten<br />

Umschlagplätzen für Heroin. Hier finden sich Moscheen in Hinterhäusern, indische Tempel in<br />

Garagen und Koranschulen neben dem sogenannten Badehaus mit Sauna-Service - und das alles<br />

auf engstem Raum. Das Bahnhofsviertel ist ein verwegener, widersprüchlicher Bezirk. Vielleicht<br />

überhaupt das kunterbunteste, irrste Stadtviertel Deutschlands -jedenfalls eine ungemeine<br />

Provokation für Stadtplaner feinsäuberlicher Verhältnisse.<br />

Wohin mit den Prostituierten, wohin mit den Ausländern, die im Bahnhofsviertel siebzig<br />

Prozent der Bevölkerung ausmachen? Keiner weiß es genau, keiner will es genau wissen. Vielleicht<br />

ins unbehauste Gewerbegebiet am Osthafen, vielleicht an den Gleiskörper der Deutschen<br />

Bundesbahn, vielleicht nach Offenbach oder Hanau, Großgerau oder Dreieich. Achselzucken.<br />

Spätestens in zwei Jahren soll "das Herzstück der Stadt" puff-frei sein. Dann bliebe schließlich<br />

noch genügend Zeit, "in eindrucksvoller Weise die Organisationskraft der Stadt zu beweisen" und<br />

sich für die Olympischen Spiele im Jahre 2004 zu bewerben. Jedenfalls sind dafür bereits 250.000<br />

Mark veranschlagt worden. "Frankfurt am Main - das ist ein hoffnungsloser Fall ... ... Den<br />

Frankfurtern ist nicht mehr zu helfen, allenfalls kann man Mitleid haben mit den Bewohnern einer<br />

so armseligen, vom Reichtum zerstörten Stadt", bemerkte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung"<br />

schon vor mehr <strong>als</strong> einem Jahrzehnt.<br />

496


1988<br />

Saufgelage in Ossis Bundeshaus-Bar in Bonn<br />

497


POLITIKER-KLASSE UNTER SICH - SAUF-GELAGE IN<br />

OSSIS-BAR ZU BONN<br />

Die Bundeshaus- Bar <strong>als</strong> Wohnzimmer-Ersatz und mit der Whisky-Flasche<br />

"verheiratet": FDP-MdB Detlef Kleinert (1969-1998)<br />

Als Mätresse von Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974) Jahre später auf sich<br />

aufmerksam gemacht: Heligine Boelesch-Ihlefeld<br />

"Deutschland ist das einzige Land, wo Mangel an politischer Befähigung den<br />

Weg zu den höchsten Ehrenämtern sichert." (Carl von Ossietzky in "Die Weltbühne" )<br />

Nahezu 4,3 Millionen Menschen sind alkoholabhängig. Nahezu 40.000<br />

Suchtkranke begleitet die Flasche in den Tod; Männer wie Frauen; Jahr für Jahr.<br />

"Wahlen verändern nichts, sonst wären sie verboten" (Graffito in einem Bonner<br />

Fußgängertunnel)<br />

PFLASTERSTRAND, Frankfurt a/M WIENER, München 1. September 1988<br />

Gelallt haben die Herren Politiker nicht nur einmal an Oswaldos Theke. So heißt der<br />

44jährige italienische Barkeeper des Bundeshauses, den die Abgeordneten kurz "Ossi" rufen. Zur<br />

informellen, "zweckungebundenen Kontaktaufnahme" soll dieses Refugium mit seinen 60<br />

Quadratmetern und 87 Cordsamtpolstern dienen. Nur zu verständlich, dass der<br />

Bundestagspräsident ein Fotografierverbot anordnete, dass das Tageslicht aus dem angrenzenden<br />

Restaurant dieser "Moon-light-Atmosphäre" aus VIP-Lounge und Nacht-Klub im diskreten<br />

Halbdunkel nichts anhaben kann, dass hier fast jede "MdB-Entjungferung" gebührend begossen<br />

wird - vor der Mittagspause.<br />

Als "entjungfert" gilt ein Bonner Politiker, wenn er im Plenum der verwaisten Stühle seine<br />

erste Rede ablesen darf; das passiert meistens morgens zwischen 9 und 11 Uhr. Dort mufft es noch<br />

kalt und unnachahmlich nach Bohnerwachs samt Linoleum wie einst in den Bahnhofswartesälen<br />

der Adenauer-Jahre - und dieses Bundeshaus ist der größte Verladebahnhof dieser Republik.<br />

Dafür vermittelt Ossis Bar jene behagliche Nestwärme, die schon am Morgen den<br />

anstehenden Tag vergessen lässt. Während die Newcomer ihre für den Wahlkreis gedachten<br />

Turnübungen im Parlament vorführen, kippt derweil vornehmlich die eingesessene liberale<br />

Bügelfalten-Kundschaft ihren gewohnten Pegel für den 16stündigen Arbeitsmythos in sich hinein.<br />

Jägermeister, Fernet Branca, Bier, Steinhäger; hin und wieder ein Quarkbrot, um die Leber zu<br />

entlasten. Dort gibt der in Hannover mit dem Alkohol verheiratete Detlef Kleinert die allseits<br />

akzeptierte Weisheit von sich: "Wenn man drin ist, dann kann man rausgucken" - <strong>als</strong><br />

Morgenandacht sozusagen. Da hockt er am Telefon und gibt die ersten wichtigen Anweisungen<br />

seiner Sekretärin durch, um sogleich wieder zum Tagungsordnungspunkt "Früh-Witzchen"<br />

zurückzukommen. Kleinert hat seine Hand noch am Hörer und posaunt voller Lebensfreude in die<br />

verkaterte Runde, "die eine Hand am Telefon, die andere am Kitzler, das ist der deutsche Arbeiterund<br />

Bauernsohn Karl-Eduard von Schnitzler".<br />

Aber richtig zur Sache kommen die Volksvertreter und Pressekollegen mit ihren<br />

Assistentinnen wie den Journalisten-Damen erst am späten Nachmittag, wenn im Raumschiff-<br />

498


Bonn die gemeinsam erlebte Einsamkeit droht, wenn innere Spannungen wie äußerliche<br />

Gewichtigkeit ihren Seelenausgleich benötigen.<br />

Dann breitet sich unter Ossis Klientel das intensive Gefühl aus, <strong>als</strong> seien sie alle in einem<br />

kleinen Verlies unter der Erde. Allenfalls eine namentliche Abstimmung im Plenum oder kurzfristig<br />

anberaumte Fraktionssitzungen könnten die ehrenwerte Ossi-Gesellschaft wieder an die<br />

Erdoberfläche spülen.<br />

Klaus Altmann (*1933+2001), FDP-Korrespondent im Bonner Studio des Westdeutschen<br />

Rundfunks, schluckt seinen Rosé wie Mineralwasser und lamentiert zum wiederholten Male über<br />

die Kanzlerschaft Willy Brandts, seinen Wahlkampf-Sonderzug, der es ihm besonders angetan hat,<br />

und natürlich über "Willys nächtliche Damen-Besuche irgendwo bei Osnabrück auf dem<br />

Abstellgleis da". Nach dem sechsten Glas drängt Altmann zur Toilette. Auf dem Weg dorthin trifft<br />

er auf eine Besuchergruppe aus Oberhausen. Sie sucht offenkundig Bonn, das Bonn der<br />

Fernsehlegenden. Aber wo ist dieses Bundes-Bonn jetzt, hier inmitten des Bundeshauses? Rosé-<br />

Altmann blickt in ratlose Gesichter. Menschen, die nicht im leisesten ahnen können, dass ihnen ein<br />

Teil der Bonner Wirklichkeit mit glasigen Augen gegenübersteht - ein vom Alkohol gekrümmter<br />

Mattscheiben-Mann, der überdies mit seinem eckigen Gang größte Mühe hat, bei Ossi wieder sein<br />

Plätzchen einzunehmen.<br />

Auch ich trinke mein fünftes großes Bier und mische mich in Altmanns Tiraden ein:<br />

"Aber Herr Altmann, das wissen wir hier schon alle zu genau. Was wir nicht kennen, ist die<br />

Geschichte, wie Sie tagsüber im Abgeordnetenbüro des Herrn Dr. Menne (*1904+1993) mit seiner<br />

Sekretärin unterm Schreibtisch in flagranti von ihm erwischt worden sind. Das hat er mir<br />

zumindest so erzählt, seine Sekretärin musste schließlich ihre Sachen packen, bekam die<br />

Kündigung." Altmann: "Herr Kollege", wenn Sie noch solch einen Scherz vom Stapel lassen, habe<br />

ich allen Grund, mir gleich eine ganze Flasche von diesem Zeug zu bestellen, nicht wahr Ossi ?" -<br />

"Selbstverständlich Herr Altmann, es ist ja noch früh am Abend."<br />

Am Tresen plauscht derweil der Mainzer FDP-Staatssekretär Professor Rumpf in eitler<br />

Koketterie mit Bonns Klatsch-Kolumnistin Almut Hauenschild. Dabei reißt Frau Hauenschild ,<br />

wie sie sich sibyllinisch entschuldigt, hier nur ihre "Schicht" ab. Früher, <strong>als</strong> sie noch in München<br />

klatschte, spürte sie die Haute-Volée im Bayerischen Hof auf; <strong>als</strong> Arbeitskollegen vom Reporter-<br />

Kollegen "Baby Schimmerlos" im Milieu der Schickeria sozusagen. Heute menschelt Frau<br />

Hauenschild mit den Wohlbeleibten aus Politik und Wirtschaft, um ihren Bonner Bauchladen <strong>als</strong><br />

freie Journalistin bedienen zu können. Jedenfalls ist ihr die Schlagzeile des kommenden Tages<br />

schon gewiss: "Wo Detlef Kleinert zum Schiffversenken ruft."<br />

Eine ihrer Vorgängerinnen wurde zu Beginn der siebziger Jahre auch plötzlich ganz<br />

unvermittelt gerufen - aus dem Bundeskanzleramt im Palais Schaumburg des Willy Brandt.<br />

Gleichsam füllte Heli Ihlefeld-Bolesch Münchens Druckspalten mit vielerlei Nippes exklusiv aus<br />

dem Zentrum der Macht. War sie unter anderem nach eigenen öffentlichen Bekundungen in erster<br />

Linie doch die "Geliebte von Willy Brandt"; in erster Linie deshalb, weil da noch so mancher<br />

Minister oder auch mal ein Staatssekretär über ihre Bettkante hüpfen durften. Nur über Bars,<br />

ausgerechnet diese vermieften Bars, Hotelbetten oder gar Liegesitze in Staatskarossen - da konnte<br />

Heli sanft und introvertiert lächeln, "irgendwie fürs Fußvolk - genau wie Ossis abgestumpfte<br />

Tresen-Romantik", beschied sie und flüsterte in den Telefonhörer im Keller-Büro in der<br />

Dahlmannstraße. "Bin schon auf dem Weg." Irgendwie schon naheliegend und auch folgerichtig<br />

hat Frau Ihlefeld drei Jahrzehnte später von ihren Bonner Jahren Sittsames aus dem Nähkästchen<br />

geplaudert. Mitteilungsdrang. "Auf Augenhöhe" mit den Männern der Macht nannte sie ihre in<br />

499


Buchdeckel gepackten Spickzettel verblasster Zyklen. Wenn es nur bei der Augenhöhe geblieben<br />

wäre - sie hätte sich mit ihrem Mätressen-Mythos, aber auch ihrer Familie daheim einen großen<br />

Gefallen getan.<br />

Unterdessen steht an Ossis Bundeshaus-Bar Kleinerts Freund Helmut Herles von der<br />

"Frankfurter Allgemeinen Zeitung" neben seinem Matador. Auch Herles zählt zum Schnaps-<br />

Klüngel, er wirkt auf mich, <strong>als</strong> verführe er nach dem Motto: Ich kriege die Gerüchte, und du<br />

bekommst bei nächster Gelegenheit in die FAZ.<br />

Herles, einst Berichterstatter beim Vatikan, klagt Kleinert sein Leid über den immensen<br />

Druck der Frankfurter Zentralredaktion, dass da die schreiberische Konkurrenz groß sei, dass er<br />

eben nicht alles so durchbekomme, wie sie es sich hier in der Bundeshaus-Bar so ausmalen. Nur<br />

fehlt dem baumlangen Kleinert nach diesem strapaziösen Arbeitstag zwischen Theke und<br />

Ausschusssitzungen einfach der Nerv. Er will "anständige Berichte" sehen und sonst gar nichts.<br />

Herles antwortet seinem Kleinert, dass er ja oft über "menschliche Situationen" schreibe,<br />

damit diese von den großen Ereignissen hier in Bonn nicht zugeschüttet werden. Dass seine<br />

Politiker etwas mit der Macht zu tun haben, das erwähnte er häufig gar nicht mehr. Er, Herles,<br />

habe sich längst darauf verständigt, die kleine, oft mickrige Welt auf die große Bonner Bühne zu<br />

zimmern, wie ja schon Walter Boehlich (*1921+2006) über ihn in der Satire-Zeitschrift "Titanic"<br />

zu Recht geschrieben habe. Ja, ja, die kleine Welt <strong>als</strong> große Bühne." ... ... gespielt werden auf ihr vor<br />

allem Stücke, die niemanden, und schon gar nicht der staatstragenden FAZ, weh tun: Komödien<br />

und wenn es hoch kommt, allenfalls Provinzpossen, beileibe keine Stücke von Mord und Gewalt<br />

und Verschwörung, keine Eifersuchtsdramen, keine Tragödien."<br />

"Herr Herles", hat einmal ein Frankfurter Kollege zu ihm gesagt, "Sie sind doch ein<br />

Insider, Sie kennen Bonn doch wie ich meine Westentasche, Sie schreiben doch immer so hübsche<br />

Geschichten über die Bonner Zustände - und dabei sind Sie äußerst vorsichtig bedacht mit Ihren<br />

Formulierungen aus hätte und wäre, würde und könnte ...".<br />

Folglich widmet Kleinert seinen siebten Trinkspruch dem Nachrichtenmagazin "Spiegel",<br />

dessen Artikel ihn schon so manches Mal in Weißglut versetzten, die er <strong>als</strong> unflätig abtut. "Prost,<br />

Prost meine Herren, wer liest heutzutage noch den 'Spiegel', nicht einmal mehr Agnes Miegel."<br />

Trinkspruch Nummer acht: "Nun lasst uns noch einen verlöten, vielleicht gehen wir morgen schon<br />

flöten." Trinkspruch Nummer neun: "Ach, wie schon ist die Lütje Lage, sie rinnt so munter den<br />

Schlund herunter."<br />

Bemerkenswert dieses Trink-Szenario, dachte ich, und das manchmal auch schon zur<br />

Mittagszeit, während im Plenum die Gemüter sich in künstlicher Aufgeregtheit langweilen. Gerade<br />

jene FDP-Politiker-Klasse, die in der Öffentlichkeit gerne von der "leistungsorientierten<br />

Wohlstandselite" spricht, ähnelt in Ossis Bundeshaus-Bar einem Vertreter-Kegelverein aus einer xbeliebigen<br />

Vorstadt.<br />

Den 55jährige Rechtsanwalt Detlef Kleinert kenne ich schon seit fast zwanzig Jahren.<br />

Dam<strong>als</strong>, auf einer FDP-Wahlveranstaltung in Hannover, erlebte ich ihn zum letzten Mal. Es war<br />

eine gut besuchte Versammlung, in der die Liberalen ihre Klientel für die neue Ostpolitik der<br />

Regierung Brandt/Scheel gewinnen wollten. Neugierig waren die Leute, diskutieren wollten sie.<br />

Zumindest solange, bis Kleinert sich <strong>als</strong> Hauptreferent - direkt aus Bonn mit Verspätung kommend<br />

- auf den Weg machte.<br />

500


Schwankend erklomm er das Podium. An die zwanzig Minuten redete er, "Witzchen"<br />

reißend, wahllos aus dem Stehgreif über sein Bonner Erlebnismilieu daher - allerdings darauf<br />

achtend, dass der Nachschub seiner Bier-Korn-Gedecke nicht versiegte. Mir blieb <strong>als</strong> lernwilligem<br />

jungem Mann ein Kleinert-Standard-Satz im Gedächtnis haften: "Liebe Freunde", verkündete er,<br />

"eines ist doch so klar wie der Korn. So oder so, ohne die FDP läuft gar nichts, ja gar nichts in<br />

diesem Land. Mit gutem Grund hat mich der Genscher gerade gefragt, ob ich nicht bei ihm<br />

Staatssekretär werden wollte."<br />

Statt dessen lenkt Kleinert insgeheim sein Augenmerk darauf, wo und wie er ohne viel<br />

Arbeitsaufwand abkassieren kann. Ob nun im niedersächsischen Kasino-Krimi tatsächlich<br />

Roulette-Millionen in die Parteikassen geflossen sind - das werden wohl erst in mühseligen<br />

Verhandlungen die Gerichte klären können. Unstrittig hingegen ist, dass der FDP-Politiker<br />

Kleinert an der Spielbank Bad Bentheim/Bad Zwischenahn eine Unterbeteiligung hält, die ihm<br />

rund zehn Prozent der Kasino-Erträge einbringt. Es sei schließlich "nicht ehrenrührig", sich an<br />

einem Unternehmen zu beteiligen, meinte Kleinert lapidar. Dam<strong>als</strong> wiederholte Kleinert die ihm<br />

offenkundig bedeutungsvolle Genscher-Offerte gleich mehrere Male. Jedenfalls solange, bis das<br />

Publikum grölte und lachte. Nur eine ältere Frau, die am Rande des Sa<strong>als</strong> mir gegenübersaß,<br />

murmelte vor sich hin: "Mein Gott, was ist aus ihm geworden." Als die Dame sichtlich bedrückt<br />

frühzeitig ging und sich kopfnickend von mir verabschiedete, wusste ich noch nicht, dass es<br />

Kleinerts Mutter war.<br />

Gewiss, Detlef Kleinert ist kein Einzelfall in der alkoholisierten Bonner Operetten-<br />

Republik. Aber für ihn ist der Alkoholkonsum nun einmal kein Feierabend-Vergnügen. Deshalb ist<br />

er auch nicht nur Volksvertreter. Tatsächlich zählt er längst zu den Schnaps-Lobbyisten im Bonner<br />

Parlament. Sie repräsentieren immerhin nahezu vier Millionen Menschen. Folglich kann in Ossis<br />

Bar sich alles nur um eines drehen - um Suff und Klatsch, Klatsch und Suff. Und dabei bleibt es<br />

einerlei, ob sich seine Kunden nun Politiker oder Journalisten nennen. "Ich kenne selbst begabte<br />

Kollegen", schrieb Leo Brawand, ehemalige Chef des Hamburger manager magazins, "die sich bis<br />

in die Psychiatrie getrunken haben."<br />

Doch scheinbare Ausnahmesituationen gestatten derlei Grenzüberschreitungen. Und<br />

Ossis Bar im Bundeshaus zu Bonn ist eine solche.<br />

In der hintersten Bar-Ecke hat sich Hans-Jürgen Wischnewski (*1922 +2005) gemütlich<br />

eingerichtet. Sein unverkennbar schwerer Seegang erlaubt es ihm nicht mehr, vorne an der Theke<br />

den Whisky zu kippen. Sichtlich angeödet schaut Helmut Schmidts früherer Staatsminister im<br />

Kanzleramt und SPD-Schatzmeister drein. "Alles weg, Referent weg, Auto weg, Fahrer weg",<br />

stammelt er vor sich hin. Langsam sackt Ben Wisch unter den Tisch.<br />

Unverhofft, gleichwohl mit Gegröle willkommen geheißen, schaut auch noch Möllemann<br />

(*1945+2003) für einen "kurzen Drink" vorbei. Schnell die Situation erkennend, kann<br />

selbstverständlich auch er einen seiner Lieblingsjokes zum besten geben. Möllemann im<br />

Originalton: "Genscher und Möllemann fliegen mit der Bundesluftwaffe zum Staatsbesuch nach<br />

Gabun. Kurz vor der Landung in Libreville sagt Genscher zu Möllemann: ' Bitte stellen Sie sich<br />

darauf ein, hier ist nicht nur ein Affe Präsident, der heißt auch noch so, nämlich Bongo.' "<br />

Aber es ist nicht so, dass Möllemann an Ossis Bar nur von exotisch fernen Kontinenten<br />

zu berichten weiß. Auch sein zwar vertraut-loyales Verhältnis zum besagten Genscher sei<br />

keineswegs spannungsfrei, "Herr Kollege Wolfgramm, das können Sie mir ruhig abnehmen, wenn<br />

ich Ihnen das mit einem Beispiel verdeutlichen darf."<br />

501


Erst kürzlich habe Genscher angerufen und ihn tatsächlich gefragt, ob er denn betrunken<br />

aus der Bundeshaus-Bar gekommen sei. "Nein , Herr Genscher, wirklich nicht, das können Sie mir<br />

ruhig glauben". hatte Möllemann geantwortet. Der Sachverhalt sei dieses Mal ganz, ja völlig anders.<br />

Er lasse sich gerade die Zähne schleifen und bekomme beim Zahnarzt laufend Spritzen. Deshalb<br />

könne er dann kaum sprechen. Darauf habe Genscher wirklich geantwortet: "Dann lassen Sie sich<br />

jeden Tag eine Spritze geben, solange ich im Urlaub bin."<br />

Sigmund Freud hätte an diesem frischen Möllemann mit seinen fortwährenden Genscher-<br />

Geschichten seine wahre Freude gehabt, <strong>als</strong> er bemerkte: "Wir wissen, es besteht bei der Masse der<br />

Menschen ein starkes Bedürfnis nach Autorität, die man bewundern kann, der man sich beugt, von<br />

der man beherrscht, eventuell sogar misshandelt wird ...". Auf sich bezogen brachte Möllemann das<br />

einmal auf die einfältige wie zutreffende Formel: "In Bonn regieren Zuckerbrot und Peitsche."<br />

Wie im Staatstheater haben sich die Kleinerts, Mölle-, Gatter- und Bangemänner an den<br />

Bar-Wänden mit ihren Fotos im Postkartenformat verewigt, <strong>als</strong> gelte es, beizeiten für ihr<br />

womöglich vorzeitiges Ableben Vorsorge zu treffen, sich ein sentimentales Denkmal zu setzen:<br />

"Für Ossis Gäste, stets das Beste", kritzelte Möllemann in großen Lettern unter sein Konterfei.<br />

502


1989<br />

Propaganda-Minister oder der häßliche Deutsche<br />

Politik-Darsteller verborgener Sehnsüchte<br />

503


DER PROPAGANDA-MINISTER ODER DER HÄSSLICHE<br />

DEUTSCHE<br />

Die stählerne Karriere des Wolf Feller oder wie sich das CSU-Parteibuch beim<br />

Bayerischen Rundfunk (BR)auszahlt . Über dreißig Jahre hat Wolf Feller dort verbracht. Er<br />

gab sich immer so, <strong>als</strong> sei er dort aufgewachsen. "Das Fernsehen ist zum Teil kaputt<br />

gemacht worden durch die Fellers und Lojewskis", urteilte der damalige ZDF-<br />

Chefredakteur Klaus Bresser.<br />

Männer Vogue, München 1. Dezember 1989<br />

Wäre Hörigkeit ein Begriff für gesellschaftliche Anerkennung, hätte ihn Wolf Feller,<br />

Programmdirektor des Bayerischen Rundfunks, längst für sich reklamiert. Ohnehin lässt der CSU-<br />

Sheriff, der sich auf dem Bildschirm gelegentlich wie Jerry Lewis ausnimmt, keine Milchkanne am<br />

Wegrand stehen, um sich <strong>als</strong> allwissender Fernsehmacher zu verkaufen - Feller <strong>als</strong> "Vitalo", Feller<br />

<strong>als</strong> "kampferprobter Durchblicker" oder Feller, <strong>als</strong> einer, der weiß, wo "der Braten liegt".<br />

Verständlich, dass für den 59jährigen Parteisoldaten der BR "der liber<strong>als</strong>te Sender der<br />

Bundesrepublik" ist. Um Lippenbekenntnisse war er nie verlegen: "Ich bin stolz darauf, im<br />

Gegensatz zu so vielen anderen in meiner Branche keine opportunistischen Metamorphosen<br />

durchgemacht zu haben." Dabei reicht <strong>als</strong> Strafandrohung der CSU-Zensoren schon wohldosierter<br />

Liebesentzug, um ihren Wolf auf Parteilinie samt Sprachregelung einzuschwören. Manchmal, so<br />

wissen Kenner der "bayerischen Verhältnisse" zu berichten, werde von der CSU-Parteizentrale<br />

direkt bei Feller angeklingelt und ein gesondertes Fernsehteam zur Entgegennahme eines<br />

"parteiamtlichen Statements mit Kommentar" bestellt. Dann mault Feller zwar zuweilen - "mich<br />

laust der Affe"-, aber auf "Direktiven der Partei- und Staatsspitze reagiert er, so der "Spiegel", "wie<br />

ein Pferd auf die Sporen".<br />

Über dreißig Jahre hat Feller bislang beim BR verbracht. Er gibt sich in seinem Büro so,<br />

<strong>als</strong> sei er dort aufgewachsen. "Ich habe in diesem Klangkörper angefangen <strong>als</strong> Tutti-Geiger, war<br />

dann Solist und schließlich Dirigent. Vom Fahrer bis zum Hauptabteilungsleiter kenne ich alle."<br />

Der journalistische Werdegang dieses Mannes gerinnt zum klassischen Beleg scheinbarer Potenz,<br />

die in immer neuen Hörigkeiten, in auswegloser Selbstverleugnung mündet. Beharrlich managt er<br />

ein Vierecksverhältnis - seinen Lebensinhalt: Propaganda, Taktik, Strategie, Macht. Ein typisches<br />

Beispiel lieferte die Bundestagswahl 1987, <strong>als</strong> es "dem übereifrigen Wolf" (CSU-Parteijargon)<br />

vorbehalten blieb, den angetrunkenen Franz Josef Strauß vor die Kamera zu locken. Feller: "Herr<br />

Ministerpräsident, die Frage, ob Sie nach Bonn gehen, weiß ich ohnehin, dass Sie bejahen werde.<br />

Sie werden nämlich nach Bonn fliegen und die Koalitionsverhandlungen führen. Die andere Frage<br />

erspar' ich mir, denn zuerst werden Sachprobleme gelöst und dann erst Personalprobleme." Strauß:<br />

"Richtig, Richtig !" Feller: "Vielen Dank, Herr Ministerpräsident!"<br />

Fellers Haut verschorfte rapide, "um schmerzfrei Salzsäure" aushalten zu können. "Non<br />

mi frega niente" - das juckt mich nicht - gehört zu seinen Standardfloskeln im Sender. Rom hat auf<br />

ihn spürbar Eindruck gemacht, zumal er seine italienischen Sprachkenntnisse derart zu verfeinern<br />

verstand, dass er nun eine Pizza selber bestellen kann. Bekanntlich übte sich Feller Anfang der<br />

achtziger Jahre <strong>als</strong> Italien-Korrespondent der ARD. Dam<strong>als</strong> residierte er im Palazzo Torlonia und<br />

scharte römische Prominenz um seinen mit Delikatessen beladenen Tisch.<br />

504


"Selbstsüchtig, eitel und unkollegial", ist das Kollegenurteil über ihn. So pflastern Leichen<br />

seinen Weg. Bekanntestes Opfer wurde die Journalistin Franca Magnani (*1925+1996), die er<br />

durch tägliche Sticheleien (zu Neudeutsch: Mobbing) dazu brachte, das Handtuch zu schmeißen.<br />

Feller stolz: "Die durfte Däumchen drehen und viel Zeitung lesen." Einst zählten die Magnani-<br />

Reportagen zu den ARD-Glanzstücken. Aber wie bemerkte schon ZDF-Chefredakteur Klaus<br />

Bresser: "Das Fernsehen ist zum Teil kaputtgemacht worden durch die Fellers und Lojewskis."<br />

Blieb der Öffentlichkeit ein kleiner Trost: Der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch<br />

veröffentlichte im Jahre 1990 unter dem Titel „Eine italienische Familie “die ungewöhnliche<br />

Biografie; erlebte Zeit-Geschichte im faschistischen und antifaschistischen Italien – Franca<br />

Magnani-Geschichte.<br />

505


POLITIK-DARSTELLER: VERBORGENE SEHNSÜCHTE<br />

NACH IDENTIFIKATION MIT DEN MÄCHTIGEN DIESER<br />

REPUBLIK<br />

Windmachen zu Lande und zu Luft, Sitzfleisch kultivieren zum Überdruss,<br />

Smoking-Auftritte in erlesenen Gesellschaften - nichts ist erfolgreicher <strong>als</strong> der Erfolg<br />

Keine normale Figur in der Hütte Athenäum Verlag - Frankfurt am Main 21. September 1989<br />

"Parteifunktionäre und Berufspolitiker", urteilt der US-amerikanische Soziologe Gerhard<br />

Lenski in seinem 1966 erschienenen Buch "Macht und Privileg", "zeichnen sich durch eine<br />

einzigartige Qualität aus, <strong>als</strong> eine innerhalb von zwei Klassensystemen gleichzeitig." Der Klasse<br />

Politiker-Hauptstadt-Klasse und der Parteiklasse draußen in den Regionen. Reisen in deutsche<br />

Provinzen, wie an diesem Abend nach Landau in der Südpfalz versöhnen Bundesminister (1982-<br />

1985) und CDU-Gener<strong>als</strong>ekretär Heiner Geißler (1977-1989) gelegentlich. Hier wird ihm<br />

unweigerlich bewusst, dass er sich doch aufseitender politischen, moralischen und historischen<br />

Wahrheit weiß. Eine unteilbare Wahrheit, die ihm einleuchtend erklärt, warum er geworden ist, der<br />

er ist.<br />

Auf dem Vorplatz der Pfalzklinik Landeck driftet der Bundeswehr-Hubschrauber runter.<br />

Für die Insassen dieser psychiatrischen Heilanstalt ist die Landung eines solchen olivgrünen Vogels<br />

schon ein selten spannender Augenblick in ihrem durch Psychopharmaka dränierten Leben. Einige<br />

von ihnen säumen die notdürftig hergerichtete Absperrung. Sie rufen "Bravo, Bravo - "Helau,<br />

Helau" - "Hoch lebe der Minister" - "Gott schütze den Minister."<br />

Der Minister krabbelt ein wenig benommen aus dem Helikopter, hält für einen Moment<br />

inne, schnuppert vor sich hin. "Ein verrückter Empfang, wer hat denn das hier organisiert", will er<br />

wissen. Hauptstadt-Würde, ist gfragt. Winkend wendet er sich nun den Scheinwerfern der<br />

wartenden Autos zu. Die aufgeregten Neugierigen aus der Klinik stehen unbeholfen Spalier, hoffen<br />

in ihrem freundlichen Gejohle vielleicht auf ein "grüß Gott" vom hohen Herren. Vergebens. Sie<br />

bleiben halt dort, wo sie hingehören, wo die Gesellschaft sie hingepackt hat - am Wegesrand. Aber<br />

möglicherweise waren es auch nur Begrüßungsreflexe an der Südlichen Weinstraße, die Heiner<br />

Geißler so unbeholfen dreinschauen ließen. Immerhin wedelt der Minister mit seinen dafür<br />

geübten Arm solange, bis er Kautzmann entdeckt, den örtlichen Parteifunktionär.<br />

Kautzmann wirkt untersetzt-geschniegelt. Er könnte gut einen langgedienten<br />

Stabsfeldwebel der Bundeswehr abgeben, der sich nach seiner Entlassung "in die freie Wirtschaft"<br />

<strong>als</strong> Sektionschef der Eduscho-Kaffee-Filialen in Rheinland-Pfalz bewährt. Kautzmann entschied<br />

sich <strong>als</strong> "streitbarer Demokrat", freilich sorgsam planend, für die Partei-Demokratie, avancierte in<br />

Landau geschwind zum CDU-Geschäftsführer und Stadtrat, hechelte und mauschelte sich vor<br />

allem zielstrebig zur "rechten Hand des Gener<strong>als</strong>ekretärs" im Wahlkreis empor. Er verkörpert<br />

sozusagen den Prototyp einer Randpersönlichkeit. Ein Mensch, der seine Lebensmöglichkeit<br />

vornehmlich in einflussreiche Beziehungen sucht, daraus seine Stärke bezieht, mit dieser<br />

Geschaftlhuberei aber auch steht und fällt.<br />

Dabei ziert Kautzmann sich peinlich-gerührt, wenn Frau Göbel ihn <strong>als</strong> "einen<br />

unbezahlbar-soliden Goldjungen" hätschelt. Seit er in Geißlers engstem Umkreis herum zirkelt,<br />

wiederfährt ihm ohnehin eine honorige Aufwertung, nämlich der "ungekrönte König von Landau"<br />

506


zu sein. Schon betrachtet er "das ehrenvolle Amt des Oberbürgermeisters" <strong>als</strong> die nächste Stufe.<br />

Seine beiden Sekretärinnen halten ihn dagegen für "einen ausgemachten kleinbürgerlichen<br />

Arschkriecher", der in Geißlers Abwesenheit "die Mitarbeiter so zusammenscheißt, dass in der<br />

Nachbarschaft die Fenster zufliegen", notiere ich mir in meinem Bonner Tagebuch. Nur in<br />

Geißlers Beisein "zerfließt er vor devoter Manierlichkeit und spielt den Anstands-Wauwau".<br />

Geißlers Eintauchen in Landau geht schon Wochen zuvor eine gener<strong>als</strong>tabsmäßige CDU-<br />

Betriebsamkeit à la Kautzmann voraus. Wenn Bonn in Landau weilt, obliegt jeder Schritt<br />

Kautzmanns Regie; eine vom örtlichen Parteiapparat organisierte Fremdbestimmung. Er filtert<br />

Leute und Schauplätze argwöhnisch durch, ob sie tatsächlich für die Union in der Öffentlichkeit<br />

verdaulich sind. Beinahe jede Minute muss durchgeplant, auf Effizienz abgeklopft werden. Die so<br />

angebahnten "menschlichen Begebenheiten", etwa das sechste Bürgergespräch "Kuchen im kleinen<br />

Kreis", sind Teil der seit Jahren bewährten "Strategie der weichen Welle", befindet Kautzmann in<br />

der Pose eines Konzernmanagers. "Harte Konfrontationsgeschichten", fährt er wissend fort,<br />

"laufen hier nicht. Der Parlaments-Klamauk führt in Landau häufig zu der Rechenaufgabe: zehn<br />

Packen weniger neun Packen." Aber Kautzmann wäre nicht Kautzmann: Ans Einpacken will er<br />

noch nicht einmal im Suff gedacht haben.<br />

Apropos Suff - zumindest heute Abend sollen nach Kautzmanns Gelöbnis die<br />

Veranstaltungen trocken durchgezogen werden. Denn nicht jeder Geißler-Aufenthalt ist ja den<br />

Hackepetergesichtern gewidmet. Es ist noch nicht allzu lange her, da hatte Geißler beim<br />

Festkommerz der uniformierten und mit Degen bewaffneten Burschenschaftler die Festrede in der<br />

Landauer Stadthalle gehalten. Unter dem Motto "Ehre, Freiheit, Vaterland" soffen sich Chargierte,<br />

die Abordnungen aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Armee fürchterlich die Hucke voll.<br />

"Schwört bei dieser blanken Wehre, schwört ihr Brüder allzumal: Fleckenrein sei unsere<br />

Ehre, wie ein Schild von lichtem Strahl", grölte es durch die Reihen. Heiner Geißler stellte folglich<br />

in seiner Laudatio die knallige Frage: "Deutschland - wo liegt es?", um mit zurückgenommener<br />

Stimme auf Goethe und Schiller zu verweisen. "Wir kennen die Realität in Europa, aber wir<br />

erkennen sie deswegen nicht an", rief er dann von seinem Redeschwall fortgetragen gen Osten.<br />

Wenn Rhetorik des Gener<strong>als</strong>ekretärs einmal der gutgemeinte Versuch war, mit Emotionen die<br />

technokratisch ausgelaugte Sprache zu erneuern, so hat sie in ihrer Wirkung längst die gesalbte<br />

Qualität apokalyptischer Wanderprediger übertroffen.<br />

Weltuntergangs-Stimmung, Endzeit-Gefühle, verstümmelte Seelen, eine Nation ohne<br />

geistig-politische Leitideen, ein depressives Jammertal diese Bundesrepublik etc. usw., usf., "wenn<br />

Deutschland nicht gottlob <strong>als</strong> einzige Hoffnung eine für Jahrzehnte straffgeführte CDU-<br />

Bundesregierung hätte".<br />

Hätte Geißler doch nur hier die Sozialdemokraten "<strong>als</strong> fünfte, Moskau-hörige Kolonne,<br />

<strong>als</strong> Spionage- und Sabotagetrupp der Kommunisten" geziehen, hätte er doch nur der "Volksfront-<br />

Friedensbewegung" erklärt, "dass der Pazifismus der 30er Jahre Auschwitz erst möglich gemacht"<br />

habe. Anderswo wäre ihm derlei übel genommen worden.<br />

Hätte er doch nur hier seinen hochdekorierten Burschen, zum 734. Male Bert Brecht<br />

(*1998+1956) zitierend, auf die vaterlands- und geschichtslosen Sozi-Gesellen eingedroschen,<br />

ihnen ein "politisches Verbrechen" kurzerhand angehängt, von dem sich "die anständigen<br />

Deutschen" distanzieren müssen. "Wer die Wahrheit nicht weiß, ist ein Dummkopf. Wer die<br />

Wahrheit weiß und Lüge nennt, ist ein Verbrecher." Hätte er doch hier die angstvollen Gegner<br />

eines "Kriegs der Sterne", des SDI-Weltraumforschungs-Programms, <strong>als</strong> "unmoralisch"<br />

507


gebrandmarkt. Hätte er doch nur hier verdeutlicht, dass die Sozialdemokraten im Stil "der Nazis<br />

gegen die, Juden" Kampagnen gegen seine Union entfachen. Hätte der CDU-Gener<strong>als</strong>ekretär doch<br />

nur hier ein "Schlagwort über die neue Armut" in der Bundesrepublik verloren und gesagt, dass<br />

dieses Gerede "der größte Schwindel" sei, "den wir in der Nachkriegszeit erlebt habe".<br />

Hier, in der Landauer Stadthalle, bei den grauen Eminenzen mit Schmissen und ihren<br />

abgerichteten Jungvolk-Korporationen, wäre er mit seiner Betrachtungsweise stets passend<br />

platziert. Dieser enthemmte Geißler hätte ja nicht nur rühmlich "der Wahrheit eine Gasse<br />

geschlagen", <strong>als</strong> bibelfester Katholik hätte er sicherlich auch unmissverständlich zu verstehen<br />

gegeben, wie wichtig ihm das Alte Testament in der Bundespolitik geworden ist: "Auge um Auge,<br />

Zahn um Zahn."<br />

Die rechten Burschen jedenfalls wären mit Karacho auf die Bänke gestiegen; auf ihren<br />

Schultern, mit einem Spielmannszug vorneweg, wäre der Gener<strong>als</strong>ekretär zum Rathausplatz<br />

getragen worden. Und dort hätte er dann seine Visionen von Harmonie, Vaterland und Partei<br />

aufsagen dürfen. "Kauert nicht in den bequemen Ecken des privaten Glücks oder der Resignation,<br />

sondern kommt und arbeitet mit am Aufbau einer freien und gerechteren Welt ... Wenn niemand<br />

mehr Kinder bekommt, hat unser Land keine Zukunft ... Nicht nur Gutes tun, sondern auch<br />

darüber reden". So marschierten die Burschen allein, artig und fromm, auch erst um Mitternacht,<br />

natürlich mit Fackeln und Trommeln, die drei Strophen der Nationalhymne wie selbstverständlich<br />

auf ihren Lippen. Bis zum frühen Morgen hallte das "Deutschland, Deutschland über alles", Bier<br />

verklärt durch Landaus Straßen.<br />

Nein - heute soll sich nach Kautzmanns Drehbuch der Minister a.D. (1982-1985) "in ganz<br />

bescheidener Weise <strong>als</strong> rundum sympathischer, vernünftiger Kerl darstellen". Für solche<br />

Biedermann-Aktionen eignen sich die umliegenden Dörfer. Wenn Heiner Geißler "den Jungen mit<br />

der Mundharmonika" auflegt, liebäugelt er heftig mit vibrierender Anteilnahme. Die kann er im<br />

Örtchen Silz einheimsen, einer proper aufgeräumten Gemeinde mit Butzenscheiben und<br />

Fachwerkfassaden, wo wie ehedem Landleute tote Eulen an ihre Scheunen nageln. Verständlich,<br />

dass vom dörflichen Innenleben nur Spärliches nach draußen dringt, und die Weisheit, "dass mir<br />

der Hund der Liebste sei, sagst du oh Mensch sei Sünde, der Hund bleibt mir im Sturme treu, der<br />

Mensch nicht einmal im Winde", nach wie vor ihre Gültigkeit besitzt. Ansonsten verstehen sich die<br />

Leute hier seit jeher auf ein genügsames Leben in Dankbarkeit und Pflichterfüllung.<br />

So viel Staat, so viel Politiker-Prominenz, das macht in Silz eine Menge her. Überall CDU-<br />

Plakate: Dr. Heiner Geißler kommt. Bei aller Ferne, bei mancher Nörgelei, letztendlich ist es doch<br />

"unser Staat" - "der Vater Staat", der in der Geißler-Kautzmann-Karawane stattlich repräsentiert<br />

vor dem Kultursaal stoppt. Undurchsichtig lächelnd schreitet Geißler zu seinem Publikum. Der<br />

Raum ist brechend voll, Jung und Alt bunt gemischt, dazwischen gehobene Mittelstandstupfer. Da<br />

fällt es selbst einem tingelnden Polit-Profi auf Anhieb nicht so leicht, die Versammelten an<br />

Physiognomie und Kleiderordnung einwandfrei zu taxieren. Erst stürmischer Applaus,<br />

warmherzige Ovationen nehmen ihm den Anflug von Irritation. Und Kautzmanns Röntgenblick<br />

signalisiert unzweideutig, dass es menscheln darf.<br />

Da steht er nun, dieser großangekündigte Dr. Geißler, dieses Politik-Fernseh-Ereignis zu<br />

den Abendnachrichten schlechthin, aus der Hauptstadt eingeflogen, seinen Charme versprühend,<br />

seine Referentin Frau Göbel wie immer in der ersten Reihe sitzend, seinen Fahrer Riemann an der<br />

Eingangstür postiert, seine beiden Sicherheitsbeamten jeweils links und rechts mit abzugsbereiter<br />

Pistole hinter sich wissend, seinen Kautzmann mitten im Raum unter den Leuten diagonal im<br />

Visier. Er ist zweifelsfrei ein Chamäleon von besonderen demagogischen Qualitäten, ein Sophist,<br />

508


der spitzfindig "die Leit, auch was für Leit" einb<strong>als</strong>amiert. Als Staatsmann "von denen da oben"<br />

reiste er an, <strong>als</strong> einer von ihnen, "der kleinen Leuten", will er wieder von hinnen ziehen. Der Duden<br />

definiert die Sophistikation <strong>als</strong> einen "reinen Vernunftschluss, der von etwas, was wir kennen, auf<br />

etwas anderes schließt, von dem wir keinen Begriff haben, dem wir aber trotzdem objektive Realität<br />

zuschreiben."<br />

In den dreizehn Oppositionsjahren (1969-1982) der Union hatte Heiner Geißler wenig<br />

Skrupel, uralte antidemokratische Ressentiments, hohle Vorurteile, abgenutzte Klischees gegen "die<br />

Klasse da oben" mitzutragen, wo immer er auftrat, kräftig anzuheizen, sich quasi <strong>als</strong> Sprachrohr<br />

rechtschaffender Kleinbürger mit ihren angesparten Aktienpaketen von Veba bis VW coram<br />

publico zu empören: "Die Erblast sozialistischer Misswirtschaft" zuvörderst, "das Bonzentum im<br />

gewerkschaftseigenen Unternehmen Neue Heimat" hier, "F<strong>als</strong>chspieler der sozialliberalen<br />

Koalition" dort, aber auch "Sozialisten können wirklich nicht mit Geld umgehen, das haben sie<br />

doch längst bewiesen." All die speziell in einem gesonderten Mitarbeiter-Stab ausgetüftelten,<br />

unterminierenden Tiraden entsprachen den grobschlächtigen Instinkten derer, die sich <strong>als</strong> "kleine<br />

Leute" verschaukelt, von "den Großen" unentwegt ausgenommen fühlen, die ja angeblich allesamt<br />

permanent in die eigene Tasche wirtschaften.<br />

Heiner Geißler war sich zu jener Zeit überhaupt nicht zu schade, die inzwischen lauth<strong>als</strong><br />

beklagte Staats- und Parteien-Verdrossenheit im Lande nachhaltig zu schüren. Obwohl zuvörderst<br />

seine CDU sowie die Schwester CSU im undurchsichtigen Sumpf von Steuerhinterziehungen,<br />

Schmiergeldern, ausländischer Briefkasten-Firmen tief drinstecken - und das keineswegs nur in der<br />

Milliarden-Affäre, aufgedeckt im Jahre 1980, um den Düsseldorfer Flick-Konzern.<br />

Schließlich war es doch kein anderer <strong>als</strong> sein Bundeskanzler Helmut Kohl (1982-1998),<br />

der vielversprechend hingebungsvoll, seine Hand aufhielt, <strong>als</strong> der Flick-Konzern ihn bar mit<br />

insgesamt 260.000 Mark beglückte. Vielleicht mag Helmut Kohl in seiner "finanziellen<br />

Zuwendungsphase, diesem weiten, differenzierten Feld" und den damit verknüpften, knallharten<br />

Erwartungen irritiert an 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten Ronald Reagan (1981-1989;<br />

*1911+2004; ) gedacht haben, über den er später einmal mit idealisiertem Unterton sagte: "Wenn<br />

er ja sagt, meint er ja. Wenn er nein sagt, meint er nein. So möchte ich auch sein." Seit die<br />

CDU/CSU die Regierungsverantwortung 1982 übernommen hat, kann Heiner Geißler natürlich<br />

diese Korruption suggerierende Grob-Schnitzerei nicht mehr ungestraft fortsetzen. Doch diffizil zu<br />

nuancieren, unter nach oben wie oben nach unten zu kehren, hat er ebenso fein raus wie das<br />

knallharte, kalkulierte Putzmachen.<br />

Natürlich weiß ein Mann wie Geißler um verborgene Sehnsüchte nach Identifikation mit<br />

den Mächtigen dieser Republik. Sonst wäre der Aufschrei bei ihren Verfehlungen ganz gewiss nicht<br />

so groß. Natürlich kennt er die Vorbehalte gegen seine denunziatorischen Rammhämmer. Ihm ist<br />

aber vor klar, dass er im Silzer Kultursaal nur etwas bewegen kann, wenn er der bodenständigen<br />

Verwachsenheit mit Rapunzel und Reblaus glaubwürdig huldigt. Also fühlt er sich in seinem<br />

Wahlkreis Menschen und Landschaft "so eng verbunden, dass für mich ein Stück zu Hause<br />

wahrhaftig wurde". Das habe auch der Bundeskanzler bemerkt, "bei dem ich gerade noch war, der<br />

mir wohl deshalb besonders aufdringlich auftrug, Ihnen seine besten Grüße und Wünsche zu<br />

übermitteln. Sie können sich vielleicht ausmalen, wie knochenhart die Regierungsgeschäfte<br />

heutzutage sind. Aber unser Bundeskanzler kneift nicht vor unserer Zukunft. Er sitzt auch keine<br />

Probleme aus, er stellt sich unerschrocken den Schicks<strong>als</strong>fragen und arbeitet unerbittlich für eine<br />

Wende zum Besseren."<br />

509


Schon aus diesem Grunde "gibt es Leute, die würden es am liebsten sehen, wenn ich jeden<br />

Morgen zwei SPD-Leute zum Frühstück verspeisen würde. Aber das kann ja nicht Sinn und Zweck<br />

der Politik sein. Die Politik hat schließlich den Menschen zu dienen. Den Menschen helfen zu<br />

leben", derart anspruchslos putzt er seinen Bekenntnis-Charakter heraus. Denn "eine Partei wie die<br />

CDU ist nicht dazu da, um die eigenen parteipolitischen Interessen in erster Linie im Auge zu<br />

behalten", heuchelt er ungesenkten Blickes von der Bonner Operetten-Republik (1949-1989).<br />

"Arbeitslosigkeit ist mehr <strong>als</strong> eine statistische Größe, die Monat für Monat die Zahl derer<br />

anzeigt, die in einer Gesellschaft abseits mit ihren seelischen Belastungen stehen", trug der Minister<br />

Geißler (1982-1985) von einst, theatralisch auf bedächtig getrimmt seinem gläubig dreinschauenden<br />

Publikum vor. "Denn wir leben nun einmal in einem Land, in dem der Wert des einzelnen<br />

Menschen daran gemessen wird, was er ist und was er hat." - Basta.<br />

"Haste was, biste was", sagten ja bereits die bundesdeutschen Sparkassen in den fünfziger<br />

Jahren. "Auch meine Eltern haben kein Geld gehabt. Wir waren keine reichen Leute". bringt<br />

Geißler sich tellerwaschend <strong>als</strong> Soziallegende in die Dorfgemeinschaft ein. Der Vater arbeitete <strong>als</strong><br />

Landmesser in Rottweil, wurde von den Nazis sogar mehrere Male wegen seiner Kritik<br />

zwangsversetzt, Mutter kochte Eintopf für die ganze Woche, Erbsen, Linsen, Graupen, "Fünf<br />

Kinder waren wir am Tisch, trugen ohne Murren gegenseitig unsere Sachen auf."<br />

Und heute? "Der Staat war vor kurzem noch bankrott. Irgendwann, wenn die<br />

Verschuldung so weitergegangen wäre, hätten wir eine Währungsreform bekommen. Und wer ist<br />

dann der Leidtragende? Das sind nicht die Leute, die Grundstücke und Häuser haben, sondern das<br />

sind doch Sie hier, wir alle miteinander, die Masse der kleinen Leute. Die Staatsverschuldung ist die<br />

unsozi<strong>als</strong>te Politik, die es gibt. Wir haben über 300 Milliarden Mark Schulden, die müssen wir mit<br />

Zins und Zinseszins zurückbezahlen. Wer aber zahlt sie denn zurück? Doch nicht die Älteren in<br />

unserem Land. Nein, die junge Generation.<br />

Wir trinken auf ihre Kosten einen kräftig über den Durst, schmeißen das Geld zum<br />

Fenster hinaus. Wir müssen sparen und nochm<strong>als</strong> sparen, wie wir es in den vergangenen Jahren<br />

schon erfolgreich gemacht haben. Machen wir endlich damit Schluss, endgültig Schluss ... Nein",<br />

posaunt Heiner Geißler zum wiederholten Male seine Rede-Dramaturgie auslebend und wie aus<br />

dem Wahlkampf-Bilderbuch seinen Daumen Richtung Saaldecke streckend, "seien wir doch mal<br />

ehrlich zu uns selber. Die CDU fragt die Bürger in Wirklichkeit, ob sie tatsächlich die Kurpfuscher<br />

von gestern zu den Vertrauensärzten von morgen wählen wollen. Doch ganz gewiss nicht.<br />

Deshalb, weiter so Deutschland - stabile Preise, stabile Renten, mehr Arbeitsplätze. Das ist die<br />

CDU. Das ist unsere Zukunft und das alles in schwarz-rot-gold. Haben Sie gerade den Urschrei der<br />

sozialen Marktwirtschaft gehört?"<br />

Natürlich soll dieser imaginäre Parteien-Knall eine Richtungsentscheidung symbolisieren.<br />

"Die Grünen, diese Melonenpartei, außen grün, innen rot, sind sozusagen der politische<br />

Volkssturm der SPD, das letzte Aufgebot des Parteivorsitzenden Willy Brandt (1964-1987;<br />

*1913+1992), um durch Wählertäuschung und Tricks an die Macht zu kommen." - Im Kultursaal<br />

johlen die Leute vor Begeisterung. So viel kostenlos-inszeniertes Polit-Entertainment, so viel<br />

kabarettreife, angestrengte Lockerheit, die da aus Bonn eingeflogen worden ist. Heiner Geißler<br />

schaut sich strahlen, lustvoll um, weil sein tausendfach eingeübtes Pathos, seine tausendste<br />

Wiederholung die Menschen nach wie vor von den Bänken holt. Auch Frau Heike Göbel klatscht<br />

im Dreier-Takt zum 1.500 Male. "Das hälste im Kopf nicht aus, wie er das immer wieder<br />

hinkriegt", sagt sie zum Fahrer Riemann. Fahrer Riemann zitiert brav den Chef: "Ein Politiker, der<br />

nicht reden kann, ist nur die halbe Miete wert." Da höre ich eine ältere Frau in den hinteren<br />

510


Reihen, die ein Verslein aufsagen will - vor Ergriffenheit versteht sich. Sie dringt im Getöse freilich<br />

kaum durch. Es ist die dritte Strophe des Kanzler-Kohl-Liedes, getextet vom Heimatsänger<br />

Gotthilf Fischer, dem Leiter des gleichnamigen Chores: "Nicht klagen, nicht verzagen, aufwärts<br />

schauen, Gott vertrauen, höre auf mit dem Wehklagen, denn du wirst dir selbst nur schaden."<br />

"Machen wir endlich Schluss, endgültig Schluss damit. Wir machen nämlich keine<br />

Stimmungspolitik, wir sind ja auch keine Stimmungsdemokratie", hatte Heiner Geißler in den<br />

Raum gedonnert. Über Schuldenabbau, über den Versorgungsstaat, über das satte Haben-Land<br />

Bundesrepublik sprach er nun. Keineswegs über unseren Erdball, mit jährlich über 1,6 Billiarden<br />

Mark militärischer Rüstung, der ein Atomwaffenarsenal beherbergt, das in seiner Sprengkraft 16<br />

Milliarden Tonnen herkömmlichen Sprengstoffs TNT entspricht. Eine Welt, auf der das reichste<br />

Fünftel der Bevölkerung über 71 Prozent des Welteinkommens verfügt; ein Globus, auf dem 500<br />

Millionen Menschen hungern, 600 Millionen Menschen ohne Arbeit sind und eine Milliarde in<br />

tiefster Armut leben - damit endgültig Schluss zu machen, auch den weiteren abenteuerlichen<br />

Ausbau von Atomkraftwerken zu stoppen, das hatte Heiner Geißler in der Silz Kulturhalle<br />

natürlich nicht gemeint.<br />

Das atomare Desaster in der früheren Sowjetunion, denn "Tschernobyl" im Jahre 1986,<br />

eine der schwersten nuklearen Katastrophen überhaupt - das hatte Geißler in der Silzer Kulturhalle<br />

natürlich nicht gemeint. Denn dieser Reaktor sei nun mal ein "typisches Konstrukt der<br />

proletarischen Revolution" murmelt er beschwichtigend. Pastoral schließt er aus jenem Unglück die<br />

gläubige Erkenntnis: "Wer der Auffassung ist, mit dem Tod sei alles zu Ende, der kann halt mit<br />

dem so genannten Restrisiko naturgemäß weniger leben <strong>als</strong> derjenige, der diese irdische Existenz<br />

<strong>als</strong> eine vorläufige und gleichzeitig auf eine ganzheitlich unendliches Ziel ausgerichtet begreift." -<br />

Geißler-Stunden, CDU-Jahre.<br />

Heiner Geißler misstraut einer total transparenten, aufgeklärten Welt, in der die Menschen<br />

ihren rationalen Erkenntnissen folgen sollen. Ihm schwebt ein Dasein vor, in dem die Tugenden<br />

wie Anpassungsfähigkeit, Loyalität und Selbstdisziplin die Garanten des wissenschaftlichtechnischen<br />

Fortschritts im Dickicht des Sachzwang-Staates sind. Er fordert eine Rückbesinnung<br />

auf den Glauben an Gott, die Pluralität des Lebens, die Notwendigkeit von Autorität, Hierarchie,<br />

Ordnung, Stabilität, Führung und Elite. Praktisch Erlebtes steht gegen Gedachte oder Erwartetes,<br />

Sein gegen Sollen, Leben gegen System-Begriffe. "Unsere Werte beruhen nicht auf dem, was wir<br />

haben, sondern auf dem, woran wir glauben", postulierte Geißler schon in seiner Rede zum<br />

konstruktiven Misstrauensvotum gegen den sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt<br />

(1974-1982).<br />

Warum gutgläubig Zufriedene mit Problemen oder Verantwortlichkeiten überlasten, sie<br />

mit düsteren Stimmungen und Befindlichkeiten der Nation, Depression, Angst und Frustration<br />

unnötig konfrontieren? Wozu leistet sich ein Land wie Deutschland ihre leistungsfähigen<br />

Subsysteme aus Wirtschaft, Wissenschaft, Industrie, Recht und Verwaltung? Kann nicht "das<br />

Vertrauen der Bürger in die parlamentarische Demokratie neu gefestigt, unser Land aus der<br />

schwersten Wirtschafts- und Sozialkrise der Nachkriegszeit herausgeführt, die geistigen und<br />

moralischen Grundlagen unseres Zusammenlebens erneuert, unsere Jugend wieder Hoffnung für<br />

eine lebenswerte Zukunft" gegeben werden?<br />

Geißler und seine Union <strong>als</strong> Hoffnungsträger einer staatswirtschaftlich- sowie<br />

sozialpolitischen Wende, einer konservativen Gegen-Reformation am Ende des auslaufenden 20.<br />

Jahrhunderts. Der Gener<strong>als</strong>ekretär <strong>als</strong> intellektuelle Speerspitze eines neukonservativen Denkens,<br />

ein Geißler, der sich offensiv mit dem Volk gegen die ordnungswidersetzenden Weltverbesserer<br />

511


verbünden will. Nicht etwa die Weltwirtschaftskrise, die rasanten technologischen<br />

Strukturveränderungen, die Globalisierungen ausufernder Finanzmärkte, der Bruch mit<br />

unbegrenztem Wachstum, die leeren Kassen schlechthin sind nach Meinung des Sozialphilosophen<br />

Günter Rohrmoser (*1972+2008) , einst Hochschullehrer an der Universität Hohenheim und CSU-<br />

Sympathisant. "der letzte Grund unserer Misere, sondern die Tatsache, dass wir mit den überfüllten<br />

Kassen geistig und moralisch nicht zurechtgekommen sind".<br />

Für den markanten Denker Rohrmoser ist "die Konstruktion einer geschichtslosen, in<br />

ihrer nationalen Identität verunsicherten und eines gemeinsamen Ethos sich selbst beraubenden<br />

Industriegesellschaft Bundesrepublik zusammengebrochen". Folglich befinden sich nach<br />

Rohrmosers Befund auch die traditionellen Parteien in einem Identitätsverlust oder verändern ihre<br />

Identität wie ein Chamäleon je nach der Richtung, in der der Zeitgeist zu wehen scheint". Und er<br />

sieht zudem die Gefahr, dass aus einem "taktischen, situationsbezogenen Opportunismus ein<br />

prinzipieller Opportunismus zu werden droht".<br />

Auf die Union an der politischen Macht gemünzt, erlebe die CDU "die Stunde des<br />

Offenbarungs-Eids." Denn die wachsende Kritik an Helmut Kohl (CDU-Bundeskanzler 1982-<br />

1998) dürfe nicht die Einsicht vergessen lassen, "dass die CDU weitgehend Kohl ist, dass ihre<br />

Mentalität und ihre innere Verfassung sich in seiner Position widerspiegeln, er ist der Ausdruck<br />

einer gewissen Dumpfheit, Provinzialität und eines diffusen Populismus, der die Partei beherrscht<br />

...".<br />

Den Utopisten dieser Ära ist es faktisch zuzuschreiben, dass der Politik ihre<br />

Steuerungsfähigkeit verlorenging, die Integrationskraft der parlamentarischen Demokratie<br />

schwindet, durch die "widernatürliche Gleichmacherei" der Sozi<strong>als</strong>taat <strong>als</strong> Umverteilungsinstanz<br />

missbraucht wurde. Die Progressiven, allen voran die Sozialdemokratie, haben demnach<br />

abgewirtschaftet, weil sie den innigen Wunsch nach einem überschaubaren, verlässlichen, stabilen,<br />

berechenbaren Dasein ignorierten, sie die Begrenztheit des Fortschritts, die Rohstoff- und<br />

Ressourcen-Knappheit, die Stagnation der Industrie, die zunehmende Krisenanfälligkeit von<br />

Großorganisation in einer Welt freier Märkte nicht rechtzeitig erkannt haben.<br />

So auch "die dramatischen Folgen des Umschlags des Fortschritts in sein Gegenteil und<br />

die Erfahrung, dass alle Versprechen, aus denen seine Dynamik gespeist wurde, sich <strong>als</strong> unerfüllbar<br />

herausstellen"; betonte der wortgewaltige Tendenz-Wenden-Prediger Günter Rohrmoser in seinem<br />

im Jahre 1983 veröffentlichten Buch "Die Krise der politischen Kultur". Er kündigte eine über<br />

Jahre währende Tendenzwende an, die tief "in die Verfassung und den Zustand des öffentlichen<br />

und privaten Lebens" eingreift, es nachhaltig verändert, "<strong>als</strong> es uns bewusst sein mag". "Heimat",<br />

"Kultur" oder auch "Nation" sind ihm Synonyme für eine gemeinsam erlebte, traute Welt, die<br />

jedem Hoffnung und Glauben belässt, die monogame Ehe und Familie zur wichtigsten<br />

Voraussetzung erklärt, den ersehnten sozialen Aufstieg zu meistern, sich überhaupt in der<br />

arbeitsteiligen, höchst undurchsichtigen Computer- und Roboter-Gesellschaft zurechtzufinden, der<br />

drohenden Vereinsamung, aber auch der Anonymität zu entrinnen.<br />

Um dieser Rosskur zum Durchbruch zu verhelfen und die Tendenzwende für Jahrzehnte<br />

durchgreifend voranzutreiben, müssen nach Günter Rohrmoser "die Mächte des Nihilismus und<br />

der Destruktion" gebannt werden, "bedarf es des Rückgriffs auf andere Reserven <strong>als</strong> die einer<br />

Moderne, deren Tag sich zu neigen beginnt. Geistige Wende ist die Wende zur Wirklichkeit, die<br />

Programmierung eines Lebens, das nach dem Entzug des süßen Giftes der Utopie sich fragte, wie<br />

Selbstentfaltung ihren Sinn behalten kann".<br />

512


Tatsächlich beruht die aus den USA importierte neokonservative Krisentheorie auf zwei<br />

zentralen Eckpfeilern: zu viel Sozi<strong>als</strong>taat, zu viel Demokratie. So sei das Debakel in den westlichen<br />

Industrie-Nationen ausschließlich ihrer aufmerksamen Sozialfürsorge anzukreiden, die sich zu einer<br />

aufgeblähten Umverteilungs-Bürokratie entwickelt habe. Der New Yorker Sozialwissenschaftler<br />

Irving Kristol , einer der schärften Verfechter eines klassischen Unternehmer-Kapitalismus in den<br />

Vereinigten Staaten, ist davon überzeugt, dass die bisherige Politik, "die massive Eingriffe des<br />

Staates in den Markt erlaubt, gegenüber Sitte und Moral jedoch absolute Laissez-faire erlaubt, für<br />

eine bizarre Umkehrung der Prioritäten" stünde. Anspruchsdenken, Versorgungsidylle,<br />

Gleichmacherei, staatliche Entmündigung, Verkümmerung bewährter Tugenden sie das Ergebnis.<br />

Des Menschen große Erwartung liege aber "in einem geistig und moralischen neubelebten<br />

Kapitalismus".<br />

Nach dem erprobten Muster, schont die Reichen, sie machen aus Gold Güter und aus<br />

beiden irdisches Glück, entpuppt sich der Neokonservativismus in den achtziger Jahren <strong>als</strong> die<br />

ideologische Plattform, auf der eine Politik der Rückverteilung zugunsten der Besserverdienenden<br />

verwirklicht werden soll.<br />

513


514


1990<br />

Frauen-Macht : Partisanin des permanenten Aufbruchs<br />

Politik-Karriere braucht einen Fernseh-Mann<br />

Kalter Krieg der Männer<br />

515


PARTISANIN DES PERMANENTEN AUFBRUCHS - ANTJE<br />

VOLLMER<br />

Biografie. Antje Vollmer wurde am 31. Mai 1943 in Lübbecke/Westfalen geboren.<br />

Im Jahre 1962 bestand sie ihr Abitur und studierte in Berlin, Heidelberg, Tübingen und<br />

Paris evangelische Theologie. Anno 1968 wurde sie Vikarin an einer Berliner Kirche,<br />

arbeitete von 1969 bis 1971 <strong>als</strong> Assistentin an der Kirchlichen Hochschule Berlin und<br />

bestand 1971 ihre zweites Theologisches Examen. Von 1971 bis 1974 widmete sich Antje<br />

Vollmer <strong>als</strong> Pastorin in einem Team-Pfarramt in Berlin-Wedding der Seelsorge. In dieser<br />

Zeit promovierte sie bei Helmut Gollwitzer (*1908+1993) zum Dr. phil. und absolvierte ein<br />

Zweitstudium in Erwachsenenbildung mit Diplomabschluss.<br />

Von 1976 bis 1983 war sie <strong>als</strong> Dozentin an der Heim-Volkshochschule in Bethel<br />

tätig. Im Jahre 1979 kam ihr Sohn Johann auf die Welt, unehelich - ein Novum in der<br />

Kirchengeschichte. In den siebziger Jahren wirkte Antje Vollmer politisch aktiv in der Liga<br />

gegen den Imperialismus im Umfeld der 1970 gegründeten maoistischen<br />

Kommunistischen Partei Deutschland (KPD/AO), trat dieser Partei aber nie bei, die sich<br />

1980 wieder aufgelöst hat. Obwohl Antje Vollmer erst im Jahre 1985 Mitglied der Partei<br />

"Die Grünen" wurde, gelangte sie über eine offene Liste der Arbeitsgemeinschaft<br />

"Bauernblatt" bei den Wahlen 1983 in den Deutschen Bundestag.<br />

Anfang 1984 wählte die Fraktion der Grünen einen neuen Vorstand, der<br />

ausschließlich aus sechs Frauen bestand. Die Theologin wurde Fraktionssprecherin. Von<br />

diesem "Weiberrat" (Eigenjargon) sollte ein Signal ausgehen, dass auch in der Politik "die<br />

Zeit der Männer vorbei ist" (Antje Vollmer). Für das Bundestags-Feminat galt sie <strong>als</strong> eine<br />

der Hauptinitiatorinnen. Im Zuge der Rotation legte Antje Vollmer im April 1985 ihr<br />

Mandat nieder - kam aber nach den Wahlen im Jahre 1987 wieder <strong>als</strong> Abgeordnete ins<br />

Parlament. Bei der Bundestagswahl 1990 scheiterten die westdeutschen Grünen an der<br />

Fünf-Prozent-Hürde.<br />

Von 1994 bis 2005 war Antje Vollmer wieder Mitglied der Volksvertretung. Seit<br />

dem 10. November 1994 bekleidete sie zudem für diesen Zeitraum das Amt einer Vize-<br />

Präsidentin des Deutschen Bundestages. Mit ihrer Initiative Grüner Aufbruch '88<br />

versuchte Antje Vollmer, einen innerparteilichen Erneuerungsprozess voranzutreiben -<br />

zwischen den sich bekämpfenden Flügeln aus "Fundis" und "Realos" zu vermitteln. Im<br />

Dezember 1989 verlieh ihr die Internationale Liga für Menschenrechte die "Carl-von-<br />

Ossietzky-Medaille. Zu ihrer Auszeichnung hieß es: Antje Vollmer sei "eine der wenigen,<br />

die in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland Aufgaben wahrnimmt, die viele<br />

vernachlässigen: Sie setzt sich für jene ein, deren Stimmen nicht gehört werden - für Sinti<br />

und Roma, Zwangsarbeiter und andere Nazi-Verfolgte sowie die Gefangenen in den<br />

Hochsicherheitstrakten." Sieben Jahre später wurde die streitbare Theologin mit dem<br />

Cicero Rednerpreis, 1998 mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken geehrt.<br />

Eigentlich wollte Antje Vollmer sich schon immer nach relativ kurzer Zeitspanne<br />

von der Bundespolitik in Bonn, später in Berlin verabschieden, aufhören, aussteigen -<br />

wieder zu sich selbst, zu ihrer Authentizität zurückfinden, zu ihrem ursächlichen<br />

Ausgangspunkt. Gelungen ist ihr das freilich nie so ganz - jedenfalls bis dato 2005. Als sie<br />

1983 <strong>als</strong> Abgeordnete in den Bundestag kam, fühlte sie sich zunächst <strong>als</strong> "stille<br />

516


Beobachterin" - sieben Jahre später hat sie sich erneut in diese Wartestellung<br />

zurückgezogen. Das sei kein Abschied vom "grünen Projekt". Nur, so Antje Vollmer,<br />

sollte eine ökologische Partei im vereinten Deutschland auf dem Fundament eines<br />

Neuanfangs zwischen Ost- und Westgrünen stehen. Da sei sie "viel zu neugierig", um<br />

sich eines Tages doch vielleicht wieder einzumischen. Eine Partisanin des permanenten<br />

intellektuellen Aufbruchs.<br />

Frauen an der Macht, Protokolle einer Aufbruchs-Ära athenäums programm by anton hain Frankfurt a/M 26.<br />

November 1990<br />

Donnerstag, der 5. Mai 1983. Ich gebe zu, ihre Unsicherheit fasziniert mich.<br />

Überlegenheitsgefühl sind nicht ausgeschlossen. Sie fiel mir gleich auf in Bonn. Welcher Kontrast<br />

zum Politikeinerlei. Bubi-Kopf, große Augen, Pulli, Jeans, Kapuzenmantel aus der Pennäler-Zeit.<br />

Ziemlich schüchtern, auffällige Berührungsängste. So eine Frau ausgerechnet <strong>als</strong><br />

Bundestagsabgeordnete unter all den stattlich herausgeputzten Vorzeige-Figuren! Dabei gab sich<br />

Antje Vollmer so, <strong>als</strong> wolle sie sich irgendwie dafür entschuldigen, mit den Grünen den Sprung in<br />

den Bundestag geschafft zu haben.<br />

Seinerzeit hatten die Grünen <strong>als</strong> basisdemokratische und ökologische Protestbewegung<br />

mit 2.167.431 Stimmen die Fünf-Prozent-Hürde gemeistert. Das alternative Deutschland klagte<br />

sich, von der Sache kommend, laut ins etablierte Gefüge ein, sucht mit und in Negativ-<br />

Abgrenzungen Durchbruch und Halt. Die Situation Anfang der achtziger Jahre glich der APO-<br />

Zeit. Dam<strong>als</strong> kämpfte eine rebellierende Jugend gegen eine Große Koalition im Bundestag und in<br />

manchen Ländern. Jetzt setzen sich die Grünen in Bonn ebenfalls mit einem stillschweigenden All-<br />

Parteien-Bündnis auseinander. Der Ausbau von Atomkraftwerken und die "Notwendigkeit"<br />

ökonomischer Zuwachsraten hatten CDU/CSU, SPD und FDP enger zusammenrücken lassen, <strong>als</strong><br />

es die Sitzordnung im Bundestag deutlich machte.<br />

Bonner Politik schrumpfte auf ein zentrales Anliegen: mit welchen Mitteln ein oder zwei<br />

Prozent mehr Wirtschaftswachstum erreicht werden könnten. Kennzeichnend für den politischen<br />

Umgangston, für die vielzitierte "Dialogfähigkeit" in diesem Jahrzehnt war die eine Äußerung des<br />

Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Alfred Dregger (*1920+2002) über die Grünen.<br />

Er nannte sie "politisch verkommen", weil sie in der Bundesversammlung die Nationalhymne<br />

"Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland ..." nicht mitgesungen hatten.<br />

Jedenfalls wollte ich an jenem Donnerstagmorgen auf der Pressetribüne des Bundestags<br />

die "Wiederbelebungsversuche" des Parlaments durch die Bundestagsfraktion der Grünen<br />

mitbekommen. Über Jahre mied ich diese Pressetribüne. Die Ära hatte schon längst begonnen, in<br />

der Identität in der Politik mehr durch <strong>als</strong> durch Charakter und Persönlichkeit bestimmt wurde. In<br />

der Politik etablierte sich allmählich das Kabinett der austauschbaren Identitäten. Der Aufstieg trug<br />

ein Motto: "Sage mir, wer dein Image macht, und ich sage dir, wer du nicht bist!" Zum Zeitalter des<br />

Persönlichkeitsstylings und des Treatment-Designs ist die beste Persönlichkeit keine Persönlichkeit.<br />

Da stand Antje Vollmer nun am Rednerpult des Bundestages und sollte der<br />

Regierungserklärung des Kanzlers Paroli bieten. Ihre Stimme zitterte und war ständig in Gefahr,<br />

wegzukippen. Ich war irritiert und enttäuscht. Ihr parlamentarischer Auftritt in Sachen Agrarpolitik<br />

erfüllte nicht meine von Bonn geprägten Erwartungen. Paroli bieten hieß für mich, auf derselben<br />

Klaviatur rhetorisch gewieft zu klimpern - am besten noch satter, abgefeimter, zynischer. Antje<br />

Vollmer mühte sich vor meist gelangweilt Zeitung lesenden Männern um Aufmerksamkeit.<br />

517


Und gewiss hatte sie unterschwellig auch Angst vor dem Sprung ins Polit-Milieu. Wie<br />

lassen sich eindeutig Grenzen ziehen zwischen Absichten und tatsächlich neuen Formen des<br />

Streites? Wann hat jemand eine Profilneurose und wann sagt man, ja endlich, das ist die neue<br />

politische Identität? Ich hatte so meine Zweifel, Widersprüche und meine Schubläden. Die zog ich<br />

auf, noch ehe Antje Vollmer ihre Rede beendet hatte, "diese Art von Geschäft in der Politik könne<br />

auf Dauer niemand betreiben, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen", hatte ich mein Bild<br />

über diese Frau abgerundet - vorschnell, wie sich bald herausstellen sollte.<br />

Ich dachte mir: Wieder eine Person, die mit pastoralem Sendungsbewusstsein die<br />

Gesellschaft beglücken wollte. Jetzt setzt sie unverdrossen wie gebeutelt ihren Anspruch fort.<br />

Typisch Frau - sie dürfte kläglich hier an den politischen Schauplätzen der Krisenmanager. Doch<br />

Antje Vollmer versagte nicht. Ganz im Gegenteil.<br />

Die Frauen-Aufbruchs-Ära, die in der Kinderladen-Bewegung der siebziger Jahre ihren<br />

Ausgangspunkt nahm, hatte längst die Männer-Trutzburg Bonn erreicht. Sie ist gleichsam eine<br />

Antwort auf Vertrauensverluste und Visionenlosigkeit. Antje Vollmer steht für Tausende von<br />

Frauen in diesem Land, die die Aufbruchs-Ära eingeleitet haben.<br />

Im Laufe der Jahre habe ich lernen müssen, dass sich hinter ihrer Unscheinbarkeit eine<br />

unvermutete Portion Härte und Durchsetzungsvermögen verbirgt. Sie brachte den<br />

"gesellschaftlichen Dialog" mit einsitzenden RAF-Terroristen in Gang. Bundespräsident Richard<br />

von Weizsäcker (1984-1994) gab einigen Gnadengesuchen lebenslänglich Verurteilter statt. Wobei<br />

sie Moral und Recht, Legitimität und Legalität, Politik und Gewissen auf die ihr eigene unbeugsame<br />

Art und Weise vereinte. Als die Grüne Partei sich in Fraktionskämpfen selbst zu eliminieren<br />

drohte, war sie es, die mit der Gruppe "Grüner Aufbruch '88" zu vermitteln suchte. Antje Vollmers<br />

Überlegungen brachen die Definitionsgewalt der Männer in der intellektuell chronisch untersorgten<br />

Hauptstadt.<br />

Als ich Antje Vollmer zum letzten Mal in ihrem Haus in Kirchdornberg bei Bielefeld<br />

besuchte, da hatten sie die Jahre in Bonn deutlich gezeichnet. Müde war sie des ewigen Gezerres in<br />

Bonn auf den Parteitagen. Und immer die Angst, die Politik könne sie endgültig davontragen, ihr<br />

den Rest an privater Sphäre nehmen, sie für die Apparate zurecht schleifen. "Nein", sagte sie, "ich<br />

will nicht mehr. Andere Frauen müssen für mich weitermachen. Man muss auch Abschied nehmen<br />

können. - Und ich kann ja vielleicht irgendwann einmal wiederkommen."<br />

Das Bundestagsmandat im Schutze der Immunität, der Diplomaten-Status - all jene<br />

Privilegien sind für Antje Vollmer im Gegensatz zu den meisten Männern in Bonn keine Frage von<br />

Sein oder Nichtsein. "Denn jeder ist ersetzbar - erst recht, wenn die parlamentarische Routine die<br />

Menschen dort zu ersticken droht. Für mich erwarte ich Ruhe in einem großen Abstand zu allem."<br />

Auf der Rückfahrt von Bielefeld fiel mir eine Passage aus Heinrich Bölls (*1917+1985)<br />

"Frauen vor Flusslandschaften " ein. Da heißt es:"Wubler: Du hast gelernt, dass Politik ein<br />

schmutziges Geschäft ist.Erika: was nicht bedeutet, dass Schmutz schon Politik ist."<br />

Als Antje Vollmer im Jahre 1983 - für sie eigentlich unerwartet - mit den Grünen in den<br />

Deutschen Bundestag einzog, fühlte sie sich eher <strong>als</strong> eine stille Beobachterin ihrer Fraktion. Sie war<br />

nicht einmal ordentliches Mitglied dieser ökologischen Partei, die von den Bonner Polit-Profis mit<br />

einem müden Lächeln - dank ihres unkonventionellen Parteiprogramms und nicht-hoffähigen<br />

Auftretens - weniger begrüßt <strong>als</strong> beargwöhnt wurde. Für die dam<strong>als</strong> vierzigjährige Antje Vollmer<br />

ging alles rasend schnell: Keine sechs Wochen lagen zwischen dem ersten Gedanken an eine<br />

Kandidatur und ihrer Wahl zur Bundestagsabgeordneten.<br />

518


Sie kam aus der ländlichen Bildungsarbeit, der sie sich über sieben Jahre lang mit einem<br />

Engagement gewidmet hatte, das zu ihren bemerkenswertesten wie nachhaltigsten Eigenschaften<br />

gehört. Als Dozentin in der Erwachsenenbildung in Bethel besaß sie noch genügend Energie, um<br />

sich in einer Bauernoppositionsgruppe - die in Westfalen das "Bauernblatt" herausgab - mit<br />

agrarpolitischen Problemstellungen auseinanderzusetzen. In ihrem Tagebuch " ... und wehret euch<br />

täglich" beschrieb die studierte Theologie ihre Arbeitsstelle mit der ihr eigenen Wehmütigkeit <strong>als</strong><br />

einen "Ort für die Suche nach dem Selbstbewusstsein der Menschen des ländlichen Raumes". Vom<br />

Lindenhof, der Begegnungsstätte für Jung und Alt, nach Bonn.<br />

Dam<strong>als</strong> traten die Grünen in Nordrhein-Westfalen mit einer offenen Liste an ( das<br />

machen sie heute nicht mehr), die für eine politische Grundüberzeugung stand: Die Grünen<br />

wollten damit Vertretern von Basisbewegungen volksnahen Einfluss auf ihre parlamentarische<br />

Arbeit sichern. Deshalb suchten sie eine Zusammenarbeit mit dem "Bauernblatt". Die Landwirte<br />

blieben skeptisch und wollten nicht von ihren Höfen weg. Antje Vollmer war zur rechten Zeit auf<br />

dem rechten Platz, und zudem war auch bei den Grünen der Gedanke virulent, dass eine Frau -<br />

natürlich - ein Plus wäre. Auf der Delegiertenversammlung der Grünen in Geilenkirchen. wo die<br />

Landeslistenplätze vergeben wurden, schnupperte Antje Vollmer zum ersten Mal die Atmosphäre<br />

eines mit fünfhundert Menschen gefüllten Saales, war überwältigt und rannte immer wieder raus.<br />

Der Kandidatenbefragung konnte sie sich freilich nicht entziehen, und es dauerte Stunden. Ihre<br />

anfängliche Irritation wich plötzlich dem Gefühl von Kontinuität.<br />

Diesen Wandel hielt sie in ihrem Tagebuch fest: "Für einen Moment stellte sich für mich,<br />

seinerzeit auf der Delegiertenversammlung in Geilenkirchen, meine ganze Lebenserfahrung auf den<br />

Kopf. - Alles, was mir bisher Schwierigkeiten gemacht hatte, hier bei den Grünen, gerät zu meinen<br />

Gunsten ...". Neugierig und couragiert wie sie ist, begibt sie sich tags darauf auf Erkundungsfahrt,<br />

versucht sich ein Bild von den Grünen zu machen, von einzelnen Personen, von den Flügeln und<br />

Richtungen innerhalb der Partei, von den Drahtziehern und den Kritikern, von der Grünen Art zu<br />

streiten, zu diskutieren, Probleme auszutragen. In ihrem ersten relativen kurzen Wahlkampf zog<br />

Antje Vollmer vor allem über Land, von Dorf zu Dorf, wo sie sich plötzlich <strong>als</strong> Rednerin in Sachen<br />

grüner Politik wiederfand. Auch hier kein Anflug von Selbstgefälligkeit, sondern kritische<br />

Selbstreflexion, darüber, dass sie zu zaghaft sei, noch zu sehr Dozentin, zu viel referiere und nicht<br />

nahe genug an die Leute herankomme. Antje Vollmer im Jahre 1983: erste Gehversuche <strong>als</strong><br />

Politikerin und der feste Vorsatz, es muss anders, besser werden. Ihre Vorstellung vom Bonner<br />

Abgeordneten-Dasein deckte sich nicht mit der Realität, dazwischen schoben sich die von den<br />

Medien vermittelten Klischees.<br />

Blickwechsel für Antje Vollmer; Einzug ins Hochhaus Tulpenfeld, ein von Hässlichkeit<br />

strotzender Betonklotz - der Bienenstock von Hunderten mehr oder weniger fleißigen<br />

Abgeordneten. Im fünften Stock die Geschäftsführung der Grünen. Für Antje Vollmer, gewöhnt<br />

an Arbeit im Grünen und in Ruhe, muss der Schock ziemlich groß gewesen sein: Hier klingelten<br />

die Telefone und schlugen die Türen ohne Unterlass, hier herrschte den ganzen Tag eine Rushhour<br />

der Informationen und Neuigkeiten. Ungewohnt war für sie der vom Frankfurter Sponti-<br />

Organ "Pflasterstrand" (dem alten) beeinflusste Sprachstil. welcher der in Sachen Sprache sensiblen<br />

Antje Vollmer Entgegenkommen abverlangte. Acht Stockwerke darüber richtete sich Antje<br />

Vollmer mit sieben Mitgliedern der Fraktion ein. Es gab für sie viel zu lernen: Lektion Nummer<br />

eins, die Flut der Papiere zu kanalisieren, damit man seine Tasche überhaupt nach Hause tragen<br />

kann, wo die Arbeit noch kein Ende nimmt. Trotz Wirrwarr und lockerem Chaos, wilden<br />

Diskussionen und theoretischen Unklarheiten - Antje Vollmer sah, dass viele ihrer Zukunftsideen,<br />

519


die in ihrer Studentenzeit nur Papier gewesen waren, von den Grünen in Angriff genommen<br />

wurden: angefangen bei der Rotation der Mandate, über die Offenheit der Partei- und<br />

Fraktionssitzungen bis hin zur Frauenparität.<br />

Dam<strong>als</strong>, in den APO-Jahren, war die Herausbildung politischer Machtzentren detailliert<br />

reflektiert worden. Und nun sollten es die Grünen sein, die <strong>als</strong> Erste die Rotation in den führenden<br />

Ämtern der Partei beschlossen und auch weitestgehend befolgten. Oder: Die Ursachen der<br />

Unterdrückung der Frau waren in der deutschen Linken seit August Bebel (*1840+1913) und Clara<br />

Zetkin (*1857+1933) aufgearbeitet worden. Aber es blieb wiederum den Grünen vorbehalten,<br />

ihren meisten Landesverbänden die Frauen-Parität <strong>als</strong> Ziel vorzugeben.<br />

Für Antje Vollmer bedeuteten diese aufsehenerregenden Ansätze der Grünen so etwas<br />

wie "Edelsteine", deren weitreichender Wert noch nicht allen klar war. Schon die Rotationsregelung<br />

hieß im Kern, dass die Grünen den konventionellen Abgeordnetenstatus nicht anerkannten. Sie<br />

war eine Attacke gegen das Berufspolitikertum, da die Grünen Politiker und Politikerinnen in ihren<br />

Reihen für ersetzbar erklärten. Sie war eine Kampfansage gegen die ausufernde politische Macht,<br />

die mit der parlamentarischen Routine verbunden ist. Für Antje Vollmer war klar, dass damit<br />

Spontaneität, Basisverbundenheit und die Herkunft aus dem Berufsalltag für die Durchsetzung von<br />

Zielen fruchtbar gemacht wurden und aus der Eindimensionalität von Langzeit-Politikern ein<br />

konstruktiver, zukunftsweisender Weg gefunden wurde. Es war für sie eine spannende Erfahrung<br />

zu sehen, wie die Grünen Probleme auf neue Weise anpackten.<br />

Antje Vollmer verließ ihre Rolle <strong>als</strong> stille Beobachterin und wurde, nachdem sie aus<br />

Rotationsgründen im April 1985 ihr Bundestagsmandat niedergelegt hatte, ordentliches<br />

Parteimitglied. In dieser Parlamentspause fand sie Zeit, über eine sie bedrängende Frage<br />

gründlicher nachzudenken: Gibt es noch Frauen-Utopien? Was treibt die Frauen an, über ihre<br />

Tagtraumfetzen hinauszugehen? Begeben sie sich auf die Schiffe (Ernst Bloch *1885+1977), um<br />

neues Land, einen neuen Kontinent zu entdecken?<br />

Antje Vollmer, die ihre Gedanken ungern im Kämmerlein verstauben lässt, sondern sie<br />

lieber <strong>als</strong> Provokation in die Welt schickt, gab ein Buch heraus mit dem märchenhaften Titel "Kein<br />

Wunderland für Alice?". Dort veröffentlichte sie einen ihrer liebsten Aufsätze, dessen zentrale<br />

Botschaft lautet: "Es ist nicht nur der Mangel an utopischen Leitbildern von Frauen an der Front<br />

des Neuen, der Frauen gelähmt hat, ihre eigene Zukunft zu entwerfen. Es war auch nicht nur die<br />

gewisse Aussicht auf das Schafott und die sichere eigene Niederlage, die sie zurückhielt. Es war<br />

auch nicht nur der klassische enge Zuschnitt ihres Lebens und die mangelnde Teilnahme an der<br />

gesellschaftlichen Produktion und dem öffentlichen Leben, der sie auf Dauer hatte zurückzerren<br />

können von dem, das unaufhaltsam vorwärtsdrängt. Es ist die ewige immer gleiche, nie endende,<br />

Kräfte auszehrende Sisyphus-Arbeit, Hoffnungen zu Grabe tragen zu müssen. Niederlagen <strong>als</strong><br />

Geschlagene zu überleben und die Verdammung zur Passivität in allen großen gesellschaftlichen<br />

Konflikten ...<br />

Für die Mehrzahl der Frauen gilt, dass alle großen Ereignisse - selbst die mit glückhaftem<br />

Ausgang - auf sie zuallererst ihre Schatten werfen. Diese Schatten haben das Gewicht von Fesseln,<br />

wie kein Mann sie trägt. Sie zu sprengen bedeutet eine unmenschliche Kraftanstrengung. Der Weg<br />

von Frauen - trotz dieses Wissens - in die erste Reihe der großen Menschheitsutopien ist länger, da<br />

sie viel mehr hinter sich und außer acht lassen müssen. Deswegen ist er auch radikaler. Einmal<br />

vorne angekommen, führt selten ein Weg zurück." Wenn Antje Vollmer schreibt, dann meint sie<br />

es ernst. Sie gehört zu jenen Frauen, die nach vorne stürmen - an die Front des Neuen. Ernst<br />

520


Blochs Prinzip Hoffnung wird hier weitergedacht, aus dem Philosophie-Seminar ins Leben geholt:<br />

quasi <strong>als</strong> gutmachende Anleitung für den Kampf um Recht und Gerechtigkeit.<br />

Antje Vollmer, die von sich sagt, sie möchte mal so leben, dass insbesondere Frauen<br />

denken, was sie kann, das kann ich auch, stellt ihr Leben und ihre Arbeit unter den Druck<br />

größtmöglicher Authentizität. Sie weiß um ihr Sendungsbewusstsein in der Bonner Raumstation, in<br />

der sie "dicke Bretter" zu bohren hat. Aber gerade dieser Anspruch lässt sie oft verzagt<br />

dreinschauen und sogar des Nachts in ihren Träumen noch schuften. Ihr Politik-Dasein ist<br />

bestimmt von einem abgeschotteten Verhalten gegenüber einem Milieu, in dem Radikalität und<br />

Unbestechlichkeit gegen sich selbst Fremdbegriffe sind; Eigenschaften, die für die bei allen<br />

Erfolgen bescheiden gebliebene Antje Vollmer charakteristisch sind - vom Gerede und Gehabe<br />

längst abgelöst worden. Ihr Einstieg in die Bundes-Politik war insofern leicht, <strong>als</strong> sie konkurrenzlos<br />

ihre Arbeit aufnehmen konnte. Ob in der Friedens- oder in der Frauenpolitik - bei den Grünen<br />

wurde dam<strong>als</strong> überall gerangelt. Nur von der Landwirtschaft verstand keiner etwas. Zur<br />

Zufriedenheit aller übernahm sie die Verantwortung für ein unpopuläres Arbeitsfeld. Es gelang ihr,<br />

eine Alternative zur EU-Agrarpolitik zu entwickeln, die auf eine beachtliche Resonanz nicht nur bei<br />

den Landwirten, sondern auch bei der CDU stieß, die begründete Ängste um ihr Wählerpotenzial<br />

hegte. Das Leben der Bauern kannte sie noch vom Lindenhof, mit diesen Menschen fühlte sie sich<br />

verbunden: "Im Loyalitätskonflikt hätte ich mich für die Bauern und nicht für die Grünen<br />

entschieden." Das Jahr 1983 war für Antje Vollmer ein Aufbruchsjahr zu anderen Ufern. Ein<br />

unvermuteter Aufbruch, der Erinnerungen an andere Aufbrüche in ihrem Leben weckte. Mit zehn<br />

Jahren wollte sie unbedingt aufs Gymnasium.<br />

Ein Wunsch, mit dem sie innerhalb ihrer Familie aus der Reihe tanzte. Mit zwanzig hatte<br />

sie es endlich geschafft, wegzukommen aus der beklemmenden Kleinstadt Lübbecke im<br />

Westfalenland: raus, möglichst weit weg - Berlin, Paris, Damaskus, Madrid, Rom. Dann kam das<br />

Studium und Studentenbewegung - theoretisches Neuland. Es schlossen sich an drei Jahre <strong>als</strong><br />

Pastorin in einem Berliner Arbeiterviertel. Sie wurde dreißig und fing noch einmal von vorne an,<br />

hängte die "theologische Amtsperson" an den Nagel. Neuer Beruf, neue Lebenswelt, neue Freunde.<br />

Immer auf der Suche, getrieben vom Drang aus dem Leben etwas zu machen. Das Glück scheine<br />

ihr günstig gewesen zu sein, meint sie rückblickend lakonisch. Als Antje Vollmer die Parteiarbeit<br />

aufnahm, überschatteten die Politik der Grünen starke Auseinandersetzungen in der<br />

Fraktionsführung. Das ist nach Jahren immer so. Dam<strong>als</strong> bestand die Fraktionsführung aus Otto<br />

Schily ( 1980 Mitbegründer der Grünen, 1990 SPD-Bundestagsabgeordneter, 1998-2005<br />

Bundesminister des Inneren), Petra Kelly (Alternativer Nobelpreis 1982 - *1947 +1992) und<br />

Marieluise Beck-Oberndorf ( 2002-2005 parlamentarische Staatssekretärin im Ministerium für<br />

Familie, Frauen, Gesundheit, Ausländerbeauftragte).<br />

Alle drei hatten vor allem eins gemeinsam, sie konnten nicht miteinander. Antipathien.<br />

Diese Situation schien nicht nur für Antje Vollmer prekär. Es konnte nicht darum gehen, sich blind<br />

für eine Person zu entscheiden. Das hätte nur unnötige persönliche Verletzungen mit sich<br />

gebracht, den lähmenden Zustand der Partei verlängert. Für Antje Vollmer und Gleichgesinnte<br />

stellte sich die Frage, wie eine allseits akzeptable Lösung aussähe. Was einst Utopie war und nun<br />

knallharte Wirklichkeit wurde - zum Missvergnügen vieler männlicher Grünen - das war das<br />

Feminat der Bundestagsfraktion der Grünen. Es war eine Geburt in schwerer Stunde, doch - wie<br />

Antje Vollmer meint - zur rechten Zeit. Mit einem Machtputsch der Frauen -wie es von den<br />

Medien männertreu dargestellt wurde - hatte das Konzept nichts gemein. Antje Vollmer und ihre<br />

521


Mitstreiterinnen probierten lediglich, einen konstruktiven und perspektivreichen Ausweg aus einer<br />

schwierigen, weil verfahrenen Lage zu finden.<br />

Im weitesten Sinne eines Lösungskonzepts hatte das Feminat einen neuen Umgang<br />

miteinander, ein Verhalten, das auf Zusammenwirken und Zusammenarbeiten und gegen das von<br />

eigenen Interesse angetriebene Intrigenspiel in der Politik setzte. Es war ein Konzept, das<br />

Gegensätze austragen und nicht zukleistern wollte. "Es gab darauf ungeheure<br />

Machtauseinandersetzungen mit den Männern, die das Feminat politisch zu diskreditieren<br />

versuchen." Hier zeigte sich die Gefahr von Ferne, die die Grünen dann einholte. Antje Vollmer<br />

sah dam<strong>als</strong> schon genauer, aus der Distanz einer, die nicht in die Machtkämpfe verstrickt ist. Die<br />

Grünen hatten in ihrer kurzen Geschichte ein atemberaubendes Tempo mit ihren Ideen,<br />

Forderungen und Konzepten vorgelegt; allmählich emanzipierten sich jedoch diese Entwürfe von<br />

ihnen und wurden gesellschaftsfähig. Der Erfolg der Grünen stand in seinem Zenit, und die<br />

Gedankengeber von einst drohten sich in parteiinternen Flügelkämpfen aufzureiben.<br />

Antje Vollmer, die für alles Neue ein untrügerisches Gespür hat und diesem mit Energie<br />

auf die Sprünge zu helfen versteht, stellte ein merkwürdiges Phänomen fest: Kaum hatten einige<br />

Grüne einen ungewöhnlichen Gedanken in die Diskussion geworfen, meldete sich gleich jemand,<br />

der hier nur einen Stein des Anstoßes erblickte und den Gedanken im Keim erstickte. Zurück blieb<br />

der blasse Schein einer Idee. Die Folge war, dass der Elan der Grünen nachließ. Antje Vollmer<br />

brachte die Talfahrt auf den Punkt: Nichts ist so praktisch wie die überkommene Praxis. Der<br />

Parteiapparat der Grünen mutierte auf erschreckende Weise in die Formen der traditionellen<br />

Parteibürokratien. Deren Strukturen hatten sich in Jahrzehnten bürgerlicher Machtverwaltung<br />

herausgebildet. Antje Vollmer in den politischen Diskussionen der APO-Zeit geschulter Blick<br />

erkannte innerhalb der Grünen Partei erste Anzeichen eines in Funktionalität und Hierarchie<br />

erstarrenden Parteilebens.<br />

Sie traf den Kern dieser Entwicklung mit einer Geschichte. In der DDR habe ihr jemand<br />

mal einen Zettel zugesteckt, der in ihren Augen revolutionärer sei <strong>als</strong> so manches Zitat von Rosa<br />

Luxemburg: "Wie Rosse gehn die gefangenen Element' und alten Gesetze der Erde. Und immer ins<br />

Ungebundene geht eine Sehnsucht." Exakt hier zeige sich, so Antje Vollmer, das Grunddilemma:<br />

Was haben Parteien mit ungebundenen Sehnsüchten zu tun? Nichts - eben! Antje Vollmers<br />

Diagnose wenige Monate nach ihrem Parteieintritt. Ob in der Phase, die zum Fraktions-Feminat<br />

führte, oder in der Zeit bis zum zehnjährigen Geburtstag der Grünen Partei - es gelinge den<br />

Grünen zeitweilig gar nicht und mittlerweile immer weniger - so Antje Vollmer -, sich aus der<br />

Paralyse des Selbstbeharkens und des Selbstmitleidens zu befreien.<br />

Die Flucht in die Verbalradikalität und die endlose Scheindebatten seien die Konsequenz.<br />

Im Spannungsverhältnis zwischen sich verselbständigenden Apparaten bei gleichzeitig egalitären<br />

Strukturen waren längst die Grenzen des politisch und menschlich Möglichen und Erträglichen<br />

erreicht worden. Antje Vollmer sah <strong>als</strong> Ursache meistens ein soziales Problem, das alle Parteien<br />

hinreichend kennen: Wohin mit den verdienten Funktionär (inn)en? Auch die Antwort der Grünen<br />

auf diese Frage war bislang eine traditionelle gewesen: Hinein mit ihnen in die Mitarbeiterstäbe und<br />

Geschäftsstellen. Der Apparat gebiert so sich selber. Zusammen mit dem Blockdenken braute sich<br />

da ein hochexplosives Gemisch zusammen. Die politischen Debatten in den Orts- und<br />

Kreisverbänden wurde dagegen seltener, "eine Auszehrung der Basis" war schon dam<strong>als</strong><br />

unverkennbar. Antje Vollmer gab jedoch nie auf. Unscheinbar ging sie voran. Hinter der Etikette<br />

der Schüchternheit verbarg sich ein in der Politik ungewohntes Stehvermögen.<br />

522


Schon dam<strong>als</strong> fiel den politischen Beobachtern zu Bonn auf, dass Frauen an der<br />

politischen Macht ihre Arbeit nicht mit Samthandschuhen ausführen, sondern mit jener Härte, die<br />

scheinbar ein Privileg der Männer ist. Ein kluger Kopf erkannte dam<strong>als</strong> in der Frankfurter<br />

Allgemeinen Zeitung: "Frau Vollmer bezeichnet sich selbst <strong>als</strong> sehr deutsch und sehr<br />

protestantisch, und mancher in der Fraktion wünschte sich, sie übte mehr Nachsicht gegenüber<br />

den kleinen menschlichen Schwächen." Zu Zeiten des Fraktions-Feminats brachen bislang<br />

unterschwellige Konflikte mit den Grünen-Männern offen aus. Erstm<strong>als</strong> prallte das<br />

Selbstverständnis der Macher brüsk ab bei den Grünen Frauen auf dem Weg zur Macht. "Zum<br />

ersten Mal in der Geschichte haben Frauen in einer Fraktion die Führung übernommen", sagte<br />

Antje Vollmer nicht ohne einen gewissen Stolz. Dabei kam es den Grünen-Frauen gar nicht darauf<br />

an, die Männer zu entmachten. Der Spiegel betitelte dam<strong>als</strong> seinen Bericht über den Wahlsieg der<br />

sechs Frauen mit der Überschrift "Spitze entmannt" und traf damit den Nerv männlicher<br />

Machtvorstellung. Die Kollegen der "sechs tapferen Schneiderleininnen" (Antje Vollmer, Waltraud<br />

Schoppe, Annemarie Borgmann, Heidemarie Dann, Erika Hickel und Christa Nickels) waren<br />

sichtlich verschreckt.<br />

Der abgesägte Otto Schily sprach vom "f<strong>als</strong>chen Weg einer geschlechtsspezifischen<br />

Lösung". Und der Ex-Fraktionsgeschäftsführer Joschka Fischer flüchtete sich in zynische Sprüche<br />

über "die gequetschten Schwanzträger". Der Alt-Sponti erkannte gleichwohl die Stoßkraft der<br />

Bewegung: "Jene letzte Burschenschaft namens Bundestag vergeht seitdem in ängstlicher Häme<br />

über den Weiberrat der Grünen, denn, meine Güte, wo kommen wir denn hin, wenn dieses<br />

Beispiel Schule macht . . . Unser Weiberrat wird es nicht leicht haben, denn er (er!) wird sowohl mit<br />

den sattsam bekannten Vorurteilen der Bonner Versammlung zu kämpfen haben <strong>als</strong> auch mit den<br />

zurückgestellten Bedenken. Ambitionen und Ehrgeizen grüner Klemmchauvis, ganz zu schweigen<br />

von den ungelösten und verdrängten politischen Problemen der grünen Bundestagsfraktion."<br />

Fischers Einsicht folgte aber sogleich eine Verniedlichung, so, <strong>als</strong> würde es sich hierbei nur um ein<br />

Puppenstück handeln: "Zudem ist es schon ein Genuss, die allgemeine Verunsicherung der<br />

Republik durch die grüne Weiberherrschaft zu erleben." Männer-Sprüche.<br />

Bei den Frauen hingegen hörte sich das anders an. Christa Nickels (1998-2001<br />

parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit), auch nicht auf den<br />

Mund gefallen: "Mir hat jemand am Abend der Wahl gesagt: Jetzt haben die Frauen die Herrschaft<br />

übernommen: Nicht die Herrschaft, sondern die Arbeit." Die Grande Dame des Deutschen<br />

Bundestages, Hildegard Hamm-Brücher (Staatsministerin im Auswärtigen Amt 1976-1982, FDP-<br />

Austritt 2002), begeisterte sich: "Eine tolle Sache, damit kann ich mich nur solidarisieren." Die<br />

CSU-Abgeordnete Ursula Männle gratulierte Waltraud Schoppe zum Erfolg. Die Sozialdemokratin<br />

Anke Fuchs fand, was da passierte, "ganz prima". Frauen-Solidarität. Mit dem Feminat sollte ein<br />

anderes Politik-Stil entwickelt werden. Statt Konkurrenzneid und Profilierungssucht - Kooperation<br />

und Kollegialität. Es war der Versuch, Politik mit anderen Mitteln zu betreiben. Staat des Kriegs<br />

der Prominenten und Karrieristen um Fernsehauftritte und Zeitungsmeldungen ging es um das<br />

uneitle Engagement, um richtige Lösungsvorschläge.<br />

Antje Vollmer bekannte schon dam<strong>als</strong> freimütig, dass sie keine Lust habe, ein Polit-Star zu<br />

werden. "Ich habe aber ein unheimliches Interesse, dass sich Frauen in ähnlicher Situation, in der<br />

wir alle mal gewesen sind. in uns wiederfinden. Von daher denke ich, dass wir unheimlich große<br />

Wirkungen haben werden auf die Entwicklung von Frauen, dass sie lernen, sich Sachen zuzutrauen,<br />

die sie sich vorher nicht zugetraut haben." Der Unmut der Grünen-Frauen jener Partei, wo vieles in<br />

der Praxis anders ablief, doch einiges nur auf dem Papier, war groß. Denn im Bonner Männer-<br />

523


Domizil bildeten die Grünen-Männer keine Ausnahme. Machismo gab es links wie rechts. Doch -<br />

erstm<strong>als</strong> in der Hauptstadt überhaupt - waren die Frauen nicht mehr bereit, den alltäglichen<br />

Chauvinismus der Männer hinzunehmen. Die angebliche Chancengleichheit bei den Grünen, so<br />

stellte die Frauengruppe der Grünen fest, sei "nur die Verschleierung der permanenten<br />

Unterdrückung von Frauen". Antje Vollmer profilierte sich <strong>als</strong> eine scharfe Kritikerin der<br />

männlichen Politikformen bei den Grünen. Joschka Fischer (Bundesminister des Auswärtigen<br />

1998-2005) und der einstige Pariser Studentenrebell wie späterer Frankfurter Berufs-Sponti Daniel<br />

Cohn-Bendit sah sie <strong>als</strong> typische Repräsentanten an. Im Streitgespräch mit dem letzteren schimpfte<br />

sie: "Da braut sich doch etwas zusammen: Mackertum, männlich bestimmte Formen, Politik zu<br />

machen, sind an allen Fronten im Vormarsch." Sie sprach von der "Verhandlungstaktik nach<br />

Zocker-Mentalität". "Es ist für mich kein Zufall, dass dabei Männer den Ton angeben." Als<br />

Synonym für überkommenes männliches Verhalten kreierte sie das Schlagwort von der "Fischer-<br />

Gang". Dahinter steckte kein Vernichtungswille, sondern eher die Lust, spielerisch Tendenzen auf<br />

einen Begriff zu bringen. Diese Suche nach neuen Wörtern, der Wille zur eigenen, unverbrauchten<br />

Sprache geht einher mit ihrer unverkennbaren Suche nach politischem Neuland. Der Begriff<br />

"Fischer-Gang" wurde die Parole zur Verteidigung der politischen Bedeutung des Feminats.<br />

Die Frauen des Feminats suchten die Konfrontation mit jenem Typus von politisch<br />

aufgeklärtem, scheinbar durchsetzungsfähigerem Mann, der sie - allen Floskeln zum Trotz - wie<br />

einen netten Hausfrauenverein behandelte: Sie sind zur Genüge bekannt, diese unglaublich<br />

progressiven, innig verständnisvollen Repräsentanten ihres Geschlechts, die mit ihrem routinierten<br />

Wortgeklingel vor jeder Tür ihr Liedchen singen. Die Grünen-Frauen wollten raus aus ihrer<br />

therapeutischen Rolle, die die Männer, Zweierbeziehungen geübt, so gerne den Frauen, mit ihrer<br />

"Naturbegabung zum Kompromiss", überlassen: zwischen den Fronten zu vermitteln, den<br />

Hitzköpfen die Hand zu reichen, den Kampfhähnen Wärme zu geben und wie eine Mutter da zu<br />

sein, wenn der Junge sich das Knie aufgeschlagen hat. In der Tat: Die medienpotenten Cracks der<br />

Grünen zogen sich den nach bürgerlichen Muster für ihre Auftritte maßgeschneiderten Anzug an,<br />

auch wenn sie sonst in ausgefransten Jeans herumliefen.<br />

Die Mehrheit der Grünen nahm dam<strong>als</strong> ein kritisches Verhältnis gegenüber einer<br />

möglichen Zusammenarbeit mit der SPD ein. In der Öffentlichkeit jedoch entstand ein anderes,<br />

verzerrtes Bild, das von Joschka Fischer und Otto Schily dominiert wurde, die sich schon dam<strong>als</strong><br />

<strong>als</strong> grüne Minister in einem möglichen Bundeskabinett Oskar Lafontaines (SPD-Vorsitzender<br />

1995-1999) empfahlen. Antje Vollmer: "Schau Joschka Fischer und Waltraud Schoppe (Frauen-<br />

Ministerin in Niedersachsen 1990-1994) an. Sie bekommen ihre politischen Anliegen<br />

unterschiedlich deutlich rüber. Woran liegt das? Mit Qualitätsunterschied ist das nicht zu erklären.<br />

Er polarisiert, sie nicht. Polarisierung hat so per se einen höheren politischen Wert. Diese Medien<br />

haben ein größeres Interesse, Politik über Leute wie Fischer zu machen, <strong>als</strong> über Leute wie<br />

Waltraud. So wird mit uns Politik gemacht. Das hat für uns eine eigene Dynamik, wir laufen<br />

Gefahr, die Politik zu machen, die die Öffentlichkeit will." Die Medien für die Transportierung<br />

grüner Inhalte in die Öffentlichkeit zu nutzen, das stellte Antje Vollmer dagegen.<br />

Dem Feminat gelang es, Kampagnen gegen das Kraftwerk Buschhaus, gegen Dioxin zu<br />

initiieren und eine breitangelegte Initiative zur Deutschlandpolitik zu starten. Die Kraft resultierte<br />

aus der Geschlossenheit der Fraktion, um die das Feminat kämpfte. Dabei kam es den Grünen-<br />

Frauen nicht darauf an, ihren politischen Stellenwert qua demonstrativer Negativ-Abgrenzung an<br />

den Männern in Bonn dingfest zu machen. Wenn sie sich mit ihnen anlegten, verfolgten sie stets<br />

konkrete Ziele. Antje Vollmer wehrte sich vehement dagegen, dass der Machtkampf bei den<br />

524


Grünen ausschließlich eine Auseinandersetzung zwischen Männern und Frauen sei. Sie wusste, dass<br />

es um die Macht ging und der Frauenvorstand bei den Grünen im Zentrum der Macht war. Dam<strong>als</strong><br />

äußerte sie: "Meines Erachtens geht es um eine Auseinandersetzung zwischen bestimmten<br />

Männern, die ein programmatisches, im Grunde genommen bürgerliches Politik-Modell anstreben,<br />

und Frauen wie Männer in der Fraktion, die an den grünen Grundsatzentscheidungen festhalten<br />

wollen, die sagen: Wir wollen keine Berufspolitiker und keinen Personenkult, sondern wir wollen in<br />

Form einer besonders solidarischen Zusammenarbeit oppositionelle ökologische Politik machen."<br />

Polarisierung, die Stärke der Männer - eben.<br />

Der Kampf um die innerparteiliche Macht - das war für Antje Vollmer schon ein Kampf<br />

um den politischen Stil. Sie erinnert sich in diesem Zusammenhang an die Auseinandersetzungen<br />

und Aktionen der rebellierenden Studenten in der 68er Zeit. Dam<strong>als</strong> hatten sich die Männer und<br />

Frauen in gleicher Stärke engagiert. Doch wer dam<strong>als</strong> das Wort führte und in vorderster Front<br />

stand, das waren vor allem die Männer - Repräsentanten eines ganz bestimmten Stils. Diskussionen<br />

wurde nicht geführt, sondern an sich gerissen. Es dominierte eine unterschwellige Aggressivität.<br />

Die Frauen zogen den kürzeren. Zweifellos hat Antje Vollmer ihre politische Prägung in den<br />

Jahren des Aufbruchs aus der restaurativen bundesdeutschen Enge, in der Studentenbewegung,<br />

erfahren. In jener Ära herrschte noch die Ansicht vor, junge Mädchen sollten lieber nicht aufs<br />

Gymnasium gehen. Ihre dürftigen Bildungs- und Berufschancen sollten nur eine garantieren: den<br />

Erhalt von Heim und Herd. Eine Generation lief sich die Hacken ab, um aus der vermieften<br />

Heuchelei der Wirtschaftswunderkinder auszubrechen. Und Antje Vollmer war dabei. Im<br />

Streitgespräch mit einem Helden des Mai '68, Daniel Cohn-Bendit, das politische Enfant terrible<br />

der vereinigten Spießer, beschrieb sie, wo dieses Dabeisein ein Ende hatte - bei den<br />

Straßenkämpfen: "Ich habe die aus der Studentenbewegung noch in genauer Erinnerung. Wenn<br />

sich eine bestimmte Militanz auf der Straße breitmacht, können die Frauen bestenfalls das<br />

Hinterland darstellen, aber keinesfalls in der ersten Reihe mitkämpfen. Ich stehe doch bei solchen<br />

Demonstrationen angstschlotternd am Ende der Straße, wehrlos.<br />

Männer bestimmten die Auseinandersetzung. Wenn das zur Hauptform politischer<br />

Auseinandersetzung wird, haben Frauen nichts mehr zu bestellen." Die Erfahrung und ihre Folgen.<br />

Es blieb das Wissen um einen Zensor, der die politische Kultur dominiert. Das Faustrecht von<br />

gestern wurde die Rhetorik von heute. "Wenn ich eine Rede schreibe zum Beispiel, habe ich<br />

natürlich die Stellen im Kopf, an denen Joschka Fischer lächelt oder Thomas Ebermann (ehem<strong>als</strong><br />

Kommunistischer Bund, 1987/1988 Fraktionssprecher der Grünen im Bundestag) abwinkt. Der<br />

männliche Stil ist <strong>als</strong> Zensor im Kopf." Ihre Eindrücke haben sich im Laufe der Jahre erhärtet.<br />

1987 veröffentlichte sie in der Tageszeitung ihren Aufruf "Boykottiert das Hauptquartier", der die<br />

Auseinandersetzung um die Krise der Grünen Partei eröffnete. Letztendlich bildete dieser Aufsatz<br />

für eine kritische Bestandsaufnahme der grünen Bewegung - was sie wollten, was sie wurden . Mit<br />

den Fundies und Realos hatten sich in der Partei schon längst zwei Blöcke gebildet, die um die<br />

Meinungsführerschaft erbittert kämpften. Das heißt: statt um den Konsens um Mehrheiten. Antje<br />

Vollmer sah neue Götter auf den linken Hausaltären. Sie schlug sich auf die Seiten der Schwachen,<br />

nämlich der Basis, der wortlosen Minderheiten und prangerte den Niedergang jenes grünen Elans<br />

an, der einst für alle charakteristisch war und nunmehr nur noch eEinzelnebeschwingte. Warum<br />

sollen Ebermann und Schily <strong>als</strong> Sprecher gewählt werden? Antwort: weil jedermann sofort darauf<br />

kommt, dass sie die Sprecher sind! So war das. "Selten habe ich mich so wütend und so<br />

ohnmächtig gefühlt", klagte die Ketzerin.<br />

525


In Distanz zu den tagespolitischen Themen stellte sie die Frage nach den grundlegenden<br />

Vorstellungen der Grünen, der Linken und Alternativen. Es war ein Appell an alle, jene produktive<br />

Unruhe wiederzufinden, ohne die eine Bewegung im parlamentarischen Trott erstarrt. Bekanntlich<br />

war Antje Vollmer, die frisch vom Land kam, von den in Beton gegossenen Parteizentralen wenig<br />

angetan. Mit zunehmender Verblüffung musste sie feststellen, wie sehr sich manche<br />

Gleichgesinnten der neuen Umgebung anglichen, der Beton der Macht an ihnen fraß, bis hin zur<br />

"Betonisierung des Kopfes der Parteispitze". - Politische Werdegänge. Aber etwas zu erkennen und<br />

zu wissen, damit gibt sie sich nicht zufrieden. Mit Hartnäckigkeit und treffsichereren Stichworten<br />

rückt sie an gegen zementierte Verhältnisse, gegen die Elitebildung innerhalb der Partei. Typisch:<br />

Wer Antje Vollmer über Jahre ihres politischen Wirkens beobachten konnte, lernt sie schätzen:<br />

ihren klärenden Rigorismus und ihre hoffnungsgetragene Kampfbereitschaft, die direkt zur Sache<br />

geht, wenn es um die Sache geht.<br />

Im schrillen Polit-Geschäft dieses Jahrzehnts ist Antje Vollmer eine<br />

Ausnahmeerscheinung, Ihr Engagement in ihrer Arbeit zeigt, wie eine Frau, die ihre<br />

Kampfbereitschaft nicht wie ein Markenzeichen vor sich herträgt, mit analytischem Blick und<br />

Sensibilität eine beachtliche Resonanz erzielt. Für sie ist Parlamentarismus nicht nur konformes<br />

Abstimmungsverhalten, sondern der Versuch, Meinungs- und Denkprozesse der Menschen<br />

aufzunehmen. Dafür steht sie ein, eine Eigenbrötlerin, die Spuren hinterlässt. Zeiten der<br />

Selbstfindung der Grünen-Frauen: Wechselbäder zwischen Resignation, Ohnmacht und Aufbruch.<br />

Auf ihrem "feministischen Ratschlag" im November 1989 in Bonn setzte sich die Erkenntnis<br />

durch, dass auch die Grünen eine "stinknormale chauvinistische Partei" sei, ohne ernsthafte<br />

frauenbewusste Politik. Eine Partei , in der die Macher vor den Trümmern das Sagen hatten.<br />

Folgerichtig kehrten die engagierten Frauen um Regina Michalik der Partei den Rücken, gingen<br />

dorthin zurück, woher sie gekommen waren: in die autonome Frauenarbeit. Auf dem<br />

"feministischen Ratschlag" in Bonn gewann auch die Erkenntnis an Boden, dass die neuen Frauen<br />

an der Macht von den herrschenden Spielregeln vereinnahmt würden.<br />

Das Grüne Haus begann zu bröckeln. Der Erosionsprozess der ökologischen Bewegung<br />

entzündete sich an den Frauen. Es waren aber grüne Mandatsträgerinnen, die nach der Einführung<br />

der Frauenquote von einem "Rollback der Männer" sprachen, davon, dass die Frauenquote die<br />

Qualität der Politik kaum verändert habe. Über dieses Klima zwischen Protest und Karriere,<br />

Unbeugsamkeit und Anpassung schrieb Jutta Ditfurth (Bundesvorsitzende der Grünen 1984-1988)<br />

später, im Jahre 1989, unter der Überschrift "Profiteure in der Flaute" in der Hamburger<br />

Wochenzeitung Die Zeit: "In unserem alltäglichen politischen Alltag knallten Ansprüche auf die<br />

Praxis, Den Kopf voll mit Simone de Beauvoirs (*1908+1986) 'Das andere Geschlecht'<br />

beobachtete ich irritiert, wie Männer in studentischen Teach-ins Reden schwangen und sich, zurück<br />

in den Bänken, von Freundinnen den Nacken kraulen ließen. Bei den seltenen Reden der Frauen<br />

stieg der Geräuschpegel demonstrativ. Aus vielen offensichtlichen Widersprüchen dieser<br />

Kulturrevolte wuchsen die Wurzeln für die erfolgreichen Bewegungen der siebziger Jahre. Wir<br />

lernten ... Mir wird schwindelig von der Geschwindigkeit, mit der Leute, ihre eigene Geschichte<br />

fanatisch leugnend, in all den Jahren von links nach rechts an mir vorbeirasen.<br />

Da kungeln sie nun rosa-grün, müde, zynische Männer zwischen vierzig und fünfzig, im<br />

Bierkeller oder im Schloss. Ihnen gegenüber SPD-Apparatschiks wie Karsten Voigt (seit 1999<br />

Koordinator der deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit), Wolfgang Roth (Vizepräsident der<br />

Europäischen Investitionsbank 1993-2006) oder Gerhard Schröder (Bundeskanzler 1998-2005) aus<br />

der ersten Anpassungsgeneration der APO . . . Seit die Grünen am Tropf der Harmoniesucht<br />

526


hängen, trudeln sie in den Sumpf der Mittelmäßigkeit, dessen Ufer alle rechts liegen . . . Gerade die,<br />

die gestern Marx und Lenin auswendig aufsagten, anstatt sie zu verstehen und weiterzuentwickeln,<br />

werfen denen, die noch Linke sind und selten Dogmatiker waren, die eigene Vergangenheit vor.<br />

Wie sie Marx vergöttern, den ich schätze, so beten sie heute mit zunehmender Entschlossenheit,<br />

zum goldenen Kalb kapitalistischer Marktwirtschaft. Sie grenzen wie Antje Vollmer am liebsten<br />

nach links aus und öffnen sich nach rechts. Was ist auch schon die Utopie sich befreiender<br />

Menschen gegen einen warmen Platz im Kreis bürgerlicher Honoratioren? Die Grünen werden zur<br />

persönlichen Beute. Eine Idee, die wahrhaftig zur persönlichen Bereicherung gedacht war, stirbt . .<br />

.".<br />

Am Ende der Feminatszeit 1985 - Antje Vollmer hatte infolge der anstehenden Rotation<br />

ihr Bundestagsmandat niedergelegt - holten sie die Folgen des 'Deutschen Herbstes 1977' ein. Das<br />

Schicksal der RAF-Gefangenen hat Antje Vollmer nie losgelassen: "Es konnte mir nie gleichgültig<br />

werden - selbst wenn ich es gewollt hätte." Gemeinsam mit ihrer Freundin der Grünen-<br />

Bundestagsabgeordneten Christa Nickels, schrieb sie einen Brief an die inhaftierten RAF-Mitglieder<br />

- ein Zeichen, auf einander zuzugehen. Regelmäßig besuchten die beiden Frauen RAF-Gefangene,<br />

die sich vom Terrorismus losgesagt hatten. Sie bemühten sich, Hafterleichterungen und<br />

Haftverkürzungen durchzusetzen. Und sie versuchten, mit denen ins Gespräch zu kommen, die<br />

noch stur auf der Linie der RAF waren.<br />

Antje Vollmer hoffte herauszufinden, "ob die Hardliner unter Umständen nicht bereit<br />

waren, andere Wege einzuschlagen. Das heißt keineswegs: Amnestie für alle. Aber wenn unsere<br />

Gespräche einen Sinn haben sollten, dann müssen wir denen genauso etwas abringen wie der<br />

Gesellschaft. Wir versuchten, unsere Erfahrungen mit dem gewaltfreien Widerstand zu vermitteln.<br />

Gerade wir Grünen müssen nach Methoden suchen, wie wir der Gewalt der Militanten gewaltfreien<br />

Widerstand entgegensetzen." Verständlich, dass eine Einzelkämpferin wenig auszurichten<br />

vermochte. Antje Vollmer hatte sich viel vorgenommen, vielleicht zu viel, obwohl ihr die Medien<br />

für die von ihr angestrebte neue Nachdenklichkeit breiten Raum gaben. Dabei nahm sie in Kauf,<br />

bei ihren fast ausweglosen Vermittleraktivitäten für naiv und lebensfern gehalten zu werden. Ein<br />

Vorwurf, den sie offensiv ins Positive zu verkehren suchte. "Naivität ist unsere Waffe", diktierte sie<br />

den Bonner Journalisten in ihre Schreibblocks. Es war ihr damaliger Fraktionskollege und einst<br />

prominenter RAF-Verteidiger Otto Schily (SPD-Übertritt 1997, Bundesminister des Inneren 1998-<br />

2005), der ihr in den Rücken fiel.<br />

Er wollte den Dialogversuch der beiden Politikerinnen keineswegs <strong>als</strong> "Christenpflicht"<br />

gewertet wissen. Im Gegenteil, Otto Schily warf ihnen vor, "großen politischen Schaden<br />

angerichtet" zu haben. Es sei "unverantwortlich", so Schily in einer Presserklärung, "in nahezu<br />

devotem Ton gegenüber Personen, die in gewissenloser und aberwitziger Realitätsverkennung<br />

Mord und Gewalt propagierten und praktizierten, um Gespräche zu ersuchen." Antje Vollmer ließ<br />

sich nicht beirren. "Wir haben mit vielen Politikern und mit vielen Gefangenen darüber geredet<br />

oder zu reden versucht. Die Wahrheit ist: Es gibt seit Jahren kein einziges Lösungskonzept außer<br />

dem, das Ulrike Meinhof (*1934+1976) ein halbes Jahr vor ihrem Selbstmord - am 9. Mai 1976 - in<br />

Stuttgart-Stammheim geschrieben hat." In der Tat waren es Worte der Ausweglosigkeit. Ulrike<br />

Meinhof: "Wie kann ein isolierter Gefangener den Justizbehörden zu erkennen geben,<br />

angenommen, dass er das wollte, dass er sein Verhalten geändert hat? Wie? Wie kann er das in einer<br />

Situation, in der bereits jede, absolute jede Lebensäußerung unterbunden ist? Dem Gefangenen in<br />

der Isolation bleibt, um zu signalisieren, dass er sein Verhalten geändert hat, überhaupt nur eine<br />

Möglichkeit, und das ist Verrat . . . Das heißt, es gibt in der Isolation exakt zwei Möglichkeiten:<br />

527


Entweder sie bringen einen Gefangenen zum Schweigen, das heißt, man stirbt daran oder sie<br />

bringen einen zum Reden. Und das ist Geständnis und der Verrat. Das ist Folter, exakt Folter . . .".<br />

Zur Erinnerung: Am 1. Februar 1989 gingen 50 Gefangene der RAF abwechselnd und<br />

gemeinsam in den Hungerstreik, sie forderten Zusammenlegung und humane Haftbedingungen.<br />

Doch die Länder-Justizminister blieben hart. Antje Vollmer warf den verantwortlichen Politikern<br />

vor, eine Chance, den Hungerstreik zu verhindern und somit die Lage in den Gefängnissen zu<br />

entspannen, vertan zu haben. Im Klartext: Der "gesellschaftliche Dialog" sie am Desinteresse der<br />

Politiker kläglich gescheitert. Für Antje Vollmer, die sich selbst <strong>als</strong> Partisanin bezeichnet, die aus<br />

den eingefahrenen Rechts-links-Schablonen auszubrechen versucht, war diese Erfahrung nicht neu.<br />

Doch sie kennt ihre Stärken: "Es ist zwar ein Vorteil, dass ich langfristig und hartnäckig an einer<br />

Geschichte dranbleibe, mich nicht von aktuellen Erfordernissen antreiben lasse. Die Kehrseite ist<br />

aber meine Schwäche, dass ich nur schlecht etwas beiseite legen kann, was ich mir einmal<br />

vorgenommen habe. Diese Zähigkeit bedingt meine Art von Unbeweglichkeit. Und das kostet eben<br />

viel Kraft. Denn in einer aussichstlos erscheinenden Situation ist es ja nicht ausgemacht, dass man<br />

nicht weiterkommt." Sie will keine f<strong>als</strong>che Sicherheit, weder bei sich noch bei anderen.<br />

Sie möchte Zweifel wecken an starken Urteilen, das Denken in Bewegung setzen. Die<br />

Hoffnung, dass ihr dies gelingt, treibt sie voran. Aber es gibt Situationen, "in denen ich mich auf<br />

weiter Flur verloren fühle, was ja nicht ganz stimmt. Denn gute Freunde gibt es ja. Doch das<br />

Gefühl ist nachhaltig da, meistens ohne einen direkten Auslöser: allein gefressen zu werden. Daraus<br />

entsteht dann meine Art Bockigkeit, es packen zu wollen, die Stimmung, es doch irgendwie zu<br />

schaffen. Ich rede mir dann ein, dass meine Vorhaben ohne Risiko seien. Schwäche ist in<br />

Wirklichkeit eine Form der Stärke, wenn es einem gelingt, dieses Schwachsein auszuhalten." Diese<br />

Einsicht unterscheidet Antje Vollmer von Politikern wie Otto Schily. Dieser Typus riskiert sich<br />

selbst nicht so stark, kalkuliert den Einsatz seiner Identität genauer. Die Frage war Antje Vollmer<br />

schon immer präsent, woher ihre Besessenheit komme, etwas in Bewegung zu setzen, keinen<br />

Stillstand zuzulassen. Die damalige Konstellation bei den Grünen polarisiert die Partei in zwei fest<br />

unversöhnliche Lager. Diese Partei ähnelte einem Schlachtfeld der harten Flügelkämpfe, die viele<br />

resigniert zum Austritt oder in den Ohnmacht trieben. Die Grünen, die sich <strong>als</strong> eine Partei des<br />

Jugendprotestes begriffen, verloren im Dauerstreit um Posten und Programmpunkte vornehmlich<br />

die Jugend weitgehend aus dem Blickwinkel. Vor der Bundestagswahl 1980 bis zur Wahl 1987 sank<br />

der Anteil der 18- bis 25jährigen bei den Grünen -Wählern von 43 auf 23 Prozent. Der Anteil der<br />

Erstwähler schrumpfte gar von 20 auf 6 Prozent. Die damalige Vorstandssprecherin der Grünen,<br />

Verena Krieger (Grünen-MdB 1987-1989): "Ich habe vor zehn Jahren <strong>als</strong> Jüngste angefangen und<br />

bin heute immer noch die Jüngste." - Gemeinsam mit großen Teilen des linken Flügels verließ sie<br />

1990 die Partei.<br />

Mit der Gruppe Aufbruch '88 wollte Antje Vollmer die Grünen aus ihrer Lethargie<br />

herausholen. Die Spaltung der Grünen geisterte dam<strong>als</strong> durch so manchen Kopf. "Wir befanden<br />

uns alle in einer äußerst kritischen Situation, die durch eine bedrohliche Entfernung von den<br />

gesellschaftlichen Problemen und Zerstörungen von Zukunftshoffnungen gekennzeichnet war."<br />

Der Zeitpunkt schien überfällig, eine Bilanz der acht Jahre Parteiarbeit zu ziehen, auch unter<br />

Verarbeitung des Praxisschocks, den die Grünen in den Jahren im Parlament erlitten hatten. "Viele<br />

Mitglieder retteten sich in die Routine, und die Parteigremien ähnelten mehr einer Ansammlung<br />

von Strömungsvorsitzenden. Wir mussten raus aus diesen Flügelkämpfen zwischen Realos und<br />

Fundis. Wir brauchten eine Kulturrevolution - dringender denn je." Mit dem Manifest, das die<br />

Gruppe '88 zur Urabstimmung stellen wollte, sollte eine verbindliche, von allen Mitgliedern der<br />

528


Partei legitimierte und damit richtungweisende Vorentscheidung für die Weiterentwicklung grüner<br />

Programme und für die Neugestaltung grüner Parteistrukturen herbeigeführt werden. Die<br />

Urabstimmung war ein Signal in der Demokratisierungsdebatte, die so exemplarisch war wie die<br />

Diskussion über die Quotierung der Frauen.<br />

Antje Vollmer wurde dam<strong>als</strong> von vielen <strong>als</strong> versöhnlerisch kritisiert. Doch es blieb etwas<br />

hängen: In der Frauen-Arbeit setzte sie neue Schwerpunkte, die über die Feminismus-Debatte<br />

hinausgingen – Erwerbsarbeit und Arbeitszeitverkürzungen sollten in der neuen Mütterpolitik auf<br />

einen Nenner gebracht werden.“ Als der Startschuss für den Aufbruch 1988 gegeben wurde, da<br />

fragte ich mich dann nicht mehr nach dem Erfolg – ich sah nur unser Engagement. Rückblickend<br />

kann ich sagen, dass der Aufbruch 88 – trotz der gescheiterten Ur-Abstimmung – für die Grünen<br />

wichtig war und noch ist. Gerade an den Bedingungen der einstigen Opposition in der DDR sehen<br />

wir, was hier auch sein könnte und warum die Bundesrepublik ein demokratisches<br />

Entwicklungsland ist.“<br />

Regelmäßig inszeniert Antje Vollmer seither einen lauten Generalangriff auf die Partei.<br />

Zwei Jahre nach dem Aufbruch klagte sie den überfälligen Generationswechsel ein. Er habe nicht<br />

stattgefunden; nun müsse über „Filz“ und die „Nomenklatura“ innerhalb der Grünen gesprochen<br />

werden. Ein Jahr später forderte Antje Vollmer ihre Mitstreiter zu einem generellen Neuanfang<br />

unter dem Motto „Deutscher Umbruch“ auf. Antje Vollmer empfahl ihrer Partei, sich im<br />

vereinten Deutschland den Bürgerbewegungen zu öffnen, schließlich seien sie es gewesen, die den<br />

einstigen Ostblock nachhaltig verändert hätten.<br />

Über Resonanzen ihres politischen Engagements kann sich Antje Vollmer nicht beklagen.<br />

Trotz ihres politischen Erfolgs wird sie der Politik erst einmal den Rücken kehren und nicht in das<br />

erste gesamt-deutsche Parlament gehen. Für manchen Außenstehenden mag ihr Entschluss<br />

unverständlich sein. Doch für sie steht fest, wer die Politik nicht verlassen kann, der wird<br />

unmerklich seiner Sprache, seines Denkens und seiner Gefühle enteignet: „Viele Frauen haben eine<br />

andere Einstellung zu Macht und Mandat. Sie gehen nicht in dem Maße eine Symbiose mit der<br />

Politik ein wie so viele Männer, die nur noch ihre politische Karriere im Kopf haben. Die Frauen<br />

wissen, dass sie ein Mandat auf Zeit haben, und verlieren deshalb nicht die Verbindung zu den<br />

alten Lebenszusammenhängen.<br />

Für Antje Vollmer gibt es vor allem einen Grund, warum sie sich von der Hauptstadt<br />

vorerst verabschieden will. „Als ich in die Politik ging, war mein Sohn Johann gerade vier Jahre alt.<br />

Mittlerweile ist er zwölf. Wenn ich nochm<strong>als</strong> vier Jahre im Parlament bleibe, dann hätte ich wirklich<br />

kein Kind haben sollen. Es ist in meinem Leben keine Randfigur. Hinzu kommt, dass meine Rolle<br />

bei den Grünen zusehends intensiver wird. Ich kann Kind und Politik nicht so einfach verbinden.<br />

Andere schaffen das vielleicht. Ich nicht.“<br />

Ihr zentrales Anliegen ist, Frauen Hoffnungen zu vermitteln, Zutrauen, in die Offensive<br />

zu gehen. Das gehört zum festen ihrer Überzeugungen. Über die SPD-Frauen schrieb Antje<br />

Vollmer in der Vorwärts-Ausgabe, die zum 125jährigen Jubiläum der Sozialdemokratie erschien. Sie<br />

verglich die SPD-Frauen vor allem mit den Frauen der Grünen – unter der Überschrift „Die letzte<br />

intakte deutsche Großfamilie und ihre Frauen“. Großfamilie bedeutete einmal Sicherheit, dann<br />

Angst, wenn man sie verlässt. „Für Frauen ist das komplizierter. Einerseits müssen sie den Druck<br />

der SPD-Großfamilie aushalten, andererseits haben sie schon bestimmte Funktionen übernommen.<br />

Gleichzeitig kehren die Frauen, die in der Politik, dieser Großfamilie den Rücken. Sie leben mit der<br />

Fähigkeit des Verlassenkönnens und der Eigene-Wege-gehen-Könnens. Sonst wären sie in Bonn<br />

und anderswo nicht angekommen.“<br />

529


Nur in Bonn, ihrer Fluchtburg sozusagen, holt sie die Großfamilien-Struktur der SPD<br />

wieder ein. Der Unterschied zu den Frauen der Grünen ist für Antje Vollmer trotz der<br />

Quotenregelung beträchtlich. Wenn die SPD-Frauen Erfolg haben wollen, müssen sie sich der<br />

Männer-Zustimmung vergewissern. So waren jedenfalls bisher die Frauen-Karrieren in der SPD<br />

angelegt. Die Grünen-Frauen hingegen akzeptieren den Mann <strong>als</strong> eine Art Zensor im Kopf nicht<br />

mehr.<br />

Rückblickend auf die Jahre in Bonn, möchte sie nicht behaupten, auf einen unfruchtbaren<br />

Acker gepflügt zu haben. Bonn hatte ja immer den Vorteil eines Mediums für ihre Botschaften an<br />

die Öffentlichkeit. Das Feminat der Grünen, die Quotenregelung in der SPD, überhaupt die<br />

zunehmende Frauen-Präsenz im Parlament bis hin zu den Anstößen in die CDU/CSU-Fraktion<br />

hinein sind letztlich auch durch die grünen Botschaften in Bewegung geraten. Ohne diesen Frauen-<br />

Aufbruch hätte es nie einen direkten Draht zwischen der feministischen Frauen-Zeitschrift emma<br />

bis hin zu den katholischen Frauen gegeben. Ohne diesen Frauen-Aufbruch wäre das politische<br />

Agieren der Rita Süssmuth (Bundesministerin 1985-1988, Präsidentin des Deutschen Bundestages<br />

1988-1998) – so nicht denkbar gewesen. Antje Vollmer: das ist die Polit-Revolution in Permanenz<br />

– ein Aufbruchkonzept von unten.<br />

Es hat sein Motto: „Meine Mutter Rebekka Jacobowsky hat immer zu mir gesagt: Es gibt<br />

im Leben immer und überall mindestens zwei Möglichkeiten. Niem<strong>als</strong> , sagt der Oberst, für einen<br />

Mann von Ehre gibt es immer nur eine einzige Möglichkeit. Eben sagte Samuel Jakobowsky.“ –<br />

Der Frauen-Aufbruch hat erst begonnen.<br />

530


FRAUEN-KARRIERE BRAUCHT EINEN FERNSEH-MANN -<br />

AUFSTIEG UND FALL DER IRMGARD SCHWAETZER<br />

"Frauen an die Macht" Protokolle einer Aufbruchsära athenäums Programm by anton hain, Frankfurt a/M 03.<br />

Oktober 1990<br />

Wir sind auf dem Weg ins Büro. Nebeneinander gehen Irmgard Schwaetzer und <strong>Reimar</strong><br />

<strong>Oltmanns</strong> durch die endlosen Gänge des Auswärtigen Amtes in Bonn, da meint sie plötzlich<br />

unvermittelt: "Ich trage keine Stöckelschuhe, weil man mit hohen Absätzen auf den langen Fluren<br />

hier nicht vorwärtskommt."Aber sonst werden schon mal ein paar tausend Euro via Kreditkarte<br />

vom Konto abgebucht, wenn Irme, wie die Politik-Männer sie nennen, dem textilen Mittelmaß ein<br />

bisschen den Flair einer Liz Taylor abzutrotzen glaubt. Dabei lächelt die Politikerin irgendwie<br />

mädchenhaft, die hellen grauen Augen aufmerksam in Hab-Acht-Stellung.<br />

Zweifellos: Der politische Werdegang der Staatsministerin Irmgard Schwaetzer (1987-<br />

1991) passt zu den neunziger Jahren. Ihre Karriere in Bonn stellt so etwas wie die Antwort auf die<br />

vermeintliche "Neue Weiblichkeit" dar. Der Umstand, dass das althergebrachte, zerschlissene<br />

Rollenbild der Frauen aufgeweicht wurde, bot ihr die Möglichkeit, fast ohne frauenpolitische<br />

Konzeption die Geschäfte in Bonn in Angriff zu nehmen. Sie zählt zu jenem unnahbaren Typus<br />

moderner Frau, der sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein in der Botschaft zusammenfasst: Ich bin<br />

stark, so leicht kann mich keiner.<br />

Irmgard Schwaetzer, Jahrgang 1942: Unterkühlt bis schnodderig, herb-sachlich bis<br />

zurückweisend. Emotionen, wenn es sie denn gibt, werden erst einmal im Zaum gehalten. Und<br />

wenn ihr doch jemand etwas anhaben könnte? Für diesen Fall bleibt die Flucht in die Mädchenpose<br />

mit schelmischen Lächeln oder auch Kullertränen. Die jedenfalls kullerten im Frühjahr 1992, <strong>als</strong> ihr<br />

ärgster Widersacher Jürgen W. Möllemann (*1945+2003) verhinderte, dass sie nach dem Rückzug<br />

von Außenminister Hans-Dietrich Genscher (1974-1992) seine Nachfolgerin wurde. Da nannte<br />

Irme ihren Parteifreund "Du intrigantes Schwein" und rannte tränenüberströmt aus dem<br />

Fraktionssaal. Aber solch ein kindliches Ausrasten im erwachsenen Polit-Theater der Männer gilt<br />

<strong>als</strong> Ausnahme. Normalerweise flüchtet sie in brenzligen Situationen in die Mädchenpose mit<br />

schelmischem Lächeln <strong>als</strong> die ihr bewährteste Umgangsform: "Inzwischen gehört es längst,<br />

besonders vor den Fernsehkameras", schrieb Jürgen Leinemann im Spiegel, "zum politischen<br />

Handwerkszeug der Staatsministerin, es ist ebenso Teil der öffentlichen Maske wie ihrer privaten<br />

Persönlichkeit."<br />

Ich zitiere ihr gegenüber den Schweizer Bankdirektor Roland Rasi, der die heutige<br />

Aufgabe der emanzipierten Frau in höheren Positionen so charakterisiert: "Man muss denken wie<br />

ein Mann, sich geben wie ein junges Mädchen, aussehen wie eine Dame und arbeiten wie ein<br />

Pferd." - "Ja, erwiderte sie, "das ist es, genau. Nur: Ich habe früh gelernt, in männlichen Kategorien<br />

zu denken und mich entsprechend zu verhalten. Schon der Ton in Bonn ist an Ruppigkeit nicht<br />

mehr zu überbieten." Ansonsten kann sie sich nicht über das Hauptstadt-Leben beklagen, auch<br />

wenn die Eintracht mit den Polit-Profis manchmal zu wünschen übrig lässt. Sie suchte sich unter<br />

den FDPlern ihre Mentoren aus, die schon mal Lambsdorff oder Genscher hießen. In die<br />

versteckten Bonner Gefechte unter dem Banner des kleinen Unterschieds scheint diese Frau nicht<br />

involviert zu sein -vorerst jedenfalls nicht - noch nicht.<br />

531


Wir haben jetzt ihr Büro erreicht, dessen Schnörkellosigkeit dokumentiert, warum ihr<br />

nachgesagt wird, sie betreibe Politik wie eine leitende Angestellte im Zweitberuf. Ihr Arbeitszimmer<br />

gleicht einem Beratungssaal für Aktionäre. Nichts Privates, nichts, was auf die Person Irmgard<br />

Schwaetzer schließen lässt. Hier regiert das Kalkül, nicht die Fantasie. Politische Romantik ist ein<br />

Fremdwort im ausgewogenen Wortschatz der berechnenden Vernunft. Wen wundert's, dass selbst<br />

Sibylle Krause Burger, eine ansonsten eher einfühlsam verständnisvolle "Hofschreiberin", die<br />

Irmgard Schwaetzer <strong>als</strong> eine "Madame Mittelmanagement aus der Waschmittelbranche"<br />

charakterisierte.<br />

Über Jahre hatte ich Irmgard Schwaetzer nicht mehr gesehen. Nur Schlagzeilen, wie die in<br />

der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ("Wo man solche Frauen ansetzt, bleibt nichts ungetan") und<br />

viele ähnlich lautende, hielten zwangsläufig in den Jahren des Frauen Auf bruchs zu neuen Ufern<br />

mein Interesse an der Karriere von Irmgard Schwaetzer wach. Und jetzt war ich hier, um ihre<br />

Karrierebausteine zu sondieren - dem Phänomen ein Quäntchen alltäglicher Folgerichtigkeit<br />

abzugewinnen. Mit zwei Tonbandgeräten bewaffnet (jeder eines zur eigenen Überprüfung des<br />

Gesagten), sitzen wir uns, bemüht, zuweilen misstrauisch, gegenüber. Eine Situation, die mich an<br />

Interviews mit Hans-Dietrich Genscher erinnert, der bei solchen Gesprächen sogar die Büro-<br />

Gummibäume argwöhnisch beäugte.<br />

Von Genscher muss die erste Frau der FDP im Laufe ihrer Politikerinnen-Jahre gelernt<br />

haben, ihre Sprache neutral zu halten, bis hin zur phrasenhaften Austauschbarkeit. Dabei redet<br />

Irmgard Schwaetzer so distanziert über sich und das sie unmittelbar umgebene Geschehen, <strong>als</strong> lebe<br />

sie auf einem anderen Planeten, <strong>als</strong> beträfe sie der Bonner Alltag mit seinen Winkelzügen und<br />

taktischen Rochaden überhaupt nicht. Ich muss eingestehen: Bei anderen Frauen, die ich im<br />

Politik-Milieu getroffen, begleitet, beobachtet, mit denen ich gesprochen hatte, konnte ich teilhaben<br />

an manchem Hoch und Tief des Seelenlebens, an Verzagtheit und Erfolg. Hier nicht. Mein<br />

Eindruck blieb, ich konnte ihn zu Positiven hin drehen und wenden, wie ich wollte: Irmgard<br />

Schwaetzer erschien mir wie eine Dolmetscherin in eigener Sache, das heißt ihre Karriere. Alles<br />

andere, das Leben, die Menschen, der Alltag schlechthin - all das murkste abgeblockt vor sich hin.<br />

Sie halte überhaupt nichts von emotionsgeladenen Diskussionen, sagte sie mir mehrm<strong>als</strong>. So<br />

kommen wir nicht weiter, sage ich zu mir. Jeder Satz stellt zum Beweis, dass hier eine psychische<br />

Verfassung - gefühlsverloren oder auch ausgetrocknet - in sich ruht: Von "motiviert" über stramm<br />

leistungsorientiert" bis hin zu "erfolgreich"; dann schließt sich wieder der Kreis. Konsequent wurde<br />

und wird hier gebaut. Augen zu und durch - der Aufstieg ist nah - sehr nah.<br />

Karrierebaustein Nummer eins: Ihren Durchbruch aus der Anonymität einer<br />

parlamentarischen Hinterbänklerin ins bundesdeutsche Scheinwerferlicht schaffte Irmgard<br />

Schwaetzer im Herbst 1982 - ganze zwei Jahre später, nachdem sie - mit Glück - über den<br />

nordrhein-westfälischen Landeslistenplatz 14 noch in den Bundestag gerutscht war. Auf dem<br />

Berliner Wende-Parteitag der FDP fand nicht nur die dreizehnjährige sozial- liberale Ära ein jähes<br />

Ende, Irmgard Schwaetzer galt <strong>als</strong> Neuentdeckung der Saison. Es folgte der Machtwechsel am<br />

Rhein mit seinen hässlichen Begleitumständen.<br />

Zweifelsohne ist Irmgard Schwaetzer die Tochter der bundesdeutschen Wende der Ära<br />

Helmut Kohl (1982-1998). Früher <strong>als</strong> andere Frauen in der FDP, die im politischen Geschäft um<br />

Identität kämpfen mussten, hatte sie erkannt, dass moralische Unbestechlichkeit bei den Liberalen<br />

eine vergilbte Tugend ist. Die Bonner Frauenriege der FDP, einst Aushängeschild für einen<br />

emanzipatorisch-fortschrittlichen Kurs der Partei, mochte mit dem Parteivorsitzenden Hans-<br />

Dietrich Genscher (1974-1985) nicht mitziehen und überwarf sich mit ihm. Sie stemmte sich gegen<br />

532


den Sturz Helmut Schmidts <strong>als</strong> Bundeskanzler (1974-1982). Zu ihnen zählten u.a. Helga<br />

Schuchardt (Mitglied des Deutschen Bundestages 19721983, FDP-Austritt 1982), Ingrid Matthäus-<br />

Maier (Bundestagsabgeordnete 19761999, FDP-Austritt 1982, SPD-Eintritt 1983) und Hildegard<br />

Hamm-Brücher (FDP-Staatsministerin im Auswärtigen Amt 1976-1982). Von ihr stammt die<br />

seinerzeit vielbeachtete Bemerkung zum Politikverständnis jener Tage: "Ich kann doch nicht einen<br />

Kanzler mein Misstrauen aussprechen, dem ich vor drei Monaten mein Vertrauen ausgesprochen<br />

habe." Irmgard Schwaetzer konnte.<br />

Als einziges weibliches Mitglied ihrer Fraktion unterstützte Irmgard Schwaetzer die Wahl<br />

Helmut Kohls zum Kanzler der Republik. Ihre Distanz zu den Weggefährtinnen beschrieb sie so:<br />

"Ich habe mir dann gesagt: Das bringt nichts, ich verabschiede mich. Hier gehöre ich nicht mehr<br />

hin." - Und verschwand. In jenen Jahren hatte es Hans-Dietrich Genscher ohnehin missfallen, dass<br />

sie regelmäßig mit den Fraktions-Linken frühstückte. Schon kurz vor der Wende, Frauen-<br />

Emanzipation hin, Frauen-Selbstbestimmung her, da hatte er sie kurzerhand umbeordert. Danach<br />

nahm sie an die Treffen des konservativen Zirkels des damaligen Schatzmeisters Richard Wurbs<br />

(Vize-Präsident des Deutschen Bundestages 1979-1984) teil. Rechtsdenkende Abgeordnete,<br />

Beamte, Geschäftsleute, Anwälte, Notare, Immobilien-Makler, Handwerksmeister sammelten sich<br />

dam<strong>als</strong> um den Bauunternehmer Richard Wurbs, der auch einmal <strong>als</strong> Vize-Präsident des<br />

Parlaments mit obligatem Glöckchen-Bim-Bim Sitzungswochen einzuläuten verstand.<br />

Es waren FDP-Männer, die nicht in Versuchung gerieten, eigenständig Politik zu<br />

formulieren, Abgeordnete, die wohl kaum je ein Regierungsamt erklimmen würden, die ihre<br />

Aufgabe mit einem Platz in den hinteren Reihen hinreichend gewürdigt sahen und dennoch von<br />

Institutionen gestützt, ihren Führungsanspruch in der Republik dezidiert einsetzten. Es ist eine<br />

nach draußen eher sprachlose Macht-Elite, ohne deren Zustimmung nichts läuft, kein<br />

Gesetzentwurf die parlamentarischen Gremien passiert, der größere Koalitionspartner, ob SPD<br />

oder CDU/CSU, oft kuscht, keine wie auch immer angelegte Karriere denkbar wäre. Eben "ein<br />

Geheimbund", wie Hans-Dietrich Genscher diesen Klub charakterisierte.<br />

Irmgard Schwaetzer, die sich in den Jahren zuvor energisch den Anschein einer<br />

"Fortschrittlichen" zugelegt hatte, gab sich nun in ihrem politischen Konzept <strong>als</strong> Schülerin von<br />

Otto Graf Lambsdorff (Bundeswirtschaftsminister 1972-1984) zu erkennen. Seine Idee von der<br />

Marktwirtschaft wurde zu ihrem Credo. In die neue politische Landschaft passte sie damit<br />

fugendicht hinein. Das sollte sie freilich nicht daran hindern, sechs Jahre später, auf dem<br />

Wiesbadener FDP-Parteitag im Herbst 1988, mit dem gut platzierten Hinweis darauf, dass sie eine<br />

Frau ist ("ich bin schon immer eine Frau gewesen"), gegen ihren Förderer und Lehrmeister um den<br />

Chefposten anzutreten, ihn niederzumachen. Ererfolglos<br />

Immerhin avancierte die ehemalige Pharmazeutin auf dem Berliner Wendeparteitag des<br />

Jahres 1982 zur Gener<strong>als</strong>ekretärin der FDP (1982-1984) - <strong>als</strong> erste Frau in der Parteigeschichte.<br />

Obwohl sie nur 200 von 382 abgegebenen Stimmen erhielt, wurde sie damit Nachfolgerin des<br />

legendären Karl-Hermann Flach (*1929+1973) und auch Günter Verheugen (Gener<strong>als</strong>ekretär<br />

1978-1982, Übertritt zur SPD). Beide hatten bekanntlich für den Liberalismus Beträchtliches<br />

geleistet und mit Erfolg versucht. dem Bild der kleinen Partei zwischen den Blöcken der großen<br />

Volksparteien CDU/CSU und SPD Konzeption und eigenständige Konturen zu geben.<br />

Der fliegende Regierungswechsel zur CDU/CSU offenbarte bei den Liberalen einen ihrer<br />

gravierendsten Identitätsverluste. In der Bevölkerung hatte sich weitestgehend die Ansicht<br />

durchgesetzt, dass die FDP-Macht kein Gewissen hat und das Gewissen keine Macht. Noch vier<br />

Monate vor der nächsten Bundestagswahl im Jahre 1983 lagen die Liberalen laut<br />

533


Umfrageergebnisse bei knapp 1,5 Prozent der Wählerstimmen. In den zwischenzeitlichen<br />

Landtagswahlen war die Partei gleichfalls überall an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Die<br />

gewendeten Liberalen zogen sodann aber vornehmlich mit Leihstimme von der konservativen<br />

Klientel mit 7 Prozent in den neu gewählten Bundestag ein.<br />

Irmgard Schwaetzer fiel die Aufgabe zu, die FDP aus ihrer schwersten Krise zu führen<br />

und die Glaubwürdigkeitslücke für die kommenden Wahlen zu schließen. Mit ihrem Aufstieg zur<br />

Gener<strong>als</strong>ekretärin lernte sie schnell, die Tastatur der Selbstbeherrschung in der Intrigen-Hochburg<br />

Bonn zu bedienen - vorerst zumindest. Zielstrebigkeit und Ehrgeiz hatten sie schon immer<br />

ausgezeichnet. Ihre Wahl zur Gener<strong>als</strong>ekretärin wurde von vielen Parteimitgliedern zunächst <strong>als</strong><br />

"Werbegag" belächelt. Nach bestandener Bundestagswahl 1983 wurde aus dem Werbegag ein<br />

"garstiges Karriereweib". - Männerneid. Sie fragte schnippisch zurück: "Ist Karriere für Frauen<br />

etwas Unanständiges?" Und sich selbst gestand sie ein: "Meine größte Schwäche ist, dass ich andere<br />

häufig überfordere. Ich mache es ihnen auch reichlich schwer, mich zu mögen."<br />

Phasen des Umbruchs decken Gebrochenheit auf, die der allseits akzeptierte<br />

Zweckrationalismus sonst zu übertünchen versteht. Die Gebrochenheit der Bundesrepublik ist<br />

gleichsam ein Stück FDP-Geschichte, die seit über vier Jahrzehnten an ihren Identität<br />

herumdoktert. Mehrheitsbeschaffer, Steigbügelhalter, Zünglein an der Waage, "Unfaller-Verein"<br />

(Konrad Adenauer). "Pendler-Partei" (Herbert Wehner), "Depot eines Opportunismus"(Franz-<br />

Josef Strauß): An eingängigen Etikettierungen dieser Partei hat es nie gemangelt.<br />

Die gravierendsten Widersprüche deutscher Innenpolitik schlugen schon zu Beginn der<br />

achtziger Jahre voll und anhaltend auf die FDP durch, die nicht annähernd über die Reserven einer<br />

sozial eingebetteten Volkspartei verfügt und deren Wirtschafts- und sozialliberaler Flügel sich<br />

zeitweilig unversöhnlich entzweite. Sie wollte den Rechtsstaat unantastbar verwalten, den puren<br />

Ökonomismus in den bahnbrechenden Aufschwung treiben und obendrein dem Umweltschutz<br />

noch das Wort reden. So präsentierten sich die Liberalen <strong>als</strong> eine Organisation mit zwar<br />

zahlreichen Aktionspapieren, aber ohne Programm.<br />

Im Jahre 1971 nach Christus wird der "Liberalismus" definiert. 1988 die "liberale Politik".<br />

1971 versucht die FDP in einer historischen Ableitung ihrer Position: anglo-amerikanische<br />

Verfassungstradition. Französische Revolution, Kant, Wilhelm von Humboldt. John Stewart Mill,<br />

Friedrich Naumann. 1971: "Reform des Kapitalismus"; 1988 kommt der Kapitalismus nicht mehr<br />

vor, statt dessen die "Renaissance der Individualität" im Übergang von der "Industriegesellschaft<br />

zur Informationsgesellschaft". 1971 wird die "Demokratisierung des Staates" gefordert, während<br />

1988 nur "weniger Staat" gewünscht wird. 1988 taucht das Wort "Demokratisierung" überhaupt<br />

nicht mehr auf, nicht einmal der Begriff "Demokratie". 1971 sieht sich die FDP in einem<br />

"historischen Prozess". 1988 glaubt sie in der "Mitte" die Wählerschaft gefunden zu haben, hält<br />

eine Verteidigung der "labilen demokratischen Kultur" für dringend geboten etc. Schlagworte,<br />

Schlagzeilen.<br />

Zu Recht leitete Irmgard Schwaetzer aus diesem "Gemischtwarenladen" die berechtigte<br />

Forderung nach einer kompakten, für den Wähler nachvollziehbaren Programmdiskussion mit<br />

neuer Verbindlichkeit ab. Sie wollte nach der Wende unverbrauchte Kräfte mobilisieren und<br />

zusammenschließen. - Aber sie scheiterte. Mit einem winzigen Zeitaufwand stampfte sie im Nu ein<br />

Grundsatzprogramm aus dem Boden. Eine Kostprobe: Wenn einer klaut, weil er etwas haben, was<br />

er nicht bezahlen kann, dann bestrafen ihn die Gerichte eher mild. Wenn aber einer stiehlt, weil er<br />

das Diebesgut verkaufen will, um mit dem Geld Rauschgift zu kaufen (Beschaffungskriminalität),<br />

dann wird er ungleich härter bestraft. Frau Schwaetzer findet das seltsam und ungerecht. Liberal<br />

534


heißt für sie, dafür zu sorgen, dass derlei Messen mit zweierlei Maß aufgehört. Nur, wie will sie da<br />

etwas erreichen? Nicht durch Maßnahmen in der Politik oder der Justiz. Nein - vielmehr durch<br />

Orientierungsangebote liberaler Nachdenklichkeit. Allein das Vorhandensein eines erfolgreichen<br />

Liberalismus in der Politik könne Richter dazu bringen, die sogenannten gesellschaftlichen<br />

Aufgaben, wie sie in den großen Parteien bis zum Überdruss propagiert würden, niedriger zu<br />

hängen und im konkreten Fall liberaler ihres Amtes zu walten.<br />

Als "Parteitheoretikerin" kam sie - zur Erleichterung mancher Parteigenossen - nicht weit.<br />

Irmgard Schwaetzer begriff schnell, dass ihr programmatisches Anliegen eine Art Spielwiese war.<br />

Ihr fehlte die Unterstützung ihres Vorsitzenden Genscher. Er hatte seiner Gener<strong>als</strong>ekretärin von<br />

Anfang an das Gefühl vermittelt, sie zu gebrauchen statt zu brauchen. Im Bonn jener Jahre für<br />

Frauen nichts Neues. Genscher hielt sie wohl seinerzeit <strong>als</strong> Gener<strong>als</strong>ekretärin für wichtig, um<br />

weibliche Wählerstimmen auf Nebenschauplätzen zu gewinnen -"Spielwiesen" genannt.<br />

Für Irmgard Schwaetzer waren es bewegte Jahre, in denen Anspruch und Wirklichkeit in<br />

einem krassen Missverständnis zueinander standen. Offiziell leitete sie zwar die<br />

Programmdiskussion, tatsächlich hatte sie aber wenig zu melden. Schon deshalb, weil die Herren<br />

derlei Diskussionen samt Thesen für mehr <strong>als</strong> überflüssig hielten. Hatten sie doch ganz andere<br />

Sorgen. In einem Parteien-Handstreich auf die Verfassung sollte dam<strong>als</strong> eine Generalamnestie<br />

erwirkt werden, um sämtliche Strafverfahren gegen höchste Repräsentanten von Staat, Parteien und<br />

Industrie aus der Welt zu schaffen.<br />

Und zwar für alle, die zum Vorteil ihrer Parteien Steuern hinterzogen, Politik mit<br />

Geschäft undurchsichtig vermischten, Schmiergelder kassierten, auf dunklen internationalen<br />

Kanälen weitergaben und sich wegen Untreue, Betrug, Urkundenfälschung, den<br />

Bestechungskriterien der Vorteilnahme und Vorteilsgewährung verantworten mussten. Immerhin<br />

standen nahezu 700 Ermittlungsverfahren an: in 22 Fällen die SPD, in 170 die CDU und in 510<br />

Untersuchungen die FDP betreffend. - Der Staat <strong>als</strong> Supermarkt der Selbstbedienung der Politiker-<br />

Klasse. Natürlich schnitten die Herren "Selbstbediener" ihre Gener<strong>als</strong>ekretärin vom<br />

Informationsfluss ihrer abenteuerlichen Selbstamnestie ab. Irmgard Schwaetzer zog die<br />

Konsequenz, <strong>als</strong> sie von dem Coup erfuhr. Sie schloss sich dem Widerstand gegen das<br />

Amnestiegesetz an und brachte es unvorhergesehen zu Fall. Gener<strong>als</strong>ekretärin wollte sie dann<br />

freilich auch nicht mehr sein - im Jahre 1984.<br />

Karrierebaustein Nummer zwei: Dass "Macht ein Faszinosum" ist, das hatte Irmgard<br />

Schwaetzer mittlerweile längst erkannt. Und von ihr konnte und wollte sie wohl auch nicht mehr<br />

lassen. Folglich kandidierte sie auf dem Parteitag in Münster 1984 für das Amt des Schatzmeisters.<br />

Offenbar <strong>als</strong> Anerkennung für ihre unbeugsame Haltung gegenüber dem Amnestievorhaben erhielt<br />

sie 322 Ja-Stimmen das beste Wahlergebnis in ihrer Politikerinnen-Laufbahn. Dabei war die<br />

finanzielle Lage der FDP mehr <strong>als</strong> katastrophal. Bereits Mitte der siebziger Jahre schienen die<br />

Liberalen nahezu bankrott. Dam<strong>als</strong> konnte sich die Partei nur mit einem 6-Millionen-Kredit über<br />

Wasser halten, den ihr die SPD vermittelte. Ein Schuldenstand von insgesamt 10,8 Millionen Mark<br />

belasteten die Parteikonten, die Zinsen vermochte die FDP kaum noch zu tilgen. Der informelle<br />

Spitzenzirkel um Hans-Dietrich Genscher fürchtete aus gutem Grund um seine "politische<br />

Unabhängigkeit". Keiner wusste jedoch, wie dem drohenden Fiasko zu entgehen sei. Aberm<strong>als</strong><br />

bestätigte sich eine zum Klischee ausgefranste Lebensweisheit: Wenn Männer ihre Konten heillos<br />

überzogen haben, ist es die Kärrnerarbeit der Frauen, aus rote wieder schwarze Zahlen zu machen.<br />

- Es war die unspektakuläre Zeit der Irmgard Schwaetzer, ihre Monate <strong>als</strong> Bundesschatzmeisterin,<br />

still und unauffällig im Hintergrund.<br />

535


Sie entwarf eine weitaus bescheidenere Strategie der Geldeinnahme. Die Jahre des<br />

Überflusses waren vorbei. Sie verhandelte mit Banken wegen Schuldenabbau und<br />

Stillhalteabkommen. Sie verließ sich nicht auf anonyme, zweifelhafte Spenden aus der<br />

Großindustrie (allein sechs Millionen Mark vom Kaufhaus-Konzern Horten ), reiste durch<br />

Provinzen und sammelte Hundertmarkscheine Tausender Bürger auf Parteiveranstaltungen ein,<br />

und sie versprach, keine "unsinnigen Parteifähnchen" mehr zu kaufen. Jedenfalls gelang es ihr, die<br />

Parteifinanzen halbwegs in Ordnung zu bringen.<br />

Karrierebaustein Nummer drei: Der Frauen-Aufbruch ging voran; Stück um Stück<br />

entstand ein anderes Frauenbild - die unabhängige, selbstbewusste, selbst-bestimmte Frau, eben ein<br />

feministischeres Frauen-Bild. Aus der Werbung verschwanden die Schmollmünder; statt dessen<br />

erschienen in den Anzeigen und Fernseh-Spots zusehends häufiger geschäftstüchtige, dynamische<br />

Frauen im Nadelstreifen-Kostüm. Es war die Zeit, in der die Grüne-Frauenministerin in<br />

Niedersachsen Waltraud Schoppe (1990-1994), die Männer in Bonn warnte: "Wenn Frauen erst<br />

mal die Machtfrage stellen, dann werden die Geschlechterkämpfe allerdings noch viel rigoroser und<br />

die Positionskämpfe auch. Frauen gegen mit der Macht immer noch zu zögerlich um."<br />

Auch <strong>als</strong> - vor allem wegen ihrer Zeit <strong>als</strong> Gener<strong>als</strong>ekretärin - das einst innige Verhältnis<br />

zwischen Hans-Dietrich Genscher und Irmgard Schwaetzer längst den Tiefpunkt erreicht hatte -<br />

Genscher wäre nicht der wetterfühlige Taktiker des beinahe dauerhaften FDP-Machterhalts, wenn<br />

er es nicht verstanden hätte, aberm<strong>als</strong> den Frauen-Aufbruch durch Irmgard Schwaetzer an sich zu<br />

binden. Während sie noch in den Medien Rede und Antwort stand, "warum es zwischen Genscher<br />

und mir auf einmal nicht mehr klappte", hatte dieser für sie schon den Posten der Staatsministerin<br />

im Auswärtigen Amt reserviert. Sie musste nicht lange überlegen. "Das war für mich eine Chance,<br />

noch einmal etwas völlig anderes zu lernen. Ich war ja hauptsächlich <strong>als</strong> Sozialpolitikerin<br />

abgestempelt, was in der FDP nicht immer ganz einfach ist. Nun hatte ich die Möglichkeit, in die<br />

Europa-Politik einzusteigen." Ihre Hauptaufgabe: Sie sitzt dem Staatssekretärs-Ausschuss für<br />

Europafragen in der Bundesregierung vor, der gemeinsame Positionen aus den verschiedenen<br />

Ministerien erarbeitet. So fährt sie regelmäßig nach Brüssel, wo sie ihrem Dienstherren in<br />

finanzpolitischen und verworrenen Agrarfragen zu vertreten hat.<br />

Unter den Vierzigjährigen in Bonn nimmt Irmgard Schwaetzer gewiss eine Sonderstellung<br />

ein. Sie war Gener<strong>als</strong>ekretärin, Schatzmeisterin, sammelte einschlägige Erfahrungen <strong>als</strong><br />

Staatsministerin und durfte <strong>als</strong> krönender Abschluss in der alten Bundesrepublik vier Jahre <strong>als</strong><br />

letzte fungierende Bundesministerin (1991-1994) für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau der<br />

Bonner bürgerlich-liberalen Koalition unter Helmut Kohl angehören; <strong>als</strong> Belohnung, <strong>als</strong> Abgang<br />

gewissermaßen. Insbesondere - alles, was mit Parteispendenaffäre, Amnestieversuche der<br />

Selbstbediener zusammenhing - sie wusste viel, vielleicht zu viel. Sie hatte nichts damit nichts zu<br />

tun. Im Gegenteil: Irmgard Schwaetzer verhinderte Schlimmeres, Anrüchigeres, das die<br />

Vertrauensbrüche, Vertrauens-Verdrusse, Entfremdung zwischen Bürgern und denen "da oben" in<br />

der Politik , forcierte hätte.<br />

Karriere-Baustein Nummer vier: Nichts lag für Irmgard Schwaetzer <strong>als</strong>o näher, <strong>als</strong> im<br />

Oktober 1988 auf dem Wiesbadener FDP-Bundesparteitag den historischen Versuch zu wagen, <strong>als</strong><br />

erste Frau sich an die Spitze einer Regierungspartei wählen zu lassen. Und das ausgerechnet bei<br />

einem Mitkonkurrenten, dessen Namen ein einprägsames Synonym für Macht und Unmoral, für<br />

die unsaubere Verquickung von "Geld und Politik" wurde - ein Mann, der deshalb von der 7.<br />

Großen Strafkammer des Bonner Landgerichts rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 180.000 Mark<br />

verurteilt worden ist. Aber auch ein Mann, ohne den ihre atemberaubendste Karriere so nicht<br />

536


denkbar gewesen wäre, von dem sie sich politisch nur in feinen Nuancen unterschied. Schließlich<br />

war Otto Graf Lambsdorff (FDP-Vorsitzender 1988-1993, Wirtschaftsminister 1977-1982 u. 1982-<br />

1884) über Jahre ihr Lehrmeister und ihr tatkräftiger Förderer gewesen.<br />

Langanhaltende Augenblicke, inszenierte Possen der Selbstdarstellung auf dem<br />

Wiesbadener FDP-Bundesparteitages spiegeln auch die kleinbürgerliche Enge eines Vereins wieder,<br />

der sich großbürgerlich gibt und auch noch liberal nennen darf. Sicherlich spült jede Nation<br />

Politiker nach oben, die sie verdient. Und die Geschichte der Bundesrepublik zeigt, dass die<br />

Beziehungen zwischen Staat, Parteien und Gesellschaft zerbrechlich sind. Es gab nachhaltige<br />

Störungen, die rückblickend zumindest teilweise erklären, warum parallel zum Staatsverdruss,<br />

Männerverdruss und Vertrauensschwund der allgemeine Konsens breite Risse zeigt und warum<br />

Partei-, Verbands- und Verwaltungseliten offenkundige Widersprüche konzeptionslos<br />

niederwalzen. Doch gerade Zeiten solcher Stagnationen waren das Fundament, auf dem die Frauen<br />

ihren Aufbruch wagen und durchhalten konnten.<br />

Der Wiesbadener Parteitag war für Irmgard Schwaetzer eine Chance zum Aufbruch.<br />

Doch für sie und damit vorerst für die Frauen bei den Liberalen bis dato war der Parteitag dann<br />

schließlich ein Konvent der verpassten Chancen, weil sie nicht den Mut hatten, Corman publico<br />

einen moralischen Kreuzzug gegen ihren Kontrahenten zu starten - eben in die feministische<br />

Offensive zu gehen. Sie fürchteten sich davor, diese Männer zu desavouieren und unterlag.<br />

Vielleicht war Irmgard Adam-Schwaetzer auf dem Wiesbadener FDP Parteitag im<br />

Umgang mit Otto Graf Lambsdorff auch deshalb so zögerlich, weil dam<strong>als</strong> gewiss wurde, was über<br />

Jahre in Bonn Nahrung zu Spekulationen und Schlagzeilen gegeben hatte: Nach 17 Jahren<br />

Ehejahren trennte sich der Chemiker Wolfgang Adam mit der Bemerkung von ihr: "Ich halte dich<br />

mit der Politik nicht mehr aus." Sie erwiderte: "Es macht keinen Spaß, Politik zu machen, wenn<br />

man keine Liebe kriegt." Kaum ein Mann musste bei Empfängen, Cocktail-Partys und Vernissagen<br />

den mitgebrachten Ehemann spielen, obwohl er Adam heißt und Chemiker von Beruf ist. Kaum<br />

ein anderer Mann ließ aus sorgender Eifersucht und Angst vor schlüpfrigen Peinlichkeiten seine<br />

Politfrau mit über 1oo Polizeifahndern in Bonn und Umgebung suchen, weil er seine "Irme"<br />

telefonisch nicht erreichen konnte. Dabei hatte er nur, wie sich später herausstellte, die f<strong>als</strong>che<br />

Telefonnummmer gewählt.<br />

Frau Adam-Schwaetzer sagt: "Nein, der Punkt war, dass jeder das Gefühl hatte, der<br />

andere zeigt nicht mehr Interesse für die berufsbedingten Probleme des anderen, fragt nicht, was<br />

ihm durch den Kopf geht, wenn er zu Hause ist. Ich habe mir immer gewünscht, dass mir so etwas<br />

nicht passiert. Darum bin ich jeden Abend von Bonn nach Düren gefahren, habe ihn tagsüber<br />

immer angerufen, egal wo ich war. Ich denke, dass wir jetzt für beide die richtige Entscheidung<br />

getroffen haben. Jeder hat nun die Möglichkeit, sein eigenes Leben zu gestalten. Er trifft sich viel<br />

lieber mit Computer-Freaks."<br />

Sie sagt über ihren neuen Liebhaber: "Wenn ich seine Stimme nur höre, habe ich schon<br />

einen Orgasmus. Er hält zu mir." Udo Philipp, einst Playboy-Redakteur, einst ZDF-Korrespondent<br />

in Bonn und einst Rüstungs-Lobbyist über sie: "Es ist ein Traum. Sie sieht so jung aus." - Die<br />

Regenbogenpresse erinnerte an üppig Liz Taylor mit dem Ex-Maurer und Ex-Trinker wie Ex-<br />

Schläger Larry Fortensky. Als Irmgard Schwaetzer und Udo Philipp ich das Ja-Wort gaben (Bild-<br />

Zeitung: "Wir haben uns verliebt") trug die Braut ein blaues Wollgeorgette-Kleid mit Seiden-<br />

Satinpapseln.<br />

537


Vorher zeigte sie sich zu Abend in Bonns Gesellschaften in Röcken, die aussahen, <strong>als</strong><br />

seien sie von der Heilsarmee. Zwanzig Fotografen scharrten vor dem Standesamt in Berlin-<br />

Charlottenburg. Aber nur Ex-Bild-Chefredakteur Peter Boenisch (*1927+2005)) war dazu<br />

bestimmt, das Hochzeitsfoto zu knipsen. Dem privazen Fernsehsender SAT1 blieb es vorbehalten,<br />

live aus dem Bonner Bauministerium und natürlich an den Platz des Geschehens - in der Weltstadt<br />

Berlin - zu schalten. Im Fernsehstudio in Berlin lächelte das Brautpaar versonnen in die Kameras.<br />

Im Studio Bonn prosteten hohe Ministerial-Beamte mit ihren randvoll gefüllten Champagne-<br />

Gläsern der "Liz Taylor aus der FDP" zu; Live-Schaltung Bonn-Berlin. "Frühstücks-Fernsehen".<br />

Der SAT1-Chef lobte seinen Reporter: Ich finde es richtig, die Einschaltquoten zu heben, indem<br />

Sie sich so verehelichen." Frau Ministerin strahlt errötet über beide Wangen, Philipp schnurrte:<br />

"Irme, wie habe ich das gemacht!"<br />

"Herzlichen Glückwunsch" trompeteten Referatsleiter und Direktoren auf einmal da, wie<br />

bestellt und im Chor aus einer scheinbar erwachsenen, aber letztlich wachsweichen Männer-Welt.<br />

Denn das Büfett kam letztlich vom Party-Service des KaDeWe. Für den Beaujolais aus dem<br />

Weinhaus Nöthling sah sich wieder der Bräutigam zu einem besonderen Dank veranlasst - kaum<br />

verständlich, mit schwerer Stimme vor sich hinlallend, nuschelnd. Nur so viel wusste Philipp<br />

gefühlsübermannt noch anzudeuten: Ja, er habe eine leibhaftige Ministerin geehelicht. Das ginge so:<br />

auflauern, spazieren gehen, trinken, essen, bekochen, Klappe zu. Männer-Karriere mit berühmten<br />

Frauen.<br />

Zurück nach Bonn zu Beginn der neunziger Jahre -Irmgard Adam-Schwaetzer begleitet<br />

mich aus ihrem Dienstzimmer des Auswärtigen Amtes und es geht wieder über den langen,<br />

schmalen Flur. Sie habe aufgehört, sich über sich selbst Gedanken zu machen, <strong>als</strong> sie hier im<br />

Auswärtigen Amt zu arbeiten begann - dazu habe sie keine Muße, es sie hier alles zu schnelllebig,<br />

zu kurzatmig. Erst seit kurzem stelle sie sich wieder ein paar Fragen über sich. Eigentlich<br />

bevorzuge sie es, die persönlichen Beweggründe für ihren Ehrgeiz und die politischen Ambitionen<br />

im Dunkel zu lassen: "Ich will gar nicht so genau wissen, was mich antreibt." Eine Spur des<br />

Unerkannt-Geheimnisvollen gehört zum erotischen Flair der Macht einfach dazu - das wird sie<br />

wissen.<br />

Postskriptum. -Es ist verzerrend, vielleicht auch ungerecht. Aber es gibt Menschen,<br />

deren Lebenswerk oder auch politisches Engagement sich im Gedächtnis auf ein Schlüsselerlebnis<br />

reduzieren. Da flimmerte Ministerin Schwaetzer von der Mattscheibe des SAT1-Frühstücks-<br />

Fernsehens. Übermächtige Gefühle, rote Wangen, wie Liz Taylor in ihren besten Tagen an der<br />

Seite ihres Schlägers Larry Fortensky. Erinnerung an die Melodie des verkitschten Schlagers "rain<br />

and tears, it's all the same" (Regen und Tränen ist immer dasselbe). Von ihrem zweiten Ehemann<br />

Udo Philipp trennte sich Irmgard Schwaetzer im Jahre 2000 abrupt. Nach ihrem jähen Ende oder<br />

auch Rausschmiss aus der Politik betreibt sie in Berlin die Firma "Management Finder", eine<br />

Personalberatung. Endstation. Mittlerweile nach all den Jahren, Jahrzehnten mit weißgrau<br />

melierten Haarschopf weiß sie um sich, schaut offenen Blickes, Entspannung im Hier und Jetzt.<br />

"Die Mühle des Ministeramts", wie sie betont, das öffentlich gehetzte Leben auf der Bonner<br />

Bühne, die inszenierten Angriffe auf der Polit-Bühne, das vom Ex-Ehemann Udo Philipp<br />

veranstaltete PR-Theater, der tägliche, ängstliche Blick in die Boulevard-Zeitungen, ja danach war<br />

sie schon süchtig geworden, bestimmten ihr Oben oder Unten, ihre Gefühlsschübe - dam<strong>als</strong> im<br />

Treibhaus zu Bonn. Lang ist es her. -Schilderungen der Irmgard Schwaetzer wie aus einem anderen<br />

Leben.<br />

538


SITTENGEMÄLDE: KALTER KRIEG DER MÄNNER - DAS<br />

POLITIKERINNEN-DASEIN DER MARIE-SCHLEI<br />

Die Pädagogin und Politikerin Marie Schlei wurde am 26. November 1919 in<br />

Reetz in Pommern <strong>als</strong> Kind einer Arbeiterfamilie geboren. Ihren Lebensunterhalt verdiente<br />

sie sich <strong>als</strong> Verkäuferin und Postangestellte. In Berlin nutzte sie 1947 die Chance, ohne<br />

Abitur Lehrerin zu werden, stieg im Arbeiterbezirk Wedding bis zur Schulrätin auf. Seit<br />

1969 agierte sie für die SPD im Bundestag, wurde im Jahr 1974 unter Helmut Schmidt<br />

parlamentarische Staatssekretärin im Kanzleramt, zwei Jahre später gar Ministerin für<br />

wirtschaftliche Zusammenarbeit. Dort bliesen Medien-Männer im Treibhaus zu Bonn zur<br />

Schlei-Treibjagd. Rücktritt. Nach der Bundestagswahl 1980 kehrte sie <strong>als</strong> Vize-Vorsitzende<br />

in die SPD-Fraktion zurück. Am 1. November 1981 erklärte die Berlinerin ihren Rücktritt,<br />

konnte keine Hoffnung mehr haben, den Krebs zu besiegen, der sie über all die Jahre in<br />

Bonn begleitet hatte. - Marie Schlei starb am 21. Mai 1983 in Berlin.<br />

"Frauen an der Macht" athenäums programm by anton hain, Frankfurt a/M 4. September 1990<br />

"Die Zukunft hat viele Namen Für die Schwachen ist sie die Unerreichbare Für<br />

die Furchtsamen ist sie die Unbekannte Für die Zapferen ist sie die Chance. Victor Hugo<br />

Wir lernten uns an der Theke kennen, im Bonner bürgerlich-rustikalen "Kessenicher<br />

Hof". - Marie Schlei, seit wenigen Monaten parlamentarische Staatssekretärin im Bundeskanzleramt<br />

und <strong>Reimar</strong> <strong>Oltmanns</strong>, Bonn-Korrespondent, jung und neugierig, immer auf der Suche nach der<br />

Nähe zur Macht und den Mächtigen. Kontakte zu pflegen gehörte zu meinem Job und befriedigte<br />

die Eitelkeit. Marie Schlei saß am Tresen und prostete mit rebellischem Lächeln ihren<br />

Parteigenossen zu.<br />

Ich mochte den "Kessenicher Hof", die SPD-Stammkneipe rechts gestrickten<br />

"Kanalarbeiter", der "Freunde für saubere Verhältnisse" (Egon Franke, *1913 +1995,<br />

Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen 1969-1982). Hier lief das Kontrastprogramm zum<br />

staatlich inszenierten Vorzeige-Bonn der Alleskönner und des bedeutungsvollen Gehabes, Bonpoly<br />

genannt, wo der seelische Ausnahmezustand <strong>als</strong> normal gilt. Die Bonner Alltagswirklichkeit sah<br />

ganz anders aus, war geprägt von einem Hauptstadt-Hospitalismus unter männlicher Regie.<br />

Ich konnte manchen Parlamentariern vom Gesicht ablesen, dass sie sich in steriler<br />

Abgeschiedenheit und Kälte der Parteiapparate nicht besonders wohlfühlten, wo Gefühle belächelt,<br />

Hoffnungen begraben, der Leidensdruck umgeleitet und Enttäuschungen standhaft genommen<br />

wurden: Klinisch-rein hatte das Seelenleben der Abgeordneten nach außen hin zu sein.<br />

Zum Glück gab des den "Kessenicher Hof" - Fluchtort nicht etwa für Aussteiger, sondern<br />

für den kurzfristigen angeschlagenen Biedersinn, der im Gewand des Bundestagsabgeordneten<br />

daherkam. Das Interieur des "Kessenicher Hof" hatte nichts Neureiches, war vom Haupt-Stadt-<br />

Flair verschont geblieben. Hier dominierte die verkitschte Stoffblumen-Atmosphäre von<br />

Bahnhofswartesälen aus den fünfziger Jahren, und es roch nach Bratkartoffeln. Hier konnte man<br />

sich wohlfühlen, war man irgendwie für kurze Zeit zu Hause, <strong>als</strong> Zwischenstation sozusagen.<br />

Klar, dass hier am Abend nach den Sitzungen die aufgestaute Spannung Ausgleich<br />

verlangte. Und - das war genau so wichtig - in dieser Gesellenrunde aus Politikern oder auch<br />

539


solche, die sich dafür hielten - in diesem lockeren Bier-Verbund ließ sich so mancher Wunsch nach<br />

Fortkommen ein Stückchen weiter vorantreiben.<br />

Im "Kessenicher Hof" <strong>als</strong>o ging regelmäßig die Post ab, und mit von der Rutschpartie<br />

waren einige wenige erlesene Hofschreiber, die sich auf absolute Diskretion verstanden. Die<br />

durften mit bechern, und ihnen wurden auch alkoholbedingte "Ausfallerscheinungen"<br />

nachgesehen. Egon Franke war der Boss und nicht nur hier. Ohne das Ja des Bundesministers für<br />

innerdeutsche Beziehungen lief in der Sozialdemokratie nichts. Ein SPD-Politiker konnte sich auf<br />

den SPD-Landeslisten für die Bundestagswahlen nur dann abgesichert fühlen, eine<br />

Gesetzesvorlage, vor allem zur Entlastung der Frauen, besaß nur dann eine Chance, wenn Egon<br />

sein Plazet gab. Und wenn Egon im "Kessenicher Hof" erschien, direkt aus den<br />

Kabinettssitzungen, mit seinen Eindrücken und Mutmaßungen, dann wurden die Ohren gespitzt,<br />

und das Schwatzen unterblieb einstweilen.<br />

Dam<strong>als</strong> waren Frauen in der Politik eigentlich nicht vorgesehen - allenfalls geduldet <strong>als</strong><br />

"Konzessionsdamen" am Rande mit Alibifunktion. In Bonn wurde jede Frau mit Mandat wie eine<br />

importierte Exotin taxiert, zuweilen auch behandelt. Es herrschte Krieg in dieser Stadt, der kalte,<br />

subtile in der Öffentlichkeit halbwegs versteckte Krieg zwischen Männern und Frauen. Eine große<br />

Koalition hatte sich gebildet, ohne Programm, nur auf der Grundlage von Vorurteilen: die große<br />

Koalition der Männer. Noch nie lief die parteiüber-greifende Verständigung so leicht. Man war sich<br />

darüber einig, dass Politikerinnen keine Weichen schalten und keine Perspektiven zu entwickeln<br />

imstande seien; dass es ihnen an Kompetenz fehlte. Wenn eine Frau den Weg nach Bonn geschafft<br />

hatte, wurde sie dort in selbst-zweiflerische Defensive getrieben. Die Angst, hier nicht zu bestehen,<br />

wurde zu ihrem Wegbegleiter.<br />

Bonn in den siebziger Jahren: Jahre der Ausgrenzung, Intoleranz, der<br />

Vernichtungsfeldzüge, der Diskriminierung Andersdenkender. Die Republik rüstete auf dem<br />

elektronischen und gesetzgeberischen Überwachungsstaat; der RAF-Terrorismus kulminierte;<br />

Berufsverbote <strong>als</strong> Ausdruck des Feind-Denkens in diesem Land.<br />

Wir schrieben das Jahr 1974. Die sozialliberale Koalition wurde unter Helmut Schmidt<br />

fortgesetzt. Die Aufbruchphase seines Vorgängers Willy Brandt ("wir wollen mehr Demokratie<br />

wagen") war durch dessen Rücktritt abgebrochen worden. Helmut Schmidt, der Kanzler (1974-<br />

1982) - und Marie Schlei wurde seine parlamentarische Staatssekretärin (1974-1976) später<br />

Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1976-1978).<br />

Doch zurück an den Tresen des "Kessenicher Hof". Ich traf Marie Schlei häufig dort,<br />

auch in anderen Kneipen und Bars. Sie hatte die ihr von den Männern zugewiesene Rolle begriffen<br />

und akzeptiert und sich in informellen Nischen eingerichtet. Ihr blieb - Staatssekretärin hin,<br />

Ministerin her - letzten Endes keine andere Wahl, <strong>als</strong> sich an die Bartheke zu setzen, wenn sie<br />

Aufmerksamkeit und Einfluss gewinnen wollte. Die Nischen waren und blieben die Einflusszonen.<br />

Als wir uns näher kannten, sagte sie mir einmal: "Ich musste mein Auskommen mit diesen<br />

Männern suchen und meine Ideen durchbringen. Da war mir jede Bar recht. Veränderungen gehen<br />

nur mit ihnen, und das wird noch sehr lange so sein."<br />

Frauen in der Politik interessierten mich dam<strong>als</strong> reichlich wenig. Das weibliche Geschlecht<br />

hatte in Bonn und auch anderswo im politischen Geschehen nicht viel zu bestellen, wenn es um die<br />

Macht ging. Und die faszinierte mich außerordentlich. Die Damen waren vorzeigbare Farbtupfer<br />

im dunkelgrauen Männer-Einerlei - ein Grüppchen von dreißig Frauen im Parlament, der prozentual<br />

geringste weibliche Anteil in der Nachkriegsgeschichte.<br />

540


Marie Schlei gegenüber hatte ich natürlich Vorbehalte. Sie passte auf den ersten Blick<br />

genau in die von Männern entdeckte politische Marktlücke. Sie vereinte die ideal-typischen<br />

Eigenschaften einer Mutter. Immer warm- und offenherzig, wollte sie anderen helfen und<br />

Geborgenheit vermitteln. Das war in Bonn eine Seltenheit. Marie Schlei <strong>als</strong> Mutter der Politik und<br />

zugleich von den Männern in Amt und Würden gesetzt <strong>als</strong> Beispiel dafür, wie überflüssig die<br />

feministische Frauenbewegung sei. Objektiv betrachtet bildete Marie Schlei ungewollt die<br />

Speerspitze gegen den aufkommenden Feminismus, den sie in seiner Aussagekraft paralysieren<br />

sollte. Dafür schien sie den SPD-Männern mehr <strong>als</strong> geeignet zu sein. Denn jenen militanten<br />

weiblichen Typus, den Christa Randzio-Plath in ihrem bemerkenswerten Buch "Frauen-Macht"<br />

charakterisiert, wollten die Männer nicht in ihre angestammten Bereiche lassen. "Eine Frau, die<br />

Frauen sich wünschen, muss eine aus der Frauenbewegung sein und gegen Krieg und Abrüstung,<br />

Gewalt, Ausbeutung und Armut, Sexismus und Diskriminierung kämpfen. Sie aber wollen Männer<br />

nicht und lassen sie deshalb nicht an die Macht."<br />

Marie und ich hatten eine Gemeinsamkeit, wir beide hielten Ausschau: Marie nach<br />

Entscheidungsträgern, ich nach Informanten. Offen gesagt, mir war das burschikose Auftreten der<br />

Marie Schlei anfangs sehr unangenehm und ging mir ziemlich auf die Nerven. Ich musste immer an<br />

eine Marktfrau denken, die sich mit unerschütterlicher Fröhlichkeit in alles einmischt. Als ich Marie<br />

Schlei eines Tages im Kanzleramt traf, wo sie Schnaps mit Witz für eine Gruppe angereister<br />

Feuerwehrleute und später, im Kellnerinnen-Dress, auch noch für die hohen Herren der Politik<br />

servierte - da fiel bei mir die Schublade ins Schloss.<br />

Aber das Bild war schief, kannte ich doch eine Marie Schlei, die viel und heftig über die<br />

Männer in Bonn klagte und die Emanzipation der Frau auf die Tagesordnung setzte. Und ich fragte<br />

mich, wieso gerade so eine Frau nach Bonn geholt wurde. Da musste doch eine Absicht<br />

dahinterstecken. Diese Frau fiel doch nicht vom Himmel ins Kanzleramt. Man hatte sie hierher<br />

gestellt, weil sie ins Bild passte, das man von einer Hauptstadt geben wollte.<br />

Den Trümmerfrauen der ersten Stunde, die den Kriegsschutt der Männer weggeräumt<br />

hatten, folgten nun - nach Jahren in Heim und Herd - die Landes-Mütter. Frauen wie Marie Schlei<br />

hatten nach draußen die Intaktheit eines Milieus menschlicher Ignoranz glaubwürdig darzustellen.<br />

Der politische Gestaltungswille und der Drang nach Veränderung fristeten dam<strong>als</strong> in Bonn ein<br />

dürftiges Schattendasein. Wenn in späteren Jahren Begriffe wie Staatsverdrossenheit, der stille<br />

Rückzug ins Private zu den häufigsten benutzten Schlagwörtern des gesellschaftlichen Unbehagens<br />

wurden, dann auch deshalb, weil die von der politischen Männer-Kultur vorgetäuschte<br />

omnipotente Leistungsfähigkeit, der Machbarkeitswahn, in einem kläglichen Verhältnis zu den<br />

tatsächlichen Ergebnissen stand. Man nannte das Vertrauenskrise und begegnete ihr mit Krisenmanagement.<br />

Es waren die Jahre, in dem der SPD-Politiker Erhard Eppler (Bundesminister für<br />

wirtschaftliche Zusammenarbeit 1968-1974) ein viel beachtetes Buch schrieb: "Das Schwierigste ist<br />

Glaubwürdigkeit". Es war die Stunde der Marie Schlei. Sie zimmerte im guten Glauben mit an einer<br />

morschen Bühne, wo Vertrauen, Kompetenz, gar menschliche Integrität die Hauptrollen spielen<br />

sollten. Was ihre Politiker-Kollegen nicht mehr rüberbrachten - diese Glaubwürdigkeitsdefizite<br />

vermochte sie zeitweilig auszugleichen: Eben dafür war sie da, war sie ins Kanzleramt, später ins<br />

Entwicklungshilfeministerium geholt worden - Mütter-Jahre, Maries Jahre.<br />

Marie Schlei vereinte Eigenschaften einer weich-herzigen Mutter, die Verhärtungen,<br />

Rüpeleien, Machenschaften abzufedern vermochte. Schnell hatte man ihr im Bonn der<br />

"Zampanos" - wie sie die Männer in Anspielung an den Fellini-Film "La Strada" nannte - ein<br />

Etikett verpasst: Mal hieß sie "Mutter Marie", mal "Mutter Courage". Marie Schlei verstand die ihr<br />

541


zugedachte Rolle in der Politik keineswegs f<strong>als</strong>ch. Sie wusste nur zu gut, dass sich "Unabhängigkeit<br />

nicht kaufen lässt". Ihr schwebte deshalb auch kein Frauen-Aufbruch, schon gar kein Frauen-<br />

Durchbruch, keine Autonomie vor. "In Bonn war ich die Trösterin, die die Arme ausbreitete, um<br />

alle vom Kanzler auf den Schlips Getretenen wieder aufzumuntern. Und wenn ich selbst zum<br />

Kanzler musste, brauchte ich immer einen Notizblock und ein Taschentuch zum Weinen."<br />

Doch Marie Schlei musste sich mit Härte <strong>als</strong> Frau durchsetzen. Quasi <strong>als</strong> Selbstschutz<br />

kultivierte sie in ihrer scheinbar klassenbewusst-groben Manier das arrivierte Arbeiter-Mädchen:<br />

"Ick bin dat typisch chancenbehinderte Menschenkind. Mutter war Fabrikarbeeterin, Vater<br />

Klempner. Mensch, ich lass mir doch nicht verscheissern." Das war einer ihrer Standardsätze -<br />

nicht nur am Tresen. Doch hinter ihrem scheinbar burschikosen Selbstbehauptungswillen gab es<br />

Selbstzweifel, lauerte eine sie lähmende Resignation.<br />

Marie Schlei war zumindest gut beraten, den an ihr nagenden Krebs wie ein<br />

"Staatsgeheimnis" zu hüten. Die Ärzte im Berliner Virchow-Krankenhaus hatten sie gewarnt, wenn<br />

sie weiter so besessen arbeite, sei das glatter Selbstmord. Aber auf die Ärzte wollte oder konnte sie<br />

nicht hören. Sie hatte noch die Kraft, um ihrem "Haustier", wie sie den Krebs bezeichnete, einige<br />

Lebensdaten abzutrotzen. Bekannt wurde sie dam<strong>als</strong> in der Öffentlichkeit mit dem Stempel "Mama<br />

Kanzleramt". Marie Schlei erlebte einen ungeahnten Durchbruch. Sie war nämlich in der Lage - wie<br />

ihre Fraktionskollegin Renate Lepsius in ihrem 1987 veröffentlichten Buch "Frauenpolitik <strong>als</strong><br />

Beruf" bemerkte - "mit ihrem Charme und ihren strahlend blauen Augen und ihrer Persönlichkeit,<br />

Menschen zu faszinieren. Sie machte das auch mit einer großen dramaturgischen Darstellungskunst<br />

...". Die Gefühlslage der Nation war bestimmt von der Mutter-Suche. Und in Marie Schlei hatten<br />

sie eine gefunden. Sie wurde mit verheißungsvollen Tönen salonfähig gezeigt, kompetent für alle<br />

Lebensfragen. Sie jagte von Talkshow zu Talkshow, von Interview zu Interview. Die Bonner<br />

Sprechblasen-Kultur bedurfte einer Auffrischung.<br />

Wenige Monate vor ihrem Tod im Sommer 1982 fuhr ich immer wieder nach Berlin-<br />

Reinickendorf, besuchte Marie Schlei in ihrem Fünf-Zimmer-Reihenhaus der<br />

Arbeitergenossenschaft "Freie Scholle" im Allmendeweg 112. Dam<strong>als</strong> konnte ich noch nicht<br />

ahnen, dass ich meine mit Marie Schlei aufgenommenen Tonband-Protokolle erst Jahre später<br />

veröffentlichen sollte. Ich hatte zu jener Zeit auch keine Mutmaßung darüber, dass es in diesem<br />

Land des neunziger Jahrzehnts zu einem Frauen-Aufbruch kommen würde. Wie sollte ich auch.<br />

Mich interessierte das Schicksal einer Frau, die in Bonn, zuletzt <strong>als</strong> Entwicklungshilfeministerin,<br />

verheizt, ein Opfer der Intrige geworden war. Ich wollte hören und sehen, wie Marie Schlei den<br />

Kalten Krieg der Männer verarbeitet hatte.<br />

Ein kraftzehrendes Leben intensiv erfahrener deutscher Widersprüchlichkeiten lag hinter<br />

ihr. Ihre einst hell-wachen blauen Augen hatten sich längst zu Sehschlitzen verengt, ihre Wangen<br />

waren eingefallen, ihre Lippen waren rissig, auf der Stirn perlte Schweiß. Wehmut, die sie zu<br />

verbergen suchte, Trauer und Verzagtheit. Sie hatte ihr Gegenüber geortet - den Tod.<br />

Als ich mich von Marie Schlei verabschiedete, klingelte es an ihrer Tür. Reporter baten um<br />

Einlass. "Mein Kampf mit dem Krebs" hieß ihr Bericht über Marie Schlei. Fotos von der<br />

todkranken Frau wollten sie "möglichst hautnah" schießen.<br />

Erst ihren politischen Aufstieg <strong>als</strong> "Mama Kanzleramt", dann ihren Rausschmiss aus dem<br />

Kabinett, nun der Einbruch in die Privatsphäre mit ihren nahenden Krebstod: mit illustrer<br />

Gründlichkeit gnadenlos vorgeführt, umschmeichelt - vermarktet.<br />

542


Marie Schlei starb im Alter von 63 Jahren am 21. Mai 1983 - eine "Sozialdemokratin aus<br />

dem Bilderbuch", wie die "Augsburger Allgemeine" ihren Bericht einfühlsam betitelte.<br />

Von ihren Genossen aus Bonn mochte sie vor ihrem Tode die meisten nicht mehr sehen.<br />

LEBENS-PROTOKOLL DER MARIE SCHLEI:<br />

"Als ich im Jahre 1969 - direkt nach der Operation in den Bundestag ging, hatte ich<br />

wieder Mut gefasst. Ein langer Weg der Ungewissheit lag hinter mir: Es schien jetzt so, <strong>als</strong> hätte ich<br />

den Krebs besiegt. Ich schöpfte Hoffnung, weil keine neuen Krebszellen entdeckt wurden. Es war<br />

wie der Beginn eines neuen Lebens.<br />

Und es machte mir Mut, dass meine Berliner Partei mir zutraute, der Herausforderung in<br />

Bonn gewachsen zu sein.<br />

Dieser Weg von Berlin nach Bonn war für mich ein einschneidender Bruch. Ich war<br />

dam<strong>als</strong> schon fünfzig Jahre alt. (In diesem Lebensabschnitt wird man nicht mehr für besonders<br />

lernfähig gehalten.) Zudem hatte ich mir - Arbeitertochter ohne Abitur - in Berlin etwas<br />

Ungewöhnliches aufgebaut. Ich hatte viel arbeiten müssen, bis ich Schulrätin wurde.<br />

Bei meinem Abschied von Berlin wusste ich, dass ich eine Lücke hinterließ: Ich hielt mich<br />

ja nicht für austauschbar. Für viele war ich ein Mensch, der aussprach, was sie vielleicht dachten,<br />

aber öffentlich zu sagen sich nicht trauten. Die Beziehungen, die zwischen Schulräten, Lehrern,<br />

Rektoren und Schulkindergärtnerinnen entstanden, waren wirklich freundschaftlich. Wir wollten<br />

vieles an der Schule verändern. Jahrelang beschäftigten wir uns mit der Umgestaltung der<br />

Lehrerausbildung oder der Anerkennung der Vorschule. Durch Überzeugungskraft schafften wir<br />

es, dass Kinder aus sogenannten einfachen Verhältnissen mehr wurden <strong>als</strong> angelernte Arbeiter, sich<br />

für einen Beruf qualifizierten. Wir erreichten, dass Mädchen auf weiter-führende Schulen gingen, so<br />

dass in den siebten Klassen Jungen und Mädchen im Verhältnis von 50:50 waren.<br />

Ich habe für meine Veränderungsvorschläge Lehrer, Eltern, Auszubildende gewonnen.<br />

Dabei lernte ich, was Reformen tatsächlich bedeuten: nämlich die Menschen dort abzuholen, wo<br />

sie stehe, das heißt, sich nicht <strong>als</strong> Heilsprediger aufzuspielen und sich nicht die Lebenskonzeption<br />

anderer anzumaßen.<br />

Schon unsere Sprache ist der Beweis für Verfremdung und Entfremdung. Mit unserer<br />

Schein-Fremdsprache versuchen wir, einfache Menschen, denen diese Sprache nicht geläufig ist, zu<br />

diskriminieren, auszugrenzen. Dadurch wird eine neue Klasse geschaffen. Wir unterhalten uns ja<br />

nicht mehr, wir verfremden -quasi eine neue Sozialtechnik - mit Satz-bau und Wortschatz. Dies<br />

führt zwangsläufig zu einer Entdemokratisierung unseres Miteinanders. Unsere Sprache verbindet<br />

uns immer weniger - mit ihr schaffen wir <strong>als</strong> Ausdruck unsere Identität neue Schranken. Auch ich<br />

ertappe mich immer wieder dabei, dass ich Fremdwörter, die im Journalismus gang und gäbe sind,<br />

einfach übernehme.<br />

Als ich in der Nachkriegszeit nach Berlin gekommen war, lernte ich <strong>als</strong> Erstes wie man<br />

berlinert, weil ich mich mit den Arbeiterkindern unterhalten und ihnen etwas beibringen wollte.<br />

Vom Lernen habe ich immer viel gehalten. Meine Eltern hatte ich verloren, meinen Mann, meine<br />

Heimat, die Aussteuer, auch ich verdient hatte: Nur was ich gelernt hatte, das blieb mir und konnte<br />

mir nicht genommen werden.<br />

Für mich war es immer wichtig, mit dem anderen mitzudenken. Meine Mutter erzog mich<br />

im christlichen Sinne. Von meinem Vater lernte ich den gewerkschaftlichen Grundsatz, für den<br />

543


anderen mitzusorgen. Wir waren sehr arm, und ich trug in meiner Kinder- und Jugendzeit die<br />

Kleider meiner älteren Cousine.<br />

Jedes von uns in den folgenden Jahren erkämpfte sozialpolitische Gesetz habe ich <strong>als</strong><br />

einen Gedenkstein für meine früh im Elend gestorbenen Arbeitereltern angesehen. Menschen wie<br />

sie haben sich nicht vorstellen können, dass im Laufe einer Generation die soziale<br />

Lebenswirklichkeit der deutschen Arbeiterschaft so positiv verändert werden könnte.<br />

Jahrelang drückte mich ein Schuldgefühl gegenüber meinen Eltern, obwohl ich doch<br />

nichts mehr tun konnte. Mein Vater starb, <strong>als</strong> ich siebzehn war. Meine Mutter starb auf der<br />

Landstraße, auf der Flucht vor sowjetischen Truppen. Wie hätte ich mich gefreut, wenn ich mit<br />

ihnen hätte teilen, für sie an ihrem Lebensabend hätte sorgen können.<br />

Mein Leben in Berlin, das heißt meine Arbeit <strong>als</strong> Lehrerin, füllte mich aus. Der<br />

Lehrerberuf ist etwas Wundervolles. Die Beziehung zu jungen Menschen eröffnet ungeahnte,<br />

immer neue Möglichkeiten. Und was ich gab, bekam ich auf unterschiedliche Weise zurück.<br />

Vielleicht klingt das wie eine allzu egoistische Einstellung, aber es ist andererseits eine, bei der man<br />

selber nichts zurückhält.<br />

Anfang der siebziger Jahre waren wir in der Gleichberechtigung der weiblichen Menschen<br />

ein gutes Stück vorangekommen. Das war Kärrnerarbeit gewesen. Dam<strong>als</strong> war es normalerweise<br />

so: Auch wenn Mädchen gute Zeugnisse bekamen, blieben sie auf der Hauptschule. Die Jungen<br />

dagegen, auch mit miserablen Noten, wurden ganz selbstverständlich auf weiterführende Schulen<br />

geschickt. Ich redete wie ein Wasserfall auf die Eltern ein, ihrer Tochter doch eine Chance zu<br />

geben, die Re<strong>als</strong>chule oder das Gymnasium zu besuchen. Wir hatten ein Schulsystem mit einer<br />

zehn-jährigen Schulzeit für Jungen und Mädchen entwickelt. In Berlin arbeitete ich in Zirkeln, die<br />

in ihren Reformbestrebungen beherzter waren <strong>als</strong> die Kreise in der Bundesrepublik, vor allem im<br />

methodisch-didaktischen Bereich.<br />

Insgesamt gesehen verspürte ich kein Bedürfnis, woanders zu wirken, zumal ich ja wusste,<br />

dass ich in Bonn keine Schulpolitik machen würde, weil dafür die Bundesländer zuständig sind. Ich<br />

wusste auch, dass all das, was ich in der Entwicklungs- und Erziehungspsychologie und in der<br />

Didaktik gelernt hatte, hier in Bonn nichts zählen würde. Berlin war <strong>als</strong>o eine ganz andere Welt, wo<br />

Aufgeschlossenheit, Bewegtheit, Lachen und Weinen eine Rolle spielten. Wer lacht und weint denn<br />

heute noch - und sind Lachen und Weinen nicht gerade die Eigenschaften, die den Menschen vom<br />

Tier unterscheiden; Merkmale, die direkt ausdrücken, welche Gefühlsspanne der Mensch hat?<br />

Der Erfolg unserer schulpolitischen und pädagogischen Bemühungen in Berlin schien<br />

nach Jahren greifbar nahe gerückt. Klar, dass auch enge menschliche Bindungen gewachsen waren,<br />

die durch meinen Weggang jäh auseinandergerissen wurden.<br />

In der Sozialdemokratie hatte ich mich bis dahin eher <strong>als</strong> Zaungast gefühlt. Ich setzte<br />

mich nur, sozusagen im kleinen Rahmen, in den Arbeiterbezirken Wedding und Reinickendorf für<br />

sie ein, ohne Aufsehen zu erregen. Kontakte mit der Bevölkerung hatte ich über meine Funktion<br />

<strong>als</strong> Lehrerin, Rektorin und schließlich <strong>als</strong> Schulrätin. Hier machte ich mir vielleicht einen Namen <strong>als</strong><br />

jemand, der sich um Gerechtigkeit bemüht und beharrlich und einfallsreich für die Rechte von<br />

Kindern und Eltern eintritt.<br />

Das hatte sich wohl bis zu Herren in der Berliner Parteizentrale herumgesprochen. Sie<br />

meinten, ich sollte doch meine Durchsetzungsfähigkeit, mein Engagement und meine Art, Politik<br />

zu machen, im Bundestag unter Beweis stellen. Die Genossen sagten: 'Wenn du nicht gehst, dann<br />

544


wird mit Sicherheit ein Mann in das nächste Parlament kommen.' Mit diesem psychologischen<br />

Trick haben sie mich erwischt. Letztlich war es genau das Argument, das mich nach Bonn gehen<br />

ließ. Ich wäre mir anderenfalls selbst ziemlich unglaubwürdig vorgekommen. Denn ich regte mich<br />

fortwährend darüber auf, dass in den führenden Gremien so wenig Frauen saßen. So versuchte ich<br />

immer, Frauen in obere Schulpositionen zu bringen, zum Beispiel wenn eine Rektorenstelle neu<br />

besetzt werden musste. Und in den Parteiversammlungen war ich es, die sich seit eh und je darüber<br />

mokierte, dass zwar über die Hälfte der Menschheit Frauen sind, aber in der Politik nichts, aber<br />

auch gar nichts zu melden hätten. Von daher gesehen konnte ich dieses - überraschende - Angebot<br />

nicht ausschlagen. Hätte ich abgelehnt, dann wären unsere Frauen zu Recht verärgert gewesen und<br />

hätten mich mit ihrem berechtigten Vorwurf getroffen, ihnen eine Chance vermasselt zu haben.<br />

Für mich persönlich war die Entscheidung für Bonn eine Art Lebenswende.<br />

Wie alle Menschen hatte ich große Angst vor dem Krebs und war zutiefst erschlagen, <strong>als</strong><br />

es mich unvermittelt traf. Zum Glück blieb ich fest verankert in meiner Arbeit und Fürsorge für<br />

meine dam<strong>als</strong> sechzehn- und siebzehnjährigen Kinder Christine und Ulrich, so dass schon diese<br />

Beanspruchung wie ein Heilmittel auf mich wirkte. Und allmählich gelang es mir, meine<br />

Todesangst zu verdrängen, so dass mir noch Lebens-kraft blieb.<br />

Früher hatte ich immer gesagt, wenn ich einmal Krebs habe, dann fahre ich sofort gegen<br />

einen Baum - gegen eine uralte Eiche im Weserbergland, die mir dort unmittelbar nach dem Krieg -<br />

in ihrer ruhigen Gelassenheit zu einer Art Symbol geworden war.<br />

Nach all dem Leid, dem Unrecht und der Grausamkeit, die von Nazi-Deutschland<br />

ausgegangen sind, sah ich in dem Baum ein Symbol dafür, dass es an der Zeit war, endlich unsere<br />

Friedenshaltung gegenüber den Polen unter Beweis zu stellen. Das wünschte ich mir - ich, die auch<br />

eine Heimatvertriebene war, und auch in Anbetracht der Tatsache, dass elf Millionen Deutsche ihr<br />

Zuhause verloren hatten und in die Bundesrepublik integriert werden mussten. Es war ein für mich<br />

sehr bewegendes Erlebnis, dass die Deutschen fähig waren, diesen Schritt zu gehen, dass es mit den<br />

Ostverträgen Willy Brandts möglich war, das Bewusstsein der Menschen zu verändern.<br />

Als Heimatvertriebene konnte ich gut nachempfinden, dass die älteren Menschen ihre<br />

Verwurzelung in der Heimat verstärkt spüren - es wird dann alles wieder lebendiger - die alten<br />

Beziehungen bekommen eine neue Intensivität. Dazu die Traurigkeit über den Heimatverlust und<br />

die Erinnerung an die Nöte, die man <strong>als</strong> Flüchtlinge durchleben musste. - Die Ostverträge - das war<br />

eine großartige Friedensleistung der Deutschen gegenüber den Polen, die nie in Frage gestellt<br />

werden darf.<br />

Als ich wusste, dass der Krebs mein Wegbegleiter sein würde, fuhr ich nicht gegen die<br />

Eiche, sondern nach Bonn. Ich war besessen von der Absicht, in den mir noch verbleibenden<br />

Jahren etwas zu bewirken, gesellschaftliche Veränderungen zugunsten der Frauen anzustoßen. Ich<br />

nahm mir gar nicht die Zeit, über diesen Schicks<strong>als</strong>schlag Krebs nachzugrübeln. Das erlaubte ich<br />

mir nicht.<br />

Bis dahin kannte ich keinen der Herren aus der Bonner Politik persönlich. Die ersten<br />

Wochen <strong>als</strong> frische Bundestagsabgeordnete in Bonn reduzierten sich auf mehr oder weniger<br />

schüchterne Begegnungen mit prominenten Männern, die ich bisher nur vom Radio oder, später,<br />

vom Fernsehen kannte. Ich neigte anfangs dazu, sie zu überhöhen. Hießen sie nun Willy Brandt<br />

(*1913 +1992), Herbert Wehner (*1906 + 199o), Helmut Schmidt, der legendäre Chefdenker Carlo<br />

Schmid (*1896 +1979) oder vielleicht auch andere. Doch meine Einstellung gegenüber den<br />

Führungs-Figuren änderte sich schnell. Sie kamen mir menschlich näher, <strong>als</strong> ich merkte, wie nervös<br />

545


und angespannt sie waren. Sie mussten ein Arbeitsvolumen bewältigen, das ich für unmenschlich<br />

hielt, und sie standen unter einem immensen Erfolgsdruck.<br />

Ich war völlig andere Arbeits- und Umgangsformen gewöhnt. (Allein schon das<br />

Rheinländische war mir irgendwie fremd.) Mein angestammtes Milieu glich einer Art Kinderwelt<br />

mit unverklemmten, geraden Menschen. Ich musste ich lernen, meine Zeit noch zielbewusster<br />

einzuteilen und mit noch weniger Schlaf auszukommen. Ich musste mein Arbeitstempo enorm<br />

steigern, um all den Verpflichtungen nachzukommen, wie die Fraktion zusammenzuhalten,<br />

Kompromisse zu finden, Plenarreden vorzubereiten; und ich wollte Kontakte aufbauen zu den<br />

Menschen. So musste ich mir gewisse Fähigkeiten regelrecht antrainieren, wie Texte schnell<br />

durchzuarbeiten und Sachverhalte rasch zu rekapitulieren. Erst <strong>als</strong> ich diese Norm erfüllen konnte,<br />

glaubte ich, nicht ganz überflüssig zu sein.<br />

Und trotzdem hatte ich das Gefühl, Schütze im letzten Glied zu sein. Ich sah mich<br />

plötzlich mit so vielen parlamentarischen Könnern konfrontiert, die mir meine Wissenslücken<br />

verdeutlichten - was ich, Preußin und Pädagogin, die ich nun mal bin, <strong>als</strong> sehr unangenehm<br />

empfand. Eine Abgrenzung meinerseits von der doch von Männern vorgegebenen Arbeitsnorm<br />

gab es nicht: Ich hatte Respekt vor ihren Leistungen und ihrer Fähigkeit, unterschiedlichste<br />

Politikbereiche zusammen-zubringen.<br />

Mit der Zeit wurde mir klar, dass Bonn auch eine Arena für Karrieristen ist -ein<br />

Schauplatz bundesdeutscher Politik, der von absichtlichen Verdrehungen und Unterstellungen lebt,<br />

wo verletzende Polemik einen Eigenwert darstellt und entsprechend kultiviert wird. Ich bekam<br />

auch mit, wie groß die psychischen Probleme der Kollegen mit sich selber waren, wie die Politik-<br />

Szenerie sie fertig machte, während sie sich gleichzeitig <strong>als</strong> omnipotent darzustellen versuchten.<br />

Bonn hat mir zunächst imponiert. Dann merkte ich, dass da oft nur eine Show nach der<br />

anderen abgezogen wird, um im Rampenlicht zu stehen. Persönliche Eitelkeit trieb viele umher. Ich<br />

traf auf hartgesottene Handwerker, die stundenlang isoliert in ihren Zimmern vor sich<br />

hinwerkelten, und wenn sie dann endlich zum Vorschein kamen, dann ballerten sie mit Zynismus<br />

und Polemik aus allen Rohren. Da stellt man sich natürlich die Frage, wieso Veranstaltungen wie<br />

der Bundestag solche Verhaltensdeformationen zur Folge haben. Mein Motto lautete dagegen<br />

immer: Mensch mit Menschen zu sein. Weshalb lebt man denn sonst? Ich habe meine Aufgabe <strong>als</strong><br />

Volksvertreterin nie <strong>als</strong> Job aufgefasst. Wer diese Einstellung hat, der ist hier fehl am Platze.<br />

Wenn ich mir die Bonner Qualifikationskriterien anschaue, dann möchte ich am liebsten<br />

von einer Studienräte-Republik sprechen. Wer rhetorisch geschickt ist, wer eine gute<br />

Schulausbildung verfügt und sich noch Doktor nennen darf, der hat für eine Karriere in Bonn eine<br />

optimale Ausgangsposition. Aber das Volk setzt sich nicht nur aus Juristen, Oberstudienräten,<br />

Politologen und Soziologen zusammen, in unserem Volk leben zig Millionen sogenannter einfacher<br />

Menschen: Diese Menschen müssen doch mitbeteiligt werden.<br />

Und dann kommt hinzu: Die Politik muss nachvollziehbar sein. Nehmen wir zum Beispiel<br />

die Facharbeiter. Sie wissen, dass sie wichtige Exportprodukte herstellen und fühlen sich auch gar<br />

nicht - wie die marxistische Theorie behauptet - entfremdet, weil sie nur einen Teil des Produktes<br />

produzieren. Nein, ihre Fantasie reicht weit genug, um ihre Arbeit zum Endprodukt in Beziehung<br />

zu setzen. Und sie wissen genau, wohin ihre Produkte gehen; auch, dass ihre Arbeit die<br />

wirtschaftlich notwendigen Devisen bringt, ohne die wir schlecht dastünden. Ohne ihre Arbeit<br />

wäre unser Lebensniveau viel niedriger; für Reformen hätten wir mit Sicherheit kein Geld, von der<br />

Entwicklungshilfe für die Dritte Welt ganz zu schweigen. Und so manche wissenschaftliche<br />

546


Institution müsste ersatzlos gestrichen werden, wenn in den Fabriken nicht ein beträchtliches<br />

Bruttosozialprodukt erwirtschaftet würde. Aber, so frage ich mich, wie steht es mit dem<br />

gesellschaftlichen Ansehen unserer Facharbeiter?<br />

Ich persönlich war nie eine Männerfeindin, obwohl es bei vielen Männern auffällig nur um<br />

ein Thema geht: Wie wird man mit dieser oder jener Person fertig, wie kann man auf die Arbeit<br />

abwälzen, wie kann man sie diskriminieren und für die eigenen Ziele gebrauchen. Es gibt ja die<br />

Möglichkeit, zu schweigen und mit einer gewissen Gleichgültigkeit alles über sich ergehen zu<br />

lassen. Ich habe meistens meinen Mund ziemlich weit aufgemacht und meine Meinung gesagt. Die<br />

Männer können es aber nicht ertragen, die zweite Geige zu spielen. Das Bonn der Politik ist ein<br />

sprechender Ausdruck unserer Gesellschaft - die leider immer noch eine Männer-Gesellschaft ist,<br />

wo Männerinteressen höher <strong>als</strong> Frauenbelange angesehen sind. Obwohl mehr <strong>als</strong> die Hälfte der<br />

Bevölkerung Frauen sind, sitzen in den Führungsgremien vor allem Männer. Da ist etwas<br />

Grundsätzliches nicht in Ordnung, und das ist auch nicht im Sinne des Grundgesetzes.<br />

So tüchtige Frauen wie Käthe Strobel (*1907 +1996), Katharina Focke oder Antje Huber<br />

sind ja in Bonn nicht an ihrer Regierungsverantwortung gescheitert. Viele der von ihnen<br />

durchgesetzten Reformen halfen Millionen Menschen. Nein, nicht im Amt sind sie gescheitert,<br />

sondern an der Bonner Männerwelt, die schnell alle Vorurteile parat hat, wenn einer Frau ein<br />

Fehler unterläuft, wie jedem Mann doch auch.<br />

Da reichen dann diskriminierende Wörter wie ,glücklos' ,graue Maus' , 'Kabinettsdame',<br />

'farblos' aus. Männer halten es eben nicht aus, wenn eine Frau die Nummer eins ist. Als<br />

Mitarbeiterinnen sind die Frauen anerkannt, ja sie können mittlere Führungspositionen erreichen<br />

wie etwa in der Fraktion, in den Bundestagsausschüssen oder in den diversen Arbeitskreisen. Die<br />

überwiegende Anzahl derer, die in Bonn Meinung machen, die Ministerialbürokraten, die<br />

Journalisten, die Parteileute, sind Männer, die in der Bewertung Männer-Maßstäbe anlegen. Für<br />

diese Männer ist die Ordnung gestört, wenn eine Frau ganz oben ist, beispielsweise <strong>als</strong> Ministerin.<br />

Da spielt sicher das Unbewusste auch eine Rolle. Wenn Frauen Karriere machen, dann ist das für<br />

Männer eine Art Palastrevolution.<br />

Die Bonner Meinungsmache spielt sich am Biertisch oder an der Bar im Bundeshaus ab.<br />

Dort sitzen die Männer zusammen, schieben sich Informationen zu, kungeln Jobs aus, werten sich<br />

gegenseitig auf und setzen Urteile über andere in Umlauf: Männerbünde im alten Sinne modern<br />

verpackt in einer beschränkten Nadelstreifenanzug-Mentalität. Sicher, Frauen können heute an<br />

solchen Stammtischsitzungen teil-nehmen. Aber die Frauen, die ich kenne, lehnen das ab, weil sie<br />

meinen, ihre Zeit in Bonn besser nutzen zu können.<br />

Dass die Frauen in der Politik eine Minderheit sind, das ist auch das Problem bei der<br />

vielzitierten weiblichen Solidarität. Aber wir Frauen vermögen eine andere Art der menschlichen<br />

Beziehungen zu entwickeln, eine andere Art des Umgangs in den Ministerien und mit der Presse.<br />

Ich denke dabei an die Abertausende von Briefen, die ich erhielt, in denen oft zu lesen stand: "Ich<br />

wende mich an Sie, weil Sie eine Frau sind." Demzufolge scheint in unserem Volk der Wunsch<br />

virulent zu sein, gerade Frauen in der Politik zu sehen, weil und insofern diese für Menschlichkeit<br />

stehen. Doch die Ellenbogen-Politik der Männer dominiert. Darin sind die Bonner Männer stark.<br />

Aber solche Werte und Umgangsformen haben heutzutage auch in den Regierungsetagen nichts<br />

mehr zu suchen. Wir Frauen hingegen sind darin geübt, direkt und frei zu beschreiben, was wir<br />

fühlen, meinen, erfahren. Darin liegt auch die Schwierigkeit, Veränderungen durchzusetzen: Wenn<br />

wir Frauen etwas reformieren wollen, sind wir ja meistens selbst noch Suchende, und wir werden<br />

547


dann von Männern <strong>als</strong> Aufrührerinnen und Umstürzlerinnen disqualifiziert. Dabei nehmen wir nur<br />

die Herausforderung ernst, die Gesellschaft ein wenig menschlicher zu gestalten.<br />

Insgesamt hinkt das Bonn der Politik der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung des<br />

Geschlechter-Verhältnisses hinterher. In diesem Punkt ist das Bewusstsein und die daraus<br />

resultierende Haltung dort unterentwickelt. Nach dem Krieg war es ungemein schwer, den<br />

Gleichberechtigungsgrundsatz in der Verfassung zu verankern: An den Hindernissen, die sich der<br />

Sozialdemokratin Elisabeth Selberg (*1896+1986) in den Weg stellten, wäre schon erkennbar<br />

gewesen, was uns Frauen in der westdeutschen Gesellschaft noch bevorsteht. Während der<br />

Jahrzehnte der konservativen, ja restaurativen Regierung unter Adenauer sind die krassen<br />

Benachteiligungen und das Überfordertsein der Frauen überhaupt nicht ins Blickfeld gerückt<br />

worden. In der entscheidenden Wiederaufbau-Phase wurde versäumt, Frauen-Anliegen und die<br />

Notwendigkeit ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz aufzunehmen.<br />

Dam<strong>als</strong> war alles viel zu materialistisch ausgerichtet. Auch die konkreten Vorstellungen<br />

der Frauen waren seinerzeit ziemlich verschwommen. Sonst hätte es wahrscheinlich zu einem<br />

längerem Atem gereicht und zur Klarheit darüber, was für eine Sisyphusarbeit noch zu bewältigen<br />

ist, um aus dem schwer erkämpften Verfassungsgrundsatz Wirklichkeit werden zu lassen. Dieses<br />

Problem ist in seiner ganzen Schärfe nicht angegangen worden. Deshalb wurden auch keine<br />

Kampfformen entwickelt. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns doch eingestehen, dass die<br />

Frauen, die sich seinerzeit um Parteimandate bemühten, <strong>als</strong> wahlstrategisch platzierte auf<br />

Stimmenfang für die Männer-Welt geschickt wurden. Dabei forderten die Fakten in diesem Land<br />

ein anderes Vorgehen. Es dauerte ja zum Beispiel sehr lange, bis in den Gewerkschaften die<br />

schlechte Bezahlung von Frauen, der niedrigere Lohn für dieses Arbeitskräftereservoir, thematisiert<br />

werden konnte. Das wurde oft verhindert durch die Heuchelei und den Neid der Männer, die ihre<br />

Existenz gefährdet sahen. Es war ja für den Nicht-Facharbeiter nicht leicht, nachzuvollziehen, dass<br />

seine Arbeit nach nur vierzehn Tage Anlernzeit von einer Frau übernommen werden konnte. Und<br />

sie wollte auch noch den gleichen Lohn haben! Das war zu viel fürs männliche Gemüt:<br />

Einkommen bedeutet eben gesellschaftliches Ansehen und den Anspruch auf die Moral des<br />

Stärkeren.<br />

Dennoch stand ich immer in einer gewissen Distanz zur Frauenbewegung, die mit ihrer<br />

Art des Kampfes um Gleichberechtigung, mit ihren Methoden und ihrem Sprachgebrauch die<br />

Mehrzahl der Menschen nicht erreichte. Etwas durchsetzen heißt für mich zuerst, die Leute dort<br />

abzuholen, wo sie tatsächlich stehen. Ich kann einen Emanzipationskampf nicht so führen, <strong>als</strong> gäbe<br />

es nur Akademikerinnen oder Frauen mit guter Schulbildung. Die Frauen, die die Hausarbeit<br />

verrichten und die Kindererziehung über-nehmen, <strong>als</strong>o zig Millionen Frauen, die werden dabei<br />

vernachlässigt.<br />

Ganz im Sinne des schwedischen Wirtschaftswissenschaftlers Gunnar Myrdal (Nobelpreis<br />

im Jahr 1974, *1898+1997), der einmal sagte, er kenne niemanden, der zugunsten seiner Ideale<br />

bereit ist, seine Privilegien aufzugeben, ist es auch bei den Männern, die trotz aller Sonntagsreden<br />

ihre Privilegien vehement verteidigen. Die Frauen müssen lernen wie die Männer, sie müssen<br />

wissen, wohin sie wollen, und dass, wer Einfluss nehmen will, hart arbeiten muss. Wir Frauen<br />

haben eine andere Lebensdevise einzubringen. Wer werden dann eines Tages schaffen, was der<br />

deutsch-amerikanische Philosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm (*1900+198o) fordert. Er<br />

verlangt, dass wir unser Leben nicht vom Haben, von der Gier nach Besitz bestimmen lassen,<br />

sondern uns auf eine Lebens-weise einlassen, die vom Sein geprägt ist, davon, dass der Mensch<br />

einen Eigenwert hat, der Mensch an sich gilt, <strong>als</strong>o die Frau soviel wie der Mann.<br />

548


Wenn ich nur an meine Cousine denke, dann sehe ich, wir haben uns schon ein Stück in<br />

diese Richtung bewegt. Mit 47 Jahren war es ihr endlich möglich, sich fortzubilden. Sie hatte die<br />

Schule nicht besuchen dürfen und war Verkäuferin geworden. Ihr Leben war ziemlich mühselig.<br />

Mithilfe des Arbeitsförderungsgesetzes konnte sie sich kostenlos zur Sekretärin ausbilden lassen.<br />

Das war schon von Kindesbeinen an ihr Wunsch gewesen. Heute ist sie Sekretärin im<br />

Lehrerseminar. Wenn ich diesen Fortschritt anderen zu verdeutlichen versuche, wird leider allzu oft<br />

nur auf die kurze Zeit der Geldzuwendung hingewiesen - mehr nicht. Nach dem Motto, was nichts<br />

kostet, ist nichts wert.<br />

Ich persönlich habe mich nie auf Positionen beworben. Das klingt vielleicht etwas<br />

überheblich. Ich wurde aufgefordert, mich für die Rektorenstelle zu melden und später mich <strong>als</strong><br />

Schulrätin zu bewerben. Und ich wurde aufgefordert, für den Bundestag zu kandidieren. Die SPD-<br />

Spitze bat mich, Helmut Schmidts parlamentarische Staatssekretärin und schließlich<br />

Entwicklungshilfeministerin zu werden. Die Sucht nach Ämtern, koste es, was es wolle, hat mich<br />

nie getrieben. So etwas liegt mir völlig fern. Dieses Hecheln nach Bedeutung und Macht war in<br />

meiner Zeit ganz den Männern vorbehalten.<br />

Als Beispiel für die ortsübliche männliche Karriere-Kultur muss ich mir nur den einstigen<br />

Juso-"Rebell" Wolfgang Roth (Vorsitzender der Jungsozialisten 1972-1974) vor Augen führen. Er<br />

meldete sich nach seinen schlagzeilenträchtigen Juso-Eskapaden für den Parteivorstand, für den<br />

Bundestag sowieso und dann marschierte er Schnurstraks nach oben auf den stell-vertretenden<br />

Fraktionsvorsitz zu. Durch sein feingesponnendes Selbstanmeldungsnetz fiel dann eine Frau: Ich<br />

hatte mir die hellwache Renate Lepsius <strong>als</strong> meine Nachfolgerin gewünscht. Aber in Sachen<br />

Selbstanmeldung sind in Bonn die Frauen den Männern weit unterlegen. Für die ist das oft ein<br />

egomanisches Muss.<br />

Sie planen für sich ihre Karrierestufen, wann und unter welchen Bedingungen sie dies<br />

oder jenes erreichen können - und vor allem, mit welchen Entscheidungsträgern sie sich gut zu<br />

stellen haben. Bei uns Frauen hingegen ist das in erster Linie ein vieldiskutierter Findungsprozess,<br />

der sich ganz offen in der Gruppe abspielt. Schon deshalb sind wir Frauen nie auf diese für uns<br />

seltsame Idee gekommen, Selbstanmeldung zu betreiben und das politische Handeln dieser<br />

Maßgabe unterzuordnen. Wir Frauen redeten miteinander über unsere Leistungsgrenzen, über<br />

unsere Handicaps im politischen Betrieb. Ich sah Frauen - auch Männer -, die seit Jahren ohne viel<br />

Medienrummel kompetent schufteten, aber nie etwa , obwohl sie viel eher einen Anspruch darauf<br />

hatten, eins höher zu rücken.<br />

Jedenfalls war Karriere für mich nie ein Thema; ich brauchte mir nichts zu beweisen. Viel<br />

später allerdings, <strong>als</strong> ich üblen Attacken ausgesetzt war, da wollte ich schon den klaren Beleg dafür<br />

antreten, dass eine Frau - in diesem Fall Marie Schlei - eine von den vielen ist, die etwas kann.<br />

Macht hatte ich auch - aber eine vertretbare Macht, die nicht darauf ausgerichtet war, andere<br />

Menschen zu verletzen, zu verdrängen, zu demütigen oder gar zu zerstören. Was ich im Unterricht<br />

von meinen Mädchen und Jungen an Verhaltensweisen gefordert hatte, versuchte ich auch in Bonn<br />

in die Tat umzusetzen. Mein Lebensversuch war es, immer Suchende zu sein, immer wieder zu<br />

wagen, sich und die Umgebung in Frage zu stellen. Das ist sicherlich nicht die einzige Lebensform,<br />

aber es ist eine sehr intensive, mitunter auch gefährliche.<br />

Helmut Schmidt musste mir lange zureden, um mich <strong>als</strong> Staatssekretärin im Kanzleramt<br />

zu gewinnen. Er kam auf mich zu und sagte: >Du wirst mein Staatssekretär


nachteiligten in unserer Gesellschaft. Ich denke nur an die Dynamisierung der<br />

Hinterbliebenenrente, an die Mitbestimmung, an die Sicherung der Betriebsrenten. Was so ein<br />

Staatssekretär, der ja ein Staatsminister ist, zu tun, welche Aufgaben er zu bewältigen hat, das<br />

konnte ich mir zwar vorstellen, genau gewusst habe ich es freilich nicht.<br />

Dann wurde ich Staatssekretärin. Ich musste zwischen Kanzler und Fraktion <strong>als</strong><br />

Bindeglied arbeiten. Unablässig, immerfort galt es, in strittigen Sachfragen zu informieren und zu<br />

vermitteln. Das Stellenprofil des parlamentarischen Staatssekretärs hat sich in der Zwischenzeit<br />

erheblich verändert. Früher hatte er vor allem eine vermittelnde Funktion, war mehr oder weniger<br />

der Abgesandte der Fraktion bei den alltäglichen Regierungsgeschäften. Heute ist der parlamentarische<br />

Staatssekretär eher ein Junior-Minister, damit die unweigerlichen Loyalitätsbrüche im Wettbewerb<br />

um die richtige Lösung vermieden werden. Wenn nämlich vertrauliche Informationen aus<br />

den Ministerien zu früh in die Fraktionen gelangen, kommt es zu Reibungsverlusten.<br />

Es war wohl Herbert Wehner, der mich in diese Position brachte. Ich sollte im<br />

Kanzleramt Verbindungen herstellen, Ergänzungen ermöglichen. Es sollten ja ein Neuanfang der<br />

sozialliberalen Koalition sein. Mit dem Kanzler Willy Brandt wusste Wehner, was lief. Helmut<br />

Schmidt kannte er zwar aus der Fraktion und aus dem Finanzministerium, aber er konnte nicht<br />

vor-hersehen, wie er <strong>als</strong> Kanzler sein und auf die Abgeordneten wirken würde. Jedenfalls sollte ich<br />

im Umgang mit den Parlamentariern verbindlich sein, auch mal leise reden und nicht nur fordern,<br />

mir meine Meinung nicht nur im Kanzleramt formen, sondern vor allem in der SPD-<br />

Bundestagsfraktion genau hinhören. Herbert Wehner war der Ansicht, dass ich das alles<br />

beherrschte. Als ich später Bundesministerin wurde, schrieb mir Herbert Wehner einen schönen,<br />

sehr knappen Brief: "Marie, das gibt es nur einmal, das kommt nie wieder." Demnach musste er mit<br />

meiner Arbeit, mit meiner Art, zufrieden gewesen sein. Diese Zeilen haben mich ganz glücklich<br />

gemacht. Denn ich machte oft ein Fragezeichen hinter mich, weil die Aufgaben so umfassend<br />

waren, dass ein 48-Stunden-Tag eigentlich nicht ausreichte.<br />

Es war - unausgesprochen - meine Aufgabe, den Kanzler ständig auf etwas hinzuweisen<br />

und <strong>als</strong> jemand nach außer darzustellen, der nicht arrogant ist, der andere nicht bevormundet, eben<br />

<strong>als</strong> Mann, der Herz hat und mit Menschen umgehen kann. Er empfing ja dann auch<br />

Frauengruppen oder eine Feuerwehrmannschaft, die sich beim Löschen des Großbrandes in der<br />

Lüneburger Heide hervorgetan hatte. Aber jedes Mal war es ein Ringen mit dem Terminkalender.<br />

Mit lag sehr daran, einen Kanzler Helmut Schmidt zu zeigen, der gut zuhörte und nicht immer<br />

selber redete. Für mich war das wichtig, damit zum Beispiel gerade auch die Frauen in Deutschland<br />

ernster genommen wurden <strong>als</strong> bisher.<br />

Es muss doch möglich sein, dachte ich mir, dass Gruppen von Bürgern, die in Bonn zu<br />

Besuch sind, auch mal den Kanzler sehen und in den Park des Palais Schaumburg gehen dürfen.<br />

Wir sollten in Bonn doch nicht wie in einer abgehobenen Isolierstation herum werkeln und quasi<br />

<strong>als</strong> Alleinunterhalter ins Land ziehen; mit dem Wissen darüber, welches Thema nach den demoskopischen<br />

Untersuchungen am besten in der Bevölkerung ankommt. Wir sollten doch teilhaben am<br />

Leben, an den Widersprüchen, Verzagtheit und Hoffnungen der Menschen, daran, was sie denken<br />

und was sie bewegt. Auch Schriftsteller wie Heinrich Böll (*1917+1985), Günter Grass, Susanne<br />

Engelbrecht und Taddäus Troll (*1914+1986)fanden ja zu uns, zumal sie zu Willy Brandt zeitweilig<br />

ein geradezu inniges Verhältnis hatten - später war es angespannt.<br />

Ich glaube, die Pflege menschlicher Beziehungen spielt sich auf sehr unterschiedlichen<br />

Ebenen ab; sie wird oft schon im kleinsten Bereich vernachlässigt und bleibt unterentwickelt. Dann<br />

klagen alle über die Eiszeit der Herzen. Diesen frostigen Stil, diese abweisenden Umgangsformen<br />

550


versuchte ich im Kanzleramt zu ändern. Das fanden viele nicht gut. Ich habe zuweilen Briefe, die<br />

nach draußen gingen, dreimal zurückgehen lassen, weil sie wie ein Formblatt, mit genormten<br />

Sätzen, abgefasst waren. Ich stellte mir vor, welche Wirkung solche Briefe auslösten; da wandten<br />

sich Bürger mit ihren Problemen direkt an den Bundeskanzler, und sie erhielten ein abweisendes,<br />

unverständliches Null-Acht-Fünfzehn-Schreiben <strong>als</strong> Antwort zurück. Ich habe die Referenten<br />

immer wieder neu formulieren lassen, weil sie unfähig oder auch nicht willens waren, etwas<br />

verständlich auszudrücken, die Bürger lieblos mit x-beliebigen Paragrafen eindeckten. Ohne<br />

Verständnis, ohne Anteilnahme, ohne reale Hilfestellungen wurden die Briefe im Schnellverfahren<br />

herunter diktiert. Das sprach sich schnell herum, dass ich so etwas nicht durchgehen ließ, und eine<br />

Flut von Briefen kam dann auf mich zu. Man glaube, dass ich die Post für alle machen könnte. Die<br />

Konsequenz war, dass ich einen zusätzlichen Referenten <strong>als</strong> Briefeschreiber benötigte. Da<br />

intervenierte hilfreich der Bundeskanzler persönlich, was ungewöhnlich ist, weil er sich um die<br />

Verwaltung ja nicht kümmern muss.<br />

Helmut Schmidt nahm mich überall dorthin mit, wo er bei schwierigen Verhandlungen<br />

Verhärtungen der Positionen vorhersah. Diese Versteinerungen aufzulösen oder erst gar nicht<br />

aufkommen zu lassen, das war meine Aufgabe, und sie ist mir gelungen. Ob bei Mao Tse-tung<br />

(*1893+1976) in China, bei Lyndon B. Johnson (*1908+1973) oder später bei Gerald Ford (*1913<br />

+2006) in Washington oder auch bei Alexej Kossygin (*1904+198o) in Moskau, selbst beim<br />

Bundespräsidenten Gustav Heinemann (*1899+1976) -dort, wo es brenzlig zu werden drohte, wich<br />

ich keinen Zentimeter von Helmut Schmidts Seite. Er wollte vorbeugen, und ich strahlte vor.<br />

Bevor ich ihn zum damaligen Bundespräsidenten begleitete, wo er sich seine Ernennungsurkunde<br />

abholen sollte, meinte er zu mir, dass in meiner Gegenwart die Gespräche friedlicher,<br />

aufgeschlossener und angenehmer verlaufen würden.<br />

Helmut Schmidt befürchtete, dass uns das Ausland für zu stark, zu mächtig, zu reich hielt.<br />

Seine Ängste waren nur zu berechtigt. Denn wenn wir aus unserer tatsächlichen wirtschaftlichen<br />

Stärke heraus Politik gemacht hätten, dann hätte man doch nur mit Misstrauen gegenüber uns<br />

Deutschen reagiert. Für meine Begriffe hat Helmut Schmidt diesen Trapezakt gut absolviert. Er<br />

bemerkte im kleinsten Kreis oft: wenn bloß die bundesrepublikanischen Wirtschaftsrepräsentanten<br />

und die Pressevertreter im Ausland nicht so protzig auftreten würden.<br />

Vielleicht gehört es auch zu meinen Eigenarten, dass ich mir immer alle möglichen<br />

Probleme auflade. Wenn ich dann hart angegangen worden bin, habe ich mir das aber nie gefallen<br />

lassen. Ich mochte nicht, wenn ich im Arbeitsverhältnis nur <strong>als</strong> Frau angesehen wurde, der die<br />

Ministerialbeamten oft mit gequälten Höflichkeiten und Komplimenten begegneten. Darauf habe<br />

ich meistens sauer reagiert. Wie, wenn sich eine Frau so verhalten würde? Dieses ganze Theater ist<br />

doch absurd und verlogen. Denn hinter den Masken stecken doch Ab-sichten. Das musste ich in<br />

Bonn lernen. Andererseits entwickelte sich in diesem Bonn eine mir sehr wertvolle Frauen-<br />

Freundschaft mit Loki Schmidt, mit der ich oft zusammen war.<br />

Zu Helmut Schmidt fühlte ich mich schon wegen der Sachaufgaben hingezogen. Wir<br />

sagten uns auch zuweilen offen die Meinung, ohne uns irgendetwas zu verübeln. Manchmal haben<br />

unsere Gespräche einen Austauschcharakter gehabt. Und es war für mich immer ein<br />

Erfolgserlebnis, wenn er sich meinen Ratschlag zu Eigen machte. Es kam auch vor, dass ich ihm<br />

via Loki - der sicherste Weg überhaupt -meine Meinung über dieses oder jenes sagen konnte.<br />

Helmut Schmidt bedankte sich tags darauf kurz bei mir und ging dann Schnurstraks zur<br />

Tagesordnung über. Das war typisch für Schmidt. Typisch war auch, dass wir uns im Kanzleramt,<br />

551


und nur dort, in der von ihm für alle Mitarbeiter verordneten angelsächsischen Form - Vorname<br />

und Sie - anredeten.<br />

In den Jahren, die ich in Bonn war, lag unglaublich viel Gift der Luft; eben<br />

Vernichtungswille und Macht-gier. Da dominierte der Hass über die neue Entspannung- und<br />

Deutschlandpolitik. Ich sehe noch diese böse blickenden Gesichter aus den Reihen der Fraktion<br />

von CDU/CSU vor mir. Bilder, Ausdrücke, Gesten, die sich mir tief eingeprägt haben. Das war<br />

irgendwie mein allgemeiner Eindruck: Gesichter, die sich in der Masse auflösten. Auf der Bonner<br />

Regierungsbank sitzend, stellte ich mir die Frage: Wer bleibt in diesem Plenarsaal <strong>als</strong> Mensch und<br />

Persönlichkeit übrig? Die einen strampelten sich vor und für die Medien ab. Die anderen waren<br />

dienende Zulieferer in der Fraktion, blutleer, austauschbar. Schon ihre Physiognomie verriet, dass<br />

hier eine bestimmte Klasse ihrem Geschäft nachging. Ich dachte mir, es müssten andere Gesichter<br />

dort mal auftauchen. Einfach deshalb, weil sich die Menschen - die Menschen mit ihren Sorgen<br />

und den Schwierigkeiten, mit dem Leben fertig zu werden -, mit den glatten, allwissenden, über<br />

alles redenden Politikern kaum identifizieren können. In Bonn dominiert die Masse. Damit meine<br />

ich jetzt nicht etwas Quantitatives, sondern ein Merkmal, nämlich das Unstrukturierte,<br />

Vordergründige. Ja, Courage haben und sich ins politische Geschehen ungeschützt einbringen, das<br />

sind seltene Eigenschaften, die immer mehr verlorengehen im taktisch-strategischen Ränkespiel.<br />

Und Vertrauensbrüche gibt es überall auf diesem Weg.<br />

Es ist ein Faktum, dass jemand, der acht oder zwölf Jahre in der Politik tätig war, selbst<br />

bei bester Berufsausbildung, nur sehr schwer in seinen früheren Beruf zurückfindet. Ein<br />

pensionierter Bundeswehr-General hat es mitunter einfacher, in der Wirtschaft sein Auskommen<br />

zu finden. Aber viele sind materiell von der Politik abhängig. Der Druck nimmt deshalb zu. Von<br />

daher wohl dieses Kleinmachen des anderen, das Her-ausstellen der eigenen Person, dieses<br />

Aufblähen und Aufplustern wie Puter: Mir fällt in diesem Zusammenhang kein besserer Vergleich<br />

en. Was für ein Gegacker und Geschnatter.<br />

Wir Politiker haben doch aber die originäre Aufgabe, Mehrheiten zu suchen, zu<br />

argumentieren und zu überzeugen. Als Arbeitskreisvorsitzende einer Fraktion kann ich zum<br />

Beispiel den ganzen Laden per Verdikt schmeißen. Aber ich kann auch Meinungen zusammenführen,<br />

Klärungsprozesse forcieren und Schlussabstimmungen reifen lassen. Doch solch ein<br />

Verfahren ist viel mühseliger. Wichtig scheint mir vor allem eins zu sein - in Bonn Mensch zu<br />

bleiben und nicht die Deformation zum Maß aller Dinge zu erheben.<br />

Ich habe in Bonn gearbeitet, <strong>als</strong> sei ich jung und gesund trotz Herzfehler und Krebs.<br />

Geschont habe ich mich nicht. Doch abends, wenn ich aufreibende Reisen oder anstrengende<br />

Debatten hinter mir hatte, bekam ich Beschwerden. Ich wollte zwar die Nacht zum Tag machen,<br />

aber mein rechter Arm und die Hand schwollen taubendick an, so dass ich meine Bluse mit einer<br />

Schere aufschneiden musste. Der Verdrängungsprozess funktionierte ansonsten ausgezeichnet.<br />

Erst einmal überlistete ich mich mit der mittlerweile widerlegten These, wenn sich fünf Jahre keine<br />

neuen Krebszellen bilden, dann sei ich geheilt. Zum zweiten ermunterten mich die Mitmenschen,<br />

im Alltag anzupacken und nach vorne zu schauen, Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Meine<br />

Motivation war so stark, dass ich meine Krankheit zeitweilig vergessen konnte.<br />

Mein Politikverständnis unterschied sich vom herkömmlichen. Das merkte ich an<br />

manchen Reaktionen. Wenn Außenstehende mitbekamen, dass ich <strong>als</strong> parlamentarischen<br />

Staatssekretärin im Bundeskanzleramt in meiner terminfreien Zeit im Büro Pakete schnürte und<br />

die in DDR schickte, erntete ich Kopfschütteln, Ja, es ist mein Traum, dass die Deutschen eines<br />

Tages in einem Land vereinigt leben können. Wenn ich nicht Wiedervereinigung sage, dann<br />

552


deshalb, weil das Deutschland in den Grenzen von 1937 meint. Ich gebe diese Hoffnung auf die<br />

Einheit der Nation nicht auf. Dieser Traum wird eines Tages in Erfüllung gehen. Davon bin ich<br />

überzeugt. Und mich bewegt, wie ein Mensch wie Herbert Wehner darum kämpfte, dass die<br />

Substanz der einen Nation nicht verloren ging. Herbert Wehner hat trotz aller Anfeindungen<br />

immer versucht, daran zu erinnern und darauf hinzuweisen, dass wir verpflichtet sind, uns für<br />

menschliche Erleichterungen für die Millionen von Menschen im anderen Teil unseres Vaterlandes<br />

einzusetzen.<br />

Am 17. Juni 1953 hatte ich meine Neuntklässler mit auf die Straße genommen, um ihnen<br />

zu zeigen, wie es aussieht, wenn Arbeiter etwas wollen. Dass der Aufstand durch russische Panzer<br />

und durch SED-Funktionäre niedergeschlagen wurde - das sitzt bei mir noch heute tief. Das klingt<br />

vielleicht etwas pathetisch. Aber ich denke an die 17 Millionen Menschen, die nie die Chance<br />

hatten, in einer Demokratie zu leben, sondern von der Hitler-Diktatur in eine andere totalitäre<br />

Form hineingepresst wurden. Das kann eigentlich jemand, der in Freiheit aufgewachsen ist, nicht<br />

nachvollziehen, was es heißt, von einem Totalitarismus in den anderen zu kommen. Und auf der<br />

westdeutschen Seite ist diese Kaufmannsgesinnung, die in Wirklichkeit so vieles unerledigt lässt.<br />

Diese auf das Materielle, auf das Habenwollen ausgerichtete Existenzweise eines Großteils der<br />

Bundesdeutschen muss überwunden werden. Was bedeutet schon die viel zitierte Eigenleistung?<br />

Das hieß im Jahre 1945 bei uns ja auch nicht Eigenleistung, sondern Hilfe und Zuweisungen durch<br />

die westlichen Alliierten. Wir sollten - gerade auch die jungen Menschen - mit derlei Begriffen<br />

etwas nachdenklicher umgehen.<br />

Die Menschen in der DDR liegen mir am Herzen. Die zwischenmenschlichen<br />

Beziehungen sind dort von mir Anteilnahme geprägt. Die Nachbarn haben sich noch etwas zu<br />

sagen und helfen sich gegenseitig, und die Familien schieben die Alten nicht einfach ab. Ich sehe<br />

die Menschen dort und bin immer wieder erstaunt, dass sich trotz SED soviel Mitmenschlichkeit<br />

erhält. Wenn es irgendwann in der Zukunft einmal zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten<br />

kommen sollte, dann kann diese Zukunft nicht so aussehen, dass die DDR-Bürger die<br />

Gewohnheiten und Eigenschaften der Menschen hier gänzlich übernehmen. Dort haben die<br />

Frauen schon einen anderen gesellschaftlichen Stellenwert erreicht. Was beispielsweise dort für<br />

junge Mütter getan wird, das ist schon vorbildlich.<br />

Es kam mir nie darauf an, mit großen Politik-Entwürfen auf mich aufmerksam zu machen<br />

oder <strong>als</strong> eine Art Alleinunterhalterin in den Medien aufzutreten. Mein Politikverständnis war<br />

geprägt von den Kontakten mit der Bevölkerung, davon, um die Sorgen der Menschen zu wissen.<br />

Mir war klar, dass ich mit dieser Einstellung kaum einen Blumenstrauß gewinnen würde. Aber diese<br />

Art des Umgangs waren eben meine Art und der Grund, warum ich mich in Bonn abrackert.<br />

Angst: ja, Angst hatte ich in Bonn oft. Obwohl ich nachweislich nicht auf die Schnauze<br />

gefallen bin und nicht mit meiner Meinung zurückhalte. Aber im Plenum des Deutschen<br />

Bundestages, vis-à-vis mit der oft zähne-fletschenden Männer-Meute -da überkam mich schon die<br />

Angst. In solchen Momenten am Rednerpult fühlte ich mich total alleingelassen. Sicherlich steht<br />

jeder dort oben unter besonderer Anspannung und einem gewaltigen Leistungsdruck - zumal bei<br />

Fernsehübertragung. Alles erstarrt in Würde - und doch werden Redner verunglimpft. Das sind oft<br />

reine Schaukämpfe, Hahnenkämpfe - mehr nicht. Damit wird viel Zeit verplempert. In den<br />

seltensten Fällen geht es im Plenarsaal um Erkenntnisse, die für die Meinungsbildung in der<br />

Bevölkerung wichtig sind und kontroverse Diskussionen entfachen. Nur selten werden in den<br />

Reden aus Fakten beurteilungsfähige Zusammenhänge entwickelt. Der Schlagabtausch, die<br />

Zwischenrufe, dieses Ping-Pong-Gehämmere - das alles hat sich mittlerweile verselbstständigt. Ich<br />

553


musste immer wieder darüber staunen, zu welcher Niveaulosigkeit Abgeordnete des Deutschen<br />

Bundestages fähig sind.<br />

Im Plenarsaal hatte ich auch ein traumatisches Angsterlebnis, das noch über Jahre an mir<br />

kleben sollte. Es ist diese vernichtende, ja wollüstige Art der Männer, mit einer sich wehrenden<br />

Frau umzugehen. Also: Zur Debatte stand die Große Anfrage der CDU/CSU-Opposition, ob<br />

während eines Norwegen-Urlaubs im Jahre 1973 des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt<br />

dessen persönlicher Referent, der DDR-Spion Günter Guillaume (*1927+1995), Zugang zu "streng<br />

geheimen" oder "Cosmic-Dokumenten" hatte. Dam<strong>als</strong> war die sozialliberale Koalition durch den<br />

Rücktritt Willy Brandts in eine tiefe Krise geraten. Die Medien liefen auf Hochtouren und regten<br />

sich bissig darüber auf, und in der Bevölkerung schien die Empörung über Brandts Frauen-<br />

Geschichten - daraus wurde bekanntlich Erpressbarkeit abgeleitet - samt der "Vermittler-Dienste"<br />

des Guillaume - jedenfalls schien sich die aufgeheizte Volkes Stimme über angeblich solch einen<br />

Kanzler gar nicht wieder beruhigen zu wollen. -<br />

Ich dachte, wenn man jeden Politiker nur nach den eigenen moralischen Maßstäben<br />

beurteilt, dann könnte man Bonn doch zumachen. Wenn Guillaume tatsächlich Frauen-<br />

Geschichten gedeckt hätte, kann man deshalb gleich auf Erpressbarkeit schließen? Was soll da<br />

schon gewesen sein, was Rut, Brandts damalige Frau (*1920+2006) ), nicht gewusst hätte? Die<br />

wusste doch längst Bescheid und ein Teil der Presse auch. Die strebten doch dieselben<br />

Lebensweisen an. Die haben mir ja selber die Matratzengeschichten erzählt, um sich in Bonn <strong>als</strong><br />

Kraftprotz darzustellen - oder um sich mal von seiner Alten zu erholen, vielleicht auch um<br />

Geheimnisse herauszukriegen. Ich finde es bekotzt, wie instrumental hier Frauen behandelt<br />

werden. Willy hat sich auch mit Frauen umgeben, um zu sagen: Ich kann mir nicht helfen, ich find'<br />

mich einfach hübsch.<br />

Als ich zu Herbert Wehner ins Zimmer kam, da hatten sich die Herren schon alles<br />

ausgedacht, nämlich dass ich - frisch im Amt - in der Großen Anfrage der Opposition Rede und<br />

Antwort stehen sollte. Als nichts ahnende Frau sollte ich in die Bütt steigen, weil die<br />

kenntnisreichen und zuständigen Männer offenkundig angeschlagen waren. Denn in Wirklichkeit<br />

stand wohl die geheuchelte Sittsamkeit der Bonner Männer-Gesellschaft auf dem Prüfstand. Jeder<br />

wusste nur zu gut, was die Herren Kollegen so alles trieben, angefangen von den heimlichen Puff<br />

und nächtlichen Barbesuchen.<br />

Dass die Männer mich in dieser heiklen Angelegenheit quasi <strong>als</strong> Kanonenfutter<br />

vorschickten, habe ich im ersten Moment gar nicht begriffen. Infamität hatte ich ihnen nie von<br />

vornherein unterstellt. Ich wusste nur, dass es ein verdammt schwieriges Unterfangen sein würde,<br />

dass sie mich jagen würden.<br />

Ich war nicht verbittert, sondern tief empört über die Menschen, die Brandt im<br />

Kanzleramt umgaben. Die hätten doch seine Mentalität besser kennen müssen, nämlich dass er<br />

ungern mit jemanden bricht, vertrauensselig und nicht verwaltungspingelig ist. Ich empörte mich<br />

darüber, dass so etwas überhaupt geschehen konnte: ein DDR-Agent <strong>als</strong> persönlicher Referent<br />

getarnt. Willy Brandt hatte doch ein Anrecht darauf, gewarnt und geschützt zu werden.<br />

Formal schien es auch nicht korrekt zu sein, dass ich die Anfrage der CDU/CSU-Fraktion<br />

beantworten mussten. Zuständig war ja der beamtete Staatssekretär Manfred Schüler (1974-1981<br />

Chef des Bundeskanzleramtes), der zudem noch sämtliche Geheimdienstaktivitäten des Landes für<br />

die Bundesregierung koordinierte. Und es war Prinzip, dass der beamtete Staatssekretär im<br />

Parlament Rede und Antwort stehen muss, wenn es die Sachlage erfordert. Ich hatte keinen<br />

554


Aktenzugang, denn die Unterlagen waren la alle bei Schüler im Panzerschrank. Wäre ich früher mal<br />

im Innenausschuss tätig gewesen, hätte ich eine gewisse sachliche Voraussetzung mitgebracht. Aber<br />

ich war ja für Sozialpolitik zuständig und hatte folglich über Geheimdienste keinen blassen<br />

Schimmer. Nur die Männer stellten sich hin und meinten doppelbödig, bedeutungsvoll, dass diese<br />

Fragestunde für mich eine Art Bewährungsprobe darstelle. Ich erhielt zu den Fragen von den<br />

Referenten des Kanzleramts vorgeformte, meist lapidare, kaum erhellende Antworten - das war<br />

alles. Und vor meinem Bundestags-Auftritt las ich die Presseausschnitte zur Guillaume-Affäre, um<br />

die Öffentlichkeit wieder-käuend zu informieren. Aberwitzig.<br />

Weshalb ausgerechnet ich in die Arena geschickt wurde, das war mir schon klar. Mit der<br />

Glaubwürdigkeit einer Frau sollte ich dafür sorgen, dass der neue Bundeskanzler eine Weile heil<br />

bliebe und sein Vorgänger nicht allzu heftig attackiert und in den Schmutz gezogen werde. Helmut<br />

Schmidt musste sauber gehalten werden, Willy Brandt durfte nicht allzu sehr bespritzt werden.<br />

Fast neunzig Minuten wurde ich beschossen. Eine Frage jagte die andere, die mich wie<br />

Hiebe trafen. Ich kam mir absolut verlassen vor, keiner war da, der mir bei-stand. Der Kanzler saß<br />

im Plenum mit Willy Brandt. Ich fühlte mich vom strengen Blick Herbert Wehners nicht<br />

ermuntert, weil er genau wusste, dass alles schiefgehen könnte. Ich war starr vor Angst. Das<br />

Schlimmste waren die Gesichter in der CSU/CSU-Fraktion. So viel Häme in den Visagen, so viel<br />

Chauvinismus hatte ich in dieser geballten Form noch nicht erlebt. Sie sahen nicht nur einen<br />

gejagten Politiker, sie sahen eine gejagte Frau. Anders kann ich mir diese Gesichter nicht erklären.<br />

Jagdfieber. Es waren erniedrigende und auf den Nachweis mangelnder Intelligenz zielende<br />

Attacken. Und ich kam mir da auch dumm vor. Das gelang den Männern ja nicht nur bei mir. Fast<br />

alle Frauen dam<strong>als</strong>, ob Katharina Focke oder Antje Huber, kannten das Gefühl, gedemütigt zu<br />

werden. Mit dieser dummen Art sollten wir verunsichert werden.<br />

Es widersprach meiner Mentalität, nicht offen zu sein, <strong>als</strong>o Fragen so dürftig zu<br />

behandeln, dass keine Antwort daraus wird. Es gibt ja Beantwortungstechniken, wie man mir vielen<br />

schönen Worten nichts sagt. Nur, diesen Stil wollte ich für mich nicht akzeptieren, weil ich ihn in<br />

einer parlamentarischen Demokratie unpassend halte. Während die Fragen auf mich einprasselten,<br />

dachte ich nur. Du darfst Willy Brandt nicht kränken, du musst auf Helmut Schmidt und Herbert<br />

Wehner acht-geben, Schlimmes verhüten, du musst wie eine Kanzlerin der Sozialdemokratie die<br />

SPD jetzt aus dem Schlamassel ziehen. Schon einmal in meinem Leben hatte ich solch einen<br />

Schreckensaugenblick erfahren. Das war auf der Flucht, die Russen dicht hinter uns. Mein Mann<br />

vermisst. Mit meinem kleinen Kind und einem Rucksack auf dem Rücken, ohne Ziel vor Augen:<br />

Ich wollte weg, nichts wie weg, weiterziehen.<br />

Als die Fragestunde zu Ende war, hatte sich in mir das Misstrauen festgesetzt, weil ich<br />

mich instrumental behandelt fühlte. Ich konnte gut gemeinte Worte nicht mehr <strong>als</strong> solche<br />

aufnehmen. Ich dachte nur, jetzt wollen sie mich trösten, damit ich nicht über den Jordan gehe.<br />

Gewiss hätte ich auch so reagieren können, dass ich <strong>als</strong> Staatssekretärin zurückgetreten wäre. Ein<br />

Jurist hätte sich wahrscheinlich schneller eingearbeitet und bessere Aussagen zugunsten Willy<br />

Brandts formuliert. Dass ich das nicht konnte, das hat mich sehr bedrückt und beschämt. Ich habe<br />

zwar standgehalten, aber nicht die bestmögliche Verteidigung geführt.<br />

Ich fand das nicht ausreichend - daher wohl auch zum Teil das Trauma, das mich nicht<br />

mehr losließ. Ich hatte immer die Vorstellung, man müsste die Fähigkeit haben, seine Grenzen zu<br />

überspringen, über sich hinauszuwachsen. Dass in dieser Phase die Medien mich halbwegs fair<br />

beurteilten, tröstete mich etwas.<br />

555


Engagement für die Karriere und Konkurrenz: das ist die Antriebsfeder vielerorts. Aber in<br />

Bonn, wo so viele ihren Durchbruch suchten, hat sich dieser seelenlose Ehrgeiz für manchen<br />

bedrohlich verselbständigt. Um so schlimmer dann, wenn das Ende drohte, der Rausschmiss aus<br />

dem Kabinett. Ich habe miterlebt, wie aus ehem<strong>als</strong> starken, einflussreichen Repräsentanten<br />

sozialdemokratischer Politik quasi gebrochene Streichhölzer wurden. Im Jahre 1978 mussten drei<br />

Männer und ich aus dem Kabinett zurücktreten. Helmut Schmidt wollte unbedingt ein Kabinetts-<br />

Revirement mitten in der Legislaturperiode, um die neuen Minister für den nächsten Wahlkampf<br />

gut vorzubereiten. Das kam für mich ganz plötzlich; ich hatte mich innerlich darauf eingestellt,<br />

wenigstens vier Jahre im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit meiner Arbeit nachgehen<br />

zu können. Mit mir mussten der Arbeits- und Sozialminister Walter Arendt, (*1925+2005) der<br />

Bildungsminister Helmut Rohde und der Verteidigungsminister Georg Leber ihren Schreibtisch<br />

räumen. Verwundungen bei den drei Männern und bei mir.<br />

Für Walter Arendt, den Arbeiterführer aus dem Ruhrgebiet, musste sein Bonner Abgang<br />

in dieser Form ein zerstörendes Erlebnis gewesen sein. Aschfahl, in sich zusammengesunken wie<br />

ein alter Mann, wortkarg nahm er seine Entlassungsurkunde entgegen. Er hat sein Verhalten zu<br />

Helmut Schmidt nie wieder in Ordnung bringen können, was er vielleicht auch gar nicht mehr<br />

wollte. Georg Lebers Beziehung zum Kanzler entspannte sich erst, <strong>als</strong> er von ihm zum Papst<br />

mitgenommen wurde. Helmut Rohde hat immer darunter gelitten, dass er im Kabinett, und wohl<br />

insbesondere bei Helmut Schmidt, nicht die Resonanz fand, die er brauchte; dass seine Vorlagen<br />

schnell abgehandelt wurden und in den Aktenkoffern verschwanden. Dabei hatte er in kurzer Zeit<br />

gute Arbeit geleistet, eine Akzentverschiebung von der Universität zur betrieblichen Ausbildung<br />

vorgenommen. Rohde wusste, dass seine Stunden im Kabinett gezählt waren.<br />

Häufig folgen Ministerabgänge einer anderen Dramaturgie. Gewöhnlich fängt es in den<br />

Medien zuerst zu klicken ab, mit Floskeln wie: Aus Kanzler-Nähe war zu erfahren ... ... Wenn sich<br />

solche Hinweise wieder-holen, können die betroffenen Personen davon ausgehen, dass gegen sie<br />

etwas ausgekocht wird. Folge-richtig informierten wir uns über unsere Entlassung zuerst aus der<br />

Morgenzeitung. So früh am Morgen habe ich das nicht glauben können. Ich ging noch davon aus,<br />

dass man so etwas einem direkt ins Gesicht sagt. Fehl-anzeige. Dann glaubte ich, dass sich da<br />

jemand unbefugt den Mantel der Kanzler-Nähe umhängte, um eine Kanzler-Meinung zu<br />

präjudizieren. Andererseits war ich mir ziemlich sicher, dass Helmut Schmidt niem<strong>als</strong> über mich<br />

mit Journalisten geredet hatte -zumindest nicht über solche personell weitreichenden Dinge. Das<br />

traute ich ihm nicht zu, obwohl er ja gerne mal was erzählte. Und im übrigen hätte er mich auch<br />

ohne die Zeitungen loswerden können. Er musste mich doch kennen <strong>als</strong> eine, die ganz verständig<br />

auf den Platz geht, wo sie noch gebraucht wird. Diese Art, meinen Abgang einzufädeln, war<br />

überhaupt nicht in Ordnung. Ich war von ihm <strong>als</strong> Arbeitspartner völlig enttäuscht und davon, dass<br />

mir die Aufgabe genommen wurde, auf die ich mich eingestellt hatte, nämlich gezielt den<br />

Menschen in der Dritten Welt Selbsthilfe zu ermöglichen. Im Vergleich zu anderen bin ich aber<br />

seelisch heil raus-gekommen. Wenn man von der Politik nicht abhängig ist und in seinen Beruf<br />

zurück kann - das stabilisiert einen enorm.<br />

Helmut Schmidt warf mir vor, das Ministerium nicht straff genug zu führen und zu viel zu<br />

reisen. Auch mein Umgang mit den Staatsfinanzen entsprach nicht seinen Vorstellungen. Seine<br />

Kritik war aber nicht berechtigt. Denn in der Entwicklungshilfe wird Geld eben anders ausgegeben<br />

<strong>als</strong> in anderen Teilen der Verwaltung . von der Langwierigkeit der Projekte und von der Mentalität<br />

der Menschen in der Dritten Welt ganz zu schweigen. Die Arbeit hat dort nun mal nicht den<br />

556


Stellenwert wie in hoch industrialisierten europäischen Ländern. Auf Schmidts Einwände bin ich<br />

anfänglich nicht immer eingegangen, weil ich von der Sache ein anderes Verständnis hatte.<br />

Aber ich merkte zunehmend deutlicher, dass gegen mich <strong>als</strong> Ministerin für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit Meinung gemacht wurde. Eine negative Stimmung ballte sich da zusammen, die<br />

sich auch auf den Kanzler auswirkte. Er machte mir Auflagen und wies mich auf meine Grenzen<br />

hin. Ich sollte nämlich nicht noch einmal wagen, gegen die Regierungsmeinung und am Kabinett<br />

vorbei die Erhöhung meines Haushalts durchzusetzen. Mein Verhalten entsprach nicht der<br />

Kabinettsdisziplin in einer Kanzler-Demokratie. Ich hatte mit Unterstützung meiner Fraktion<br />

gegen seinen erklärten Willen eine Mehrheit im Parlament hinter mich gebracht und meinen<br />

Entwicklungshilfe-Etat nach Beratungen im parlamentarischen Haushaltsausschuss erheblich<br />

gesteigert. Vorbei am Kanzler, vorbei am Finanzminister hatte ich gewagt, mehr Gelder locker zu<br />

machen, weil es einfach riskiert werden musste. Denn solche Signale waren und sind für die Dritte<br />

Welt wichtig - sehr wichtig.<br />

Eine weitere Auflage des Kanzlers war ultimativ: Bis dann und dann sollte ich meinen<br />

Staatssekretär und einige Abteilungsleiter entlassen. Helmut Schmidt verfolgte wohl die Absicht,<br />

ein Kabinettsrevirement bis zu einem bestimmten Zeitpunkt abzuschließen. Bei den anderen<br />

Bereichen war scheinbar schon alles klar. Nur bei und mit mir gab es Probleme. Dabei war es nicht<br />

Trotz oder dergleichen - so etwas wie Bockigkeit, nein. Ich wollte nur eine gewisse Zeit eingeräumt<br />

haben, um mich um meine Mitarbeiter zu kümmern. Weisungs-recht hat er ja, daran ist nicht zu<br />

rütteln. Wir hatten einen Termin für die Ablösung von Professor Udo Kollatz ausgehandelt, aber<br />

der war nicht zu halten. Eins kam zum anderen - schließlich musste ich daran glauben und aus dem<br />

Kabinett ausscheiden. Ich kannte Helmut Schmidts Art, manche Dinge zu . Aber er hätte von mir<br />

wissen müssen, dass ich auf den Abgeordneten-Platz zurückgehe und nicht an einem Ministeramt<br />

klebe. Aber wie er meinen Rauswurf aus dem Kabinett über die Medien zuvor ließ, das war nicht<br />

die feine Art, das hat mich doch ziemlich getroffen.<br />

Ich hatte den Einfluss der Medien auf die Politik völlig f<strong>als</strong>ch eingeschätzt. Als<br />

parlamentarische Staatssekretärin im Kanzleramt widerfuhr mir eine durchgängig wohlwollende<br />

Berichterstattung unter dem Stichwort "Mutter Marie". Dieses gewohnte Erfolgsgefühl verleitete<br />

mich dazu, noch offenherziger und vertrauensseliger zu sein und mir dann manchmal meinen vorlauten<br />

Mund zu verbrennen. Deshalb kümmerte ich mich <strong>als</strong> Ministerin nicht viel um die Presse.<br />

Ich pflegte natürlich Kontakte zu Journalisten, aber nicht in der Absicht, dass sie mich nach oben<br />

schreiben. Anbiedern wollte ich mich nicht. Wieso auch - schließlich war ich doch jemand. Die<br />

übliche Selbstanmeldung für Positionen habe ich nie betrieben: Ich wurde aufgefordert, mich <strong>als</strong><br />

Schulrätin zu bewerben, ich wurde aufgefordert, für den Bundestag zu kandidieren. Um die<br />

Aufgabe <strong>als</strong> Staatssekretärin im Kanzleramt zu über-nehmen, musste Helmut Schmidt mir lange<br />

zureden. So war das bei mir.<br />

Dam<strong>als</strong> im Ministerium musste sehr viel verändert werden. Es schien mir wichtig, andere<br />

Beziehungen, einen anderen Umgang untereinander zu entwickeln. Ich wollte überkommene<br />

Arbeitsformen durch neue ersetzen. Abbau von Reibungsverlusten im Statusgerangel hieß mein<br />

Stichwort. Da habe ich wieder sehen können, wie schwierig es ist, Bewusstsein zu verändern und<br />

aus einem veränderten Bewusstsein eine neue Haltung abzuleiten. Ich wollte durchsetzen, dass<br />

jeder Referent mit der Ministerin direkten Kontakt auf-nehmen könnte. Hier schlummerten doch<br />

so viele Fähigkeiten, die von der reglementierten Bürokratie blockiert wurden.<br />

Was ich da machte, war für Bonner Ministerial-Verwaltungs-Verhältnisse eine kleine<br />

Kulturrevolution. Aber selbst die CDU-Leute zogen mit. An Leistungswillen und politischer<br />

557


Fantasie mangelte es uns nicht. Trotzdem wurde das Ministerium vielerorts madig gemacht. Wir<br />

hatten gegen das unausgesprochene Vorurteil anzukämpfen, wir würden die deutschen Steuergelder<br />

im Busch verschwinden lassen. Aber meine Arbeit zeitigte gute Resonanz. Es klappte beinahe alles.<br />

Ich kriegte rechtzeitig Gelder für Entwicklungshilfe-Projekte, die ich an die Weltbank weiterleitete.<br />

Ich reiste zur UNO nach New York, um dort meine Vorstellungen über die Dritte und Vierte Welt<br />

zu erläutern. Gerade in der Entwicklungshilfe spielen ja Psychologie und der Zeitpunkt des Geld-<br />

Transfers eine äußerst wichtige Rolle. Der damalige Weltbank-Präsident Robert McNamara (1968-<br />

1981) bescheinigte mir, diese Politik mit Fingerspitzen-gefühl zu beherrschen. Ich hatte für die<br />

Bundesrepublik zum ersten Mal mit den Freiheitsbewegungen Afrikas Kontakt aufgenommen - mit<br />

den revolutio-nären Freiheitsbewegungen, die aller Voraussicht nach schon in einigen Jahren die<br />

Regierung ihres Landes bilden würden. Und so ist es ja dann auch in den meisten Fällen<br />

gekommen. Mein Ziel war es, unsere Entwicklungshilfe nicht <strong>als</strong> Mittel der Ost-West-Konflikte -<br />

quasi <strong>als</strong> Stellvertreter-Krieg - einzusetzen.<br />

Dann begann in den Medien der Abschuss auf Raten. Man stellte mich dort <strong>als</strong><br />

Dummchen hin, <strong>als</strong> totale Fehlbesetzung, <strong>als</strong> jemanden, der sich in die große Politik verlaufen<br />

habe. Dieselben Medien, die mich zuvor im Kanzleramt <strong>als</strong> "Mama mit der Schmalzstulle "in der<br />

Hand gefeiert haben. Was war denn eigentlich passiert? Ich begriff es nicht. Ich wusste aber, dass<br />

man mich so nicht kleinkriegen konnte. Ich plante meine Offensive, und die sollte in Afrika,<br />

genauer in Botswana, Sambia und Kenia, stattfinden.<br />

Ich lud sie ein - die Herren Berichterstatter. Ich wollte beweisen, dass ich keine blutige<br />

Anfängerin war - ein Bonner "Schießbuden-Mädchen", das nur deshalb überlebt. weil sie<br />

"Witzchen reißt". Auf die Frage, warum ausgerechnet ich Entwicklungshilfeministerin geworden<br />

sei, soll SPD-Chef Willy Brandt seinerzeit geantwortet haben: "Weil der Bundespräsident ihre<br />

Ernennungsurkunde unterschrieben hat."<br />

Ich hatte mich sehr gut vorbereitet auf diese Afrika-Reise im März 1977. Doch diese Reise<br />

brach mir das Genick. - So was von ahnungslos! Dabei wurde ich sogar vorgewarnt. Bei der<br />

Abreise vom Pariser Flughafen Orly kündigte mir Dirk Koch vom Bonner Spiegel-Büro an: "Ich<br />

werde Sie fertig machen, Verlassen Sie sich drauf." Sollte das ein Scherz sein?<br />

Ich wusste zwar, dass die Spiegel-Chefetage einige Minister aus dem Kabinett Schmidt<br />

herausschießen wollte, aber dass ich hier aufs Korn genommen wurde -das kam mir nicht in den<br />

Sinn. So flog ich ab, im festen Glauben an das Gute im Menschen. Und dabei saß einer der<br />

Intriganten mit an Bord, mein Pressesprecher im Ministerium, Hans Lerchbacher, der sich wohl<br />

einiges vom Fall der Marie Schlei versprach. Es muss da wohl eine Beziehung zum Spiegel<br />

bestanden haben. Der Spiegel machte den Auftakt für eine bundesweite Pressekampagne gegen<br />

mich. Unter der bösartigen Überschrift "Die Frau überschätzt ihre Möglichkeiten -Mutter Marie in<br />

Afrika" versuchte das Magazin den Eindruck zu erwecken, ich hätte diese Staatsreise mit einem<br />

Neckermann-Urlaub verwechselt: Marie Schlei auf Safari-Tour sozusagen.<br />

Das klang dann so: "Spät abends im Holiday-Inn zu Gaborone saß die Bundesministerin<br />

im Garten mit ihrer Begleitung in lockerer Runde zusammen. Höhepunkt der lauen Nacht unter<br />

dem Kreuz des Südens: Von Frau Schlei begeistert angefeuert, sprang ihr Persönlicher Referent in<br />

voller Montur in den Swimmingpool. Unter dem schallenden Lachen seiner Vorgesetzten<br />

entledigte er sich im Wasser des Anzugs. Andere Hotelgäste, schwarze und weiße, sahen erstaunt<br />

zu, wie sich die (Schlei und ihre Truppe) amüsierten. Noch anderntags schwärmte die Abgesandte<br />

der Bundesrepublik Deutschland. " Zum Schluss wurde noch der damalige Sprecher der<br />

CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jürgen Gerhard Todenhöfer (CDU-MdB 1972-1980) <strong>als</strong><br />

558


fachkundiger Kronzeuge meiner Inkompetenz zitiert, der mit mir gar nicht in Afrika war. "Die<br />

Frau, sagte Todenhöfer deshalb generalisierend, "ist riesig nett, wenn sie auf Abgeordnete zugeht<br />

und ihnen die Krawatte zurechtrückt. Aber es war ein Akt der Inhumanität von Helmut Schmidt,<br />

sie mit diesem Amt zu betrauen."<br />

Nach diesem Spiegel-Vorbericht fielen sämtliche Medien in der Bundesrepublik über mich<br />

her. Da war zu lesen, ich hätte dem Finanzminister von Kenia gesagt: "Sie sind der einzige<br />

Finanzminister, der nicht bis drei zählen kann ...", und über die mich begleitende Sambia-<br />

Ministerin: "Morgens weckt sie mich, abends bringt sie mich ins Bett, und zwischendurch lockt sie<br />

mir Geld heraus." Was ist das für ein Journalismus! Und mein Pressesprecher Hans Lerchbacher?<br />

Er rief in den Redaktionen an und spielte Schmollmündchen. Und tags darauf stand es schwarz auf<br />

weiß in den Zeitungen. Ich traute meinen Augen nicht: "Pressesprecher Lerchbacher sagte klipp<br />

und klar: 'Ich kann doch nicht die Ministerin zurückpfeifen. Diese Frau war auf ihrem Afrika-Trip<br />

nicht zu bremsen. Sie drosch immerzu noch einen drauf, <strong>als</strong> würde im Busch Skat gespielt.' " Diese<br />

Häme, diese Gehässigkeit. - Und keiner, der mich schützte -nicht die Partei, nicht der<br />

Regierungssprecher Klaus Bölling (1974-1981).<br />

Ich stand allein im Bonner Ring. Die auflagenstarken Zeitungen des Springer-Konzerns<br />

hatte ich ohnehin gegen mich. In deren Augen war ich "besonders kommunistenfreundlich", weil<br />

ich Ländern der Dritte Welt Entwicklungshilfe-Gelder zukommen ließ, die im Ost-West-Gezerre<br />

wohl nicht eindeutig -zumindest zeitweilig nicht - für den Westen waren. Ganz anders lauteten die<br />

Berichte der deutschen Botschaften in Botsuana, Kenia und Sambia an das Auswärtige Amt in<br />

Bonn.<br />

Aus Botsuana hieß es: "Der Besuch stellt einen Höhepunkt in den deutsch-botswanischen<br />

Beziehungen dar ... Frau Schlei verstand es, ihre entwicklungspolitische Hauptaufgabe überzeugend<br />

<strong>als</strong> vom politischen Gesamtkontext untrennbar hinzustellen ... Aus interner Sicht verdient die<br />

spontan-verständnisvolle Redaktion Frau Schleis auf spezifisch bilaterale Probleme hervorgehoben<br />

zu werden." - Über die bundesdeutsche Schreiber-Kolonne vermeldete die Botschaft in Lusaka:<br />

"Auf Seiten der gleichzeitig anwesenden Journalistengruppe war eine vorprogrammierte Animosität<br />

gegen den Besuch <strong>als</strong> solchen zu spüren.<br />

Sachliche Berichterstattung war daher zumindest von einigen der Angehörigen dieser<br />

Gruppe nicht ohne weiteres zu erwarten. Nachdem während meiner hiesigen Dienstzeit nunmehr<br />

mindestens vier vom Bund geförderte Journalistengruppen in meinem Amtsbereich ohne her<br />

sichtbar gewordenen Nutzen für den Informationsstand des deutschen Nachrichtenkonsumenten<br />

tätig geworden sind, nehmen meine Zweifel an der Zweckmäßigkeit des entsprechenden<br />

Mitteleinsatzes quasi-eruptive Formen an." Und in Nairobi wurde notiert: "Ein Teil der<br />

begleitenden Journalisten interessierte sich weniger für die Probleme Kenias und die<br />

Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik <strong>als</strong> für das Auftreten des neuen Ministers."<br />

Das war ein Trost, änderte aber nichts: Ich musste das Entwicklungshilfeministerium<br />

verlassen. Ich ging zurück auf meinen Abgeordneten-Platz in der Bundestagsfraktion. Herbert<br />

Wehner, zu dem ich immer ein Vertrauensverhältnis hatte, nahm mich auf. Ich wurde seine<br />

Stellvertreterin im Fraktionsvorsitz - die erste Frau in der SPD. Ich wusste <strong>als</strong>o, dass meine letzten<br />

Jahre in Bonn angebrochen waren.<br />

Durch die Bonner Jahre begleitete mich die Ungewissheit, dass der Krebs mich noch<br />

besiegen könnte. Ich betäubte mich durch Arbeit, hastete von einem Termin zum anderen. Und<br />

dann wurden neue Krebszellen entdeckt -kurz nach meiner Entlassung <strong>als</strong> Ministerin. Mein Bonner<br />

559


Leben veränderte sich gewaltig. Alle vier Wochen eine Woche lang chemotherapeutische<br />

Behandlung. Damit musste ich leben. Ich konnte die Therapie-Phasen weitgehend so legen, dass sie<br />

in die sitzungsfreien Wochen des Parlaments fielen. Der Wahlkampf 1980, unterwegs zu<br />

Parteiveranstaltungen von der Nordsee bis zu den Alpen. Bis Februar 1981 habe ich weiterhin<br />

Zukunftspläne gemacht.<br />

Da entdeckte ich an meinem rechten Arm Lymphstörungen. Fünfzig rote Flecken. Doch<br />

anstatt zum Arzt zu gehen, bin ich wieder nach Bonn geflogen - Termine ... Aber aus den Flecken<br />

wurden Geschwüre, eiternde Beulen. Ich kriegte Fieber. Ich wollte nicht mehr ins Krankenhaus.<br />

Als ich bewusstlos wurde, holten meine Kinder den Notarzt. Ich wurde abtransportiert. Wieder<br />

Intensivstation, wieder Infusionen. Es war ein Punkt erreicht, da wollte ich nicht mehr leben. Diese<br />

unerhörten Schmerzen. Blutvergiftung, Lungenentzündung, Rippenfellentzündung. Thrombose,<br />

Eiterbeutel in der Lunge - nein, ich wollte nicht mehr. Und ein Medikament nach dem anderen.<br />

Angst - Angst vor der Behandlung, Angst vor den weißen Kitteln. Diese dauernden<br />

Untersuchungen, die Schnitte am H<strong>als</strong> wegen der künstlichen Ernährung ... ich wollte nicht mehr.<br />

Aus Bonn - Blumen, Briefe, Besucher. Aber ich konnte es nicht mehr ertragen ... ...<br />

560


1992<br />

Frankreich: Geschichten in gemeinsam erlebter Einsamkeit<br />

Viva Maria, arriverderci Macho - Frauen erobern Italien<br />

561


GESCHICHTEN IN GEMEINSAM ERLEBTER EINSAMKEIT<br />

Trotz Selbstbewusstsein und Wille zum Widerstand gegen Zeitläufe der modernen<br />

Welt. - Bäuerinnen kämpfen mit ihren Familien im Alpenvorland ums Überleben, um Sein<br />

und Sinn ihres Lebens. Seillonnaz ist ein abgelegtes Dorf - unbeachtet, belächelt - halb<br />

vergessen. An den steilen Hängen des Rhône-T<strong>als</strong> liegen ihre Weinberge. "Früher haben<br />

wir fast so viele Muskeln wie die Männer gehabt".<br />

Frankfurter Rundschau 5. September 1992<br />

Vom Rhône-Tal aus betrachtet ist das französische Bauerndorf Seillonnaz mit seinen 120<br />

Einwohnern nicht auszumachen. Optisch zu dominant ziehen die Kühltürme der<br />

Kernkraftwiederaufbereitungsanlage Super Phènix in Malville die Blicke auf sich. Verschlungen<br />

führt eine schmale Asphaltstraße an den Weinbergen entlang hinein ins 600 Meter hoch gelegene,<br />

verschachtelt anmutende Alpenvorland.<br />

Auf den Neuankömmling wirkt Seillonnaz wie ein verarmtes Überbleibsel aus längst<br />

verschollener Zeit. Die Schule ist seit Jahrzehnten geschlossen, der Priester schaut zum<br />

sonntäglichen "Vater uns" gerade mal alle vier Wochen vorbei. Nur ein Ehrendenkmal für die<br />

zwölf Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg mahnt im Dorf unübersehbar zur Patriotentreue. Es<br />

gibt keine Restaurants oder Herbergen. Nicht einmal ein Kolonialwarenladen ist zu finden. Nur<br />

jeden sechsten Tag versorgt Monsieur Brizard <strong>als</strong> épicier (Kleinkrämer) mit seinem Verkaufslaster<br />

die Landfamilien mit Lebensmitteln.<br />

Es kommt nicht von ungefähr, dass die Regionalzeitung "Le Progrès" vom Leben dieses<br />

Bauerndorfes nichts Bemerkenswertes zu berichten weiß. "Zu belanglos", lautet der Kommentar.<br />

Allenfalls wenn in Seillonnaz jeweils in den Augusttagen das Ofenfest (la fête du four) steigt,<br />

traditionsbewusste Bäuerinnen wie einst ihre Mütter im Dorfofen Brote backen - dann schickt<br />

Bürgermeister Aimé Trischetti ein "Familienfoto" in die Redaktion, die dieses auch zweispaltig<br />

abzudrucken pflegt. "Irgend-wie", meint der 69jährige Sozialist, der seit drei Jahrzehnten dem Ort<br />

vorsteht, "ist es schon der Höhepunkt des Jahres, wenn wir uns allesamt schmunzelnd in der<br />

Zeitung wiederfinden."<br />

Doch trotz so viel pittoresker Beschaulichkeit durchlebt Seillonnaz in diesen Monaten<br />

eine Existenzkrise. Die Menschen haben Angst - es geht um Hofverlust, Tierverlust, Landverlust -<br />

Identitätsverlust. Und Seillonnaz ist überall in Frankreich, wo das meiste Getreide, Mais und<br />

Rindfleisch in Europa produziert wird. Das Land ist noch immer der zweitgrößte Agrar-Exporteur<br />

der Welt nach den USA.<br />

Spätestens seit der beschlossenen Reform der EU-Agrarpolitik, die ab dem Jahre 1993 die<br />

kostspielige Überproduktion der etwa zehn Millionen EU-Bauern drastisch einschränken soll und<br />

die Stilllegung und-rentabler landwirtschaftlicher Flächen forciert, lebt Frankreichs<br />

Landbevölkerung in Aufruhr. Ziel der EU-Agrarreform ist es, die Preissubventionen für<br />

landwirtschaftliche Erzeugnisse zu senken und dafür Bauern direkte Einkommenshilfen zu zahlen.<br />

Dies soll zu einer merklichen Verringerung der Produktion von Getreide, Milch und Fleisch führen<br />

und außerdem ermöglichen, die EU-Märkte für Einfuhren aus Drittländern zu öffnen.<br />

Immerhin verschlingen derzeit die Ausgaben für die Landwirtschaft die Hälfte des<br />

gesamten EU-Haushaltes. Den größten Teil der 33 Milliarden Euro aus dem EU-Agraretat<br />

kassieren die Lagerhaltungsfirmen - <strong>als</strong> Folge der Überproduktion. Überall rumort es unter den<br />

562


Bauern in Frankreich. An die 300.000 Höfe sollen nach EU-Maßgaben über kurz oder lang<br />

verschwinden. Nach einer Lagebeurteilung des Pariser Innenministerium steht dem Land ein<br />

"heißer Herbst der Bauernrevolte" bevor. Die bisherigen spektakulären Protestaktionen stufen die<br />

Ministerialen dabei lediglich <strong>als</strong> "Vorspiel" ein. Etwa die Blockaden von Autobahnen, Nation<strong>als</strong>traßen<br />

und Brücken rund um Paris. Wütende Bauern hatten in Südfrankreich , der Loire-Region<br />

bei Chartres und in Nantes tonnenweise Gemüse und Ost auf die Straße gekippt; "um einmal die<br />

Schmerzgrenze der französischen Bevölkerung zu testen", wie es Jacques Laigneau vom<br />

Koordinationsausschuss spontaner Bauern-Rebellionen lakonisch formulierte. Empörten<br />

Autofahrern legten sie kurzerhand Stacheldrahtrollen unter die Räder. - Endzeitstimmung.<br />

Ohnehin sind die Verkaufskurse von Obst und Gemüse die niedrigsten seit Jahrzehnten -<br />

und die Bauern erleiden Absatzverluste. Über 3.000 Tonnen Birnen landeten in der Gegend von<br />

Aix-en-Provence im Juli auf der Mülldeponie, weil sich keine Abnehmer fanden. Und die EU<br />

belohnt solche Vernichtungsaktionen auch noch im Durchschnitt mit 3,40 Cent pro Kilo -Europa<br />

zu Beginn der neunziger Jahre.<br />

Aber auch die französischen Politiker bleiben in ihrem Sommerurlaub nicht verschont. In<br />

Auxerre drängten 60 Landwirte auf das Grundstück des Chefs der EU-Kommission Jacques Delors<br />

(Präsident der EU-Kommission 1985-1995), und versprühten Entlaubungsmittel. Im<br />

südfranzösischen Arles verhinderten Polizisten, dass Demonstranten die Wohnung von<br />

Justizminister Vauzelle besetzten. Statt dessen hinterließen Bauern auch hier Gemüse- und<br />

Obstberge.<br />

Wer nach Gründen sucht, warum Hunderttausende von französischen Bauern heute teils<br />

mit offenen Aggressionen dem Staat gegenüberstehen, warum für viele die etablierten Parteien<br />

kaum noch wählbar sind, und die rechtsradikale "Front National" des Jean-Marie Le Pen sich über<br />

Zulauf freuen kann - der sollte das Lebensgefühl der französischen Bauern nicht vergessen. Es<br />

wird von einem Bewusstsein getragen, in ein vorbestimmtes Leben gepresst zu werden -<br />

vorausgesetzt man wähnt sich auf der Gewinnerseite. Frankreichs leistungsorientierte öffentliche<br />

Meinung ist längst dazu übergegangen, sich in stereotypen Floskeln und plakativen Kürzeln<br />

untereinander zu verständigen -vornehmlich, wenn es um Schicks<strong>als</strong>fragen der Bauern geht.<br />

Lebensgefühl und Selbstwahrnehmung lassen sich zunehmend heftiger von bedrohlichen<br />

Momenten leiten, "dass unsere Existenz auf dem Lande so ziemlich sinnlos ist. Als erklärten uns<br />

die Städter für verrückt, weil wir unser Bauern-Dasein, unser Land lieben. Es ist aber inzwischen<br />

so, <strong>als</strong> würde uns jäh der Boden unter den Füssen fortgerissen. Manchmal denke ich, wir haben all<br />

die Jahre umsonst geschuftet", sagt die 41jährige Bäuerin Jacqueline Laurencin aus Seillonnaz. Der<br />

Bauern-Alltag der Madame Jacqueline ist geprägt von harter körperlicher Arbeit und Ausdauer.<br />

Ihre Anforderungen sind typisch für eine große Zahl von Bäuerinnen, ohne die nun einmal nichts<br />

funktioniert in Frankreich und anderswo.<br />

Seit 22 Jahren ist Jacqueline mit ihrem Mann Robert verheiratet. Sie ist Mutter zweier<br />

Söhne, die auch mal Landwirte werden wollen. Früher einmal - nach dem Abitur - hatte sie unten<br />

im Tal <strong>als</strong> Sekretärin gearbeitet. Heute hingegen bedauert sie die sauerstoffarmen Schreibtisch-<br />

Menschen. Heute möchte Jacqueline nicht mit ihnen tauschen, auch wenn sie auf dem Hof doppelt<br />

so viel schuftet und sich in der Industrie ein paar Euro mehr verdienen lassen. "Nein", beteuert sie<br />

selbstbewusst, "hier in den Voralpen kann ich mein Leben selber gestalten, mitbestimmen,<br />

weitgehend Endscheidungen treffen. Wir Frauen auf dem Land sind viel selbstständiger und auch<br />

autonomer <strong>als</strong> so manche Städter das wahrhaben wollen. Einige Emanzipationsdebatten aus dem<br />

fernen Paris wirken auf mich wie Berichte von einem anderen Planeten. Das alles ist bei uns schon<br />

563


ganz leise gelebte Wirklichkeit - notgedrungener weise versteht sich." Meist, wenn Ehemann<br />

Robert von Seillonnaz aus mit seinem Trecker zu den Demonstrationen ausrückt, ist es seine Frau,<br />

die daheim den Hof in Gang hält.<br />

Und Bauer Robert ist diesen Tagen fast ständig unterwegs. Jacqueline findet es richtig,<br />

"dass mein Robert in vorderster Front mit marschiert. Nur wenn wieder tonnenweise unsere doch<br />

kostbaren Lebensmittel auf der Mülldeponie oder Straßen weggekippt werden, habe ich<br />

Beklemmungen, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Irgendwie fühle ich mich so, <strong>als</strong> würden<br />

wir uns selber aufgeben", sagt Jacqueline.<br />

Das Anwesen der Familie Laurencin umfasst 53 Hektar Land und zwei Hektar Weinberge.<br />

Dazu kommen zwanzig Milchkühe und 15 Kälber. Jeden Morgen und jeden Abend treibt Madame<br />

Jacqueline "Cherie," "Vicky", "Lilly", "Florence" oder auch "Josiane" über die Dorf-Hauptstraße<br />

Richtung Wiesen, abends Richtung Gehöft. Anders <strong>als</strong> bei den reichen Bauern im Tal, die über<br />

großflächige Weiden verfügen, gibt es im Alpen-Vorland nur kleine, vereinzelte Grasflächen. Also<br />

lässt Bäuerin Jacqueline ihre Kühe sich rund ums hügelige Dorf sattfressen -gemolken wird im<br />

Stall.<br />

Beinahe täglich hockt Jacqueline mehrere Stunden vor Formularen, muss sie Rechnungen<br />

schreiben, Zuschüsse beantragen oder beim Finanzamt um Zahlungsaufschub für die nächste<br />

Steuerrate nachsuchen.<br />

Einen Steinwurf von der Bäuerin entfernt wohnt der Bürgermeister Aimé Trischetti mit<br />

seiner Frau Henriette. Beide sind 68 Jahre alt, seit vier Jahrzehnten verheiratet und haben drei<br />

Söhne aufgezogen. Auch sie sind Bauern - Weinbauern.<br />

In ihrer großräumigen Wohnküche tickt eine alte Wanduhr. - Behaglichkeit. Sie deutet<br />

vielleicht an, dass die Familie Trischetti schon einmal bessere Tage in Seillonnaz erlebt hat. Die<br />

Gesichtszüge der Madame Henriette verraten kaum etwas von dem, womit sie quasi ein halbes<br />

Jahrhundert ihr Tagwerk bestritt. An den steilen Hängen im Rhône-Tal liegen ihre Weinberge. Und<br />

Wein-Arbeit - das ist Frauen-Arbeit. Hier hat sie ihre Weinstöcke gepflegt, gebunden und<br />

beschnitten. Kaum etwas lässt sich hier maschinell verrichten. In den Sommermonaten ist<br />

Henriette schon früh morgens um 6 Uhr bis etwa 10 Uhr in den Weinbergen. Dann wird es zu<br />

heiß. Und schließlich muss sie auch noch das Mittagessen vorbereiten. Zur Zeit der Weinlese hat<br />

Madame Henriette für 30 befreundete Mithelfer zu kochen.<br />

Aber irgendwie liegt ein bisschen Wehmut im Gesicht der Madame Henriette. -<br />

Umbruchzeiten für Frankreichs Bäuerinnen. "Natürlich", bemerkt sie, "der technische Fortschritt,<br />

die Maschinen erleichtern vor allem uns Frauen das Leben. Früher haben wir doch fast so viele<br />

Muskeln wie die Männer gehabt. Nur Geld konnten wir nie genügend verdienen. Es blieb immer<br />

Mangelware. Wenn wir mal etwas haben, müssen wir zum Beispiel einen Trecker kaufen, weil der<br />

alte nur noch Schrott ist."<br />

Verständlich, dass Madame Henriette sorgenvoll in die Zukunft blickt. Verständlich auch,<br />

dass sie lieber von den Erfolgserlebnissen früherer Jahre erzählt. Als im Mai 1968 Frankreichs<br />

Studenten in Paris die Revolution probten, fand in Seillonnaz ein ganz anderer Aufbruch statt - das<br />

Wasser war da. Jeder Hof, jeder Haushalt wurde an die Kanalisation angeschlossen. Vorher<br />

mussten die Frauen noch das Wasser vom Dorfbrunnen in Eimern nach Hause schleppen, und die<br />

Wäsche wurde im Bach gewaschen.<br />

564


Dass der Brunnen der Gesprächs- und Klatsch-Knotenpunkt des Dorfes war, ist kaum<br />

verwunderlich. Der Bürgermeister meint: "Vom Brunnen waren wir allesamt abhängig, und die<br />

Familien handelten solidarisch." - Wendezeiten. Nunmehr mit Wasser verlagerte sich das<br />

Dorfgeschehen immer mehr in die Küche des Bürgermeisters und seiner Frau Henriette. Hier<br />

kommen die Bauern mit ihren Landfrauen hin, um zu reden und zu klagen - bei gutem Wein.<br />

In der Tat sieht die viel besprochene Gemütslage des Dorfes alles andere <strong>als</strong><br />

hoffnungsvoll aus. Trotz zigfacher Heiratsinserate - regional wie national - will es beispielsweise<br />

dem relativ gutgehenden Landwirt Jean-Luc mit seinen 38 Jahren nicht gelingen, eine Frau zu<br />

finden - über eine Nacht hinaus an sich zu binden; Monat für Monat, Jahr für Jahr ist der Bauer auf<br />

der Suche. Routinegeübt füllt er wieder im Tabakladen einen neuen Lottoschein aus, bringt Frau-<br />

Suchanzeigen zur gegenüberliegenden Post im Tal. Nach dem fünften Pastis murmelt er: "Was wir<br />

hier machen an diesem schönen Fleck, ist die gemeinsam erlebte Einsamkeit." Ein Flug nach Polen<br />

in die Masuren sollte die beschworene Frauen-Wende, den allseits erhofften Durchbruch bringen -<br />

Jean-Luc auf Brautschau in Olsztyn. Junge Polinnen werden ihm vorgeführt. Jean-Luc bezahlt für<br />

eine Nacht, für die nächste Nacht. Jean-Luc versteht nur Bahnhof, Sprachprobleme. Viel Wodka,<br />

große Geldausgaben, Vermittlungsgebühr, Flug, Hotel. Nur ein anschmiegsames junges Masuren-<br />

Mädchen für Seillonnaz im französischen Alpenvorland - Fehlanzeige.<br />

Vis-á-vis von ihm wohnt Pascal mutterseelenallein in einem Zwölf-Zimmer-Haus. Als<br />

Bankangestellter dort unten im Tal hoffte er auf Aufstieg und Anerkennung. Jahre vergehen,<br />

Jahrzehnte verfliegen im Nu - Pascal steht immer noch akkurat am Schalter mit eingefrorenem<br />

Dauerlächeln. Nichts, so scheint es, will sich bewegen, weil er offenkundig vergessen hatte, ein<br />

bisschen länger zur Schule zu gehen, sich im Bankfach weiter ausbilden zu lassen. Stillstand bei der<br />

all wöchentlichen Chrom-Versiegelung. Nur seine junge Frau Monique hatte sich bewegt, zog es<br />

plötzlich ganz unvermittelt in die Stadt. Sie könne doch nicht ihr ganze Leben lang auf den Alpen<br />

starren. Sie könne doch nicht ewig ihr Dasein damit verbringen, ihrem Mann bei seiner liebevollen<br />

Autopolitur zuzuschauen -und das Samstag für Sonnabend immerfort in Seillonnaz im<br />

Alpenvorland. Das soll Monique ihrem Pascal zum Abschied gesagt haben. Abgang. Frauen-<br />

Aufbruch. Seither stottert sich Pascal auf Suche nach neuem Glück durch Gassen und Boulevards.<br />

Aber imgrunde, beschwichtigt Pascal, benötige er auch dríngend keine neue Frau. Seine Mutter<br />

Ramona umhebt ihn ohne Unterlass, bekocht ihn, putzt im Haus und bügelt seine Krawatten. Und<br />

wenn Pascal wieder auf die Autopolitur-Tube drückt, dann steht nicht selten Mutter Romana ganz<br />

in der Nähe, lächelt warmherzig, verständnisvoll. Mutteridylle in Seillonnaz.<br />

Und am Berghang lebt schließlich noch der Lehrer Michel. Auch er ist in seiner Freizeit<br />

Bauer, Kuh- und Weinbauer. Seit über einem Jahr lebt Michel mit seiner Tochter Sandra und ihrem<br />

Hund Rock allein. Fluchtigartig - wie offenkundig gezielt in Dörfern - hatte auch seine Frau<br />

Isabelle ihren Michel verlassen. Sie habe es einfach satt mit anzusehen, wie Gatte Michel <strong>als</strong> kleiner<br />

Bauer so leidenschaftlich-besessen im Schlamm herum wurschtelt, sonst für nichts Zeit hat und<br />

noch immer keine schwarzen Zahlen schreibt. Gemeinsam erlebte Einsamkeit der Männer.<br />

Hin und wieder - meist zu Abend - treffen sich die verbliebenen Landfrauen bei Henriette<br />

in der Küche. Nach den jüngsten EU-Beschlüssen und neuerlichen Frauenflucht aus dem Dorf<br />

kennen sie nur noch ein Thema. Sie wissen nicht, wie es tatsächlich weitergehen soll, wer überlebt<br />

und wer untergeht. Und sie haben Angst vor dem Ausverkauf ihres Dorfes Seillonnaz. Mahnend<br />

zeigen sie in Richtung der Region Ardèche - dort, wo sich der deutsche Jet-Set eingekauft, die<br />

Preise gedrückt habe. "Nein, das wollen wir hier nicht erleben. Da mögen die Schecks noch so<br />

565


hoch sein, schließlich geht es auch um unsere Bauern-Identität", sagt Madame Henriette und<br />

schenkt frisch gekelterten Wein nach.<br />

566


VIVA MARIA, ARRIVERDERCI MACHO - FRAUEN<br />

EROBERN ITALIEN<br />

In Gedenken an die römische Fernsehjournalistin Franca Magnani. Sie war eine<br />

Symbol-Figur italienischer Frauen-Autonomie und kompetenter Reportagen. Berichte, die<br />

zu Glanzstücken der ARD vornehmlich in den siebziger Jahren zählten. In Deutschland<br />

herrschte dam<strong>als</strong> noch Kalter Krieg gen Ostenblock und insgeheim gegenüber<br />

selbstbewussten Frauen. Anlass genug für den CSU nahen Bayerischen Rundfunk, Franca<br />

Magnani, die mit einem Kommunisten verheiratet war, vom Bildschirm zu verbannen.<br />

Franca Magnani (*1925+1996) starb an einer Krebserkrankung in Rom.<br />

Alles wandelt sich, alte Klischee-Bilder verstauben. Auch die Vorstellungen in unseren<br />

Köpfen müssen sich ändern. Die Frauen der Mittelmeerländer sind längst nicht mehr die Flamenco<br />

tanzenden Zigarettenarbeiterinnen aus der Bizet-Oper "Carmen". Auch nicht mehr jene ergebenen<br />

Familien-Frauen, die italienische Männer so gern priesen (und betrogen). Martina I. Kischke<br />

Frankfurter Rundschau vom 21. März 1992 12<br />

Im Jahre 1973 spöttelte die Mailänder Tageszeitung "Corriere della Sera" über die<br />

Mitglieder der italienischen Frauenbewegung <strong>als</strong> "Generale ohne Heer". Zwei Jahre später<br />

mutmaßte dasselbe Blatt, dass "hier eine politische bedeutsame Kraft entsteht, mit der Regierung<br />

und Parteien rechnen müssen". Wiederum sechzehn Jahre danach fragen Journalisten vom<br />

"Corriere della Sera", "wann nunmehr der Tag der Frau in einen Tag der Männer umgewandelt<br />

wird. Die Frauen schaffen sich den Mythos einer eigenen Moral und vergessen dabei, dass auf der<br />

moralischen Ebene alle Menschen gleich sind." Offensichtlich sind Italiens Männer irritiert.<br />

Wohl kaum ein anderes Land spült derartige soziale Veränderungen zwischen Männern<br />

und Frauen an die Oberfläche, wie es gegenwärtig in Italien geschieht. Alte Rollenbilder, tradiertes<br />

Rollenverhalten befinden sich im industrialisierten Norden in Auflösung, und im<br />

traditionsverbundenen, ärmeren Süden weicht die klassische Männlichkeits-Ideologie langsam auf. -<br />

Italia in den neunziger Jahren.<br />

Dabei wurde sie schon vielerorts für tot erklärt, die italienische Frauenbewegung, die in<br />

den siebziger Jahren fast die radik<strong>als</strong>te in Europa war. Geändert haben sich jedoch lediglich die<br />

Ausdrucksformen ihrer Arbeit - die auf Autonomie bedachten Italienerinnen sehen wohl kaum ihr<br />

Hauptanliegen daran, unentwegt schlagzeilenträchtige Szenarien frei Haus für die<br />

Abendnachrichten zu liefern. Vergilbt ist auf vielen römischen Mauern der Kampfesruf<br />

verflossener Jahre noch halbwegs lesbar: "Tremate, tremate, le streghe son' tornate" (Zittert, zittert,<br />

die Hexen sind wieder da). Vorbei ist mittlerweile jene legendäre, revolutionär-angehauchte Ära<br />

allgemeiner Frauen-Rebellion. - Zeiten, in denen es möglich war, per Schnellballsystem innerhalb<br />

von 24 Stunden siebzigtausend Frauen telefonisch für Massendemonstrationen zu mobilisieren. Mit<br />

erhobenen Händen formten Feministinnen das Zeichen der Vulva und drohten vor dem "Palazzo<br />

der Väter" (Parlament), die Männer zu kastrieren. Mit Parolen wie "il potere e maschio" (die Macht<br />

ist männlich) wuchsen Zorn und Verbitterung. Der frühere Ministerpräsident Amintore Fanfani<br />

(*1908+1999) prophezeite drohend: "Eure Männer werden Euch verlassen."<br />

12 Mariangela Gioacchini<br />

567


Nur ein präzises Erinnern lässt die Kontinuität der femininen Wende in den neunziger<br />

Jahren in Italien erkennen. Zu groß war zunächst der Nachholbedarf an Gleichberechtigung in dem<br />

stets von Politikern und Päpsten beherrschten Land. Erst im Jahre 1946 durften Italienerinnen<br />

erstm<strong>als</strong> in ihrer Geschichte überhaupt wählen. Durch Demonstrationen und Diskussionen gelang<br />

es ihnen dann im Sinne der Gleichberechtigung, die Freigabe des Schwangerschaftsabbruches und<br />

ein neues Familienrecht (neunjährige Dispute) durchzuboxen. Erfolgsmomente. Gewiss - seither ist<br />

es ruhiger um die italienische Frauenbewegung geworden. Weil sie es ablehnt, sich im alltäglichen<br />

Kampf verschleißen zu lassen. Nur ist ihr Einfluss freilich und damit auch ihre Macht reichen<br />

mittlerweile in alle Schichten der italienischen Gesellschaft hinein. Anders <strong>als</strong> in Deutschland<br />

konnten sich Feministinnen südlich der Alpen sehr schnell von ihrem universitären, mitunter<br />

ideologielastigen Zirkel-Dasein befreien. Beizeiten hatten sich Italiens-Frauen darauf verständigt,<br />

dass der "Feminismus keine politische Bewegung ist, sondern die Kraft, die sich Frauen gegenseitig<br />

geben", bemerkt Roberta Tatafiore, Chefredakteurin "Noi Donne".<br />

Jeder Versuch, Frauen-Politik und Frauen-Kultur in Italien nachzuvollziehen, sollte von<br />

der Tatsache ausgehen, dass nicht etwa die politischen Institutionen, sondern einzig und allein die<br />

italienische Familie das stärkste Gremium des Landes ist.<br />

Der äußeren Grunderneuerung folgte zwangsläufig auch eine innere Renovierung - die<br />

eigentliche Kulturrevolution des Landes. "Die italienische Frau", urteilte Psychologie-Professor<br />

Fernando Dogana, "befand sich offenbar in einer Übergangsphase zwischen der Konditionierung<br />

durch die Tradition und der Orientierung an neuen kulturellen Leitbildern." Mit Beginn der<br />

achtziger Jahre begann der allmähliche Werte- und Sittenwandel Italiens, das Aufräumen mit<br />

frauenfeindlichen Bräuchen, etwa dem Jungfräulichkeitswahn im Süden oder der Konservierung<br />

alter Tabus im weiblichen Unterdrückungs-Mechanismus des Kirche-Kinder-Küche-Kreislaufes.<br />

Bei den Frauen Italiens hatten sich die Meinung durchgesetzt, dass es sinnlos sei, auf bessere Zeiten<br />

und verständnisvollere Männer zu warten - der Begriff "Affidamento" (vertrauen, sich verlassen<br />

auf) war geboren. Und mit ihm die erste zaghafte Hinwendung zu einer nur von Frauen erlebten<br />

Frauen-Gesellschaft. Für Italiens Frauenbewegung ist die männliche Akzeptanz nichts<br />

Erstrebenswertes mehr. Sie wollen keine weitere Gleichheit erreichen. Denn: Gleichheit bedeutet<br />

für sie die Orientierung an männliche Maßstäben. Kategorien und Inhalte, die sie ablehnen, weil es<br />

ihnen darauf ankommt, Frausein nicht <strong>als</strong> "Mangel" hinzunehmen, sondern <strong>als</strong> Fremdheitsgefühl in<br />

einer von Männern genormten Welt.<br />

Ob Rückzug oder Resignation vom italienischen Mann - die Politik des "Affidamento"<br />

baut zielstrebig nur Frauenbezüge unter Frauen auf; quasi ein kleines Frauen-Land im italienischen<br />

Staatenbund. Gemeint sind nämlich ausschließlich die Beziehungen der Frauen untereinander.<br />

Dabei dreht es sich nicht nur um Freundschaften. Frauen sollen sich vielmehr in ihrer Gegenwelt<br />

in ihrem Denken, Fühlen, Handeln und in ihrer aktuellen Alltagsbewältigung nur auf Frauen<br />

beziehen. Verständlich, dass in solch einem Lebenszusammenhang die Sexualität keinen intensiven<br />

Stellenwert mehr hat. Ob hetero oder homo - Sex holt man sich irgendwo und mit irgendwem -<br />

ganz unverbindlich, versteht sich. Ohnehin belegen jüngste repräsentative Umfragen, dass<br />

zusehends mehr Frauen in den neuen Rollen Schwierigkeiten mit ihrem "Latina Lover" haben. Die<br />

Frauen scheinen kaum noch bereit zu sein, Körper und Seele für schnelllebige Dienstleistungen zur<br />

Verfügung stellen zu wollen.<br />

"Abends lässt er sich von seiner Mamma üppig Mangiare servieren, benimmt sich wie ein<br />

veralberter Minderjähriger, und dann sucht er mich nachts unter der Bettdecke - mit mir nicht",<br />

568


meint die 32jährige Pharmazeutin Valeria Carnevale aus Bologna während der Mittagszeit vor ihrer<br />

Apotheke auf dem ehrwürdigen Piazza Maggiore.<br />

Doch auch der einst legendenumwobene "Latin Lover" hat sich mittlerweile zu Wort<br />

gemeldet. Zwischen Padua und Palermo geißelte er in Umfragen die für ihn offen-kundig neu<br />

entdeckte "weibliche Frigidität" - Gesellschafterkampf auf Italienisch. Überall dort, wo sich Frauen<br />

zusammenschließen, sind sie dabei, neue Bezugspunkte aufzubauen, ungeahnte Gemeinsamkeiten<br />

etwa mit Frauen der katholischen Kirche zu entdecken: Sie sagen den Männern ade - Italia im<br />

neunziger Jahrzehnt.<br />

Rau, bisweilen bissig-frostig ist es geworden, das Klima zwischen italienischen Frauen und<br />

Männern. Der Übergang von Tradition zur Moderne hat viele Reibungs-punkte - und auch Opfer.<br />

Plötzlich fühlen sich manche Männer in ihrem Ego bedroht. Und: Sie schlagen zurück. Nur in<br />

einem Jahr wurden in Italien 800.000 Frauen von ihrem Ehegefährten krankenhausreif geprügelt.<br />

Jede dritte Frau wird misshandelt. Und immer wieder tönt es unisono <strong>als</strong> Rechtfertigung aus der<br />

Männer-Ecke, wie es der sozialistennahe "Espresso" schrieb: "Vor allem die Berufstätigkeit und<br />

Karrieresucht der Frauen sind schuld an den Krisen im Bett." Immerhin: Das erste "Frauenhaus"<br />

Italiens, in dem Misshandelte Schutz finden können, öffnete vor einem Jahr in Bologna seine<br />

Pforten.<br />

Jetzt schon sind die Langzeitfolgen des Geschlechterkampfes absehbar. Im Jahre 1996<br />

wird es in Italien mehr Menschen im Alter von über 60 Jahren geben <strong>als</strong> Jugendliche unter<br />

neunzehn Jahren. Mit der niedrigsten Geburtenrate in Europa wird die italienische Bevölkerung in<br />

den nächsten drei Jahrzehnten um sechs Millionen Menschen schrumpfen und auf 51 Millionen<br />

Einwohner zurückgehen. Nur der Wandel in den Ansichten und im Handeln der italienischen Frau<br />

wird wohl kaum aufzuhalten sein. "Die Frauen sind längst der Eckpfeiler, der tragende Boden<br />

unseres Wirtschaftswunders", bekannte unlängst die Publizistin Marie Antonietta Macciocchi.<br />

Ohne "Donne in carriere" (Frauen in der Karriere) geht kaum noch etwas im Land. Über 67<br />

Prozent der Frauen sind mittlerweile im Dienstleistungssektor beschäftigt. 32 Prozent sind in den<br />

Angestelltenberufen tätig. In den vergangenen fünf Jahren erhöhte sich der weibliche Anteil unter<br />

den Angehörigen der freien Berufe und der Unternehmerinnen sogar um 48 Prozent.<br />

Und die Männer? "Der Mann ist ein Luxus, er bietet wenig Schutz, ist unwirtschaftlich.<br />

Wir ernähren uns besser allein. Das Bemerkenswerte ist", sagt Grüne-Politikerin Letizia Battaglia<br />

aus Palermo, "dass die neuen Unterdrückungsversuche nicht von den Erzkonservativen kommen,<br />

sondern von den sogenannten Fortschritt-lachen aus den angeblich progressiven Managerstuben<br />

und Gewerkschaften."<br />

Immerhin - der Wandel im Denken der italienischen Frau brachte ein verblüffendes<br />

Umfrage-Ergebnis über die Sexualität am Arbeitsplatz zutage. Mehr <strong>als</strong> zwanzig Prozent der<br />

befragten Männer nämlich bekannten, "sexuellen Annäherungsversuchen" von Kolleginnen<br />

ausgesetzt zu sein. - Die Mehrheit der Männer hatte freilich nichts dagegen.<br />

569


570


1993<br />

Entenhausen liegt an der Saône<br />

Fremd im eigenen Land<br />

Scarlett: nachts auf See, tagsüber im Komitee<br />

Im Club der Nukleokraten<br />

571


ENTENHAUSEN LIEGT AN DER SAÔNE, UND ALLE<br />

TUCKERN HIN<br />

Pariser Automobil Ausstellung mit dem 2CV Neuling im Jahre 1949. Über sechzig<br />

Jahre später "Enten"- Nostalgie -"Enten"-Festival vielerorts in Europa. Der "Dö-<br />

Schöwo" ist nämlich kein Wagen, sondern eine Lebenseinstellung. Schon die<br />

Baskenmütze durfte beim Einsteigen nicht verrutschen. Vier Räder unterm Regenschirm<br />

wollte Citroen -über sieben Millionen wurden gebaut. Über zwei tausend "Entianer" aus<br />

ganz Europa trafen sich auf Schloss Rochteaillée-sur-Saône zum großen Festival der<br />

Enten.<br />

Die Weltwoche, Zürich vom 2. September 1993<br />

Aus den Lautsprechern des Schlosses scheppern französische Chansons vergilbter<br />

Epochen. Pascal Danels Ohrwurm oder auch Adamos wollen und wollen nicht enden, obwohl es<br />

sommerlich arg heiß ist. Atmosphäre wie Ambiente lassen frankophile Klischeegemüter auf-atmen:<br />

Weit und breit keine McDonald's-Läden, keine Atomkraftwerke, keine neu gebauten Trassen des<br />

Hochgeschwindigkeitszuges TGV, dafür viele Baskenmützen, Schnauzbärtchen, viel Rotwein, viel<br />

Weißbrot - und das auch noch auf einem erlesenen Château aus dem 15. Jahrhundert, das die<br />

umliegende Landschaft des Saône-T<strong>als</strong> anschmiegsam überragt.<br />

Auf dem Schlossvorplatz von Rochetaillée-sur-Saône bei Lyon tummelt sich derweil ein<br />

seltenes Generationengemisch um ihren Geliebten: Es sind Mätressen aus Frankreichs Gegenwelt<br />

des Modernisierungsrausches. Eben Weggefährtinnen, denen es an Status, Leistung, Schnelligkeit<br />

und Aggressivität fehlt - Enten genannt. Seit eh und je sind sie Blech gewordener Ausdruck eines<br />

Lebensgefühls, das ein und denselben Namen trägt: 2 CV (CV steht für Cheval Vapeur, die<br />

französische Steuer-PS), in deutscher Zunge auch <strong>als</strong> "Döschöwo" liebkost. Immer wenn Adamos<br />

"neige" fällt, fliegen ölverschmierte Putzlappen in die Lüfte. Leidenschaftlich wird mitgesungen.<br />

Denn hier trotzen zweitausend "Entianer" aus vielen europäischen Ländern der neuzeitlichen<br />

Wirklichkeit ihre Daseinsberechtigung ab. Hier leben in Wehmut umarmte Automobil-Nostalgien<br />

verklärt fort, haucht der Enten-Stamm seinen Legenden neuen Atem ein.<br />

Meist schon zu Beginn der Sommermonate kriecht Frankreichs eingefahrene 2-CV-<br />

Gemeinde trotzig raus aus den kasernierten Vorstädten. Dort, wo sich enge Wohnsilos,<br />

Polizeischießplätze, Friedhöfe, Kleingärten samt Müllhalden scheinbar noch friedlich vertragen.<br />

Raus aus den zubetonierten, durch Jugendkrawalle berüchtigten banlieues - weg aus der gemeinsam<br />

erlebten Sprachlosigkeit in den hastig verstopften Metropolen Paris, Lyon Marseille oder Toulouse.<br />

Sommerzeit - das ist und bleibt nun einmal Enten-Zeit. "Das lassen wir uns von niemanden<br />

rauben", bedeutet der 30jährige Tischler Philippe Abbadie aus Lyon. Phillippe, von athletischer<br />

Gestalt mit offenem Gemütsblick, ist einer der unzähligen Enten-Präsidenten der Republik.<br />

Mittlerweile gibt es landesweit 40 Klubs mit etwa je 30 Mitgliedern, die sich flugs in einer<br />

gesellschaftlichen Nische aufgetan haben - und es werden immer mehr. Ob in England,<br />

Deutschland, Italien oder auch in Portugal - überall mausern sich unverhofft Döschwo-Vereine.<br />

Folglich tuckerten sie allesamt aufs Schloss Rochetailléesur-Saône - ins Europa der Enten, wenn<br />

auch nur für ein Wochenende. Monat für Monat hecheln 2-CV-Kolonnen durch die französische<br />

Republik. Klubbesuche, Gespräche, Ersatzteiltausch, gemeinsames Essen ist angesagt. Präsident<br />

Philippe weiß auch warum: "In diesen sprachlosen Jahren geht alles, aber auch alles in die Brüche -<br />

572


nichts stimmt mehr. Vater arbeitslos, Opa besoffen, Eltern oft geschieden, Kinder ohne<br />

Lehrstellen, rohe Gewalt an vielen Schulen, wilde Rasereien auf den Straßen und im Fernsehen<br />

ewig diese Plastikreklame von der üppigen Welt, die uns alle hungrig macht." Philippe fragt: "Was<br />

bleibt uns noch?" Er antwortet sogleich: "La 2CV, c'est pas une voiture, c'est une facon de vivre." -<br />

Der 2CV ist kein Auto, sondern eine Lebenseinstellung. Und er fügt hinzu: "Wenn alle eine Ente<br />

führen, wäre die Gesellschaft friedlicher. Überall kochen doch zunehmend bedrohliche<br />

Aggressionen hoch."<br />

Elisabeth, die ihm zuhört, nickt auffällig in die Entianer-Runde. Zugehörigkeit ist gefragt.<br />

Hinter jeder Döschöwo-Erzählung - auch ohne Katalysator - kanalisiert sich meist ein Stück<br />

Biografie oder auch Lebensskizze, für die es sonst kaum noch einen Platz zu geben scheint. Ob<br />

Herkunft, Bezugspunkte samt Identität - die Ente zieht sich wie ein roter Faden durch mancherlei<br />

Lebensgeschichten - ein Wegbegleiter aus Blech. Die 24jährige Kindergärtnerin Elisabeth Perpoil<br />

aus Saint Avertin sagt: "Als ich Kind war, reparierte mein Vater jedes Jahr mit ein paar Kollegen<br />

einen 2 CV für die Tombola von Sankt Eloi. Mit acht Jahren habe ich mir vorgenommen, mein<br />

erster Wagen nach dem Führerschein muss eine Ente sein. Wir haben sechs Wracks gekauft und an<br />

die zweitausend Stunden gearbeitet. Da steht er nun, mein Deux Chevaux, sogar mit neuen<br />

Sicherheitsgurten und Bremsbelägen."<br />

Wohl noch kein Fahrzeug in der Geschichte Frankreichs hat die Seelenlage der Gemüter<br />

derart beschäftigt, bewegt, aufgewühlt - oder auch solch länderüber-greifende Identifikationsschübe<br />

ausgelöst wie die Ente. Zunächst galt sie <strong>als</strong> Urtyp eines Primitivautos schlechthin, <strong>als</strong> Arbeitstier<br />

(Einheitsfarbe grau) und rollte vornehmlich vor Fabriktore oder auch Bauernhöfe. In den sechziger<br />

und siebziger Jahren stieg sie zum existenzialistischen Image-Gefährt französischer Intellektueller<br />

auf. Wer dam<strong>als</strong> in jenen Zeitläufen der heute schon legendär-verklärt anmutenden<br />

Studentenrevolte auch nur ein wenig auf sich hielt, las nicht nur in verrauchten Bars schwierige<br />

Texte des Philosophen Jean-Paul Sartre(*1906+1980), rauchte Gauloises in Kette, nein, der parkte<br />

sein Statussymbol Deux Chevaux natürlich im Pariser Stadtteil Saint-Germain-des-Près. Wo denn<br />

auch sonst.<br />

Tatsächlich vermochte bisher kein noch so technologisch hochgezüchtetes Vehikel aus<br />

den Werken Renault, Peugeot oder Citroen an ihre Grandeur anzuknüpfen. Die skurril verpackte<br />

Enten-Mechanik, Sparsamkeit des Motors, sanft wiegende Federung, die im Stil einer<br />

Sardinenbüchse mit zurückgerolltem Dach zu fahren ist - all das ist in der Autowelt unnachahmlich<br />

geblieben. Sicherlich auch ein Grund dafür, warum in Europa eine Enten-Bewegung entstand.<br />

Dabei ist die Entstehungsgeschichte des Autos so abenteuerlich wie seine tiefauslagende<br />

Kurvenlage. - "Vier Räder unterm Regenschirm" wollte in den dreißiger Jahren Citroen-<br />

Generaldirektor Pierre-Jules Boulanger (*1885+1950) bauen lassen. Dieses Häutchen sollte auch<br />

den Landarzt, die Weinbäuerin und natürlich den Dorfpfarrer im landwirtschaftlich geprägten<br />

Frankreich zu überzeugten Citroen-Fahrern machen. Einzige Vorgabe an die Konstrukteure im<br />

Pariser Vorort Levallois: Der Wagen müsste in der Lage sein, zwei Bauern samt einem Sack<br />

Kartoffeln oder einem Fass Wein auch über Feldwege zu kurven, vom Village zur Ville zu bringen.<br />

Das TPV ("Toute Petite Voiture" - ganz kleine Auto) dürfe nicht mehr <strong>als</strong> drei Liter Benzin auf<br />

100 Kilometer schlucken und habe so geräumig zu sein, dass die Baskenmütze beim Einsteigen<br />

nicht vom Kopf rutscht. Sollte zudem noch eine Kiste mit Eiern auf dem Rücksitz liegen, so dürfe<br />

keines während der Fahrt zerbrechen.<br />

Über sieben Millionen Enten verließen die Pariser Werkshallen -durchschnittlich 400 am<br />

Tag. Verständlich das mittlerweile auf dem Schloss Rochetaillée-sur-Saône Ersatzteile wie<br />

573


Antiquitäten gehandelt werden. Überhaupt durchlebt Frankreich eine nie für möglich gehaltene<br />

Renaissance alter Blechkarossen. Fernab von schnelllebigen Superlativen und dem<br />

potenzprotzenden Milieu aus der Reklamewelt neuer Automobile wuchs in diesem Schatten eine<br />

Wirtschaftsbranche mit Millionenumsätzen samt Arbeitsplätzen heran - der kapitalkräftige<br />

Oldtimer-Markt. Was einst verspielt begann, entpuppt sich zunehmend <strong>als</strong> eine ernst zu nehmende<br />

Wachstumsbranche - die Auto-Nostalgie.<br />

"Ich habe in einer kleinen Garage im Hinterhof begonnen. Heute kann ich eine Werkstatt<br />

mein eigen nennen", sagt der 50jährige Jean-Pierre Payet aus Briord im Rhône-Tal. Seine<br />

Auftragsbücher sind üppig gefüttert. International bis nach Japan hat der Tüftler Anzeigen in<br />

Fachzeitschriften geschaltet. Von überall rufen ihn Liebhaber vergangener Auto-Epochen an und<br />

wollen sogleich für etwa 12.000 Euro ein Stückchen mobile Vergangenheit mit nach Hause<br />

nehmen.<br />

Eigentlich wollte Restaurateur Jean-Pierre Jurist werden. Doch schon die kurzweiligen<br />

Fahrten mit seinem 5-Chevaux-Citroen zur Uni wiesen seinen Berufsweg in eine andere Richtung.<br />

Seither bastelt er maßstabsgetreu die "Vorahnen des Autos" zusammen. Oldtimer beginnen für ihn<br />

nämlich erst dort, wo Holz-teile handwerklich eingebaut werden müssen - Filigranarbeit. Seine Frau<br />

Josette nickt ermüdet. Sie ist es nämlich, die die Abendstunden, zuweilen des Nachts an der<br />

Nähmaschine verbringt, mühselig die Sitzbezüge vergangener Tage schneidert und anpasst. -<br />

Terminarbeit.<br />

Übers Wochenende ist das Oldtimer-Paar meist unterwegs, grast alte Höfe und Dörfer ab.<br />

So mancher Zeitgenosse hält das einstige Volksauto - sieht wie ein Frosch aus - noch heute seit<br />

dem Zweiten Weltkrieg in Ställen oder Scheunen verborgen - für den Notfall sozusagen. Denn<br />

immerhin gab es auf den 2-Chevau-Citroen Benzinmarken. Und das will auch noch in Frankreichs<br />

Ära der TGV-Schnellzüge etwas heißen.<br />

574


FREMD IM EIGENEN LAND<br />

Betreuerin Muriel Mercier aus Lyon kümmert sich um "Immigrés" in<br />

Abschiebehaft. Nach 24 Stunden werden 80 Prozent aller Asylanträge abschlägig<br />

beschieden. Ihre Aufgabe ist es, diese "vogelfreien Existenzen" in angelegten<br />

Handschellen ins Flugzeug zu verfrachten. Frankreich ist für die CIMADE-Helferin<br />

"inneres Ausland" geworden.<br />

Freitag, Berlin vom 9. Juli 1993<br />

Das Gesicht des Fremden<br />

Was uns an den Zügen des Fremden in Bann zieht,<br />

spricht uns an stößt uns zurück, beides zugleich:<br />

"Ich bin zumindest genauso einzigartig und daher liebe ich ihn",<br />

sagt der Beobachter. "Aber ich ziehe meine Einzigartigkeit vor<br />

und daher töte ich ihn", kann er weiter folgen.<br />

Vom Herzschlag zum Faustschlag –<br />

das Gesicht des Fremden zwingt uns, die verborgene Art,<br />

wie wir die Welt betrachten, ... offenzulegen."<br />

Julia Kristeva in "Fremde sind wir uns selbst", Edition Suhrkamp, 1990<br />

Schon die äußeren Merkmale des Arbeitsplatzes von Muriel Mercier sagen mehr über die<br />

innere Gereiztheit des Einwanderungslandes Frankreich mit seinen ausländischen<br />

Neuankömmlingen aus, <strong>als</strong> es so manche wohlfeile Formulierung aus dem Pariser Politik-Milieu<br />

erahnen lässt. Das massive Eingangsportal in der rue Diderot in Lyon ist auch tagsüber fest<br />

verschlossen. Klingelanlage und Namensschilder wurden schon vor einem Jahr abgebaut - aus<br />

Sicherheitsgründen. Nichts deutet darauf hin, dass in diesem beschaulich anmutenden Altbau-<br />

Viertel die französische Flüchtlingsorganisation CIMADE ihren Sitz hat - ein versteckter<br />

Umschlagplatz für Akten und Abschiebungen.<br />

Seit vier Jahren betreut die Sozialpädagogin Muriel Mercier die Ausgestoßenen der<br />

Republik. Und es werden immer mehr. Allein im Jahre 1992 wurden nach offiziellen Angaben<br />

42.859 Ausländer des Landes verwiesen. Oft begleitet sie ihre Zöglinge in angelegten Handschellen<br />

bis hin zur Abflughalle, an der die Flieger für ferne Kontinente auf ihre Passagiere ungeduldig<br />

lauern. Sie tut das, weil Muriel "diese quasi vogelfreien Existenzen" auf ihrer letzten Fahrt nicht<br />

ganz dem Gutdünken der berüchtigten Sonderpolizei "Compagnie Républicaine de Sécurité" (CRS)<br />

ausgeliefert sehen will. Muriel sagt: "Jahr für Jahr wird es kälter, fühle ich mich schon <strong>als</strong> Fremde<br />

im eigenen Land."<br />

Frau Mercier hat im Grunde zwei Arbeitsplätze. Denn die Hälfte des Tages verbringt sie<br />

hinter Mauern, Stacheldraht und Gitter - im Abschiebelager der Sonderpolizei-Einheit CRS von<br />

Saint-Foyes-Les-Lyon. Dieses Camp, von dem es zwei Dutzend in Frankreich gibt, ist die<br />

Endstation aller Sehnsüchte. Tag für Tag kurven Polizeieskorten in Windeseile vor, <strong>als</strong> gelte es, in<br />

Sachen Ausländer eine "Staatskrise" zu bewältigen. Uniformierte liefern verängstigte Menschen für<br />

den Rausschmiss aus Frankreich ab - in Handschellen versteht sich.<br />

575


Meist sind es Leute aus Nordafrika und neuerdings auch aus den früheren<br />

Ostblockstaaten. Irgendwo auf der Straße oder an den Bars geschnappt in den angrenzenden<br />

Départements Ain, Rhône, Loire. Immer wieder dieselben Vergehen: keine Arbeitspapier. Und ab<br />

geht die Post. Knappe 24 Stunden Polizeigewahrsam, Zivilrichter im Schnellverfahren, maximal<br />

sieben Tage im Abschiebelager -Frankreich ade. Sich übers Asylverfahren einen Platz "im Land der<br />

Sonne" zu ergattern, ist praktisch aussichtslos. In durchschnittlich 50 Tagen liegt ein richterliches<br />

Urteil vor. Im Jahr 1992 wurden insgesamt 47.400 Asylanträge gestellt und 80 Prozent abschlägig<br />

beschieden.<br />

Sich gar eine Französin oder einen Franzosen <strong>als</strong> letzten Ausweg für eine Scheinehe zu<br />

angeln - auch dieser weitaus kostspieligere Weg ist mittlerweile nahezu chancenlos: Frankreichs<br />

Ausländer-Polizei sitzt nämlich ungefragt mit auf der Bettkante. Nachforschungen über "un amour<br />

véritable" (wahrhaftige Liebe) laufen vielerorts -bei Verwandten, am Arbeitsplatz, in der<br />

Nachbarschaft. Deshalb glaubt der Bürgermeister von Toulouse, Dominique Baudis, zu wissen,<br />

dass die Hälfte der in seiner Region geschlossenen Partnerschaften "regelrechte Scheinehen" sind.<br />

Wenn im Standesamt zu Toulouse "Leute mit ausländisch klingenden Namen" (Baudis) auftauchen,<br />

gar ein Aufgebot bestellen wollen, unterrichtet der Bürgermeister unbesehen sogleich den<br />

Staatsanwalt, der seinerseits die Ausländerpolizei zu Vorortkontrollen einsetzt. Eine langjährige<br />

Aufenthaltsgenehmigung gibt es sowieso für den ausländischen Partner der sogenannten Mischehe<br />

(1991: 33.000) erst ein halbes Jahr nach der Trauung. "Und nur dann", bekundet der Stadtvorsteher<br />

selbstgewiss, "wenn mir abgesicherte Berichte vorliegen, dass die amour véritable voll und ganz<br />

funktioniert." - Intimkontrollen auf Französisch.<br />

"Irgendwie, auf welche Weise auch immer", befindet Muriel, "sehen sie sich alle auf Dauer<br />

in solch einem Abschiebelager wieder. Frankreich kennt schon lange kein Pardon, kein<br />

Augenzwinkern mehr, erst recht mit der neuen Regierung." Das Abschiebecamp Sainte-Foyes-Les-<br />

Lyon wurde im Jahre 1984 angesichts der steigenden Bedarfszahlen in Betrieb genommen, hat 24<br />

Betten. Fluchtmöglichkeiten gibt es so gut wie keine. Nachts leuchten gleißende Scheinwerfer das<br />

Gelände aus. Ein Areal, das durch Mauern, Gitter und Stacheldraht schnörkellos gesichert wird.<br />

Alle dreißig Tage lösen sich Sondereinheiten der CRS-Polizei ab.<br />

Kontakte zur Außenwelt bestehen während der meist siebentägigen Verweildauer so gut<br />

wie keine. Befindlichkeiten der Ausgestoßenen, ihren seelischen Ausnahmezustand schlechthin - all<br />

jene Unwägbarkeiten haben die Pariser Politik-Männer vorsorglich Frauen wie Muriel von der<br />

CIMADE übertragen - zur Gewissensberuhigung sozusagen. Schließlich bürgt schon dieser Name<br />

der Flüchtlingsorganisation für Seriosität samt französischer Tradition. Waren es doch<br />

ehrenamtliche CIMADE-Helfer, die zu Beginn des Zweiten Weltkrieges Franzosen aus Elsass-<br />

Lothringen evakuierten, in den Konzentrationslagern den Schmerz vor dem Tode zu lindern<br />

suchten. Hingebungsvolle Frauen, die sich auch um die Tausende und aber Tausende von<br />

Franzosen-Flüchtlingen kümmerten, die sich Anfang der sechziger Jahre nach dem ruinösen<br />

Algerien-Krieg mittellos nach Frankreich retteten.<br />

Und in dieser Kontinuität sieht Muriel den Flüchtlingsexodus dieser Jahre. Unbehagen<br />

befällt sie, wenn Muriel laut die Frauen-Rolle in der von Männern veranstalteten Welt hinterfragt.<br />

Sie murmelt: "Wir Frauen sind noch immer für die Drecksarbeit zuständig und haben zu alledem<br />

noch lieb, weich wie auch offenherzig sein." Muriel hatte sich gerade um eine Marokkanerin<br />

gekümmert, die im Lager ihren Kopf wie eine Wahnsinnige unentwegt an die Wand knallte.<br />

Empfindliche Brustschmerzen hatte diese Frau. Und immer wieder schrie die junge Marokkanerin:<br />

"Lasst mich raus aus dieser Hölle." Ihr zweimonatiges Baby , das sie derzeit stillen musste, was ihr<br />

576


eim Abtransport kurzerhand genommen worden. Immerhin konnte Muriel erreichen, dass Mutter<br />

und Kind wieder zusammen kamen -natürlich gemeinsam ausgewiesen werden.<br />

Verständlich, dass vom Lager-Leben kaum etwas nach draußen dringt. Sonst würde das<br />

humane Bild vom "Frankreich der Franzosen und der Menschenrechte" (Gaullisten-Führer Jacques<br />

Chirac, Staatspräsident 1995-2007 ) einen Knacks bekommen. Selbstmordversuche, Hungerstreiks<br />

und auch Schlägereien sind an der Tagesordnung im Lager, dort wo die Nerven blank liegen wie<br />

vielleicht nirgendwo sonst. Kaum einer weiß genau, mit welcher Drangsal er im Heimatland zu<br />

rechnen hat. Wandert er ins Gefängnis, wird er gar gefoltert -in der Türkei, in Marokko, Burundi<br />

oder anderswo? "Ja, ja", bemerkt Jean-Claude Barreau, Berater in Ausländer-Fragen des neuen<br />

Innenministers, "das wissen wir sehr genau, dass dies ein großes Problem ist. Lösen aber lässt es<br />

sich nur, indem wir Frankreich durch die Geburtenpolitik wieder mit Franzosen bevölkern. Dann<br />

steht einer neuerlichen Integration ausländischer Kinder nichts im Wege."<br />

Fernab von der großen Bevölkerungspolitik widerfuhr Madame Muriel dieser Tage eine<br />

ganz andere Genugtuung. Eines Nachmittags wollte sie in einem Café auf dem Place Bellecour in<br />

Lyon eine Torte naschen. An einem Nachbartisch erblickte sie auf einmal Mohammed, den sie aus<br />

dem Lager kannte und der schon nach zwei Tagen nach Marokko abgeschoben worden war. Nun<br />

war er flugs wieder da. Mohammed strahlte über beide Wangen und wedelte mit seinem gültigen<br />

Visum, das er sich in Rabat für gute 3.000 Euro von einem Botschaftsangestellten besorgt hatte. -<br />

Beide freuten sich spitzbübisch.<br />

577


SCARLETT: NACHTS AUF SEE, TAGSÜBER IM KOMITEE<br />

Schon <strong>als</strong> junges Mädchen begleitete Fischerin Scarlett vom Hafen Le Guilvinec<br />

ihren Vater zum Fang in den Golf von Biskaya. Seit Jahrzehnten kämpft sie ohne Unterlass<br />

ums Überleben. Billigimporte drücken Preis und Moral -zum Sterben zu viel, zum Leben<br />

zu wenig.<br />

Frankenpost, Hof vom 27. Juni 1993<br />

Die Kulisse im kleinen bretonischen Hafen von Le Guilvinec mit seinen fünftausend<br />

Menschen könnte den Hintergrund einer Roman-Verfilmung verflossener Jahre abgeben.<br />

Beschaulich wie überschaubar regt sich alltägliche Geschäftigkeit, <strong>als</strong> lebten jene wohlbehüteten<br />

Zeitläufe aus Romantik und Renaissance ungeahnt fort. So manche Butzenscheiben in den akkurat<br />

grau gestrichenen Fischer-Natursteinhäusern spiegeln das Dorfgeschehen wider. Wind und Wasser<br />

prägen Leute und Landschaft - Felsbuchten, Granitklippen, das Auf und Ab der Gezeiten, die<br />

Gewalt der Herbst-oder Frühjahrsstürme.<br />

Zwanzig Jahre ununterbrochener Aufschwung hat der Ort hinter sich. An die dreißig<br />

hoch technisierten Dampfer liefen hier alle drei Monate zur Blütezeit vom Stapel. Meist in den<br />

Abendstunden lehnen sich wartende Frauen mit ihren Kindern aus den Fenstern des Fischer-<br />

Hauses, johlen oder winken ihren Männern entgegen, die mit ihren Kuttern heimwärts tuckern: den<br />

Meer knapp zwei Wochen Kabeljau, Steinbutt, Langusten oder Seelachs auch Quappen abgetrotzt<br />

haben - handwerklich versteht sich.<br />

Nichts, so wollte es über Jahrzehnte scheinen, vermochte das bretonische<br />

Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen. Seit jeher ist es getragen von einem unbändigen<br />

Behauptungswillen gegenüber der französischen Republik, können sich auch heute noch die Leute<br />

an der Küste schwerlich damit abfinden, ein Teil Frankreichs zu sein. Und ihr entlegenstes<br />

Département Finistère bedeutet nicht nur "Ende des Festlandes". - Hier ist die Bretagne ein<br />

unverkennbares Land der Frauen. Überall in dieser Region haben Frauen markant das Sagen, liegen<br />

Geschäfte oder auch das finanzielle Desaster im Überlebenskampf <strong>als</strong> Fischer-Familien<br />

ausnahmslos in ihren Händen. Zunächst notgedrungener weise, weil die Männer <strong>als</strong> Matrosen oder<br />

Kapitäne oft Wochen, gar Monate auf See waren; mittlerweile zunehmend selbstbewusster,<br />

unabhängiger, unnachgiebiger - zuweilen auch leidenschaftlicher.<br />

Bretagne - Mitte der neunziger Jahre - fortwährende Krisen-Zeiten: das sind Frauen-<br />

Zeiten. Dabei haben sie lediglich eine unscheinbare Kontinuität bewahrt. Im Städtchen<br />

Douarnenez, so wissen heimische Chronisten zu berichten, hat es schon im Jahre 1902 erste<br />

Frauen-Unruhen Frankreichs gegeben. Über 2.000 Arbeiterinnen einer Fischkonservenfabrik traten<br />

von sich aus in den Streik - erstritten höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Wohl in<br />

keiner französischen Region wie der Bretagne mit ihren 1.100 Küsten-Kilometern und an den<br />

2.000 Schiffen - sie machen etwa die Hälfte des französischen Fischfangs aus - sind die Kontraste<br />

derart scharf geschnitten, prallen Widersprüche so unversöhnlich aufeinander.<br />

Es sind Frauen - junge wie alte - die sich in den Häfen etwa in Brest oder Lorient<br />

verdingen. Sie tragen schon des Morgens um 5 Uhr Körbe voller Schollen, Äschen, Steinbutten<br />

oder Barschen, sortieren und stapeln den Fang in Kisten, schleppen ihn auf Lastwagen, flink,<br />

geschickt, schweigsam, mit erprobter Routine vieler Generationen. Hafenarbeit - das ist<br />

Kärrnerarbeit, Frauen-Plackerei allemal. An den Wänden der Lagerhalle haben sie in großen<br />

578


Lettern ihren doppelsinnigen Leitspruch gepinselt: "Survivre ou mourir"-überleben oder sterben -<br />

heißt es da lapidar.<br />

Gewiss hat sich das auch die einzige selbstständige Fischerin der Region, die 37jährige<br />

Scarlett Le Core gesagt, <strong>als</strong> sie den Kampf gegen die fischende Männerwelt aufnahm. Schon ihr<br />

Vater fuhr zur See, schon <strong>als</strong> sechsjähriges Mädchen begleitete sie ihn bei Wind und Wetter,<br />

säuberte Netze wie Reusen, schleppte Kisten zur Auktion. Verständlich, dass auch Scarlett<br />

Fischerin werden wollte, "weil ich praktisch auf See geboren wurde, und die Freiheit auf Meer<br />

unbeschreiblich ist". Nur - sie durfte nicht. Zehn Jahre vergingen. Kochen lernte sie, servierte in<br />

Bars Weine, puderte in Kosmetikläden betuchten Damen zartes Rouge auf die Wangen, heiratete,<br />

bekam drei Kinder.<br />

Erst die Frauen-Aufbruchjahre in den Siebzigern ließen Scarlett trotzig werden. Zunächst<br />

ging sie heimlich zur Fischerschule, bestand die Prüfungen. Nunmehr kaufte sie sich demonstrativ<br />

ein Boot. Endlich wurde ihr beruflicher Wunschtraum Wirklichkeit. -Sarclett fuhr allein zur See. Sie<br />

erinnert sich: "Neid und Frauen-Feindlichkeit schlugen mir anfangs entgegen, Häme und auch<br />

Spott." Naheliegend war es, dass sich jener Argwohn auch auf ihren Mann Jean-Pierre übertrug. -<br />

Einen Großfischer-Matrosen, der von sich aus Haushalt, Hausputz und Kinder-Obhut mit Frau<br />

Scarlett teilt, sobald er an Land weilt. Er, der Jean-Pierre, sei ein Butt ohne Flossen, raunte es durch<br />

die Gassen von Guilvinec. Eben kein in der Fischertradition stehender Familienvater, lässt gar sein<br />

Weib auf hoher See, Kinder mit Au-pair-Mädchen allein zu Hause, Essen nur auf der Tiefkühltruhe<br />

und so weiter.<br />

Nur ganz allmählich konnten sich die mannbedachten Seeleute von Guilvinec damit<br />

abfinden, dass neben Scarlett mittlerweile auch noch fünf weitere Frauen mit ihren Booten -<br />

allerdings mit Matrosen - bis zu fünf Meilen von der Küste entfernt auf Fischfang gegen. Für<br />

Scarlett und Kolleginnen ist ihre Unabhängigkeit ein unveräußerbares Lebensmerkmal ihres<br />

Daseins - beruflich wie privat.<br />

Von April bis Oktober eines jeden Jahres fahren sie schon morgens um 5 Uhr hinaus aufs<br />

Meer, kehren nach vier Stunden in den Hafen zurück, verkaufen die soeben gefangenen Fische.<br />

Mittags kocht Mutter Scarlett zu Hause, macht Einkäufe in den Supermärkten. Gegen 13 Uhr<br />

präpariert sie die Netze für den nächsten Fischfang. Dann tuckert Scarlett wieder raus, um für die<br />

Auktion um 17 Uhr frische Quappen, Langusten oder Seezungen anbieten zu können. Nach dem<br />

Abendessen gegen 20 Uhr kurvt sie mit ihrem klapprigen Renault-Kombi nochm<strong>als</strong> in den Hafen,<br />

erneut treibt sie es auf See - oft bis nachts um eins. Sie sagt: "Ich will um jeden Preis meine<br />

Selbstständigkeit. Eine Stempeluhr wie in den Fabriken wäre Quälerei für mich. Dafür arbeite ich<br />

bis zum Umfallen. Wir Frauen rackern ohnehin drei Mal so viel wie die Männer. Ein alter Fischer<br />

kam letztens an mein Boot und sagte zu mir: " Wir wussten eigentlich ja schon immer, dass du eine<br />

gute Fischerin bist' - Da hatte ich ein paar Sekunden Gänsehaut."<br />

Nur in diesem Jahr, der schwierigsten Fischer-Krise überhaupt, ist Starletts<br />

Tagesrhythmus arg durcheinander geraten, Handlungsbedarf besteht, Frauen-Solidarität ist<br />

angesagt. Verständlich, dass es Madame Scarlett keine ruhige Minute auf See oder zu Hause hält.<br />

Ihre Kinder brachte sie in solch bewegten Zeiten vorsorglich bei ihrer Mutter unter. Als Vize-<br />

Präsidentin des örtlichen Komitees "Femmels de Marins Pêcheurs" reiste sie kreuz und quer durch<br />

die Region, trommelte verstummte Fischer-Frauen zusammen.<br />

"Frauen, seid nicht kleinlaut", sagt Scarlett zu ihren Leidensgefährtinnen, "wir sind stärker<br />

<strong>als</strong> die Männer. Unser Kampf beginnt erst jetzt." Zunächst waren es nur vierzig, dann stieg ihre<br />

579


Anzahl auf 150 Frauen, die sich im Maison du pêcheur zu Guilvinec nunmehr regelmäßig<br />

einfinden. Ursprünglich sollte dieses alte Haus einmal für die Männer die administrative<br />

Anlaufstelle sein, ihr Knoten- und Kontaktpunkt sozusagen. Mittlerweile führen auch dort ihre<br />

Frauen auffällig Regie. Sie heißen Christine, Malou, Marylène, Janine oder auch Scarlett. Sie sind<br />

zwischen 30 und 40 Jahre <strong>als</strong> und haben zu Hause alle zwei bis vier Kinder an ihrer Seite -<br />

Verzweiflung ist ihr Wegbegleiter. So manche Familie hat sich noch vor wenigen Jahren hoch<br />

verschuldet, den Männern für den Fischfang ein Schiff zwischen 1,1 bis 1,6 Millionen Euro<br />

gekauft. Christine sagt: "Wenn wir nichts tun, werden wir allesamt mit offenem Maul verrecken.<br />

Die Männer haben genug geredet, verhandelt. Wir warten nicht auf bessere Zeiten. Jetzt ist die<br />

Stunde der Frauen. Wir haben die Nase voll."<br />

Über Monate haben die Fischer-Frauen von Guilvinec mit ansehen müssen, wir ihre<br />

Einkünfte rasant dahin schmolzen - bis zahlreiche Familien überhaupt nichts mehr im Kochtopf<br />

hatten, Schiffe und Häuser vom Konkursrichter Schnurstraks versteigert wurden. Seit Monaten<br />

stürzt das Einkommen französischer Fischer im freien Fall. Die meisten verdienen heute nur noch<br />

ein Drittel des Wertes von 1990. Allein im vergangenen Jahr mussten 600 Familien wegen<br />

Überschuldung eine eidesstaatliche Erklärung ihre Zahlungsunfähigkeit (früher Offenbarungseid)<br />

leisten. Scarlett berichtet: "Früher kam mein Mann Jean-Pierre, der <strong>als</strong> Matrose oft 14 Tage auf See<br />

ist, immerhin mit etwa 1.550 Euro nach Hause. Jetzt sind es nur noch 110 Euro. Erst habe ich<br />

mich geschämt. Dann stellte ich fest, dass wir ja nicht alleine sind - und begann zu kämpfen."<br />

Täglich treffen sich die Überlebenskomitee-Frauen im Fischerhaus. Täglich kreisen ihre<br />

Gedanken um ein und dieselbe Frage: wie können wir und unsere Nachbarn diese Zeiten<br />

durchstehen. Arbeitsteilung ist angesagt. Christine sitzt am Telefon, verhandelt mit Banken und<br />

Lebensmittelläden, mit der Elektrizitätsgesellschaft, bitte um Stundung. Strom und Essbares.<br />

Marylène schnürt mit einer Frauen-Gruppe derweil Fresspakete.<br />

Meist am Nachmittag bis hinein in die späten Abendstunden sind militante Aktionen an<br />

der "Bewusstseins-Front" angesagt. Militant deshalb, "weil die Politiker-Männer, diese Jahrmarkts-<br />

Narren aus dem arroganten Paris, unsere Frauen-Sprache offenkundig nicht verstehen wollen",<br />

mutmaßt Christine erbost. Immer wieder ging es des Nachts mit den Zügen nach Paris ins<br />

Fischerei-Ministerium oder nach Brüssel zur EU-Kommission, um dort früh morgens aufdringlich<br />

Politiker samt Referentenstab aufzuscheuchen.<br />

In der Tat: Eine Flut von Fisch-Billigimporten, meist aus Nicht-EU-Ländern, vor allem<br />

aber auch aus Osteuropa überschwemmt Frankreich. Ursprünglich wollte die EU-Kommission in<br />

Brüssel den Meeren des Kontinents eine Verschnaufpause einräumen, sollte sich der Fisch-Bestand<br />

erholen. Folglich wurde der Import beschlossen. In Zahlen: Aus allen Meeren der Welt holten<br />

Schiffe Anfang des Jahrhunderts zwei Millionen Tonnen heraus: nunmehr gehen über 100<br />

Millionen Tonnen Fische ins Netz. Dabei wurde in Brüssel offenkundig die Folgewirkung außer<br />

Acht gelassen; nämlich die Existenzvernichtung Zehntausender europäischer Fischer. -Paradoxien<br />

dieser Zeit.<br />

Immerhin können die Fischer-Frauen aus der Bretagne schon einige Teil-Erfolge für sich<br />

verbuchen. Gemeinsam mit ihren Männern haben sie es geschafft, dass der französische Staat<br />

ihnen bei der Umschuldung ihrer teuren Schiffskäufe behilflich ist, ihnen eine Direkthilfe von rund<br />

45 Millionen Euro zukommen lässt. Und die EU in Brüssel führte Fisch-Mindestpreise ein, an die<br />

sich die Billigimporteure zu halten haben - offiziell zumindest. Und noch ein ganz anderer<br />

Gesichtspunkt gibt den Frauen Mut, ihren Kampf fortzuführen. Die Präsidentin der "Association<br />

des femmes de marins et comité de survie", Christine Nedellec wagt eine Prognose kommender<br />

580


Jahre, vielleicht Jahrzehnte, wenn sie sagt: " Hier in der Bretagne ist etwas an Frauen-<br />

Empfindungen, Frauen-Maßstäben, Frauen-Macht entstanden. Das haben wir nicht vermutet und<br />

das kann uns jetzt niemand nehmen."<br />

581


IM CLUB DER NUKLEOKRATEN<br />

Ungeachtet weltweiter Kritik an der friedlichen Nutzung der Kernenergie setzt<br />

Frankreich gerade in Jahren des Klimawandels und enorm gestiegener Energiekosten<br />

unbeirrt auf weitere Expansion seiner 58 Atomreaktoren, die 80 Prozent des<br />

Stromverbrauchs erzeugen.<br />

Die französische Regierung wertet den systematischen Ausbau und<br />

umfangreichen Export ihrer Kernenergie in sogenannte industrielle Schwellenländer <strong>als</strong><br />

aktiven Beitrag gegen Erderwärmung, gegen Treibhausgase. Mit Ende des Jahres 2008<br />

wird der staatliche Stromkonzern EDF den angeblich sichersten französischen<br />

Druckwasserreaktor-Typs EPR der Welt in Betrieb nehmen. Eine enge Kooperation mit<br />

England ist unter Dach und Fach.<br />

Während nur Deutschland - weltweit <strong>als</strong> einziges Industrie-Land - ganz aus der<br />

atomare Stromversorgung aussteigen will, setzt Frankreich auch in Zukunft ganz auf seine<br />

Kernkraftwerken. Sie ist im Land unumstritten. Mittlerweile erobern sich in der Atom-<br />

Nation Frankreich immer mehr Frauen Schlüsselpositionen in den AKWs. Im<br />

Kernkraftwerk Le Bugey im Rhônetal, einst klassische Männer-Domäne, führen sie<br />

inzwischen wie selbstverständlich Regie.<br />

Freitag, Berlin vom 7. Mai 1993<br />

Der mit Monitoren bepflasterte Kontrollraum kennt nur Männer-Gesichter. Gesichter, die<br />

auch unbeobachtet keinen Zweifel aufkommen lassen dürfen. Etwa ein Dutzend Operateure und<br />

Ingenieure luchst im Überwachungszentrum des französischen Kernkraftwerkes Le Bugey im<br />

Rhône-Tal unaufhaltsam auf Bildschirme, Farbskalen, Schalter samt Knöpfen. Völlig abgeschottet,<br />

ohne Tageslicht, so steuern bislang diese auserkorenen Männer-Mannschaften die atomare<br />

Stromversorgung von etwa 13 Milliarden Kilowattstunden in einem Jahr, eine Energie-Produktion,<br />

die etwa 3,3 Millionen Tonen Heizöl entspricht.<br />

Im Werk Le Bugey und auch anderswo in Frankreich verstand es sich in den vergangenen<br />

zwei Jahrzehnten nahezu von selbst, die Atom-Männer in sensiblen Kommandozentralen der 61<br />

Kernkraftwerke der Republik <strong>als</strong> "Tabu" zu behandeln. Zu unangefochten nimmt sich ihre Position<br />

zwischen Leben und potenzieller Massenvernichtungsgefahr aus, zu autoritär und sicher kam ihre<br />

scheinbar in sich ruhende Selbstgewissheit männlicher Machbarkeit daher. Unausgesprochen - aber<br />

im alltäglichen Verhalten nachhaltig vermittelt: Wir sind der zivile Atomstaat Nummer eins in der<br />

Welt, die nukleare Festung Europas, la France <strong>als</strong> atomare Avantgarde schlechthin. Wir haben<br />

einen omnipotenten Leistungswillen. Unser Motto heißt: Tout nucléaire -Atomstrom total. Dabei<br />

stehen wir konsequent in der Tradition der Fünften Republik. Erst ließ Charles de Gaulle<br />

(*1890+1970) die Bombe zur militärischen Abschreckung bauen, dann überzogen wir nach dem<br />

Ölschock Anfang der siebziger Jahre das Land systematisch mit Reaktoren - eine Tat des Friedens,<br />

friedlich durchgesetzt.<br />

Atom und Männlichkeit in einem Atemzug zu nennen, scheint jedenfalls im Dunstkreis<br />

der französischen Kernkraftwerke nur folgerichtig zu sein. Selbstwahrnehmung und Lebensgefühl<br />

sind hier seit jeher getragen von einem Bewusstsein, zur Elite des Landes, zu einer hochkarätigen,<br />

abgeschotteten Kaste der Republik zu zählen. Denn Frankreich verfügt über keine nennenswerten<br />

Energiequellen. Dank der Atomkraft gelang es in den letzten zwanzig Jahren, die Kosten für<br />

582


Energieimporte um die Hälfte zu reduzieren - somit die Wirtschaftskraft der Nation beträchtlich zu<br />

stärken.<br />

Praktisch bildet der nationale Stromversorger Electricité de France (EDF) mit seinen<br />

145.000 Angestellten, <strong>als</strong> größter Stromexporteur Europas, einen Staat im Staates - weder von der<br />

Politik maßgeblich kontrolliert, noch gesellschaftlich mit seinen ehrgeizigen Atomprogrammen<br />

thematisiert, gar kritisiert. In Frankreich ist das kein zentrales Thema. Immerhin durften die<br />

Abgeordneten des Pariser Parlaments gelegentlich auch schon mal über Energiepolitik debattieren -<br />

dreimal in den vergangenen zwanzig Jahren. Neue Minister können kommen, alte Regierungen<br />

gehen, nur gegen den Club der Nukleokraten "gegen diesen militärisch-industriellen Komplex,<br />

hatte bisher so niemand eine reelle Chance", beteuert Madame Huguette Bouchardeau, die Anfang<br />

der achtziger Jahre <strong>als</strong> Umweltministerin scheiterte. Allesamt bilden sie eine Kaste: dieselbe<br />

Eliteschule, dasselbe Pariser Wohnviertel und die gleiche Denkweise: Ermattet fügt sie hinzu:<br />

"Selbst Sozialisten, die <strong>als</strong> Atomkraftgegner Industrieminister wurden, kamen <strong>als</strong> Befürworter<br />

wieder heraus."<br />

Aber auch sonst ist in Frankreich die Akzeptanz der Kernenergie in allen<br />

gesellschaftlichen Lagern sehr hoch. Ob links oder rechts in der politischen Gesäßgeografie des<br />

Parlaments, <strong>als</strong> technikfreundlich und fortschrittlich empfunden sie sich allesamt. Lediglich die<br />

beiden Umweltparteien gingen auf Distanz zur "nuklearen Festung", aber eher kleinlaut und<br />

halbherzig. Denn ausgesprochene Gegner des Atomstroms sind auch sie keineswegs. Immerhin<br />

betragen die umweltzerstörenden Kohlestoff-Emissionen in Frank-reich nur 1,9 Tonnen pro<br />

Einwohner eine im internationalen Vergleich äußerst niedrige Zahl.<br />

Gewiss, die mitunter rigorose Ablehnung der Kernenergie, die über Jahre andauernden<br />

Protestmärsche samt AKW-Blockaden wirken in Deutschland vornehmlich bei den Grünen und<br />

auch Teil der Sozialdemokratie identitätsstiftend. Diese leidenschaftlich vorgebrachte Anti-<br />

Atomkraft-Politik beeinflusst junge Generationen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln<br />

maßgeblich. Sie zählt zu den letzten verlässlichen Erkennungsmerk-malen politischer<br />

Gesinnungsethik in dem konturlosen und abgefeimten Allerlei politischer "Kultur". Aber die<br />

überwältigende Mehrheit der Franzosen ist diese beherzte Form dauerhaften Aufbegehrens fremd.<br />

Geht es doch um die Versorgungslage der Nation, die nun einmal ganz oben in der Werteskala<br />

rangiert. In Frank-reich bringt es selbst die großspurigste Atompolitik, welcher Regierung in Paris<br />

auch immer, nicht fertig, so zu provozieren, dass die alten ideologischen Klassengegensätze<br />

ausgehebelt würden und sich eine Protestbewegung bildete.<br />

Während sich in Berlin die Stromversorger und Politiker von SPD und Grünen zumindest<br />

zeitweilig konsensfähig um Gedanken über den "Einstieg in den Ausstieg" mühten, gar eine<br />

Verlängerung der Laufzeiten bestehender Kernkraftwerke pauschal ablehnten, gibt es in der<br />

französischen Sprache nicht einmal eine Entsprechung für das bedeutungsschwere Wort<br />

"Ausstieg". In Paris jedenfalls werden solche Gedankenspiele von vornherein abwegig genannt.<br />

Statt dessen soll bis spätestens zur Jahrtausendwende die Vision Wirklichkeit und der "Reaktor der<br />

Zukunft" REP 2000 einsatzbereit sein, technologisch ausgereifter, noch sicherer, heißt es. EDF-<br />

Generaldirektor Jean Bergougnoux sprach sogar von einem "erheblichen Bedarf" neuer<br />

Kernkraftwerke, mit denen er das Land überziehen beabsichtige. Selbst die Möglichkeit, dass ein<br />

Reaktorkern schmelzen könne, wird nunmehr öffentlich ins Kalkül einbezogen, aber nur um<br />

Angst-schwellen stückchenweise weiter abzubauen. Eine aberwitzige Eventualität, die früher stets<br />

kategorisch ausgeschlossen worden war.<br />

583


In Frankreich regt sich allein deshalb kein auffälliger Protest. Und die deutschen<br />

Stromkonzerne sind mit Beteiligungen samt Investitionen munter dabei - vorsichtshalber und für<br />

den Fall, dass die Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke jäh enden, Braunkohle wie erneuerbare<br />

Energie für eine Exportnation immer noch kein Ersatz darstellen. Allein im Jahre 1991 steckte<br />

Frankreich knapp 140 Milliarden Euro in seine Atom-kraft. Zu Beginn des achtziger Jahrzehnts<br />

beanspruchte der Reaktorbau ein Fünftel aller französischen Investitionen. Und die Strompreise<br />

sind nicht nur die weitaus günstigsten in Europa, sie fielen auch zudem noch um zehn Prozent,<br />

"weil wir", so frohlockte es aus der EDF-Zentrale in Paris, "konsequent auf die absolut modernste<br />

Technologie gesetzt haben".<br />

Irgendwie ist das gigantische Atomprogramm Frankreichs schon ein wenig der Stoff, aus<br />

dem einst die Träume von Armeegenerälen und Atomgläubigern gebastelt wurden. Schließlich sind<br />

die EDF-Herren des Brennstoffkreislaufes allesamt Absolventen französischer Eliteschulen, die<br />

Kaderschmieden für den Staat und dessen Rückgrat. Für die meisten ist die École Polytechnique,<br />

die renommierteste der französischen Grandes Écoles, lediglich eine Art Vorschule. Bis ins Jahr<br />

1975 blieb diese bekannteste Ingenieurschule Frankreichs ausnahmslos Männern vorbehalten.<br />

Frauen mit noch so exzellenten mathematischen oder naturwissenschaftlichen<br />

Eingangsqualifikationen wurde der Zugang verwehrt. Allmählich nun rücken die ersten<br />

ausgebildeten Frauen in Spitzen-Positionen nach. Immerhin belegen mittlerweile etwas weniger <strong>als</strong><br />

ein Drittel Studentinnen jene begehrten Plätze an den Grandes Écoles. Nach erfolgreichem<br />

Abschluss steht nochm<strong>als</strong> eine dreijährige Zusatz-Ausbildung an der École de Mines bevor.<br />

Unter diesen Bedingungen versteht es sich von selbst, dass Frauen in französischen<br />

Kernkraftwerken in verantwortlicher Position eigentlich nicht vorgesehen waren. Und das in einem<br />

Land, in dem weit über 43 Prozent aller Frauen voll berufstätig sind, in dem es -anders <strong>als</strong> in<br />

Deutschland - ausreichend Krippen- und Kindergartenplätze - vor allem durchgängig<br />

Ganztagsschulen gibt. Verständlich, dass für 80 Prozent aller Französinnen ein Leben ohne Beruf<br />

undenkbar ist und ihr Einstieg in klassische Männer-Domänen <strong>als</strong> die wichtigste Veränderung in<br />

den vergangenen zwanzig Jahren beurteilt wird. Verständlich auch, dass sich gar 82 Prozent ein<br />

Leben ohne festen Partner vorstellen können. Es entzog sich dem männlich zugeschnittenen<br />

Anforderungsprofil des EDF-Mangements noch Anfang der achtziger Jahre, dass jem<strong>als</strong> Frauen <strong>als</strong><br />

Ingenieur-innen, Physikerinnen, Chemikerinnen oder Mathematikerinnen Atomkraft-Kader führen<br />

können. Allenfalls schien denkbar, den Damen die Verantwortung für die sonnig muntermachende<br />

Gelb- und Blautönung der labyrinthischen Korridore der Kernkraftwerke zu übertragen.<br />

Das weiträumige Kasino des Kernkraftwerkes Le Bugey: Draußen wachen Kühltürme,<br />

drinnen Palmen. Mittagszeit. Nur ein flüchtiger Blick in den Speisesaal für Führungskräfte verrät<br />

schon, dass sich in Frankreich in den letzten fünf Jahren mehr verändert hat <strong>als</strong> in den 25 Jahren<br />

zuvor. Die Frauen sind da. Ausnahmslos an allen Tischen essen, diskutieren, gestikulieren, feixen<br />

und rumoren Frankreichs jüngste Atom-Managerinnen. "Unvorstellbar war diese vitale Frauen-<br />

Präsens in unseren Kernkraftwerken noch vor einigen Jahren. Jetzt ist sie aber längst eine von uns<br />

Männern ausgesuchte Realität", bemerkt EDF-Direktor Albert Leconte. Dabei lacht er schelmisch,<br />

<strong>als</strong> seien les Dames de l'atome soeben gerade von einem anderen Planeten gekommen.<br />

Mit den Frauen zog zunächst ein psychosozialer Klimawechsel in die einstige französische<br />

Männer-Trutzburg Kernkraft und Nuklearforschung ein, deren langfristige Folgewirkung qualitativ<br />

noch gar nicht auszumachen ist. Immerhin arbeiten nunmehr über 3.000 Frauen in<br />

Kernkraftwerken (14 Prozent) und an die 5.000 Frauen in der Nuklearforschung (24 Prozent) - <strong>als</strong><br />

584


Wissenschaftlerinnen in Führungsetagen versteht sich. Insgesamt verfügt das Land über ein<br />

Potenzial von 27.000 Ingenieurinnen.<br />

Die Ingenieurin Isabelle Taillois-Galbano meint: "Auch wenn wir es mit viel Mühe<br />

geschafft haben, hier im Kernkraftwerk zu arbeiten, so sind doch in erster Linie Frauen in unserem<br />

Denken, Fühlen und Handeln. Unser Frausein verträgt nun einmal schlecht diese unbegründete<br />

Männer-Herrschaft aus der Steinzeit, dieses undurchsichtige Cocorico-Getue. Partnerschaft,<br />

Transparenz und Einfühlungsvermögen sind gefragt denn je. Solange wir Frauen in der Minderheit<br />

sind, werden wir von diesen Machos nur halbwegs geduldet. Aber dieses Mann-Verhalten bricht<br />

ein. Mal sehen, was dann auf uns zukommt."<br />

Ihre Alltagswirklichkeit ist bestimmt von steriler Abgeschiedenheit und der Kälte der<br />

Apparate mit all den peinlich genauen Sicherheitsauflagen. Dort, wo Gefühle belächelt,<br />

Hoffnungen begraben, der Leidensdruck umgeleitet und Enttäuschungen standhaft genommen<br />

werden. Klinisch-rein hat das Seelenleben der Kernkraft-Frauen ohnehin zu sein. Tagsüber am<br />

Reaktor, abends in der Freizeit in den von der EDF nur für Mitarbeiter gebauten Wohnsiedlungen.<br />

"Einmal EDF - immer EDF, auch privat EDF", murmelt die 31jährige Murielle Vivier-Bessard. "Ja,<br />

ja richtig, auch mein Vater war schon bei der EDF", fährt sie süffisant fort.<br />

Das Leben der Murielle Vivier-Bessard scheint in gewisser Weise symptomatisch für den<br />

französischen Frauen-Aufbruch zu sein. In ihrem Arbeitszimmer türmen sich hohe Papierberge auf<br />

ihrem Schreibtisch. Und irgendwo blickt da ein Bubikopf mit großen hellen Augen in auffälliger<br />

Hab-Acht-Stellung heraus. Ihre äußeren Merkmale wollen so gar nicht zum französischen Schick<br />

passen: Pulli und Jeans, ziemlich schüchtern schaut sie drein, latente Berührungsängste.<br />

Wenn sie oder ihre Kolleginnen von den Männern sprechen - und das müssen sie allzu oft<br />

tun - so heißt es nur lapidar: "Ceux d'en haut"- "die da oben" -<strong>als</strong> Synonym für den Mann, <strong>als</strong><br />

Kürzel für die Männer-Welt in den Kernkraftwerken an den Kommandozentralen versteht sich -<br />

noch. Seit einem Jahr leitet Murielle Vivier-Bessard die Abteilung Buchhaltung des<br />

Kernkraftwerkes, <strong>als</strong> Chef-Buchhalterin mit 30 Mitarbeitern. Sie verdient etwa 2.500 Euro<br />

monatlich.<br />

Als die Angestellte zum ersten Mal ins Werk kam, befand sie: "Angst vor der<br />

französischen Atomtechnik habe ich nicht, sondern durch Wissen begründetes Vertrauen.<br />

Dennoch muss ich einen hohen Preis für mein berufliches Fortkommen zahlen. Aber ich will - und<br />

zwar bar." Gerade erst hatte Murielle Vivier-Bessard in Clermont-Ferrand geheiratet. Um der<br />

Karriere willen ließ sie ihren Mann, einen Bankangestellten, zurück. Und dieser kann in Le Bugey<br />

und Umgebung trotz emsiger Anstrengungen keine Anstellung finden."Also wird er wohl<br />

langfristig einfach so kommen", mutmaßt Murielle, "<strong>als</strong> Hausmann, warum denn eigentlich nicht.<br />

Die Männer sind doch sowieso in einer gesellschaftlichen Krise, suchen verbissen nach einer neuen<br />

Identität." Aber noch ist es nicht selbstverständlich, dass Frauen in leitenden Positionen akzeptiert<br />

werden. -Immer wieder fragen ich mich stereotyp die Herren, wie viele Kinder ich denn schon zu<br />

Hause hätte, wenn es Sachprobleme zu erörtern gilt. Quasi <strong>als</strong> Qualifikationsnachweis für meinen<br />

Job im Kernkraftwerk. Es ist nervig und beschämend zugleich. Dabei wollen wir mit diesen<br />

Männern zusammen-arbeiten. Wir sind hier keine militanten Feministinnen. Nur sie müssen<br />

endlich in ihrem Verhalten begreifen, dass wir nicht die Püppis der Nation sind."<br />

Isabelle, die zugehört hat, signalisiert Einvernehmen. Isabelle Taillois-Galbano ist<br />

Ingenieurin in Le Bugey, für die Einstellung von Technikern verantwortlich. Sie ist eine eloquente<br />

Frau von 33 Jahren, Mutter dreier Kinder und eine mathematisch-physikalisch versierte<br />

585


Wissenschaftlerin, die die von Männern kalkulierten Leistungskriterien voll und ganz erfüllt. Sie<br />

könnte es durch ihre Qualifikation, das weiß jeder im Werk, mit all den Herren leicht aufnehmen,<br />

wenn man doch nur ließe. Vielleicht wird Isabelle ja die zweite Frau Frankreichs, die ein<br />

Kernkraftwerk leitet. Es hätte ihr schon gefallen, die erste gewesen zu sein. Bekanntlich wurde es<br />

ihre Kollegin Martine Griffon-Foucault in Le Blayais, die sie aus der gemeinsamen Studienzeit in<br />

Paris kennt und schätzt.<br />

Frankreich feierte dam<strong>als</strong> mit großer Presse die erste Chefin eines Kernkraftwerkes, seine<br />

Madame Martine, überschwänglich <strong>als</strong> nahezu auferstandene Jeanne d'Arc der Neuzeit, mit<br />

wehenden blonden Haaren vor dem Reaktor, im Segelboot, zu Pferd und auch kuschelig an der Bar<br />

- ganz im Stil: So verführerisch kann Atomspaltung sein. Isabelle Taillois: "Würdelos war das für<br />

uns Frauen in den Kernkraftwerken alle. Als hätten unsere strengen Anforderungen in<br />

Wissenschaft, Technik samt Sicherheit etwas mit illustrer, voyeuristischer Erotik zu tun."<br />

Und was passiert nicht alles in diesen Jahrzehnten in Frankreichs sicher gewähnten<br />

Atommeilern. Für Männer sind es noch routinegeübte Petitessen. Für die Frauen hingegen sind es<br />

alarmierende Vorkommnisse, die sie nicht mehr ruhen lassen. Ihre Alarmglocken schrillen, sagen<br />

sie, beruhigen sie, versichern sie. Aber - hier im Atomkraftwerk - wachen sie über ein Leben, das<br />

ihnen sind schon fortwährende bedenkliche Ausnahmesituationen genehmigt hat - und das in<br />

einem schleichenden Gewöhnungsprozess, der sich da Alltag nennen darf.<br />

Explosion im Atomreaktor. Bei einer Natriumexplosion im südfranzösischen<br />

Atemforschungszentrum Cadarache kam ein Arbeiter ums Leben, vier wurden verletzt. Nach<br />

Angaben der Präfektur des Départements Bouches-du-Rhône geschah das Unglück bei Arbeiten<br />

zum Abbau eines vor zwölf Jahren stillgelegten Versuchsreaktors. Die Explosion ereignete sich<br />

gegen 19 Uhr im Trakt des ehemaligen Reaktors "Rapsodie", eines Prototyps für den Schnellen<br />

Brüter. In Kraftwerken dieses Typs, die mehr radioaktiven Brennstoff erzeugen, <strong>als</strong> sie<br />

verbrauchen, wird das Kühlmittel Natrium eingesetzt, das bei der Berührung mit Sauerstoff in die<br />

Luft geht.<br />

Erdstöße erschüttern das südfranzösische Atomforschungszentrum Cadarche. Zu<br />

Testzwecken haben Nuklearexperten einen Mini-Gau gezündet. Immer wieder er-schüttern<br />

neuerdings Erdstöße die Fundamente der Anlage. In den letzten vier Monaten bebte der Boden<br />

insgesamt 40mal. Seither gab die Erdkruste unter dem 50 Kilometer nordöstlich von Marseille<br />

gelegenen 1.625 Hektar großen Areal keine Ruhe mehr.<br />

Anderenorts sind Haarrisse am Deckel des Reaktordruckbehälters entdeckt worden: am<br />

Stutzen des Reaktordeckels der Kernkraftwerke Fessenheim und Le Bugey; Grund für den Defekt<br />

sei Korrosion des Materi<strong>als</strong>, sagt man, die durch Temperaturen bis zu 300 Grad nach rund 50.000<br />

Betriebsstunden entstanden sei. Angesichts tiefreichender Materialfehler an der Naht-stelle<br />

zwischen Sekundär- und Primärkreislauf mussten mehrere Röhren ausgewechselt werden. Beim<br />

Hoch-drucktest des Primärkreislaufes im Block 3 des Kernkraftwerkes Le Bugey trat ein Liter<br />

Wasser pro Stunde aus dem Deckel des Reaktordruckgefäßes aus.<br />

Als es in Tschernobyl krachte, an die 70.000 Menschen starben und Millionen von<br />

Menschen radioaktiv verseucht wurden, da erinnerte sich die Ingenieurin an ihre ersten Angst-<br />

Zustände in der Kindheit. Vage Erinnerungen schienen plötzlich wieder erlebbar. Kennedy wurde<br />

1963 in Dallas ermordet. Isabelle Taillois war dam<strong>als</strong> drei Jahre <strong>als</strong>. Die Familie hörte seinerzeit<br />

Radio. Für sie <strong>als</strong> Dreißigjährige ging dam<strong>als</strong> die Welt unter. Beim Atomkraft-Desaster von<br />

Tschernobyl dachte sie nur: "Diese blöden Russen." Zu Mittag aß sie weiter unbesorgt ihren<br />

586


Kopfsalat. Angeblich hatten sich die radioaktiven Wolken nicht über den Rhein nach Frankreich<br />

gewagt.<br />

587


588


1994<br />

Gekämpft, gesiegt, vergessen – französische Widerstandskämpferinnen<br />

Bordellkultur von einst – Drangsal mit der Prostitution<br />

Fremdenlegion: „Alles ist besser <strong>als</strong> die Heimat“<br />

Mademoiselle chante les blues – Patricia Kaas<br />

Air France-Pilotin - „Sei schön und halte den Mund“<br />

589


GEKÄMPFT, GESIEGT - VERGESSEN, VERSTORBEN<br />

Tausende von Französinnen waren aktiv im Widerstand gegen deutsche<br />

Besatzungsmacht. Fünfzig Jahre nach Kriegsende erinnern sich nur wenige an die<br />

weibliche Résistance. Dabei war der Sieg niem<strong>als</strong> männlich, sagt die 89jährige Jeanne<br />

Moirod (*1905+1997) aus Oyonnax an der Schweizer Grenze. Sie haben gekämpft,<br />

geschossen, Bomben gelegt, wurden verhaftet, vergewaltigt - von der Gestapo gefoltert.<br />

Tagesspiegel, Berlin vom 12. November 1994<br />

Die Schlachten von einst wurden aus aktuellem Anlass nochm<strong>als</strong> geschlagen: nunmehr<br />

gemächlichen Schrittes von ergrauten Herren. Frankreich zelebriert die fünfzigjährige Gedenkfeier<br />

der Befreiung und Selbstbefreiung von deutscher Nazi-Herrschaft.<br />

Frankreich erinnert sich gern seiner Wiederauferstehung <strong>als</strong> "Grande Nation", die jene<br />

dunklen Jahre auch der französischen Kollaboration mit dem nation<strong>als</strong>ozialistischen Deutschland<br />

vergessen machen soll. Kein anderes Land durchlebt Schmach und Ohnmacht der Besatzungszeit<br />

mit seinem Vichy-Regime erneut mit solch selbstquälerischer Genauigkeit wie Frankreich inmitten<br />

der neunziger Jahre. In Deutschland mag die Nachkriegs-Ära zu Ende gehen - im Nachbarland<br />

Frankreich hingegen scheint die Aufarbeitung jener Schreckensjahre erst begonnen zu haben.<br />

Das pittoresk anmutende Industriestädtchen Oyonnax mit seinen 23.000 Einwohnern<br />

liegt im Dickicht des Jura-Gebirges im Südosten der Republik. Hier im unzulänglichen Buschwald<br />

dieser Region Haut Jura pulsierte einst die Hauptader des französischen Widerstands.<br />

Heute ziehen - wie dam<strong>als</strong> im Jahr 1943 - ehemalige bewaffnete Widerstandskämpfer<br />

demonstrativ durch dieselben verwinkelten Gassen auf den Platz zur alten Post um ihren Toten zu<br />

gedenken. Seinerzeit waren auch kämpfende Frauen dabei. Mittlerweile - nach 50 Jahren - sind die<br />

Französinnen der Résistance scheinbar spurlos von der Bildfläche verschwunden. Kaum jemand in<br />

der französischen Öffentlichkeit kann sich noch fünf Jahrzehnte danach daran entsinnen, dass<br />

gerade "les femmes résistantes" das eigentliche Rückgrat jener Befreiungsfeldzüge waren. Ohne die<br />

Zehntausende von Frauen <strong>als</strong> Waffenbeschafferinnen, Verbindungsagentinnen oder auch <strong>als</strong><br />

kämpfende Kameradinnen einer Sabotagegruppe - die Republik könnte militärischen<br />

Eigenleistungen der Libération wohl kaum für sich beanspruchen. Ein Ergebnis, das Frankreich<br />

politisch einen gebührenden Platz unter den Siegermächten der Nachkriegs-Ära einräumte.<br />

Die Frauen im Widerstand, sie haben gekämpft, geschossen, Bomben gelegt, sie wurden<br />

verhaftet, vergewaltigt, <strong>als</strong> Informationsträgerinnen von der Gestapo besonders grausam gefoltert.<br />

Und sie wurden allenthalben vergessen. Gerade diese Französinnen aber haben mit den Männern<br />

obsiegt. Zu Kriegsbeginn gehörten allein 600.000 Französinnen dem Komitee der Frauen gegen<br />

den Faschismus an. Unter den dreitausend Agenten, der gaullistischen Alliance waren 700 Frauen.<br />

Und im Konzentrationslager Ravensbrück bekannten sich drei Viertel der 7.000 internierten<br />

Französinnen zur Résistance.<br />

In einem schmucken Häuschen in der Rue Diderot zu Oyonnax treffen sich neuerdings<br />

ältere Damen regelmäßig zu einem Kaffeekränzchen bei "unserer Jeanne", wie sie sagen. Alltäglich<br />

war der Widerstand französischer Frauen, unspektakulär allemal. Sie heißen Pépette, Lisette oder<br />

auch Andrée. Sie sind zwischen 70 und 90 Jahre alt. Unterschiedlich ist ihre Herkunft, gegensätzlich<br />

sind ihre politischen Anschauungen. Die 89jährige Jeanne war Zeit ihres Lebens<br />

Trotzkistin, die 71jährige Andrée freundete sich nach dem Kriege mit den Gaullisten an. Aber eines<br />

590


verbindet die Damen an der Kuchentafel - ihr gemeinsam erlebter, durchlittener Kampf gegen<br />

deutsche Besatzer - und das in der Résistance.<br />

Tatsächlich war es auch ein intensives Gefecht gegen die traditionell zementierte<br />

Frauenrolle, eine Art emanzipatorischer Ausbruch aus ihrem umzäunten Hausfrauen-Dasein -<br />

zeitweilig zumindest. Im Widerstand wurde für manche Französin ein Quäntchen ihrer Vision<br />

Wirklichkeit: das eigene Leben selbstständig zu verändern, in Frankreich auch "Kulturevolution"<br />

genannt. Bei der Résistance gab es folglich keine Dienstgrade.<br />

Es war gemeinsam mit den Männern erlebte Gleichberechtigung in dieser Ausnahme-<br />

Epoche. Ihre Résistance-Kollegin Lucie Aubrac (*1912+2007) sprach sogar euphorisch von der<br />

"tiefen und radikalen Bewusstseinsentwicklung durch den Widerstand - auch "von einer neuen<br />

Frau", die aus der Résistance entstanden sei. Mithin sind es Frauen-Kriegserlebnisse früherer Jahre,<br />

die die Damen entscheidend prägten; Geschehnisse, die des Gesprächs noch bedürfen -<br />

augenblicklich scheinbar vergilbte Ereignisse, die die Résistance-Frauen in ihrer Tiefenschärfe nicht<br />

ruhen lassen.<br />

In Wirklichkeit offenbart sich die Kuchentafel bei Jeanne zudem <strong>als</strong> ein femininer<br />

Daseins-Verbund. - Eine Frauen-Gemeinschaft alter Damen, die noch fortwährend nach<br />

Deutungen dafür sucht, warum nach dem Kriege Frankreichs Männer-Macht die Frauen erneut an<br />

die gesellschaftliche Peripherie verbannte. Dabei dürfte sich eigentlich die 89jährige Jeanne Moirod<br />

kaum beklagen. Zählt sie doch zu den seltenen Frauen der Republik, die nach 1945 die "Medaille<br />

der Résistance" (1.024 Männer und sechs Frauen), gar die "Medaille des Militärs" bekam. Dessen<br />

ungeachtet ist es vielleicht gerade die hochdekorierte Frau, die das allseitige Männer-Gebaren<br />

beargwöhnt. "Egoisten sind sie. Dieser Sieg war niem<strong>als</strong> männlich, auch wenn sie jetzt eigene<br />

Herren-Gruppen gründen und in den Städten marschierend posaunen. Die Frauen waren und sind<br />

einfach viel zu bescheiden."<br />

Rückblende: Über sechs Millionen Menschen waren im Jahre 1940 auf der Flucht.<br />

Hauptsächlich Mütter mit ihren Kindern schleppten sich durch das Land, organisierten ihr<br />

Überleben. Zwei Millionen Männer waren in Gefangenschaft. Und die Deutschen bauten<br />

zusehends immer mehr Lager zu Festungen aus. Aus Frankreich war unversehens ein Land der<br />

Frauen geworden - im Jura die Jahre der Jeanne. Immer nachts, von der Gestapo unbemerkt,<br />

schlich die dam<strong>als</strong> 30jährige Hilfsarbeiterin einer Glasfabrik in die unwegsamen Jura-Berge - jedes<br />

Mal 30 bis 40 Kilometer, schlecht beschuht, schlecht ernährt, nur mit einer Pistole <strong>als</strong><br />

Wegbegleiter. Den Bäcker, den Fleischer, den Pfarrer und auch den Lehrer hatte die Gestapo<br />

allesamt "wegen Beihilfe zur Sabotage" schon standrechtlich erschossen. Nun lastete auf Jeanne<br />

allein die Verantwortung, unbewohnte Berghütten <strong>als</strong> Versteck ausfindig zu machen - und vor<br />

allem, die Kameraden dort auch unbemerkt hinzubringen.<br />

Und es kamen immer mehr Männer, die sich dem französischen Widerstand anschlossen.<br />

- Vielleicht einfach auch deshalb, weil sie sich nicht zum Arbeitsdienst nach Deutschland<br />

deportieren lassen wollten. Ihr Haus im Ort war unversehens zur Drehscheibe der Résistance im<br />

Jura geworden. Hier wurden Untergrund-Zeitungen hektographiert, hier liefen konspirative<br />

Adressen zusammen, wurden Schlupfwinkel für Menschen und Waffen ausgesucht. Es war Jeannes<br />

Haus – ein Haus in Frauen-Regie.<br />

Jeanne sagt: "Wir hatten nicht einmal Zeit, unsere Toten zu beweinen - so sehr stockte der<br />

Atem in uns." Gleich nach dem Krieg mit dem vielen zerstörten, niedergebrannten Gemäuer, <strong>als</strong><br />

die Not unerträglich daherkam, es keine Wohnungen, kaum Essbares in unseren Kellerverstecken<br />

591


gab, krempelte Jeanne <strong>als</strong> Vize-Bürgermeisterin von Oyonnax wieder die Ärmel hoch, um die<br />

Knappheit zu lindern - vom Widerstand im Gebirge zu den Trümmern in den Städten. "Richtig zur<br />

Besinnung", ergänzt ihre Kollegin Pépette, "sind wir erst im hohen Alter gekommen. Erst jetzt<br />

fragen wir uns immer ängstlicher, welch ein Glück wir doch an unserer Seite hatten, so heil davon<br />

gekommen zu sein."<br />

"Im Widerstand", äußert Andrée, "sind wir andere Frauen geworden. Und dieses<br />

Anderssein haben wir uns bis heute bewahrt." Mit einem dezenten Fingerzeig deutet Madame<br />

Andrée auf das Nachbarhaus. Dort lebt noch eine Familie, deren Eltern beherzt in der<br />

Kollaboration ihr Auskommen suchten. Es sind Wunden, die in Frankreich nicht vernarben<br />

wollen; wenigstens in dieser Generation nicht mehr. Folglich ist es für die Frauen ein "Ding der<br />

Unmöglichkeit", dass etwa Kinder oder Enkel in eine Kollaborationsfamilie einheiraten. Auch<br />

käme niemand auf diese absonderliche Idee, weil sie inzwischen alle hinlänglich wissen, "wie wir<br />

gelitten haben, welche Schmerzen es zu ertragen galt". - Vergangenheitsbewältigung auf<br />

Französisch<br />

Nach dem Kriege wurden 127.000 Kollaborationsverfahren eingeleitet, 80.000<br />

Gerichtsurteile gesprochen; darunter 6.800 Todesstrafen verhängt, von denen 1.500 vollstreckt<br />

worden sind.<br />

Es waren entwürdigende Frauen-Bilder, die um die Welt gingen, die sich vor allem ins<br />

deutsche Gedächtnis eingruben: kahl geschorene Französinnen, die sich mit der Gestapo oder auch<br />

Soldaten der Wehrmacht eingelassen hatten. Die alte Dame weint. Ihr Vater wurde von Franzosen<br />

verraten, ist erschossen worden. Die Tochter Andrée blieb allein zurück mit ihren zwei kleinen<br />

Brüdern. Für beide hatte sie zu sorgen und ihre Freizeit hieß - Widerstand.<br />

Verständlich, dass Résistance-Gruppen zu einer Art Familien-Ersatz gediehen; eben zu<br />

einer eingeschworenen Solidargemeinschaft. Es blieb den eigenen Kindern vorbehalten, Tabus<br />

anzutasten. Nämlich jene sorgsam gehüteten Vorbehalte im Umgang mit den Deutschen. Als<br />

Jeannes erst 16jährige Nichte Pierrette mit einem Schüleraustausch Deutschland besuchen wollte,<br />

war Jeannes spontane Reaktion: "Du bist wohl verrückt geworden. Solange ich lebe, fährst du nie<br />

in dieses Land, merke dir das!" - Das Mädchen antwortete: "Aber du selber warst es, die mir immer<br />

sagte, wir müssen zwischen dem normalen Deutschen und den Gräueltaten der Nazis<br />

unterscheiden. Das macht unsere Lehrerin im Geschichtsunterricht schließlich auch." In diesem<br />

Moment erschrak Jeanne darüber, wie sie unbedacht alte Feindbilder auf die junge Generation<br />

übertrug, unvermittelt weitergab. Und sie antwortete knapp: "Das stimmt schon. Vieles hat sich<br />

geändert gehe hin." Zwischenzeitlich ist Nichte Pierrette mit einem Deutschen aus Frankfurt<br />

verheiratet. Wenn Jeanne in Widerstandskreisen über Pierrette und ihren Mann Erich spricht, liegt<br />

ihr häufig ein Hinweis auf der Zunge - <strong>als</strong> Rechtfertigung sozusagen: "Er war nicht beim Militär<br />

und ist nämlich ein netter Schoko-Bäcker."<br />

Triste November-Tage auf Frankreichs Friedhöfen, auch Soldaten-Friedhöfen. Gedenk-<br />

Momente. Fanfarenstöße vielerorts. Jedes Jahr zum 11. November -gesetzlicher Feiertag des<br />

Waffenstillstandes im Ersten Weltkrieg - besuchen die betagten Widerstandsfrauen wie Jeanne<br />

noch die Grabstätten ihrer im Kriege verlorenen Großväter, Väter und Söhne. Im vergangenen<br />

Jahr fuhren sie erstm<strong>als</strong> auch nach Dagneux - zur deutschen Begräbnisstätte, die östlich von Lyon<br />

liegt. Hier fanden 20.000 Gefallene aus beiden Weltkriegen ihre letzte Ruhe. Die Frauen vom<br />

Widerstand aus Oyonnax gedachten der Toten beider Länder.<br />

592


Nur mit einem können und wollen sich viele alte Damen der französischen Résistance<br />

nicht abfinden. Als am 14. Juli 1994 erstm<strong>als</strong> wieder deutsche Truppen im Rahmen des Eurocorps<br />

auf den Champs Elysées mit marschierten, da wurden traumatische Erinnerungen wach. Da haben<br />

so manche kurzerhand den Fernseher abgeschaltet. "Sicherlich", sagt Jeanne, "Deutschland und<br />

Frankreich sind endlich Partner geworden - vergessen können wir aber nicht."<br />

593


DRANGSAL MIT DER PROSTITUTION<br />

Die einst weltberühmte Bordellkultur früherer Jahrzehnte ist in Frankreich längst<br />

passé. Vielmehr gelten spätestens seit 2003 drakonische Strafgesetze, die Prostitution,<br />

Zuhälterei und Frauenhandel aus fernen Ländern <strong>als</strong> einen Akt "gegen die<br />

Menschenwürde" mit Geldbußen, gar Gefängnis ahnden. Aus dem Straßenbild sind<br />

Liebesdamen ganz verschwunden, nachdem Freier wie Prostituierte wegen des<br />

Straftatbestands des "sexuellen Exhibitionismus" vor Gericht gestellt wurden. Lediglich in<br />

sündhaft teuren "night clubs" großer Städte bieten Frauen - <strong>als</strong> Gäste getarnt - ihre Ware<br />

Sex diskret an. Nur im Untergrund wuchert weiterhin das kriminelle Geschäft mit<br />

"käuflicher Liebe" - nach dem "Ehrenkodex" einer Sekte.<br />

Frankfurter Rundschau 28. Mai 1994<br />

Vor der schmuddeligen kleinen Bar Américan auf dem Boulevard de la Pomme Nummer<br />

35 zu Marseille parken an diesem Wochenende ausnahmslos schnelle Flitzer: Hochkarätige<br />

Limousinen, wohl keine unter 80.000 Euro zu haben. Das will etwas heißen in dieser Hafenstadt, in<br />

der über hunderttausend Menschen unterhalb der Armutsgrenze dahinvegetieren. Erst recht<br />

bedeutet diese Parade von Zuhälter-Karossen etwas zu einer Zeit, in der das angrenzende<br />

Opernviertel, früher einmal Hochburg der Prostitution, vor sich hinzu schlummern scheint -<br />

vordergründig zumindest.<br />

Was die Polizei über all die Jahrzehnte nicht vermochte, schaffte offenkundig die<br />

Immunseuche Aids. Frankreich ist das HIV-Land Nummer eins in Europa. Laut Statistik zählt die<br />

Republik knapp 26.000 Aidskranke, darunter 4.100 Frauen. Wie ausgestorben wirken Bars oder<br />

Spielhöllen.<br />

Friedlich vereint sitzen Marseilles "Macs" (Zuhälter) nun in der an geschmuddelten Bar<br />

auf dem Boulevard de la Pomme. An einem Tisch die arabischen Herren-Repräsentanz mit einem<br />

Glas Pfefferminztee und ihrem Tric-Trac-Spiel. Am anderen Tisch die französischen Luden beim<br />

Pastis samt Karten-Allerlei. Nur ihre hin und her geworfenen Code-Wörter signalisieren, dass die<br />

Prostitution in Frankreich - und damit in ganz Westeuropa - unter einer wohlgeordneten<br />

Oberfläche eine neue Dimension erreicht hat: auch "Sklavinnen-Kartell" genannt. Von der<br />

"Chandelle" (Frau, die auf der Straße steht), über eine "caravelle" (auf dem Flughafen), eine<br />

"entrainneuse" (an der Bar), "Amazone" (am Steuer), über Bestellung von "de la chair fraîche"<br />

(Frischfleisch) bis zur "Serveuse Montante" (im Hotelzimmer) kreist einsilbig jenes<br />

Sprachrepertoire aus ihrer Arbeitswelt.<br />

Noch nie in diesem Jahrhundert schnellte der Frauenhandel derart in Rekordhöhe, noch<br />

nie wurden Tausende von Frauen so international lückenlos durchorganisiert, verschleppt,<br />

geschlagen, misshandelt - <strong>als</strong> Freiwild zur Prostitution abgerichtet. Die Männer verwalten ihre<br />

Frauenstäbe von Amsterdam bis Paris, von Barcelona bis Berlin, von Mailand bis Moskau, von<br />

Frankfurt bis Budapest und lassen die Prostituierten oft im Zehn-Tage-Rhythmus von einer Stadt<br />

in die nächste rotieren. In ihrem Metier funktioniert der europäische Binnenmarkt jedenfalls schon<br />

reibungslos.<br />

Offiziell geben sich die Zuhälter dieser Tage <strong>als</strong> ehrenwerte Besitzer von Bars wie<br />

Nachtklubs aus. Die Wachstumsbranche Ware Frau gebiert Menschenhändler, die sich in ihrem<br />

Anforderungsprofil kaum von dem Einkäufer eines Großunternehmens unterscheiden mögen. Der<br />

594


Marktpreis für junge Frauen beläuft sich derweil um die 5.000 Euro. Und überhaupt - wer sich<br />

heute in Frankreich "goldene Hoden verdienen" will ("se faire des couilles en or") passt sich in<br />

seinem Gebaren in die Attitüden eines kapitalen auf Arbeitsplätze bedachten gesellschaftlichen<br />

Umfelds nahtlos ein. Wer will denn schon etwas gegen seriös firmierende Reiseveranstalter, gar<br />

Künstlervermittler sagen, die junge Ballettgruppen aus Russland oder Gabun zu ihren<br />

"Inszenierungen" an die Côte d'Azur verfrachten? Auftritte, die nur zwei Schauplätze kennen: das<br />

Hotelbett, wenn es gut geht; ganz sicher aber die Liege im Transporter am Straßenrand.<br />

Marseilles Zuhälter zocken natürlich nicht grundlos in der Bar Américan auf dem<br />

Boulevard de la Pomme. Einen "Gefahrenherd", wie sie es nennen, gilt es zu beobachten. Auf der<br />

anderen Straßenseite liegt ein Anwesen, das ihnen die sicher gewähnte Erwerbsquelle zu nehmen<br />

scheint. Es ist das größte der landesweit fünfzehn Trutzburgen für Frankreichs Frauen, die sich<br />

von der Prostitution befreien, die aussteigen wollen. Eben ein "Schutzbunker für Huren" (Camp de<br />

retranchement pour les putes), wie er im Volksmund genannt wird. Und es werden immer mehr<br />

der offiziell etwa 200.000 Prostituierten der Republik, die in die Obhut der katholischen Kirche<br />

flüchten -notgedrungen sozusagen.<br />

Immer wieder ist es derselbe Grund, den die Frauen angeben, wenn er ihnen nicht schon<br />

ersichtlich ins Gesicht geprügelt wurde. Männergewalt und nochm<strong>als</strong> Zuhältergewalt. Zwei Drittel<br />

der Prostituierten Frankreichs mussten sich im Hospital schon ambulant behandeln lassen.<br />

Spätestens seit dem gesetzlichen Verbot der Irma-LaDouce-Romantik in den Stundenhotels Mitte<br />

der siebziger Jahre gehören Fausthiebe zum gewöhnlichen Tagesverlauf. Zuhälter haben es halt<br />

schwerer, die Gelder von ihren Opfern an unübersichtlichen Ausfallstraßen einzutreiben.<br />

Prostitution ist in Frankreich zwar seit jeher vom Staat erlaubt, doch nur von Frauen, die<br />

sich offiziell registrieren lassen, sich wöchentlich einer ärztlichen Kontrolle unterziehen und ihren<br />

gültigen Gesundheitspass auf dem Straßenstrich bei sich haben. Bordelle, wie in Deutschland<br />

üblich, mussten in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg schließen. Offiziell hat der Staat schon<br />

seit Jahrzehnten der Zuhälterei den Kampf angesagt. Auf der Strecke bleiben Frankreichs<br />

Prostituierte, die sich in einem Zwei-Fronten-Krieg befinden; auf der einen Seite Zuhälter, auf der<br />

anderen Polizisten - meist ebenfalls Männer. Außer der Gendarmerie - nur für Festnahmen<br />

zuständig kümmert sich kaum jemand um misshandelte Frauen. Auch in den Sozialämtern ist die<br />

Hilfe eher kümmerlich. In Marseille stapeln sich in dieser Behörde hinter den Schreibtischen Kisten<br />

voller Kondome, die an viele Frauen aus dem Gewerbe im Sechserpack samt Sozialhilfe- Scheck<br />

(etwa 400 Euro monatlich ) verteilt werden. "Sonst", urteilt Referatsleiterin Bernadette Fichard,<br />

"verwalten wir nur noch den Notstand; besser gesagt eine Erosion. Denn geholfen wird uns von<br />

dieser Regierung nicht. Es fehlt an Geld, Gebäuden und Personal. Tatsächlich sind es<br />

Berührungsängste dieser Herren -wenigstens tagsüber."<br />

An diesem Nachmittag liefert die Polizei die 23jährige Ninou im Schutzbunker ab. In<br />

ihren guten Tagen stand sie am Boulevard Michelet. Zu jener Zeit absolvierte Ninou noch eine<br />

Ausbildung zur Drogistin und ging nur in den Abendstunden gelegentlich auf den Strich. Als die<br />

Drogerie unverhofft Konkurs anmeldete, fand Ninou - wie so viele junge Mädchen in Frankreich -<br />

keine Lehrstelle mehr. Die Prostitution wurde ihr Broterwerb. Schon zwei Mal hatten die<br />

Zivilfahnder Ninou gestellt - dam<strong>als</strong> in ihren besseren Tagen. Seinerzeit beklagten sich Anwohner,<br />

weil sie vor ihren Wohnungen auf Kondomen ausgerutscht waren. Wegen "öffentlichen<br />

Ärgernisses" bekamen Ninou und ihre Kollegin Sylvie seinerzeit eine Ordnungsstrafe von 500<br />

Euro. Seither war Ninou auf dem Boulevard Michelet nicht mehr gesehen worden. An diesem<br />

Freitagnachmittag stoßen die Zivilfahnder auf der Straße nach Cassis auf ein bekanntes Gesicht,<br />

595


das am Wegesrand nach Kundschaft Ausschau hält. Es ist Ninou. Ein Gesicht voller Blutergüsse,<br />

aufgeschlagene Lippen - die Frau ist zum Anschaffen geprügelt worden. Täglich muss sie 200 Euro<br />

abgeben. Auch wenn solche Frauen verzweifelt sind - eine Grundregel aus dem Mac-Milieu haben<br />

sie verinnerlicht: Unterwerfung, Gehorsam und Schweigen sind selbstverständlich. Frankreichs<br />

Massen-Zuhälterei funktioniert nach dem Kodex einer Sekte.<br />

Nun <strong>als</strong>o bringt die Zivilstreife Ninou in den Schutzbunker am Boulevard de la Pomme.<br />

Dort sitzt sie dann Christian Metterau gegenüber, dem Leiter des Empfangs- und<br />

Orientierungskomitees "Le Nid". So nennt sich diese schon in den vierziger Jahren gegründete<br />

katholische Hilfsorganisation des Paters Talvas, einem Arbeiterpriester, der sich zur Lebensaufgabe<br />

gemacht hatte, Prostituierten zu helfen. "Nicht predigen, sondern sehen, zuhören, urteilen,<br />

handeln, von den Bedürfnissen der Prostituierten ausgehen", war die Devise des Paters. Als eine<br />

der Ursachen für die Prostitution in seinem Land sieht der Pater die Tatsache, "dass Staat und<br />

Kirche sich im katholischen Frankreich seit Jahrhunderten nicht einig geworden sind, der Frau eine<br />

gleichberechtigte Rolle in der Gesellschaft zuzuweisen. Schon das französische Gesetz betrachtet<br />

die männliche Begierde <strong>als</strong> normal und notwendig. Das weibliche Angebot hingegen <strong>als</strong> unzüchtig<br />

und unehrlich. Ganz im Sinne der vorherrschenden Meinung in der Kirche, wonach nun einmal die<br />

Frau der Ursprung des Sündenfalls ist."<br />

Und die Prostituierten kamen zu ihrem Pater. Vornehmlich in der Nachkriegszeit, <strong>als</strong> viele<br />

Frauen Witwen waren, <strong>als</strong> das Geld und die Lebensmittel fehlten. Doch jetzt, in den neunziger<br />

Jahren, steigt der Anteil der Hilfe suchenden Liebesdienerinnen wieder an. Bedrückt sitzt Christian<br />

Metterau mit Ninou im Empfangsraum. Der 44jährige Diakon weiß nicht mehr, wo er die junge<br />

Frau noch unterbringen soll. Wegschicken kann er sie nach seinem Selbstverständnis auch nicht.<br />

Erst in der vergangenen Woche nahm er nervlich erschöpfte Prostituierte aus den armen Ländern<br />

Afrikas auf, vor allem aus Ghana. Einst ließen sie sich vom "Mythos Côte d'Azur" anlocken oder<br />

zum Broterwerb verschleppen. Jetzt wurden sie von ihren Zuhältern wegen "Überalterung"<br />

ausrangiert.<br />

Ninou, die im kahlen Aufnahmesaal kaum ein Wort herausbringt, fürchtet abgewiesen zu<br />

werden, aberm<strong>als</strong> für ihren Zuhälter an den Ausfallstraßen zu Marseille marschieren zu müssen.<br />

"Wir sind schon lange in einer krassen Ausnahmesituation", verdeutlicht Christian Metterau, "nur<br />

keiner will das Elend des Nutten-Daseins in seiner Tragweite wirklich wahrhaben. Vom Staat<br />

bekommen wir keinen Cent, viele Helferinnen arbeiten hier noch rund um die Uhr unentgeltlich.<br />

Und unsere fünfzehn Häuser in ganz Frankreich sind brechend voll. Etwa zwei Drittel der Frauen<br />

wollen raus aus der Prostitution -wenn sie nur können."<br />

Immerhin beherbergte Le Nid landesweit in den letzten zehn Jahren etwa 15.000 Frauen,<br />

die den Absprung suchten. Seit fünf Jahren hilft Christean Metterau. Aber wohl keiner weiß besser<br />

<strong>als</strong> er, dass es für den Problemfall Prostitution keine Standardlösungen gibt. Er sagt: "Hier wird am<br />

deutlichsten, welch eine psychische Macht Zuhälter über diese Frauen bis hin zu ihrer<br />

Unterwerfung haben." Manche Frauen betteln am Morgen um Aufnahme - am nächsten Tag gegen<br />

Abend sind sie schon wieder verschwunden - gesichtet an ihrem Arbeitsplatz auf dem Strich. Dabei<br />

hatte sie keiner in ihrem Versteck dazu gezwungen oder gar an ihren "Mac" verraten. Sie waren es<br />

selber, die den "Freund" anriefen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, wollten sie doch<br />

"nur" in Erfahrung bringen, ob sie vermisst, gebraucht werden. Sie sehnen sich nach einem<br />

Liebesbeweis.<br />

Schon ein kurzer Blick in die sogenannten Le-Nid-Personalakten der Außenseiter-Frauen<br />

zu<br />

596<br />

Marseille liefert einen seismografischen Teilausschnitt gesellschaftlicher


Zustandsbeschreibungen dieser Jahre. Marie-Louise, 30 Jahre alt, Heimkind, selbst Mutter von zwei<br />

Söhnen, vom Vater auf den Strich geschickt, <strong>als</strong> sie fünfzehn war, Brandnarben im Gesicht,<br />

Alkoholikerin, ohne Berufsausbildung, vor dem Zuhälter, "Kater Drago" genannt, geflohen, seit<br />

vier Monaten im Heim. Seelischer Zustand: Wechselbäder zwischen Depressionen und<br />

Übertreibungen. Oder Yvonne, 23 Jahre alt, in Algier geboren, mit 18 von einem nordafrikanischen<br />

Zuhälterring nach Marseille verschleppt, suchte mit anderen Frauen aus Tunesien und Marokko<br />

Männer auf Schiffen im Hafen auf. Berufsausbildung: Schneiderin, seit sechs Monaten in Marseille.<br />

Psychischer Befund: Kontaktgestört, spricht nicht. Oder Carla, 18 Jahre alt, aus dem<br />

Erziehungsheim in Toulon wegen Missbrauchs durch Sozialarbeiter geflohen, an der Côte d'Azur<br />

in Hotels zunächst <strong>als</strong> Zimmermädchen, dann <strong>als</strong> Callgirl, Tätowierungen an Beinen <strong>als</strong><br />

Erkennungsmarke, Krankenhausaufenthalt wegen gebrochener Rippen, von der Polizei gebracht,<br />

möchte zu ihrem Zuhälter zurück, seit drei Wochen hier, Analphabetin, Zustand: rebellisch,<br />

Prognose: Rückfall.<br />

Besonders jüngere Frauen betrachten ihren Aufenthalt im Schutzbunker lediglich <strong>als</strong> eine<br />

Zwischenstation, <strong>als</strong> eine Art Erholungspause, bevor sie sich wieder in den Straßen verdingen.<br />

Meist sind sie von der Polizei oder auch von den Sozialämtern gebracht worden. Auffallend hoch<br />

ist die Analphabetenquote unter dem Nutten-Nachwuchs. Laut Aktenauskunft sind 18 Prozent<br />

dieser Frauen des Lebens und Schreibens unkundig.<br />

Die Mehrzahl der misshandelten Frauen ist froh, einen Zufluchtsort gefunden zu haben.<br />

Ein Refugium, in das sie ohne Papiere und ohne Arbeitserlaubnis aufgenommen werden, das ihnen<br />

Schutz bietet - vielleicht auch einen Neuanfang ermöglicht. Ob bei handwerklichen<br />

Gruppenarbeiten, Kochkursen oder auch bei Alphabetisierungsunterricht - fast jeden Abend<br />

kreisen die Gespräche immer wieder um die gleichen Themen: Wie kann ich der Prostitution<br />

entkommen, wie schaffe ich es, mein Auskommen anderweitig zu finden, gelingt es, wieder<br />

Kontakte zu meiner Familie zu finden?<br />

Die Uhr am Eingang des Schutzbunkers zu Marseille zeigt auf Mitternacht. Es klingelt an<br />

der Haustür, eine Frau bittet um Einlass. Die Außenbeleuchtung macht jede Erklärung überflüssig:<br />

Die eine Gesichtshälfte der Frau ist stark angeschwollen. Helferin Danielle, die Nachtdienst hat,<br />

winkt die Frau stumm herein. Als sie im Sanitätsraum feuchte Umschläge zur Schmerzlinderung<br />

vorbereitet, murmelt sie: "Hier ist das Hauptschlachtfeld des Frauenkampfes."<br />

597


FRANKREICHS FREMDENLEGION - ALLES IST BESSER ALS<br />

DIE HEIMAT<br />

Armee ohne Nachwuchsprobleme - 8.500 Männer aus 120 Ländern - Frankreichs<br />

fremde Söhne<br />

Bonner General-Anzeiger vom 23. April 1994<br />

Von Ferne betrachtet, könnte das ockerfarbene Gebäude in der Rue d'Ostende in<br />

Straßburg ein Generalkonsulat sein. Eine mit Stacheldraht versehene zweieinhalb Meter hohe<br />

Mauer schützt die französischen Beamten vor unliebsamen Überraschungen. Tagsüber bilden sich<br />

hier zwischen altehrwürdigen Kastanienbäumen kleine Menschentrauben. Wortfetzen in<br />

verschiedensten Sprachen fliegen hin und her. Alle warten. Alle sind ungeduldig.<br />

Ein Nationalitäten-Gemisch aus Polen, Ungarn, Russen, Engländern, Deutschen wie auch<br />

Schweizern harrt in Reih und Glied der Dinge. Keine Familien, keine älteren Menschen. Es sind<br />

Bubengesichter, kaum älter <strong>als</strong> 18 Jahre alt; Übernächtigte, die sich in Straßburgs Rue d'Ostende<br />

ihres Einlasses vergewissern. Gelangweilte, Orientierungslose, Gescheiterte, aber auch Idealisten<br />

und Romantiker treibt es dort hin.<br />

Sie alle wähnen sich auf der Flucht, verlassen ihre Heimatländer - meist nur mit einer<br />

kleinen Reisetasche; fast immer, ohne sich zu verabschieden. Auch wenn sich diese Jugendlichen<br />

untereinander allenfalls meist nur mit gestikulierenden Händen verständigen können, so hat sie<br />

doch meist eines hierher geführt: Sie waren arbeitslos, manche auch ohne je gearbeitet zu haben;<br />

andere sind gar kriminell geworden.<br />

Suche nach Akzeptanz, nach Nähe, Hoffnung auf einen Sinn im Leben, auf dem Weg in<br />

neue, noch unbekannte Länder - das eint sie. Nur ein kleines Hinweisschild verrät, wohin der<br />

Exodus geht: Légion ètrangère - auch Frankreichs Söldnertruppe genannt. Stunde um Stunde<br />

haben die Neuankömmlinge auf ein kunterbuntes Soldaten-Plakat am Portal zu starren, das einen<br />

radikalen Lebenseinschnitt signalisieren soll.<br />

Kinn gereckt, den Kopf unterm legendären weißen Képi kahl geschoren. Unterarme wie<br />

Keulen, Epauletten rot-grün. Augen stramm gen Sanddünen, Meer und blauen Himmel gerichtet:<br />

Im Schulungsraum der Legionärs-Kaserne zwischen museumsreifen Maschinengewehren mit der<br />

französischen Fahne an der Wand inspiziert Major Olivier Souville, Kommandant des<br />

Rekrutierungsbüros gnadenlos die Neuankömmlinge. Und es werden Mitte der neunziger Jahre<br />

immer mehr, die ihren Rettungsring zur Söldner-Truppe auswerfen.<br />

Nach offiziellen Angaben sollen es allein im vergangenen Jahr mehr <strong>als</strong> 10.000 gewesen<br />

sein - davon kamen allein zwei Drittel der Bewerber aus den früheren Ostblock-Staaten.<br />

Unerwartete Zuläufe zur Fremdenlegion waren und sind seit eh und je en Reflex auf politische und<br />

wirtschaftliche Krisen, Zusammenbrüche, erlittene Kriege. "Veränderungen auf der ganzen Welt<br />

wirken sich ganz direkt auf die innere, soziale wie psychologische Verfassung und natürlich auch<br />

auf die Kampfkraft der Legion aus", urteilt ihr Pressesprecher René Tomatis.<br />

Spanische Kommunisten suchten nach ihrem gegen Franco verlorenen Bürgerkrieg Mitte<br />

der dreißiger Jahren Zuflucht bei der Legion. Nach dem Zweiten Weltkrieg heuerten hochrangige<br />

SS-Chargen an, um sich so unter anderem Namen der deutschen Strafverfolgung zu entziehen.<br />

598


Ob nach dem Ungarn-Aufstand 1956, nach dem Prager Frühling 1968 oder nunmehr<br />

nach dem Offenbarungseid der Warschauer-Pakt-Staaten - es sind vor allem ausgemusterte<br />

polnische, russische und ehemalige DDR-Soldaten der Nationalen Volksarmee, die jetzt <strong>als</strong> Söldner<br />

für Frankreich kämpfen.<br />

Knappe 8.500 Mann aus 120 Ländern beherbergt die Legion. Jährlich kommen<br />

durchschnittlich 1.500 Neu-Legionäre mit Fünf-Jahres-Verträgen dazu. "Wenn wir wollten",<br />

befindet Lieutnant-Colonel Richard Pau vom Hauptquartier aus Aubagne, "könnten wir ohne<br />

großes Aufsehen eine 100.000-Mann-Eingreif-Truppe aller Sprachen, aller Rassen auf die Beine<br />

stellen. Nur das ist eine politische Entscheidung und die wird in Paris getroffen.<br />

Nachwuchsprobleme kennen wir jedenfalls nicht." Denn zu den Vertrags-Kämpfern aus fernen<br />

Ländern stoßen noch ein Drittel französische Elite-Soldaten. Es sind Absolventen der<br />

Offizierskriegsschule Saint-Cyr. Sie bilden das Rückgrat der Interventionstruppe.<br />

Vorbei sind jedenfalls die Zeiten, in denen sich junge Männer in billigen Spelunken von<br />

Legionärs-Anwerbern mit Prostituieren im Gefolge betrunken machen ließen, sich im Vollrausch<br />

für die Légion verpflichteten - und anschließend in der Kaserne wieder aufwachten. Heute werden<br />

vier von fünf Bewerbern wieder nach Hause geschickt - oft zurück in die Strafverfolgung, fast<br />

immer in die Arbeitslosigkeit.<br />

Passé sind jene romantisch untermalten Legenden von Legionären auf Kamelen vor dem<br />

Würstenfort Siddi bel Abbès. Aus den Legionären sind in den neunziger Jahren hoch qualifizierte<br />

Spezialisten geworden. Ihr Fachgebiet heißt Krieg. Und wenn es den nicht zu führen gilt, bauen sie<br />

Straßen durch den Dschungel von Guayana, observieren Frankreichs Atom-Atoll in der Südsee<br />

oder im Raumfahrtzentrum von Kourou. Überall dort verdienen die Legionäre das Doppelte ihres<br />

ursprünglichen Gehalts; etwa 1.000 Euro bei freier Kost und Logis.<br />

Routinegeübt ist in Straßburgs Rekrutierungskaserne Majors Souvilles Röntgenblick:<br />

Bedrohlich korrekt sitzt die Uniform des Kommandanten. Sie ist Ausdruck einer über Jahrzehnte<br />

versteckte Selbstgewissheit, noch vor den amerikanischen Ledernacken <strong>als</strong> die härteste, brut<strong>als</strong>te<br />

Truppe überhaupt zu gelten. Letztendlich ist es die Bindungslosigkeit der Söldner, wohl aber auch<br />

ein Stück brachialer Zuneigung, die in der Legion belobigt werden. Ganz im Sinne von Colonel<br />

Boileau, der <strong>als</strong> Kommandeur des 6. Sturmpionierregiments seinen pädagogischen Auftrag<br />

umschrieb: "Natürlich wird der Legionär zum bedingungslosen Sterben erzogen." - "Nur steuerbar<br />

muss das alles sein", bedeutet der Rekrutierungs-Major und wendet sich seinen Jungs zu. "Tiens,<br />

voilà du boudin" (ran an die Blutwurst), posaunt Monsieur Souville an diesem Morgen zum<br />

wiederholten Male. Kaum einer versteht's. Noch nicht. Aber die Jugendlichen nicken wissbegierig.<br />

Wie bei einer Pferdeversteigerung lässt sich der Major die Zähne zeigen, Muskeln wie<br />

Brustkorbumfang vorführen. Nach wie vor ist der Körper wichtiger <strong>als</strong> der Kopf. Eineinhalb<br />

Dioptrien zu viel sind schlimmer <strong>als</strong> der niedrigste Intelligenzquotient. Sodann entlässt der<br />

Inspizient die Jugendlichen mit einem Zitat. Der ehemalige Befehlshaber der französischen<br />

Truppen in Algerien General Georges Cartoux, sagte über seine Söldner: "Sie jammern nicht, sie<br />

haben keine schwangeren Ehefrauen und keine im Sterben liegende Mutter. Sie stehen für keine<br />

Sache und für keine Idee. Kein General in der Welt kann sich eine bessere Truppe wünschen <strong>als</strong><br />

diesen heimatlosen Haufen ohne Vaterland."<br />

Ob Ledernacken, Stalinschüler oder die Leibstandarte Adolf Hitler - allesamt benötigten<br />

sie Führer, Volk, Partei oder Vaterland, um in den Abgrund zu rennen. Heute hingegen braucht<br />

etwa die französische Fremdenlegion lediglich 17 Millionen arbeitslose Menschen in Europa <strong>als</strong><br />

599


Korsettstange, um sich auch ohne Fahneneid zu erneuern. In der Legion kurz "Frischblutzufuhr"<br />

genannt.<br />

In einer Zeit atemloser weltweiter Kleinkriege, ob am Golf, in Kambodscha, dem<br />

ehemaligen Jugoslawien oder auch in Angola und Somalia, will sich die Fremdenlegion <strong>als</strong> häufig<br />

eingesetzter UN-Ordnungsfaktor - die schnellste französische Eingreiftruppe schlechthin - keine<br />

unangenehmen Beurteilungen mehr gefallen lassen. Genugtuung ist gefragt. Und das mythisch<br />

eingehauchte Selbstwertgefühl dieser Tage bei Frankreichs Legionären versteckt sich nicht mehr<br />

hinter vergilbten militärischen Ritualen.<br />

Ihr Lieutenant-Colonel Richard Pau vom Hauptquartier im südfranzösischen Aubagne<br />

frohlockt: "Gerade die Golfkrise und die Ohnmacht auf dem Balkan offenbaren doch, wie wichtig<br />

es ist, eine Truppe zu haben, die auf Pfiff hin bereit ist, in ein Krisengebiet geschickt zu werden.<br />

Viele Nationen beneiden uns heute um unsere Légion étrangère."<br />

Szenenwechsel. Durch das Offizierskasino im Château, einem Herrenhaus aus dem 18.<br />

Jahrhundert, sind Floskeln zu hören. "Mon capitaine ..., respect mon colonel ..." Benimm wie<br />

Bewegung lassen im Hauptquartier in Aubagne keinen Zweifel aufkommen, dass hier noch<br />

Männer-Rituale aus längst verstaubter Kolonialzeit ungeahnt fortleben. Auf dem Kasernenvorplatz<br />

prunkt eine weiß gefleckte Weltkugel in Bronze. Jeder helle Punkt signalisiert: hier kämpfte schon<br />

die Legion - klimaerprobt, weltweit. Natürlich gilt es, diese Weltkugel zu bewachen, natürlich findet<br />

hier der Aufmarsch einer Ehrenkompanie weißer Képis statt. Trommelwirbel, Fanfaren, würdiges<br />

Daherschreiten mit exakt 76 Schritten in der Minute, Hand auf der Brust, die Mareillaise <strong>als</strong><br />

Begleitmusik - alles im Zeitlupentempo.<br />

Nicht wie vom Bronze-Ball auf dem Appellplatz steht seit etwa einer Stunde der<br />

frischgebackene Legionär Ernst Hasinger aus Bochum in voller Montur stramm. Hinter ihm rankt<br />

in großen Lettern auf einem Sockel geschrieben: "Legia Patria Nostra" - Die Legion ist unser<br />

Vaterland. Seit einer Stunde ist von ihm fortwährend nur ein Satz zu hören: "Je suis un âne" (Ich<br />

bin ein Esel). Strafexerzieren für ein liederlich gemachtes Bett.<br />

Wie 60 Prozent seiner Kameraden, so hat auch er sich nach französischem Gesetz einen<br />

anderen Namen zulegt. "Bochum", stammelt der frisch gekürte Legionär aus Deutschland auf<br />

einmal in seinem Ruhrpott-Französisch, "da will ich nie wieder hin. Da wird viel gequatscht und<br />

wenig getan."<br />

"Mein Vater", fährt der Legionär Ernst fort, "ist schon seit Jahren arbeitslos, er rennt nur<br />

noch in die Kneipe und zum Taubenschießen. Mutter schuftet für einen Billig-lohn beim Kaufhof<br />

in der Wurstwarenabteilung, abends bügelt sie unsere Hemden. Und ich habe mich zwei Jahre<br />

vergeblich um eine Berufsausbildung bemüht und schließlich vor Langeweile Spielautomaten<br />

geknackt. In eine Jungarbeiterklasse für Hilfsarbeiter wollten die mich stecken. Nullbock - weg war<br />

ich zur Fremdenlegion. Jetzt will ich Franzose werden. Dies wollen meine Kameraden aus Cottbus<br />

und Rostock auch."<br />

In Frankreich wurden ihm erst einmal die Haare kurzgeschoren. Bei jedem Ungehorsam<br />

hagelt es ohnehin einen Glatzkopf. Und bei der Legion rennen viele kahlrasierte Zeitgenossen im<br />

Laufschritt über den Hof. Über vier Monate wurde Ernst und die Kameraden auf einem isolierten<br />

Campus in der Nähe der Kleinstadt Castelnaudry so hart im Nahkampf "geschliffen" und <strong>als</strong><br />

Scharfschütze "abgerichtet", dass jeder Dritte vor Ende des Drills abmusterte. Befund:<br />

dienstuntauglich geworden auf einem der zahllosen 50-Kilometer-Gewaltmärsche.<br />

600


Immerhin hat Ernst den Legionärs-Grundschliff überstanden und darf zur Belohnung<br />

nun auch das Képi blanc tragen. Nur unruhig ist er geworden. Deshalb lassen ihn ja seine<br />

Vorgesetzten über eine Stunde strammstehen und "Esellaute" von sich geben. Derweil laufen im<br />

Kommunikations-Video-Zentrum des Hauptquartiers wieder brandneue Kriegsfilme von den<br />

Kämpfen aus Sarajevo über die Bildschirme.<br />

Ernst weiß das, weil er die Drehungen der Parabolanlagen häufig verfolgen kann. Als<br />

aktuelle wie logistische Informationen sind sie sehr wichtig für die Legion, falls Frankreichs Söldner<br />

doch den Marschbefehl zu einer Intervention bekommen sollten. Keine 24 Stunden könnten sie<br />

dort sein. Vertragssoldat Hasinger sagt: "Eigentlich müssten wir dort mit dem Bajonette<br />

aufräumen. Und uns nicht dafür entschuldigen, wenn wir vergewaltigten Frauen in dieser Kälte<br />

Brot und Decken geben. Auch unsere Jungs gehen drauf - und es ändert sich nichts."<br />

Aber freilich noch lieber würde Ernst <strong>als</strong> Frankreichs neuer Legionär in der Südsee Wache<br />

schieben - "wegen der Bezahlung, des Klimas und der schönen Frauen."<br />

601


PATRICIA KAAS - MADEMOISELLE CHANTE LE BLUES<br />

Lothringen, Lolita uns Lili Marleen lassen grüßen. Patricia Kaas kam <strong>als</strong><br />

„Aschenputtel“ aus ärmlichen Verhältnissen ins Pariser Glitzer-Milieu. Erinnerungen an<br />

legendäre Chanson-Epochen um Edith Piaf, Juliette Gréco wurden wach. Mit ihrem<br />

Debüt-Album "Mademoiselle chante le blues" schaffte das Arbeiterkind von der<br />

französisch-deutschen Grenze im Jahre 1988 den Durchbruch. Seither ist sie mit ihrer<br />

vitalen Bühnenpräsenz Frankreichs erfolgreichste Sängerin - ein Mythos in jungen Jahren.<br />

Dabei gehört das klassische Chanson kaum zum Repertoire, dafür Popmusik und Jazz.<br />

Zum Aufstieg, Erfolg, Reichtum gesellten sich für Patricia Kaas Einsamkeit.<br />

Zerbrechlichkeit. Selbstzweifel. Identitätskrisen.<br />

Leipziger Volkszeitung vom 21. Februar 1994<br />

Da steht sie nun auf einer Bühne in der Provinz, im gleißenden Scheinwerferlicht <strong>als</strong><br />

Femme fatale, die den Blues hinhaucht, <strong>als</strong> sei's ein Liebesschwur. Zerbrechlich sieht Patricia Kaas<br />

aus, knabenhaft wirkt sie im hautengen schwarzen Mini, scheu schaut sie aus ihrem spitzen,<br />

aschfahlen Porzellan-Puppen-Gesicht, wenn da nur nicht ihre verruchte Stimme von gewaltigem<br />

Format wäre. Zurück von einer Welttournee in Moskau, Tokio, Kanada und in den USA - die<br />

französische Heimat hat sie wieder. Und Frankreichs Provinz, schon seit Jahren auf der Suche nach<br />

einer Bühnenattraktion, weiß das gebührend zu würdigen.<br />

Verständlich, dass vor derlei Auftritten Dezenz verpönt, zaghafter Zweifel an Kaas und<br />

Karriere schnippisch belächelt wird. Spätestens seit dem Auftritt der Patricia Kaas in den heiligen<br />

Hallen des Pariser "Olympia" Ende der achtziger Jahre gilt sie <strong>als</strong> "chanteuse extraordinaire" - eben<br />

<strong>als</strong> gefeierter Superstar.<br />

Dabei ist die die Geschichte der Kaas die anheimelnde Lebensskizze eines französischen<br />

Aschenputtels dieser Jahre. Sie ist aus dem Stoff, aus dem amerikanische Filmregisseure ihre<br />

Tellerwäscherstreifen auf dem Weg nach ganz oben basteln. Patricia - ein verarmtes Arbeiterkind<br />

aus einer kinderreichen Bergmannsfamilie, groß geworden im Kohlenstaub, Auftritte in Bierzelten<br />

und zweitklassigen Schuppen, in denen sie über Jahre gegen feuchtfröhliche Lärmwogen<br />

anzusingen hatte. Und Mutters Teddybär von dam<strong>als</strong> ist auch heute allabendlich mit dabei.<br />

Einstweilen "begnügt" sich Patricia Kaas damit, sich <strong>als</strong> Erneuerin des französischen<br />

Chansons feiern, liebkosen, umjubeln zu lassen. In kürzester Zeit schaffte sie den Durchbruch.<br />

Weltweit verkaufte sie von ihrem Debütalbum, "Mademoiselle chant le blues", mehr <strong>als</strong> 15<br />

Millionen Tonträger. Ihren größten Erfolg in Deutschland und der Schweiz verbuchte die Kaas im<br />

Jahre 1993 mit ihrem Lied Je te dis vous. Es wurde 550.00 Mal verkauft. Sie ist damit die erste<br />

französische Sängerin, der im deutsch-sprachigen Raum solch ein bemerkenswerter Erfolg gelang.<br />

Intuitiv kennt das Phänomen Kais drei Zielgruppen. Für den einen weckt sie die Mutterinstinkte,<br />

bei den anderen die Beschützerseele und beim Dritten Lolita-Fantasien.<br />

Überall sind Musikhallen wie Pavillons überfüllt. Überall gilt es, Sehnsüchte nach dem<br />

scheinbar schon vergessenen französischen Chanson einzufordern, wieder wach zu küssen. Und<br />

alle kommen sie kunterbunt - die Papas, Omis, Mütter, Töchter, aber auch die Rocker von nebenan<br />

und die Träumer aus den Vorstädten. Kein Zweifel: Diese knabenhaft wirkende junge Frau zählt zu<br />

der Riege französischer Künstler, die auf der Basis des französischen Chansons eine eigene<br />

602


Liedform entwickelt haben. Da spielen Blueselemente ebenso hinein wie Rock- und<br />

Jazzinspirationen.<br />

Krisenzeiten sind seit jeher in Frankreich immer auch Zeiten des Chansons; ein wenig<br />

nostalgisch, ein wenig versonnen - aber immerfort vital. Das war in der Ära einer Edith Piaf<br />

(*1915+1963) und Juliette Gréco oder auch der Dichtersänger Georges Brassens (*1921+1981) ,<br />

Jacques Brel (*1929+1978) und Leo Ferré (*1916+1993) nicht anders. Denn zwischen den<br />

politischen Nachrichten und Chansons gibt es für den Franzosen eigentlich noch keinen großen<br />

Unterschied - noch nicht. "Zu allen Zeiten", urteilte der Impresario Jacques Canetti, "war das<br />

Chanson ein soziales und politisches Phänomen ersten Ranges. Es ist der treueste Spiegel der<br />

Volksstimmung."<br />

Die Menschen strömen in die Konzerte der Popchanson-Lady, weil da eine "von uns" auf<br />

der Bühne steht, weil die Kaas anders ist <strong>als</strong> die geklonten Glamourfiguren amerikanischer<br />

Tiefkühl-Erotik á la Madonna. Intensität mit Identität sind gefragter denn je in Frankreichs<br />

wirtschaftlich verwirrenden Krisenjahren, in denen täglich an die tausend Menschen in die<br />

Arbeitslosigkeit entlassen werden. Parallelen tun sich auf, werden sogleich arglos verklärt, zum<br />

Klischee verschlissen. Rückblende. Paris 1935. Edith Piaf ist gerade zwanzig Jahre alt. Meist mit<br />

einer Rose zwischen den Lippen, flaniert sie auf den Pariser Straßen. Nur eine kleine, verwinkelte<br />

Dachkammer gewährt ihr Unterschlupf. Mit Verve und seltener, zäher Lebenslust intoniert sie, nur<br />

von einem Banjo begleitet, auf den Boulevards ihre Chansons von "Les Amants", "Les toits de<br />

Paris" wie auch den "Legionär".<br />

Zu jener Zeit träumten Touristen im romantisch untermalten Saint-Germain-des-Prés<br />

noch von besinnlichen Stunden der Melancholie à la francaise. Und Edith singt, singt und singt -<br />

sie singt ums Überleben. Ihren ersten Vertrag bekam die Piaf von einem bordellähnlichen Cabaret<br />

in Pigalle. Natürlich gesellten sich die Männer des Nachts zu ihr; von P'tit Louis bis zum<br />

Muskelprotz aus der Unterwelt. Sie gab ihnen ihren Körper - nicht aber ihre Seele. Edith Piaf<br />

lachte darüber, bemerkte nur: "Das Leben wird immer nur aus Betten, bezahlten, auch unbezahlten<br />

bestehen. Ich muss aber singen, sonst verrecke ich." - Selbst dann noch, <strong>als</strong> Nazi-Deutschland Paris<br />

besetzte. - Lang ist es her.<br />

Wenn Patricia Kaas im eng anliegenden schwarzen Leder, in Seidenstrümpfen und<br />

Stiefelletten den Blues singt, dann tanzt sie ihn. Atemlose Stille begleitet sie, die Band schweigt, sie<br />

scheint mit dem Lied von "Lili Marleen" allein zu sein; ein bisschen lasziv, ein wenig kindlich,<br />

sorglos und treuherzig allemal. Und wenn sie Edith Piafs "La vie en rose" ins Mikrofon flüstert,<br />

sind die langen Jahre verflogen, die vergangen sind zwischen gestern und heute. Nonstop singt<br />

Patrica Kaas da fast zwei Stunden lang aus ganzen Leibeskräften. Sie zittert, bebt, schreit,<br />

kokettiert, animiert, ziert sich, mimt Lolita und den Vamp, die Klagende, den Clown, die<br />

Verletzende. Und mit ihrem Chanson "Je te dis vous" liefert sie sich in ihrer intimen<br />

Zerbrechlichkeit aus, will Abend für Abend die Erfahrung auf sich vereinen, wie viel Tiefe und wie<br />

viel Privatsphäre das Publikum von Mademoiselle Patricia zu vertragen noch bereit ist -<br />

Seelenstriptease genannt.<br />

Auch Deutschland, dieses große, für die Franzosen immer etwas unheimliche<br />

Nachbarland, ist an solchen Kaas-Abenden der französischen Provinz immer wenigstens zeitweise<br />

präsent. Nicht etwa deshalb, weil Patricia im lothringischen Stiring-Wendel fünfzig Meter von der<br />

deutschen Grenze aufwuchs und ihre Mutter eine Deutsche war. Es sind die Ereignisse in<br />

Deutschland: Die Brandschatzung an Asylanten-Herbergen und die Gewalt gegen ausländische<br />

Mitbürger. Es sind diese Nachrichten, die ihrem schon vergessen geglaubten Lied über dieses Land<br />

603


fortwährend eine unvermutete Aktualität geben. Und Patricia singt: "L'Allemagne, wo ich<br />

Kindheitserinnerungen von gegenüber habe. Leninplatz und Anatole France, l'Allemagne, wo die<br />

Vergangenheit eine Beleidigung ist und die Zukunft ein Abenteuer; wo ich die Einbahnstraße<br />

kenne, weiß, wo die Gewehre schlummern und wo die Nachsicht ihre Grenzen hat." -Betretenheit.<br />

Der Vorhang fällt. Seltsam knirscht es in solchen Momenten, wenn Patricia Kaas sich<br />

allein wähnt und sie sich nur mit ihrem Teddy in ihrer Sofaecke weiß. In sich ruhende Stille mochte<br />

sie bisher so gar nicht ertragen. Bewusst verausgabt hatte sie sich in den letzten beiden Jahren fast<br />

bis zur Besinnungslosigkeit - landauf, landab mit über 200 Konzerten vor 800.000 Zuschauern. In<br />

ihrer scheinbar selbstsicheren Unmittelbarkeit ließ sie keine Gelegenheit aus, sich selbst und ihren<br />

Zuhörern zu beweisen, dass mit ihr eine neue Zeit des Chansons angebrochen sei.<br />

Identitätsfragmente prallen da nunmehr offenkundig unversöhnlich aufeinander, die sie nach dieser<br />

Erfolgsära einen Ausweg herbeisehnen lassen. Sie sagt: "Freunde in meinem Alter habe ich sowieso<br />

keine gehabt. Dazu fehlte immer die Zeit. Ich hatte ja immer nur mit Menschen zu tun, die weitaus<br />

älter waren <strong>als</strong> ich." - Katerstimmung.<br />

Trist schaut der "kleine Diamant" (Alain Delon) drein. "Nein", befindet Patricia Kaas,<br />

"ich will ich selbst sein und nicht nur wegen meiner Stimme geliebt werden. Dabei hatte sie noch<br />

soeben den Geschlechterkampf auf Französisch leicht amüsiert in ihrem Lied "Hommes qui<br />

passent, Maman" (Männer, die vorüberziehen, Mama) auf die Bühne gebracht. Eben Männer <strong>als</strong><br />

flüchtige Gestalten, die sich mit gequältem Lächeln aus intensiven Begegnungen davonstehlen,<br />

"mecs", die über Liebe reden wie über Autos - alles austauschbar, alles käuflich. Und Frauen, die<br />

diesen Kindsköpfen verfallen sind, sich in Wirklichkeit aber in einem Netz der Solidarität ihrer<br />

Mütter, Freundinnen und Kolleginnen wiederfinden, "Nein", befindet Patricia Kaas da plötzlich,<br />

"ich will das Kleinmädchen-Image abschütteln. Ich brauche keine Lehrer, der mir sagt, 'du musst so<br />

oder so singen'. Ich brauche da nichts zu lernen - ich habe es. Bisher hatte ich gar keine Zeit, das<br />

alles richtig zu begreifen, was mit mir geschah." - Identitätsbrüche und ein erstarktes<br />

Selbstbewusstsein in Frankreichs Frauenjahren.<br />

Da war die Armut mit den sechs Geschwistern; die Mutter, die zum ersten Mal in ihrem<br />

Leben mit Tochter Patricia zum Vorsingen nach Paris fuhr und ihr immer wieder einflößte: "Du<br />

musst singen und kämpfen, mein Kind." So hockte sie schon <strong>als</strong> 13jährige vor dem<br />

Badezimmerspiegel , zog sich rote Lidschatten über ihre Samtkatzenaugen, das Gesicht<br />

überlebensgroß in der Nachaufnahme.<br />

Immer wieder übte die kleine Patricia die Dietrich-Pose, studierte die Lili Marleen ein, wie<br />

es die Mama ihr vorgemacht hatte. Da stand dieses junge Mädchen des Abends im Kneipenqualm<br />

ganz nah an den langen Tischen voller Maßkrüge und sah die aufgedunsenen Sorgenfalten - dort,<br />

wo die Kumpel Kohlenkrise wie Zechensterben wenigstens für ein paar Augenblicke vergessen,<br />

einfach runterspülen wollten. Wenn sie zu singen begann, wurde es plötzlich mucksmäuschenstill;<br />

so sehr füllte Patricias Stimme den Raum. Immerhin verdiente die dam<strong>als</strong> 13jährige auf diese Weise<br />

ihr erstes Geld. Zur Belohnung ging es für Mama und Patricia an die Côte d'Azur. "Das war das<br />

erste Mal, dass wir das Meer sahen, überhaupt Ferien machten. Wir waren nämlich arm, sehr arm",<br />

ergänzt dir mit dem ein gegerbten Stolz eines Arbeiterkindes.<br />

Paris war natürlich der Knotenpunkt der Kaas-Karriere. Mal <strong>als</strong> Kindweib, mal <strong>als</strong><br />

weiblicher Lausbub oder auch <strong>als</strong> vom Blues Gezeichnete und vom Rock Umgetriebene - mit<br />

diesem Repertoire suchte sie in der mondänen Pariser Glitzerwelt Nähe und Durchbruch. Da<br />

waren die Produzenten, die sie zunächst ins Bett ziehen, bevor sie ihr den Weg ins<br />

Aufnahmestudios zeigen wollten. Da waren abgegriffene Songschreiber, die ihr sinnentleerte, aber<br />

604


dollarträchtige Texte einredeten, mit denen sie dann sogar im Elysée Palais bei Staatspräsident<br />

Francois Mitterrand vorsingen durfte. Da war insgesamt ein abweisendes, erkaltetes Pariser<br />

Künstler-Milieu mit Gesichtern, die sie noch kurz zuvor auf der Mattscheibe bewundert hatte. Und<br />

da war ein Mann, der ihr mit seinem Macho-Gebaren zunächst Unbehagen einhauchte, sich aber<br />

<strong>als</strong> einfühlsamer Wegbegleiter in der subaltern-mondänen Pariser Glitzerwelt entpuppte - Gérard<br />

Depardieu. Er jedenfalls holte das lothringische Aschenputtel nach Paris und half ihr mit seiner<br />

Frau Elisabeth, einer Songtexterin, die erste Schallplatte "Jalouse" zu produzieren.<br />

Und heute? - Patricia Kaas sitzt in ihrer sechzig Quadratmeter großen Wohnung aus dem<br />

16. Jahrhundert im Pariser Saint Germain. Ein bisschen neureich, ein bisschen kindlich-verspielt<br />

schaut es da aus. Stuckverkleidete Räume, freiliegende Deckenbalken, ein Kamin, der die meist<br />

fröstelnde Patricia zu wärmen versteht. Und vielerorts harren Plüschtiere der Dinge, die da noch<br />

kommen mögen, "Ja, bemerkt sie, "die Teddys halten wenigstens noch zu mir. Seit meinem<br />

internationalen Durchbruch habe ich viele Freunde von früher verloren. Dieser Erfolg hat schon<br />

seinen Preis. Er hat mich ein bisschen einsam gemacht. Auch wenn ich neue, sympathische<br />

Menschen treffe, weiß man nie, ist es Patricia Kaas, die Sängerin, die sie ansprechen, oder bin ich<br />

wirklich ich, Patricia gemeint? Wenn man oben angekommen ist, wird die Luft dünn.<br />

Aus gutem Grund lässt Patrica Kaas im Zeitlupentempo via Video ihr Chanson-Leben<br />

passieren. Und sie erkennt vieles genau, hintergründig zudem. Längst, so will es scheinen, ist sie<br />

unbemerkt zu einem Mythos geworden.<br />

Nur mit sich selbst mag sie sich nicht identifizieren. Sie fragt sich, "wer bist du eigentlich,<br />

was willst du, wo sind deine Anliegen, deine durchlebten Erfahrungen?" Sie sagt: "Ich habe mir<br />

viele meiner Fernsehauftritte und -interviews angesehen. Nur könne ich mich in dem von mir<br />

inszenierten Bild überhaupt nicht wiederfinden. Dabei wusste ich doch, wovon ich reden wollte:<br />

von der Liebe, von der Freundschaft, von der Frau. Als ich jung war, sah man in mir nur die<br />

stimmbegabte Kleine. Ich war persönlich nie gemeint. Jetzt kämpfe ich <strong>als</strong> Frau um Akzeptanz.<br />

Früher hatte ich Angst, traute mich nicht, das zu sagen. Nun erst recht." - Selbstvertrauen.<br />

Es sind die Lieder einer vielleicht verhärteten jungen Frau in einer arg grau gewordenen<br />

internationalen Entertainment-Szene. Eben einer Patricia Kaas, die ihr Frausein allmählich<br />

akzeptiert, die sich immer mehr traut, sie selbst zu sein. Es sind die Chansons einer Grenzgängerin<br />

zwischen Deutschland und Frankreich. Aber auch einer Grenzgängerin, die erst in der Schule<br />

Französisch lernte, weil zu Hause deutsch gesprochen wurde - die nunmehr Englisch büffelt, gilt es<br />

mit neuen Produktionen <strong>als</strong>bald die USA zu erobern.<br />

An diesem Tag fliegt Patricia Kaas in ihre "Zukunft" - nach London zu Songmanager<br />

Robin Millar. Der weltweit agierende englische Musikkönig hatte ihr schon vorher bedeutet, dass<br />

sie einen Teil ihres französischen Publikums abschreiben müsse, wenn sie mit Englisch<br />

daherkomme. "Okay", sagt Patricia Kaas, "Freunde in Frankreich habe ich schon verloren, nun<br />

auch einen Teil der Fans." Nur eines vergaß Patricia Kaas nicht. Vor ihrem Abflug nach London<br />

unterschrieb sie geschwind noch einen Scheck in der gelangweilten Freundlichkeit einer Diva.<br />

Dieses Mal an ihren Bruder in Deutschland, der <strong>als</strong> Arbeiter sein Tagwerk versieht. Er hatte sie<br />

seinerzeit Abend für Abend für 50 Euro zu ihren Auftritten in das Saarbrücker Tanzlokal<br />

"Rumpelkammer" begleitet; <strong>als</strong> Aufpasser sozusagen, "weil die Patricia doch so zerbrechlich ist."<br />

Deshalb bleibt ihr Kinderzimmer im lothringischen Forbach für sie auch reserviert. "Man weiß ja<br />

nie, was kommt", sollen die Geschwister ihrer Jüngsten kürzlich gesagt haben.<br />

605


"SEI SCHÖN UND HALTE DEN MUND"<br />

Mannequins", sagt Francine Labarre. Mutter von zwei Kindern, in ihrem Cockpit<br />

vor dem Abflug von Paris nach Toulouse. So manche ihrer Kolleginnen hatten sich<br />

"sexuellen Belästigungen" zu erwehren. Air France ist zusammen mit der<br />

niederländischen KLM nach ihrem Umsatz die größte Fluggesellschaft der Welt. Nur<br />

Frauen <strong>als</strong> Flugzeugführerinnen - das war in Frankreichs Jet-Set-Männern ein Dorn im<br />

Auge. Bitterkalt war das Verhältnis zwischen Männer und Frauen. Geschlechterkrieg. Viele<br />

Pilotinnen ängstigten sich dem Abbau ihrer Rechte, vor Kündigungen. "Dieses neue<br />

Europa", so die Frauenrechtlerin Giséle Halimi, "wird kein Europa der Frauen sein."<br />

Recklinghäuser Zeitung vom 8. Januar 1994<br />

Der Wind weht vom Westen, es ist Freitag. An diesem Tag wird kaum noch etwas gehen<br />

auf Frankreichs Flughäfen. Streiks durchziehen das Land. Es sind die schwersten Arbeitskämpfe,<br />

die die französische Fluggesellschaft Air France seit ihrem 60jährigen Bestehen erlebt. Über<br />

zweitausend Arbeiter und Angestellte harren auf den Landebahnen der beiden Pariser Airports<br />

Charles de Gaulle und Orly der Dinge, die da kommen mögen. Angst um ihre Arbeitsplätze treibt<br />

sie zu diesem Schritt. Flüge werden zu Dutzenden annulliert.<br />

Mit vierstündiger Verzögerung schieben sich Passagiere des Air-Inter-Fluges 34902 von<br />

Lyon nach Toulouse die Gangway hoch. Im Cockpit der Mercure haben derweil Kapitän mit Co-<br />

Pilot samt Bordtechniker ihre Instrumenten-Überprüfung abgeschlossen. Wie meist vor dem<br />

Abflug, ist die Tür zum Cockpit offen, schauen die Passagiere flüchtig hinein. Nicht so der<br />

Bildhauer Jean-Claude Ramboz aus Bourg-en-Bresse. Als der 55jährige Mann im Cockpit nur<br />

Frauen vor den Apparaturen sitzen sieht, bricht der Unmut dieser Streiktage aus ihm heraus. "Was<br />

ist denn hier für eine Versammlung? Seit wann sitzen Stewardessen schon im Cockpit? fragt der<br />

Künstler frotzelnd. "Wir sind Pilotinnen und keine Mannequins, Monsieur", schleudert ihm<br />

Francine Labarre entgegen. "Ach ja, Pilotinnen", erwidert er scheinbar amüsiert, "wenn ich das hier<br />

so sehe, dann begreife ich, warum nicht nur Air France und Co., sondern ganz Frankreich mit<br />

diesen Frauen aus den Fugen gerät."<br />

Pilotinnen, die derlei Tiraden immer wieder mal ausgesetzt sind, wissen nur zu gut, dass es<br />

kalt geworden ist in Frankreich. "Bitterkalt", ergänzt Francine Labarre, "was das Verhältnis Männer<br />

und Frauen anbelangt." Kaum eine Woche vergeht, in der sich solche oder zuweilen auch<br />

aufdringliche Anmache-Possen an der Cockpit-Tür abspielen. "Natürlich werden jene Auftritte nur<br />

von Männern bewusst geprobt - respektlos und frauenfeindlich sind sie allemal". urteilt Madame<br />

Francine. "Irgendwie fährt die 32jährige Mutter von zwei Kindern fort, "scheint die erstrittene<br />

Hemmschwelle wieder flöten zu gehen. Ich weiß auch nicht, was neuerlich in die Männer gefahren<br />

ist. Ich kann doch nicht jedes Mal sagen, pass auf, mein Mann ist auch Pilot bei Air France, wiegt<br />

85 Kilo und ist 1,93 Meter groß. Wenn ich den rufe, lässt er dich am langen Arm vertrocknen."<br />

Jedenfalls haben Francine und ihre Kolleginnen Brigitte und Colette schon ihre ersten<br />

Konsequenzen gezogen - <strong>als</strong> Schutzmaßnahme sozusagen. Seither verzichten sie darauf, Passagiere<br />

an Bord ausdrücklich <strong>als</strong> Kommandantin Colette nebst Frauenbesatzung zu begrüßen. Und die<br />

Cockpit-Tür bleibt verschlossen.<br />

Für die "femmes pilotes françaises" spülten jene bewegten Streiktage aus dem Herbst<br />

1993 keineswegs nur wirtschaftliche Minuszahlen an die Oberfläche. Sie alle ahnen, was bislang<br />

606


noch niemand im Klartext zu formulieren wagte: Emanzipation schön und gut,<br />

Gleichberechtigung, Frauenförderung auch, falls es denn wirklich noch sein muss - aber bitte doch<br />

nur dann, wenn die Kasse stimmt. Unter dem vorherrschenden Eindruck einer ökonomischen<br />

Krise droht Frankreichs Frauenpolitik sich dem Nullpunkt zu nähern. Wie es schon immer war,<br />

sind es die Französinnen, die zuerst nach Hause geschickt werden, "warten da doch noch", wie es<br />

der Pariser Unternehmerverband höflich auszudrücken pflegt, "ungeheure brachliegende<br />

Arbeitskapazitäten - mit Küche und Kind".<br />

Die staatliche Fluggesellschaft Air France durchlebt mit ihren 44.000 Beschäftigten seit<br />

ihrer Gründung die schwerste Finanz- und Strukturkrise. Obwohl schon vor zwei Jahren 5.000<br />

Arbeitsplätze ersatzlos gestrichen wurden, schnellte das Gesamtdefizit auf die Rekordhöhe von 1,4<br />

Milliarden Euro. Um die drittgrößte europäische Fluggesellschaft nicht weiter in die Verlustzone<br />

abstürzen zu lassen (die Rentenversicherung wurde schon beliehen), sollten auf Geheiß der<br />

Regierung Balladurs weitere 4.000 Menschen ihre Beschäftigung verlieren, das weltweite<br />

Streckennetz um 30 minusbringende Fluglinien und 15 Zielflughäfen gekappt werden. Löhne wie<br />

Gehälter sollten gekürzt - zumindest aber eingefroren werden.<br />

Früher war der Flugverkehr in Europa strikten Abläufen unterworfen. Sowohl die Tarife<br />

<strong>als</strong> auch die Anzahl der Flüge mussten von den jeweiligen nationalen Behörden genehmigt werden.<br />

Ende der achtziger Jahre begann die EU-Kommission die engen Regeln aufzubrechen. Mit Beginn<br />

des Jahres 1993 kann nun jede europäische Fluggesellschaft jeden Ort in Europa anfliegen -sooft<br />

sie will, zu welchem Preis sie will.<br />

Allesamt sind es die Nebelkerzen dieser Jahre, die da unisono zu den allabendlichen<br />

Nachrichtensendungen in den jeweiligen Landessprachen in ganz Europa hochgehen: Effizienz<br />

und Leistungsbereitschaft, neue Märkte, neue Absätze, neue Produkte - aber Lohneinbußen.<br />

"Dieses Europa", bekundete die französische Frauenrechtlerin Gíséle Halimi, "wird kein Europa<br />

der Frauen sein; es ist ein Europa der Männer nach ihrem Strickmuster. Wie Mosaiksteine werden<br />

jetzt möglichst unauffällig unsere Rechte abgetragen. Den Frauen fehlt es an Überblick. Erst in<br />

einem Jahrzehnt werden wir Frauen wahrscheinlich erkennen, dass diese Europapolitik in sich<br />

geschlossen gegen uns Frauen gerichtet war." Seit in Europa die Airline-Einkünfte<br />

zusammenbrechen, seitdem die Kapazitäten nicht mehr national zu verteilen sind, offenbaren sich<br />

f<strong>als</strong>che Prognosen, f<strong>als</strong>ch errechnete Zuwachsraten, an denen über Jahre gearbeitet worden war.<br />

Wunschprojektionen und Wirklichkeit. Nach einhelliger Expertenmeinung dürften am<br />

Ende des Jahrzehnts nur noch drei große Fluggesellschaften überleben -British Airways, Lufthansa<br />

und Air France.<br />

Szenenwechsel. Paris, Rue Christoph Colomb, Sitz der französischen Pilotinnen - der<br />

"Association des Pilotes Françaises" mit ihren etwa 300 Mitgliedern. Schon im Jahre 1971<br />

gründeten Frauen ihren eigenen Fliegerverband. Formal ging es den Französinnen darum, endlich<br />

auch für Frauen den bis 1973 versperren Zugang zur nationalen Hochschule zur zivile Luftfahrt<br />

(Ecole Nationale d'Aviation civile) durchzuboxen. Es gelang. Gesellschaftlich wie emotional wich<br />

die feminine Pilotinnenoffensive im Verbandsinnenleben einer zunächst zaghaften, dann aber<br />

vehementen Rückbesinnung auf unveräußerbare Fraueneigenschaften.<br />

Schon ein kurzer Blick in die französische Pilotinnengeschichte gewinnt in diesen Wochen<br />

an Aktualität. Sie verdeutlicht, dass Frankreichs Fliegerinnen schon immer die Nation zu<br />

faszinieren vermochten. Nur kaum jemand konnte sich daran erinnern, dass es Pilotinnen waren,<br />

die Fliegergeschichte schrieben.<br />

607


Bereits 1919 flog beispielsweise Adrienne Bolland über den Kanal, ein Jahr später über die<br />

Anden. Im selben Jahr erhielten dreizehn Frauen ihre Pilotenlizenzen für Ballons. Und im Jahre<br />

1934 brach die Französin Hélène Boucher alle Geschwindigkeitsrekorde. Nur: so spektakulär sich<br />

auch die fliegerischen Leistungen ausnahmen, dass es Frauen waren, wurde in besagter Ära der<br />

militärisch-männlichen Tugenden der Öffentlichkeit bis zum heutigen Tag allenfalls halbherzig<br />

vermittelt.<br />

Folglich besinnen sich Frankreichs Pilotinnen in ihrem Verband auf die allzu oft<br />

unterdrückte Frauenfliegergeschichte. Einfach, um jungen Mädchen, die Pilotinnen werden wollen,<br />

Selbstbewusstsein mitzugeben. Trainingsläufe, bevor die Männer kommen; im Cockpit und sonst<br />

wo. Martine Tujague weiß <strong>als</strong> Vorsitzende der Pilotinnen-Association nur zu gut, wie wichtig in der<br />

Vorbereitungsphase auch das psychologische Rollenspiel mit Männern ist. Sie sagt: " Viele Frauen<br />

sind extrem vorsichtig, trauen sich nicht, ihren Mund aufzumachen, haben Angst, einen Fehler zu<br />

begehen. Denn nach wie vor ist das ein gegerbte Misstrauen, das uns die Männer entgegenbringen,<br />

groß. Irgendwie glauben sie immer noch nicht so recht, dass Ruhe, Ausdauer und Standhaftigkeit<br />

wirklich auf der Frauenseite zu finden sind."<br />

Schon ihre Pilotinnenausbildung kennt einen zusätzlichen Härtegrad -<br />

Frauendiskriminierung auf Französisch. Längst sind derlei Verunglimpfungen zu Beginn des<br />

Unterrichts bei Air France aktenkundig, allesamt Routine - und keiner der Verantwortlichen will<br />

sich darüber monieren. (Buchtitel: Danielle Décuré: "Vous avez vu le Pilote? C'est une femme!"<br />

Verlag Robert Laffont, Paris.) Fluglehrer zu Beginn der Lektion: "Es ist ein Skandal, dass jungen,<br />

hübschen Frauen Geld gegeben wird, ausgerechnet Pilotinnen zu werden, während Familienväter<br />

ohne Arbeit vor der Tür warten." Fluglehrer am Ende der Stunde: "Verstehen Sie eigentlich,<br />

warum ich Ihnen keine zusätzlichen Hausaufgaben aufgebe, nicht mehr Zeit investiere? Wenn Sie<br />

ehrlich sind, geben Sie zu, dass Sie nur hier sind, um einen Mann zu finden. Bonne journée,<br />

amusez-vous bien, mesdames!" (Einen schönen Tag, amüsieren Sie sich gut, meine Damen.)<br />

Trotzdem: Immerhin fliegen derzeit 49 Pilotinnen für Air France rund um den Globus. "Wenn es<br />

in den kommenden Jahren noch die Hälfte ist, können wir von Glück sprechen", mutmaßt Suzy<br />

Oberlin, Pilotin und Vize-Vorsitzende der Association.<br />

Im stuckverkleideten Büro zu Paris sitzen drei von insgesamt 3.800 Pilotinnen im Land.<br />

Sie heißen Martine, Suzy und Francine. Es sind Frauen, die schon über Tausende von Flugstunden<br />

auch in fernen Kontinenten absolviert haben. Frauen, die gleichwohl in Frankreich eher am Rande<br />

ihr Fliegerleben gestalten. Einfach deshalb, weil sie sich nicht <strong>als</strong> "Sweethearts of the Air"<br />

betrachten lassen wollen. Sie wollten Pilotinnen sein, die sich eher unauffällig im Männermilieu<br />

durchsetzen. Wohl aber auch nur um den Preis, frauenspezifische Identitätskerne <strong>als</strong><br />

Männerinteressen verkleidet zu haben. Sonst hätte der Pilotinneneinbruch in die militärisch<br />

gewebte Fliegerhochburg Mann wohl noch weitere Jahre auf sich warten lassen.<br />

Irgendwie sind im Lebensweg der Martine Tujague mit ihren 52 Jahren Weichenstellungen<br />

vorhanden, die an die Schriftstellerin Elisabeth Eberhardt erinnern lassen. - Spurensuche. Weil die<br />

Gesellschaft die Schriftstellerin Elisabeth Eberhardt zu Beginn dieses Jahrhunderts nicht <strong>als</strong><br />

Pionierfrau gewähren ließ, verkleidete sie sich <strong>als</strong> Mann und zog durch Nordafrika. Weil Martine<br />

Tujague in Frankreich nur Stewardess, aber keine Pilotin sein konnte, zog es Martine Mitte der<br />

achtziger Jahre für den nationalen Linienverkehr nach Gabun.<br />

Flieger-Erfahrung hatte Madame Martine zur Genüge sammeln können. Irak und Iran<br />

führten Krieg. Es war der Westen, der Saddam Hussein (*1937+2006) mit modernsten Waffen<br />

aufrüstete, um die Macht unliebsamer Ayatollahs zu schmälern. Man schreibt das Jahr 1986. Einmal<br />

608


wöchentlich befindet sich Martine in der Nacht mit einem Co-Piloten und ihrer randvoll beladenen<br />

Maschine im Anflug auf Bagdad. Der übliche Linienverkehr war schon längst eingestellt worden.<br />

Funkverbindungen gab es nicht. Ab der Grenze der irakischen Lufthoheit wird sie von heimischen<br />

Abfangjägern begleitet und mit Radar bis Bagdad geführt. Blindlandung auf dem Flughafen<br />

Bagdad, kein Licht brennt in der irakischen Hauptstadt - aus Sicherheitsgründen wegen des<br />

iranischen Bombardements. Waffen entladen, auftanken, ein wenig schlafen und wieder heißt es<br />

"take off for Paris". Richtig zur Besinnung kam Martine erst, <strong>als</strong> sie ihren Job verlor - Zeit zum<br />

Nachdenken.<br />

Mit großen Plakaten warben zu dieser Zeit französische Unternehmen Pilotinnen an. So<br />

nach dem Motto: So spannend und erfolgreich kann die Emanzipation in der Luft sein. Pilotinnen<br />

kommt zu uns! Und Martine war gekommen. Freilich ahnte sie zuerst nicht, worauf sie sich einließ.<br />

Als ihr dies bewusst wurde, <strong>als</strong> sie klärende Gespräche mit ihren Chefs suchte, kam es lapidar von<br />

den Herren: "Sei schön und halte den Mund" (Sois belle et tais-toi).<br />

"Überhaupt", meint ihre Stellvertreterin Suzy, "sind wir Frauen in dieser Branche<br />

offenkundig dafür da, nur um den Mund zu halten. Das geht mit der Bezahlung los (für Pilotinnen<br />

etwa 3.000 bis 4.500 Euro im Monat) und endet bei Gesetzesvorstößen." In diesen Jahren<br />

untersagte es ein französisches Gesetz, dass weibliche Piloten auch nachts fliegen. Martine war aber<br />

nur unterwegs, wenn es stockdunkel wurde.<br />

Suzy Oberlin , Mutter von drei Kindern , war einem Berufsskandal auf die Spur<br />

gekommen. Vor zehn Jahren kam die heute 51jährige Pilotin den Männerpraktiken angehender<br />

Kommandanten auf die Schliche: dem teuer bezahlten, betrügerischen Handel mit vertraulichen<br />

Prüfungsfragen, um Flugzeugführer zu werden. Madame Suzy mochte dam<strong>als</strong> nicht schweigen -zog<br />

vor Gericht und flog aus ihrem Unternehmen raus wegen "der höchst unerfreulichen<br />

Nestbeschmutzung eines ganzen Berufsstandes", wie ihr ein Manager zum Abschied bedeutete.<br />

Sicherlich wurden sodann noch neue Stellen <strong>als</strong> Pilotin angeboten. Aber nur mit weitaus<br />

schlechterer Bezahlung <strong>als</strong> für männliche Kollegen üblich.<br />

Es gibt Ausbildungs-Camps für Piloten in Arizona, USA. Frankreich schickt seine<br />

angehenden Flugzeugführer dort zu Intensivkursen hin. In der Männer-Gesellschaft lernt <strong>als</strong><br />

einzige Frau auch Estelle Denoyes. Das heißt, wenn Estelle überhaupt noch aufnahmefähig ist.<br />

Denn die 23jährige aparte Frau aus Bordeaux wird beharrlich von ihrem Kommilitonen Albert<br />

sexuell belästigt -tagsüber, abends, immerfort.<br />

Als zu Weihnachten Estelles Verlobter Jean-Luc zu Besuch kommt, stellen sie gemeinsam<br />

den Belästiger zur Rede. Kurzerhand liegen beide am Boden. Der Verlobte bewusstlos, Estelle mit<br />

gebrochenem Unterarm. Amerikas Polizei drängt zur Anzeige, besteht sogar darauf. Frankreichs<br />

Ausbilder für Air France und Co. hingegen raten kategorisch ab, solch einen "unschicklichen Staub<br />

aufzuwirbeln". Auch hätte sie vor einem französischen Gericht mit einem solchen Strafbegehren<br />

keine Chance - anders <strong>als</strong> in Amerika. Und schließlich seien die Konsequenzen für Ruf und<br />

Karriere negativ.<br />

In der Tat: Der Sexualbelästiger Albert beglückt heute <strong>als</strong> Air-France-Pilot ferne<br />

Kontinente. Estelle -flog von der Pilotenschule. Nach diesen Vorfällen wollte sich auch niemand<br />

ihrer annehmen, um die Ausbildung fortsetzen zu können. Folge: arbeitslos - Frauenniederlage.<br />

"Nein", sagt Martine Tujague, "diese wirtschaftliche Air-France-Krise ist bei genauerer<br />

Betrachtung zudem eine bemerkenswerte Männer-Krise." Gerade in Frankreich sind die<br />

Fluggesellschaften traditionell schon immer Instrumente nation<strong>als</strong>taatlicher Männerpolitik gewesen.<br />

609


Pleiten über Pleiten, ob die Milliardenverluste beim Prestige-Vogel Concorde oder auch jetzt der<br />

erstaunliche Schwächeanfall bei Air France, pflastern den Weg. Insofern brach schon in diesen<br />

Streikwochen so manche männliche Selbstüberschätzung zusammen. Suzy sagt: "Für die Herren<br />

Piloten zählt nur Air France und sonst nichts auf der Welt."<br />

Das Telefon klingelt. Am anderen Ende der Leitung meldet sich aufgeregt Kollegin<br />

Françoise aus dem Gericht - vom Tribunal de Creteil. Endlich. Nach zehnjährigem Streit konnte<br />

Suzy Oberlin vor Richtern einen ersten Teilerfolg erzielen. Pilot Christian Marie, der seinerzeit die<br />

streng vertraulichen Prüfungsaufgaben teuer verkaufte, ist mit weiteren vier Flugkomparsen zu<br />

einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden. Ausdrücklich wiesen die Richter in ihrer<br />

Urteilsbegründung darauf hin, dass Monsieur Marie bereits vorbestraft sei - wegen "sittlicher<br />

Verfehlung". Ein Cockpit bei Air France dürfte er wohl nicht wiedersehen.<br />

Die Pilotinnen strahlen vergnügt, "Auf Martine", sagt Suzy, "weiter geht's."<br />

610


1995<br />

Katholische Kirche – „Beim nächsten Papst wird alles anders“<br />

Wallfahrten zu Charles de Gaulle (*1890+1970)<br />

Museen, Grands Palais – „Frische Luft für die Gesellschaft“<br />

Frankreichs Première Dame, die Grenzen überschritt<br />

611


BEIM NÄCHSTEN PAPST WIRD ALLES ANDERS<br />

"Gott suchen, Gott finden", wollen in Frank-reich immer mehr Jugendliche. Nur<br />

ein geschlechtsloses Priester- und Nonnenleben kommt fast keinem mehr in den Sinn.<br />

Endzeitstimmung im Land der Kathedralen - trotz Wallfahrten und Weihwasser zu<br />

Lourdes. Ende der Aufklärung, Renaissance der Mythen.<br />

Die Rheinpfalz, Ludwighafen 16. Dezember 1995<br />

Scheinbar endlos fällt der frühsommerliche Regen über weitläufige Täler, verwandelt<br />

Frankreichs Landgemeinden in tiefen Morast und lässt Wasser durch so manches marode<br />

Kirchengebälk gurgeln. Mitten in einem Meer von Weinbergen im Beaujolais liegt eine große<br />

verwilderte Grünanlage. Und mitten in diesem urwüchsigen Park steht ein anspruchsloses<br />

Pfarrhaus. Seit acht Jahren ist der 63jährige Martin Froquet Landpriester in der Ortschaft Villié.<br />

Morgon, die etwa 60 Kilometer nördlich von Lyon liegt. Seit acht Jahren ist der Priester praktisch<br />

mit seiner Marie-Pierre verheiratet. Jeder weiß es und alle schweigen, vielsagend versteht sich.<br />

"Man nennt mich Martin und duzt mich hier", sagt der katholische Ordensträger sogleich<br />

kameradschaftlich zur Begrüßung. Unwiderruflich vorbei sind die Zeiten, in denen der Landpriester<br />

in Frankreich von seinem Glockenturm aus eine unumstrittene - keusche - Autorität gewesen ist,<br />

Maß und Moral bestimmte. Vor zwanzig Jahren noch zähle der Ortsgeistliche zu den Honoratioren<br />

des Dorfes; gleich neben dem Bürgermeister, dem Lehrer oder auch dem Arzt. Mittlerweile sind<br />

Seelsorger, wie Martin aufmerksam registrierte, Randfiguren.<br />

Passé ist scheinbar jene Ära, in der noch so mancher katholischer Seelsorger auch <strong>als</strong><br />

45jährige noch wie Buben wirkten, sich in ihrer Freizeit allenfalls um Bienenstöcke kümmerten.<br />

Eben <strong>als</strong> Priester noch Weile hatten, ihr Gebetsbuch im Schatten der Obstbäume ihrer Gärten<br />

versonnen "runter zu murmeln".<br />

"Diese romantisch verklärten Seelsorger", bedeutet Martin, "sind verschwunden, gibt es<br />

nicht mehr. - Andere Zeiten, andere Priester. Und die wenigen werden immer weniger." Noch vor<br />

30 Jahren zählte die katholische Kirche Frankreichs <strong>als</strong> älteste Tochter Roms insgesamt 41.500<br />

katholische Seelsorger. Praktisch hat sich ihre Anzahl bis heute halbiert. Hinzu kommt, dass von<br />

den aktiven Pastoren nur ein Viertel unter 60 Jahre alt ist. Jeder vierte Seelsorger musste gehen, nur<br />

weil er seine Frau lebte. - Endzeitstimmung.<br />

Fühlten sich vor fünfzig Jahren jährlich noch etwa 1.400 Männer zum Priester berufen, so<br />

sind es heute mal gerade noch hundert, wenn es gutgeht. Besuchten im Jahre 1946 noch 33 Prozent<br />

den sonntäglichen Gottesdienst, so reduzierte sich der Kirchengang ab dem Jahre 1991 auf knapp<br />

acht Prozent. Immerhin gelten offiziell 80 Prozent der 57 Millionen-Bevölkerung <strong>als</strong> katholisch.<br />

Aber lediglich ein Fünftel bekennt sich noch uneingeschränkt zu den Dogmen aus Rom.<br />

Allein in jüngster Vergangenheit haben an die zehntausend Priester ihrer Kirche den<br />

Rücken gekehrt. Unterschiedlich waren die Demissionsformulierungen. Einheitlich indes die<br />

Abschiedsgründe, die da unisono lauteten. "Lasst uns in Frieden mit dem weiblichen Geschlecht<br />

leben, selbstbestimmend und gleichberechtigt auch. Hört auf, die katholische Kirche<br />

selbstzerstörerisch zugrunde zu richten. Sagt ja zur Ehescheidung, ja zur Empfängnisverhütung, ja<br />

zur Abtreibung, ja zur Frauenordination, endlich ja zur Priesterehe - und die Gotteshäuser werden<br />

brechend voll sein."<br />

612


Szenenwechsel von der Beaujolais-Region in die Pyrenäen. - Der französische<br />

Wallfahrtort Lourdes gilt <strong>als</strong> katholische Trutzburg einer religiös verschworenen Gegenwelt zur<br />

Gegenwart. Lourdes in den Pyrenäen mit seiner schwerblütigen Kirchengeschichte war stets<br />

Seismograph katholischer Umwälzungen, seit jeher galt es <strong>als</strong> ehernes Symbol für den<br />

uneingeschränkten Machtanspruch des Papstes. Mitte der neunziger Jahre ist der Ort zu einem<br />

Refugium des klerikalen Fundamentalismus geworden - ein Mekka für Mythen und Legenden zu<br />

Zeiten einer rational und fortschrittserpichten Jahrhundertwende.<br />

Gemächlich schiebt sich ein Pilger-Pulk vor die Dreifach-Basilika. Die Kirche, nach Pius<br />

X. benannt, wurde 1958 zur Hundertjahrfeier geweiht. Hier hatte Bernardette Soubirous, Tochter<br />

eines verarmten Müllers, mehrere Marienerscheinungen der "unbefleckten Empfängnis". "Das<br />

Gotteshaus ist fast 200 Meter lang, 80 Meter breit, fasst 25.000 Gläubige. Vorbei sind die Zeiten, da<br />

ausschließlich Kranke auf wahre Wunder hofften: Bis heute sind 2,5 Millionen Körperbehinderte<br />

gen Lourdes befördert worden. 3.500 Heilungen stellten Ärzte fest, <strong>als</strong> Wunder erkannte die<br />

katholische Kirche 65 Genesungen an.<br />

Moment-Aufnahmen aus Lourdes sind Nachrichten aus einer Gegenwelt, die dem<br />

Atheismus mit moralischem Rigorismus zu trotzen sucht. Längst ist Lourdes auf Geheiß Johannes<br />

Paul II. (*1920+2005) zum makellosen Refugium der römischen Kurie geworden. Da fesselt der<br />

französische Priester George Morand die Gläubigen vor dem Kirchenportal mit den Bekenntnissen<br />

<strong>als</strong> Teufelsaustreiber. Über zehn Jahre notierte er seine Erfahrungen. In dem Buch "Verlasse diesen<br />

Menschen, Satan" kommt der 63jährige zur Einsicht, dass psychische Krisen, gar Schreikrämpfe,<br />

eindeutige Alarmsignale seien. "Buße, Buße, nur beten heilt", schallt es ihm folgsam entgegen.<br />

Deutschlands Militärbischof Johannes Dyba (*1929+2000) feiert mit 25.000<br />

Uniformierten internationale Soldatenwallfahrt. Die Bundeswehr ist mit dreitausend Mann dabei.<br />

Selbst vierzig kranke Armee-Männer hat der Bischof einfliegen lassen. Auf dem Kreuzweg tragen<br />

sie die Soldaten im Gleichschritt. Mittendrin postiert sich Dyba und doziert: "Wer wisse, dass Gott<br />

ihn gewollt hat, der könne nie mehr so ganz down und out sein." Die Bundeswehr nickt<br />

einvernehmlich. Verständlich, dass unter kirchlicher Obhut viel gesungen wird: Sonderurlaub in<br />

Südfrankreich, Trinklaune, Feiertagsstimmung.<br />

Überall wimmelt es vor Uniformen. Im Pilgerhandbuch steht geschrieben, dass eine<br />

"Verbrüderung im Rahmen einer Wallfahrt" passieren sollte. Ganz im Sinne des Lagerpfarrers<br />

Schadt, der im Feldgottesdienst predigt: "Jungs, wir spielen um und für das Leben. Unsere Jungfrau<br />

Maria ist die Trainerin und Gott der Präsident." Dann wirft er einen Fußball auf die Betenden:<br />

"Weil wir gewinnen werden. Amen."<br />

Vor dem Portal der Dreifach-Basilika harren zehn schwangere Frauen, Mitglieder der<br />

"Union pur la vier" - einer traditionellen Vereinigung, die einzig und allein dem Vatikan die<br />

rettende Wahrheit zugesteht. "Abgetriebene Föten taufen und christlich beerdigen, Monseigneur"<br />

steht auf ihrem Transparent.<br />

Dahinter haben sich etwa 50 Herren aufgebaut: Männer der Anti-Abtreibungs-<br />

Kommandos. Seit Monaten wissen sie die Schlagzeilen und die Kardinäle auf ihrer Seite.<br />

Wendezeiten in Frankreich, wo Schwangerschaftsunterbrechungen seit Mitte der siebziger Jahre<br />

einvernehmlich geregelt sind: Überall stürmen militante Fundamentalisten OP-Stationen in<br />

Krankenhäusern. Und immer ist ein katholischer Priester dabei, wenn es gilt, ein kirchliches Rodeo<br />

gegen die Abtreibung zu inszenieren. So in Grenoble - dort kettete sich Pater Gérard Calvet im<br />

Oktober 1994 in der Universitätsklinik mit acht Mitstreitern an Krankenbetten.<br />

613


Als der Benedektiner sich im Januar 1994 mit seinem Gefolge vor Gericht verantworten<br />

musste, war ihm eines gewiss: Die Geldstrafe von 760 Euro zahlt der Erzbischof von Paris; die<br />

Gefängnisstrafe wurde ohnehin auf Bewährung ausgesetzt. Verständlich, dass jene Herren-<br />

Gesellschaft der Anti-Abtreibungskommandos in Broschüren ihre "Erfolgsbilanzen" siegesgewiss<br />

verteilen: mal eine Massen-Demonstration vor der Oper zu Paris, mal Ärzte und<br />

Krankenschwestern eingeschüchtert.<br />

Noch nie war die katholische Kirche in Frankreich so zerrissen, derart gelähmt, von<br />

Spaltung bedroht wie im Augenblick. Eine christliche Gemeinschaft verweigert sich der<br />

Wirklichkeit und straft jene ab, die sich mit ihr auseinandersetzen.<br />

Der vom Papst ins Abseits beförderte Bischof von Euvreux, Jacques Gaillot, ist zu jenen<br />

nach Paris in die Rue du Dragon 7 gezogen, für die der 59jährige - auch <strong>als</strong> Kirchenrepräsentant -<br />

da zu sein glaubte: zu den Armen, Obdachlosen und Sozialhilfeempfängern. Längst ist Gaillot zum<br />

Synonym, auch zum Symbol, der Kirchenspaltung geworden.<br />

Etwa 50.000 Menschen zog es auf die Straße, über 100.000 Gläubige demonstrierten mit<br />

ihrer Unterschrift gegen seine Amtsenthebung. Einfach deshalb, weil er vorlebte, "dort präsent zu<br />

sein, wo wir es <strong>als</strong> Kirche leider häufig nicht sind" - bei Obdachlosen, Aidskranken,<br />

Homosexuellen, Asylsuchenden. Wichtiger <strong>als</strong> Messen, Prozessionen und mystische Wallfahrten<br />

war ihm, das Evangelium vorzuleben. "Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts", ist eine seiner<br />

Standard-Formulierungen.<br />

Dabei konnte Gaillot nicht ahnen, dass sich Frankreichs Kardinäle schon 1983, nur ein<br />

Jahr nach seiner Ernennung, darauf verständigt hatten, den Papst zu seiner Abberufung <strong>als</strong> Bischof<br />

zu bewegen. Dam<strong>als</strong> was Jacques Gaillot der einzige Oberhirte der Republik, der gegen eine<br />

Entschließung der Bischofskonferenz stimmte. "Den Frieden mit atomarer Abschreckung<br />

gewinnen", verlautbarte sie dam<strong>als</strong>. Der Ort dieser Handlung war die Dreifach-Basilika zu Lourdes.<br />

614


WALLFAHRT ZU CHARLES DE GAULLE<br />

Vor mehr <strong>als</strong> drei Jahrzehnten starb Charles de Gaulle - Vater der 5. Republik. Sein<br />

Wohnort ist zum Wallfahrtsort geworden. Über eine halbe Millionen Menschen pilgern<br />

jährlich nach Colombey-Les-Deux-Eglises in der Champagne. Sehnsucht nach dem<br />

ÜberVater, Rückbesinnung auf Herkunft - auf Frankreichs Geschichte .<br />

Die Rheinpfalz, Ludwigshafen 14. November 1995<br />

In der französischen 370-Seelen-Gemeinde Colombey-Les-Deux-Eglises gibt es<br />

neuerdings drei Altäre. Zwei, die seit eh und je in der Dorfkirche stehen, und einen, der zu Ehren<br />

des Gründers der Fünften Republik, Charles de Gaulle, errichtet wurde - zu seinem 25jährigen<br />

Todestag am 9. November 1985 im Souvenirladen der Madame Demange gleich auf der<br />

Hauptstraße, hinter zwei riesigen Fahnen in Farben der Trikolore.<br />

Ihn - den de-Gaulle-Altar - zieren unzählige Teller, T-Shirts und Taschen, Aschenbecher,<br />

Feuerzeuge, Salzfässer, Barometer, Eieruhren, Käseplatten, Briefmarken, Blumenvasen und<br />

natürlich de-Gaulle-Büsten <strong>als</strong> parareligiöse Devotionalien in allen Größen; Video- und CD-<br />

Tonkassetten, der Wimpel mit Kreuz und Kirche, eben Lothringer Kreuze in allerlei Varianten,<br />

zum Anhängen oder <strong>als</strong> Ring in blau-emaillierten Herzen, auch ins V-Zeichen des Siegers<br />

eingelassen.<br />

Postkarten zeigen den General mal <strong>als</strong> Retter der Nation auf einem Schlachtschiff im<br />

Ärmelkanal, mal <strong>als</strong> würdigen Greis an der Seite seiner Frau Yvonne. Und auf dem Porzellan-<br />

Aschenbecher steht geschrieben: "Hier ist Frankreich zu Hause. Hier ist Vaterland. Es war der<br />

General - er malte unseren Ort auf die Weltkarte."<br />

Da stehen sie nun, Seite an Seite in der ersten Reihe der überfüllten, kleinen Dorfkirche -<br />

und das noch nach Jahrzehnten, Jahr für Jahr. Die Alt-Gaullisten, die Erzfeinde der Pariser Machtund<br />

Prestige-Politik oder auch nur die leiblichen Enkel des Gener<strong>als</strong>. Alle Jahre wieder dröhnt die<br />

Orgel, antwortet der Chor. Aus dem Gesang lösen sich Worte: Tod - Schlachtfeld - Vaterland.<br />

Eine schlichte, elfenbeinfarbige Marmorplatte schmückt das Grab de Gaulles - am 22.<br />

November 1995 wäre er 105 Jahre alt geworden. Die goldene Prägeschrift beschränkt sich auf das<br />

Notwendigste. De Gaulle und seine Frau ruhen Seite an Seite mit ihrer behinderten Tochter Anne.<br />

Kein Kranz, keine Blumen. Das hatte der General schon 1952 testamentarisch verfügt. Die<br />

Mehrheit der Franzosen, so ermittelten Meinungsforscher, glaubt nicht, "dass sie zu Lebzeiten<br />

noch einmal einen Staatsmann vom Format de Gaulles erleben werden." Und 23 Prozent der<br />

Befragten halten de Gaulle für ebenso bedeutend wie Napoléon. Immerhin wurden etwa 4.000<br />

Bücher nach Schätzungen des "Instituts Charles de Gaulle" in aller über den ehemaligen<br />

Präsidenten verfasst.<br />

Oft baut sich Madame Demange bedächtig vor dem de Gaulle-Altar auf. Das verlangt<br />

schon ihr Verkaufsritual. Folglich gehen ihre Blicke auch hinaus auf den dörflichen<br />

Hauptboulevard. Dort, wo sich Menschenkolonnen gemächlichen Schrittes Richtung Friedhof<br />

schieben. An die 600.000 Touristen finden jährlich ihren Weg nach Colombey-Les-Deux-Eglises.<br />

Eine unvermutete Nostalgie-Welle verklärter, auch längst vergilbter Jahre des Gaullismus<br />

schwappt über das Land. Die Republik erinnert sich auffällig hin-gebungsvoll ihres Gründers. Die<br />

eigentlich große Versöhnungswelle mit ihrem einst eher unbeliebten, autokritischen aber<br />

615


wortgewaltigen General Charles de Gaulle hat in Frankreich ein Vierteljahrhundert nach seinem<br />

Tode erfasst. Erst jetzt zu seinem 25jährigen Todestag (am 9. November 1995) und seinem 105.<br />

Geburtstag (am 22. November 1995) scheinen die Gegner von ehedem, vornehmlich die<br />

Intellektuellen der Republik, zur Versöhnung bereit zu sein.<br />

Und es gibt in Frankreich zusehends mehr Menschen, die ans Grab de Gaulles wallfahren.<br />

Längst hat sich dieses eher ärmliche Dorf, umgeben von melancholisch angehauchten Wäldern in<br />

der Champagne, von kastanienbraunen Felder und schmutziggrauen Häusern zum neuen Lourdes<br />

politischer Pathos-Pilger gemausert.<br />

In solchen Momenten seufzt die 48jährige Souvenir-Madame laut: "Der Polit-Zirkus mit<br />

theatralisch vorgebrachten Touristengefühlen lebt in Lourdes für die katholische Kirche. Und wir<br />

hier betreiben einträglichen Fassadenputz für die gaullistische RPR-Parteipolitik. Frankreich, fragen<br />

wir uns inzwischen alle, was ist bloß los mit Dir?"<br />

Immerhin: Noch nie waren die Vertrauensverluste in die Politik-Klasse so dramatisch wie<br />

heute. Noch nie gab es solch vollmundige Versprechungen verbunden mit krassen Wortbrüchen.<br />

Noch nie gab es so viele Menschen ohne Brot und Arbeit. "Und dann inszeniert sich", fährt<br />

Madame fort, "die Grande Nation mit ihren kostspieligen atomaren Testversuchen, auch noch<br />

großspurig <strong>als</strong> Supermacht, auf dem Mururoa-Atoll. Frankreich gegen den Rest der Welt. Diese<br />

Politiker sind geradewegs dabei, das Erbe des Gener<strong>als</strong>, unsere Fünften Republik, zu verspielen.<br />

Denn, der hatte stets auf den sozialen Ausgleich geachtet." Ihre Mutter, die zuhört, nickt stumm.<br />

De Gaulles Außenpolitik war seiner Zeit voraus. Er proklamierte <strong>als</strong> Ziel die Auflösung<br />

der Militärblöcke und umschrieb sei Engagement für ein "Europa vom Atlantik bis zum Ural" auch<br />

<strong>als</strong> "die Überwindung von Jalta"; er empfing Ungarn, Tschechen, Bulgaren besuchte Polen und<br />

Rumänien. Oft sprach er davon, dass Europa wieder ein Kontinent "seiner alten Nationen" werden<br />

müsse. Seine Europa-Politik "vom Atlantik bis zum Ural" gilt heute <strong>als</strong> visionär, seine Ansicht von<br />

der Überlegenheit des Nationalen gegenüber den Ideologien <strong>als</strong> bestätigt.<br />

Demonstrativ hatte Frankreich unter seiner Führung zu den inzwischen fünf<br />

Nuklearmächten der Erde aufgeschlossen. Es war de Gaulle, der m Februar 1960 die erste<br />

Explosion einer französischen Atombombe über der algerischen Sahara mit einem freudigen<br />

"Hurra Frankreich" begrüßte.<br />

November-Tage - das waren in Frankreich schon immer de Gaulle-Tage oder auch<br />

Wallfahrts-Augenblicke. Colombey-Les-deux-Eglises ist ein kleiner Ort am Ostrand der<br />

Champagne im Département Haute Marne. dreihundert Kilometer östlich von Paris gelegen. Hier<br />

gibt's keine Industrie, kaum Städte, nicht einmal Wein wächst. Statt dessen viel Vieh, ein wenig<br />

Weizen und vor allem eine überlebensgroße Erinnerung an Charles de Gaulle. Kurzum:<br />

Nirgendwo, so will es scheinen, ist Frankreich französischer <strong>als</strong> hier: tiefernst und tiefkatholisch.<br />

Auf dem Landsitz des Gener<strong>als</strong> La Boisserie" steht in der Bibliothek der Lehnstuhl vor<br />

dem Spieltisch, an dem de Gaulle vor einem Vierteljahrhundert bei den Abendnachrichten<br />

einschlief. Es ist ein kompaktes, solides Herrenhaus aus dem Jahre 1843, ganz mit Wein<br />

bewachsen. Der Berufssoldat de Gaulle hatte es 1934 gekauft. Auf Wunsch des Gener<strong>als</strong> und ohne<br />

staatliche Zuschüsse wurde in den fünfziger Jahren ein Turm angebaut, in dem er sich sein<br />

Arbeitszimmer einrichtete. Ein heller Raum mit Kachelboden und drei Fenster, die den Blick<br />

freigeben auf fünfzehn Kilometer Wald und Wiesen ohne ein einziges Haus. Einen Steinwurf<br />

entfernt ragt heute ein 43 Meter hohes Lothringer Kreuz aus Stahl und Marmor in die Höhe. Zu<br />

Lebzeiten hatte sich de Charles de Gaulle gegen solche monumentalen Ehrungen gewehrt. "Das<br />

616


würde nur die Feldhasen verscheuchen", sagte er. Trotzdem schlug er für alle Fälle einen Standort<br />

vor. In den Sockel eingehauen sind die Worte: "Es existiert ein Pakt, 20mal 100 Jahre alt, zwischen<br />

der Größe Frankreichs und der Freiheit dieser Welt. Ch.d. G."<br />

"Die Einsamkeit ist meine Freundin. Mit wem sonst soll man sich zufriedengeben, wenn<br />

man einmal mit der Geschichte verabredet war", so dachte, so redete, so schrieb de Gaulle.<br />

Zumindest in "La Boisserie" hat de Gaulle sein Leben lang sendungsbewusst immer wieder darauf<br />

gewartet, von der Geschichte gerufen zu werden. Hier wartete er auf den Einmarsch der<br />

Wehrmacht, der ihn ins Exil nach London trieb und schließlich nach Kriegsende zum Präsidenten<br />

der Republik machte. Hier wartete er zwölf Jahre lang, nach dem Zusammenbruch der Vierten<br />

Republik bis zur Algerien-Krise 1958, die ihm seine zweite Präsidentschaft eintrug. Und hier<br />

wartete er auch auf das Resultat jener für ihn folgen-schweren Volksabstimmung nach den<br />

Studenten-Unruhen im Mai 1968. Er hatte nicht begreifen wollen, dass die großen Stunden der<br />

einzelgängerischen Chefs vorbei waren. Und hier erwartete er letztlich auch den Tod, der ihn am 9.<br />

November 1970 ereilte, <strong>als</strong> er gerade an einem weiteren Kapitel seiner Memoiren schrieb. Titel:<br />

"L'effort" - Die Anstrengung.<br />

Jedes zweite Wochenende flüchtete de Gaulle aus dem ihm verhassten Elysée-Palast nach<br />

Colombey zur Familie. Schwiegersohn de Boissieu, langjähriger Gener<strong>als</strong>tabschef des Heeres, Sohn<br />

Philippe, auch Kulturminister André Malraux (*1901 +1976) waren gelegentlich dabei und durften<br />

mitreden. Nur hier taute der General auf, soweit seine Anstandsregeln dies überhaupt zuließen. Mit<br />

seiner Frau Yvonne hat er sich gesiezt. Von sich selbst sprach er in der dritten Person.<br />

Naheliegend, dass aus seiner Bibliothek Geschichte aus allen Ecken weht. An dieser Stätte<br />

der Zurückgezogenheit wurde zwischen den "Erbfeinden" von einst der deutsch-französische<br />

Freundschaftsvertrag von 1963 vorbereitet. Und Konrad Adenauer war der einzige Regierungschef,<br />

der die Ehre hatte, von de Gaulle in seinem Haus empfangen zu werden. Wie weit die beiden<br />

Staatsmänner ihrer Zeit vorausdachten, belegt der Hinweis, dass schon Charles de Gaulle<br />

(*1890+1970) und Konrad Adenauer (*1876+1967) sich darüber Gedanken machten, ob der<br />

deutsch-französischen Vertrag völkerrechtlich potentiell für Gesamtdeutschland seine Gültigkeit<br />

habe. De Gaulle antwortete mit der prophetischen Bemerkung, dass die Wiedervereinigung <strong>als</strong><br />

"natürliches Schicksal des deutschen Volkes" anzusehen sei.<br />

Irgendwie schlägt diese verschlafene Colombey-Les-Deux-Eglises den bizarren Bogen von<br />

Weltpolitik samt Heldenverehrung zu typischer französischer Sentimentalität zwischen Citroen und<br />

Kinderbettchen. Hier fand de Gaulle jene Leute, die bis heute die Republik weitaus stärker prägten<br />

<strong>als</strong> die fernsehgeübten, wortgewaltigen Intellektuellen aus dem Quartier Latin der auch die<br />

showgeübte Schickeria auf der Croisette von Cannes. La France profonde, wie es heißt, das wahre,<br />

tiefe Frankreich - ohne das in Frankreich keine Mehrheit zu finden ist. So betrachtet, ist de Gaulle<br />

Stätte seiner Zurückgezogenheit nicht nur Wallfahrtsort, sondern Sammel- punkt und<br />

Bekennerplatz der gaullistischen Bewegung schlechthin.<br />

Früh am Morgen hatte Staatspräsident Jacques Chirac (1995-2007) am Tage seiner<br />

Amtsübernahme im Mai 1995 in Colombey-Les-Deux-Eglises am Grab von General de Gaulle<br />

einen Kranz niedergelegt. Das ganze Dorf begleitete ihn. Am Nachmittag fuhr er mit offenem<br />

Wagen, einem Citroen-Mazeration, eskortiert von Fanfare und Kavallerie der Garde auf dem<br />

beflaggten Champs-Elysées. Sichtlich bewegt entzündete Chirac dort im Beisein des<br />

Parlamentspräsidenten und zahlreicher Vertreter seines Algerien-Regiments ( Algerien-Krieg 1954-<br />

1962) und einer begeisterten Menschenmenge am Grab des Unbekannten Soldaten - die<br />

Gedenkflamme.<br />

617


"Der Gründervater unserer Fünften Republik", bekundete Bernadette Chirac, "war unter<br />

uns. Er hat das politsche System geprägt, uns geprägt - de Gaulle ist stärker denn je in Frankreich<br />

verankert. Er kommt gleich hinter Karl dem Großen."<br />

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FRISCHE LUFT FÜR DIE GESELLSCHAFT<br />

Als Kunststudentin an der Pariser École du Louvre lebte die Konservatorin Marie-<br />

Françoise Poiret schon im 19. Jahrhundert - in den Museen und Grands Palais. Ob nun in<br />

der Provinz in Bourg-en-Bresse am Musée de Brou oder dann wieder im Musée d'Orsay,<br />

der Louvre, das Musée national d'art moderne oder auch das Centre Pompidou - eine<br />

zentrale Frage durchdrang jedwede Epochen. Wie viel Architektur braucht die Macht, um<br />

sich zu profilieren. Wie viel Macht braucht die Architektur, um von sich reden zu machen?<br />

- Männer-Grandeur. Frauen-Befunde.<br />

Frankfurter Rundschau vom 19. August 1995<br />

Als junge Kunststudentin an der École du Louvre lebte Marie-Françoise Poiret schon ein<br />

bisschen wie im 19. Jahrhundert; genauer gesagt im Paris der Museen und Grands Palais, die in<br />

ihrer Monumentalarchitektur allenfalls drei Fixsterne vergangener Jahrhunderte dulden: Kunst,<br />

Kultur und natürlich Paris <strong>als</strong> "wahrlich kulturelle Hauptstadt der Welt" - <strong>als</strong> markanter Brennspiegel<br />

einer vom französischen Kunstverständnis geprägten Epoche.<br />

Es waren erst die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts, in denen Frankreichs Frauen<br />

erstm<strong>als</strong> ihre Selbstfindung in Sachen Kunst wie auch Architektur suchten. Jene Ära des Aufbruchs<br />

schuf ein offenes, diskussionsfreudiges Klima. Erstm<strong>als</strong> wurde der gesellschaftliche Zustand der<br />

Republik transparent anhand der Kunst reflektiert - ein latente Antifeminismus der Kulturnation<br />

wurde dabei ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Es waren auch die Jahre der Fotografin<br />

Annette Messager, die nachfolgende Frauen-Generationen beeinflussen sollten. In ihrer Pariser<br />

Ausstellung des Jahres 1977, "Die Porträts der Geliebten", geißelte sie mit ironisch-bissigem<br />

Blickwinkel das von der Werbeindustrie vorfabrizierte Image der Feminität. In ihren späteren<br />

Exponaten rückte Annette Messager das eigene Verlangen, ihre Gefühle in den Mittelpunkt. Oder<br />

auch die Malerin Anne Marie Jugnet. Mit ihren Botschaften wehrt sie sich gegen das "Gefühl des<br />

Blindwerdens" durch unentwegte Reizüberflutung samt austauschbarer Bilder-Bombardements in<br />

Massenmedien.<br />

Zumindest aus diesem noch zaghaft keimenden gesellschaftlichen Klima eines<br />

künstlerischen Frauen-Empfindens heraus entwickelte Marie-Françoise Poiret ihr Berufsziel: Sie<br />

wollte Konservatorin werden. Nur Französinnen , die waren in über zweitausend Museen der<br />

Republik nicht vorgesehen. Dementsprechend tauchte der französische Frauenanteil an den<br />

Kulturgütern der Nation in früheren Jahrzehnten auch in keiner Statistik auf.<br />

Frankreich im Sommer '95 - ein Bild macht Furore und gibt zugleich den Blick frei auf die<br />

scheinbar konservierte kulturelle Gemütslage der Republik. Im Pariser Musée d'Orsay hängt<br />

neuerdings auch Gustave Cour- bets kleines Bild "L'Origine du monde" (Ursprung der Welt). Es<br />

zeigt, wie der Pariser "Nouvel Observateur" schrieb, "ein seidenglattes Geschlecht mit einsamer<br />

Begierde" - einen Frauenkörper ohne Gesicht. Dafür einen liegenden Torso mit geöffneten Beinen.<br />

Im Jahre 1866 hatte es Gustave Courbet gemalt. Seither war es weitgehend der Öffentlichkeit<br />

entzogen. Kaum jemand ahnte, dass die "gesichtslose Vagina" seit 1955 der französische<br />

Psychoanalytiker Jacques Lacan in seinem Landhaus versteckte. Er starb und seine Erben<br />

spendeten es dem Staat, um so der Erbschaftssteuer zu entgehen.<br />

Die französische Kunst hatte ihr Thema - ihr sommerliches Frauenthema. Gewiss wird<br />

dabei vordergründig über Grenzüberschreitungen, dumpfe Zurschaustellung, gar<br />

619


Frauendiskriminierung geredet. Aber allenfalls in winzigen Sprechblasen oder Begleitsätzen zum<br />

üppig veröffentlichten Vierfarbfoto in fast ausnahmslos allen Illustrierten; <strong>als</strong> Entlastung des<br />

sittsam genormten Anstands sozusagen. "Ja", stöhnt die Kasseler Leiterin der documenta '97, die<br />

Pariser Kuratorin Catherine David, unser Kunstbegriff ist revisionsbedürftig. Kunst ist nun mal<br />

kein weibliches Konsumprodukt."<br />

Wohl in keinem anderen Land der westlichen Welt ist die Verbindung zwischen Kunst,<br />

Machtpolitik samt ihrer Identitätsgeschichte so prestigebedacht eng gezurrt wie in Frankreich.<br />

Wohl keine Kulturnation starrt so inständig auf längst verflossene Jahrhunderte, die da Grandeur -<br />

Männer-Grandeur -verhießen, um "für Ruhm und Stabilität" der Republik zu sorgen, wie es in<br />

zahlreichen Erlassen so mancher Innenminister unterschiedlichster parteipolitischer Couleur<br />

geschrieben stand. Wenn überhaupt jemand sich in Frankreich in einem Museum engagieren<br />

durfte, musste er sich nach seinem obligatorischen Kunststudium bis dato einem individuellen<br />

Tauglichkeitstext unterziehen. Weltweit ein einmaliges, vornehmlich Frauen selektierendes Männer-<br />

Spektakel. Eben ein willkürliches Prüfungsverfahren, das keine allgemein gültigen<br />

Qualifikationskriterien kannte. Marie-Françoise spielte für ihr Konservatoren-Examen noch<br />

"Monopoly", wie sie es nennt. "Qui, quoi, où" (wer, was, wo) waren in jenem Beziehungsgeflecht<br />

allemal hilfreicher <strong>als</strong> Kenntnisse und Ideen.<br />

Marie -Françoise sagt: "Frauen werden in ihrem Selbstwertgefühl nicht gestärkt und auch<br />

nicht ermutigt, in die Männer-Domänen einzudringen, wenn sie unter Männer-Dominanz<br />

ausgebildet werden." Erst mit der Schaffung des "Instituts International d'Historie des Arts et du<br />

Patrimonie" - im Jahre 1993 in der Ära des sozialistischen Kulturministers Jack Lang (1981-1993)<br />

wurden allgemein verbindliche Ausbildungswege beschlossen, eine Ungerechtigkeitslücke gestopft.<br />

"Das brachte", bemerkt die im Jahre 1994 ernannte Direktorin der Musée de France, Françoise<br />

Cachin, "viel frische Luft in diese miefige Gesellschaft hinein." Ein von der Außenwelt<br />

abgeschirmtes Milieu, dem seit dem 19. Jahrhundert keinerlei Veränderungen widerfuhr. Hieß ihre<br />

Institution, die immerhin 34 Staatsmuseen verwaltet und zudem die Aktivitäten weiterer tausend<br />

unter ihrer Obhut betreut, doch bis nach dem Zweiten Weltkrieg noch bezeichnenderweise<br />

"Musées Napoléon".<br />

Ganz plötzlich waren sie da - Frankreichs Frauen in den männlich geschützten<br />

Kulturhochburgen von ehedem. Der leise Frauenmarsch durch die ehrwürdigen Institutionen,<br />

durch die Vernissagen der Schlösser und der oft verschlummerten Provinzmuseen der Republik<br />

hatte begonnen - nachhaltig und <strong>als</strong>bald in der Überzahl.<br />

Im gesamten Kulturbereich Frankreichs vermochten Französinnen in den vergangenen<br />

vier Jahren ihr Engagement (auch in Teilzeitarbeit) um 30 Prozent steigern. In Zahlen: Anno 1988<br />

waren es 51,4 Prozent im Jahre 1992 schon 81,4 Prozent. Im Bereich der Bildenden Künste<br />

erreichten Studentinnen ein Patt. An der renommierten École du Louvre sind die Frauen auf dem<br />

Vormarsch. Nur noch 534 Männer lernten im Jahr 1994 an dieser Hochschule, die die<br />

Konservatoren ausbildet. Dafür saßen im selben Zeitraum insgesamt 2.438 Frauen (82 Prozent) in<br />

den Hörsälen.<br />

Mit der 59jährigen Kunsthistorikerin Françoise Cachin - sie ist die Enkelin des<br />

neoimpressionistischen Malers Paul Signac (*1863 +1935) - steht seit 1994 zum ersten Mal<br />

überhaupt eine Frau an der Spitze der französischen Museen. Immerhin zählt der Louvre in Paris<br />

jährlich mit fünf Millionen Besucher, das Centre Pompidou betreten täglich 26.000 Menschen (pro<br />

Jahr 7,7 Millionen). Ob Französinnen oder Touristinnen - auf jeden Fall sind es Frauen, die die<br />

Mehrheit der Museumsbesucher stellen.<br />

620


"Das große Problem Frankreichs ist", gesteht Madame Cachin, "dass man immer Geld für<br />

Prestige-Investitionen hat. Geht es dann aber um den Unterhalt, den Alltag, die weniger<br />

medienträchtigen und glanzloseren Posten, schließen sich die Geldhähne." Immerhin stehen dem<br />

Land laut Kulturbudget 1995 insgesamt 2,04 Milliarden Euro zur Verfügung. Es war eine alte<br />

Forderung der einst regierenden Sozialisten, dass der Kulturetat im Gesamthaushalt des Staates<br />

wenigstens ein Prozent ausmachen sollte. Dieses ehrgeizige Ziel ließ sich zeitweilig auch erreichen.<br />

Nur mit dem politischen Akzent: In der Mitterrand-Ära (1981-1995) wurden keine der sogenannten<br />

großen Projekte des Präsidenten außerhalb der Hauptstadt realisiert.<br />

Szenenwechsel - ins ländliche, innere Frankreich. Das Musée de Brou im Kleinstädtchen<br />

Bourg-en-Bresse im Dreieck zwischen Genf, dem Ort Macon und der Metropole Lyon vermittelte<br />

bis weit in die siebziger Jahre hinein den Eindruck provinzieller Verschlafenheit - bis die Frauen<br />

aus dem fernen Paris kamen und einen "verwahrlosten Schatz" vorfanden.<br />

Ob in den Museen in Bordeaux, St Etienne oder auch Grenoble -unmerklich belegte die<br />

Kunst in Frankreich verschiedene Regionen mit aufs Land verschickte Restauratorinnen. In Bourgen-Bresse<br />

war es ein Kloster neben einer Kirche aus der Frührenaissance. Imposant von außen,<br />

hoch und hell im Interieur steht sie am Stadtrand. Gebaut wurde die Eglise de Brou in den Jahren<br />

1505 bis 1536 im Auftrag Margaretes von Österreich von dem flämischen Baumeister Louis von<br />

Boghen. Sie ist, so wissen Kunstführer zu berichten, "eines der drei Gebäude der Welt, die aus<br />

Liebe errichtet wurden." Margarete, Tochter des Kaisers Maximilian von Österreich, wollte ihrem<br />

Mann ein Denkmal setzen. Er, der Herzog Philibert der Schöne von Savoyen (1480-1504) , starb<br />

nämlich nach nur dreijähriger Ehe im Alter von 24 Jahren.<br />

Drei Kreuzgänge sind dem Gotteshaus angebaut worden. Hier versteckte sich früher ein<br />

Kunstmuseum vor der Öffentlichkeit wie einst die Augustinermönche ihren Sammeleifer.<br />

Mittlerweile könnte jenes Provinzmuseum <strong>als</strong> dezenter Hinweis gedeutet werden, was Frauen zu<br />

leisten vermögen, wenn man sie nur ließe.<br />

In einem kleinen, hinteren Erker hockt die 48jährige Museumsdirektorin Marie-Françoise<br />

Poiret an ihrem Schreibtisch. In früheren Jahren, da hatte Marie-Françoise nur den Louvre im<br />

Kopf. Unvorstellbar war für sie, sich einmal von Paris zu verabschieden. Als ihr die Direktorinnen-<br />

Position (Verdienst monatlich 3.100 Euro) Ende des siebziger Jahrzehnts angeboten wurde, da<br />

wusste sie auf Anhieb nicht, "wo dieses verdammte Provinznest liegt". Doch Marie-Françoise<br />

nahm an, weil sie wusste, dass jeder Direktor dem Museum seinen individuellen Stempel aufdrückt<br />

- für Marie-Françoise ihre Frauendiktion.<br />

Zehn Jahre später ist das Musée de Brou für Eingeweihte kaum wieder zu erkennen. Ob<br />

in den Büros, Bibliotheken oder auch Ausstellungshallen - weit und breit sind es nur Frauen, die<br />

begutachten, werkeln, richten; zehn an der Zahl. Männer fehlen in der Führungsetage; aber es gibt<br />

fünf Pförtner oder Aufseher im Erdgeschoss.<br />

Unbehagen äußern jene Museumsfrauen, weil die Öffentlichkeit zur Jahrhundertwende<br />

Frauen in der Kunst immer noch für ungewöhnlich hält. Für die Museumsfrauen sind<br />

Künstlerinnen eine Selbstverständlichkeit. Dabei ließen sich Marie-Françoise mit ihren Kolleginnen<br />

wohl kaum auf einen Stellungskrieg zwischen weiblicher und männlicher Kultur ein. Sie lacht und<br />

murmelt: "Eher führen wir hier subversiv Regie." - "Ja, ja", fährt sie fort, "der Bürgermeister hat<br />

einen Fehler gemacht, mich hier einzustellen. Wir krempeln Stück um Stück das ganz Museum<br />

um."<br />

621


Was so viel heißt: raus mit den vermotteten Utensilien napoleonischer Beutezüge, die<br />

irgendwo in den Kellern einlagern; raus mit den Exponaten lokaler Größen längst verblichener<br />

Tage. Es waren vornehmlich Männer aus dem 19. Jahrhundert, deren Konterfeis Schleifen und<br />

Kränze eine verstaubte Würde verliehen.<br />

Das Provinzmuseum Brou und seine Konservatorinnen - das sind Frauenbrüche oder<br />

auch der langsame Abschied von glorreich hochgehaltenen Männertagen, die da <strong>als</strong> Kunst<br />

daherkamen. Auch wenn ihr Etat zurzeit keine Ankäufe zulässt, wollen sie rein in die<br />

zeitgenössische Kunst, wollen ausstellen, thematisieren, diskutieren, wollen rein in die Schulen, um<br />

für Kinder den eher abstrakten Kunstbegriff erlebbar zu vermitteln.<br />

Wenn da nur nicht die Geldsorgen wären. Marie-Françoise verwaltet jährlich etwa 140.000<br />

Euro für neue Präsentationen und den jeweiligen Katalogdruck. Die Stadt kommt mit etwa 550.000<br />

Euro für Personalausgaben, Computer- und Telefonkosten, Strom etc. auf. In der Mitterrand-Ära<br />

(1981-1995) stand den Museumsfrauen für den Ankauf von Kunstwerken ein von Paris<br />

bezuschusster Betrag zwischen 23.ooo und 180.000 Euro zur Verfügung - je nach Haushaltslage.<br />

Nur in diesem Jahr bekommt das Brou-Museum wie auch viele andere on der Republik nicht<br />

einmal mehr einen Cent aus Paris.<br />

"Als wir noch reich waren", begeistert sich Brou-Konservatorin Marie-Dominique Nivière<br />

noch im nach- hinein, "da machten wir drei Ausstellungen im Jahr." "Nein", unterbricht Marie-<br />

Françoise, "wir haben 1982 auch schon mal zwölf Vernissagen organisiert. Da hatten wir Frauen<br />

einen richtigen Kunsthunger in dieser Region."<br />

Es war die Zeit, <strong>als</strong> Marie-Françoise in den Niederlanden auf den Bildhauer Richard Serrat<br />

stieß. Sie kamen überein, dass er mit zwei neu entworfenen Skulpturen dem Klosterrundgang<br />

Eintönigkeit nimmt. Der amerikanische Künstler sorgte für Wirbel in dem Städtchen Bourg-en-<br />

Bresse. Wütende Artikel in den Medien, Flugblätter besorgter Bürger, Protestgeschrei vierlerorts.<br />

Nur Marie-Françoise mit ihren Frauen blieb eisern - sie setzen Richard Serrat durch. Mit<br />

diesem Prestigekampf haben sie sich aber auch erst selber behaupten können. Seither steigt die<br />

Besucherzahl ihres Museums stetig. In früheren Zeiten kamen jährlich etwa 40.000 Menschen, um<br />

Frankreichs Epoche im 19. Jahrhundert zu bestaunen. Unter ihrer Frauenregie sind es inzwischen<br />

circa 120.000 Besucher - ist das Musée de Brou zum attraktiven Touristenfaktor dieser Region<br />

geworden.<br />

Nur eines ist geblieben, wie es schon immer war, wenn auch nur <strong>als</strong> Ritual. Wenn sich die<br />

Direktorin Marie-Françoise Poiret in den Abendstunden auf den Heimweg macht und sich vom<br />

Museumspförtner Jacques verabschiedet, ruft dieser - die Mütze aufsetzend - ein "bonne soirée,<br />

"Mademoiselle" hinterher.<br />

622


PREMIÈRE DAME, DIE RISKIERTE, GRENZEN ZU<br />

ÜBERSCHREITEN<br />

Der fortwährend schrille Bruni-Sarkozy-Boulevard in Frankreich der Neuzeit lässt<br />

an den laut-losen Abgang der Danielle Mitterrand erinnern, die länger Première Dame de<br />

la France (1981-1995) war <strong>als</strong> jede ihrer Vorgängerinnen seit Napoleon III. Mit ihrer<br />

Menschenrechtsorganisation "France Libertés" half Danielle Mitterrand weltweit<br />

entrechteten, unterernährten, hungernden, von Kriegen oder vom tödlichen Aids-Virus<br />

bedrohten Menschen. Aus Sicht der französischen Oberschicht war sie ein ungeliebtes<br />

"Aschenputtel" der Nation. Dabei hatte die Ehefrau von François Mitterrand (*1916<br />

+1996) mehr bewegt <strong>als</strong> jede ihrer Vorgänger- und wohl auch Nachfolgerinnen bis zum<br />

heutigen Tag.<br />

Freitag, Berlin vom 24. März 1995<br />

Leise spricht Danielle Mitterrand, wenn es um die Bedeutung der "Grande Nation" - ihren<br />

Glanz, Grandeur und Glorie geht. Auffallend leise, fast gelangweilt. "In vielen eitlen Politik-<br />

Männern dieser Tage", befindet sie lakonisch, "da spuckt noch der Macht-Mythos verblichener<br />

Jahre, <strong>als</strong> lebten wir noch in einer Monarchie. Sie dulden nur schmückende Ehefrauen <strong>als</strong> Insignien<br />

gütiger Nächstenliebe, aber keine Frauen, die sich für einklagbare Menschen- und damit auch für<br />

Frauenrechte einsetzen. Das schmerzt mich. ...".<br />

Sie steht am Fenster im obersten Stockwerk des "Palais de Chaillot" am Pariser<br />

Trocadéro. Nicht etwa im Elysée-Palast, dem Amtssitz des Präsidenten mit seinen 395 Räumen<br />

und knapp tausend Komparsen, hat sie ihr Domizil, sondern in den Büroräumen der von ihr 1986<br />

gegründeten Menschenrechtsorganisation "France Libertés" - Engagement gegen Terror, Gewalt,<br />

Rassismus und Elend in der Welt; Frankreich wie selbstverständlich inbegriffen. Was für Danielle<br />

Mitterrand soviel heißt wie "an einer Front der Frauen zu kämpfen, für die Ausgeschlossenen und<br />

Entrechteten einzutreten". In den Büros von "France Libertas" ereilen die über-wiegend jungen<br />

Mitarbeiterinnen Notrufe aus der Türkei, dem Irak, Algerien - aus Bosnien, Tschetschenien oder<br />

China. Immer wieder sind es die gleichen Alarmberichte: Folter, Mord, Vergewaltigungen oder<br />

Ausrottung dort, wo so etwas wie ein alltäglicher Ausnahmezustand herrscht.<br />

Und mittendrin agiert eine kleine zierliche Frau mit fast mädchenhafter Stimme, die es<br />

ablehnt, eine Chefrolle wahrzunehmen, "weil wir eine Gruppe von Gleichberechtigten und<br />

Gleichgesinnten sind, voilà." In über 60 Ländern ist "France Libertas" mittlerweile engagiert, der<br />

dafür erforderliche Haushalt wird aus dem Grundkapital von 27 Millionen France (4,12 Millionen<br />

Euro) und Spenden abgedeckt.<br />

Es ist in Frankreich kein Geheimnis, dass Danielle Mitterrand nie Lust verspürte, sich<br />

protokollarischen Artigkeiten zu unterwerfen, wie sie für die Gattin des Präsidenten bis dahin<br />

üblich waren. - Sie lacht darüber und erklärt mir zu diesem Thema knapp: "Zeitverschwendung,<br />

teilweise geschmacklos, auf jeden Fall überflüssig. Man lässt sich doch nicht selbstgefällig im Elysée<br />

nieder, dort kann man allenfalls ein Werkzeug sein."<br />

Geheiratet hatte Danielle Gouze ihren François im Jahr 1944. Sie war die Tochter eines<br />

atheistischen Schuldirektors und Freimaurers. Sie einte die Résistance gegen die deutschen<br />

Besatzer, die gemeinsame Vision von einer gerechteren, einem sozialistischen Frankreich. Es<br />

scheint heute fast vergessen, aber im Jahre 1981 gewann François Mitterrand die Wahlen mit dem<br />

623


Versprechen, dieses neue Frankreich gestalten zu wollen. Schon 18 Monate später kam ihm<br />

dergleichen nicht mehr über die Lippen. Nunmehr gehörten Computer samt Hochtechnologie,<br />

Kernkraftwerke, TGV-Schnellzüge und das Bildschirmtextgerät "Minitel" zu seinem<br />

Lieblingsvokabular - die Terminologie eines fundamentalen Sinneswandels. Längst hatte der<br />

Präsident die "Union der Linken" verabschiedet - fortan suchte er die Symbolik eines Charles de<br />

Gaulles (*1890+1970), ganz besonders war er in monumentale Bauten verliebt, die das<br />

Unvergängliche seiner Amtszeit zu dokumentieren vermochten.<br />

Danielle gehörte in seiner engsten Umgebung zu den wenigen, die sich dieser bizarren<br />

Wendung des "Wahl- monarchen" entgegenstemmten, " Aber er ist Mitterrand, ich bin Sozialistin",<br />

sagte sie oft ein wenig verschämt und ungefragt. Die Ehe war längst auseinander. François lebte in<br />

einem präsidialen Parallelhaushalt mit der Kunsthistorikerin Anne Pingeot am Pariser "Quai<br />

Branly" zusammen. Mit ihr verbindet ihn auch die gemeinsame z1wanzigjährige Tochter Mazarine.<br />

Ein reines Staffagen-Dasein fristeten die Bewacher der "Garde Républicaine", die stets ungerührt<br />

und pflichtversessen seine eigentliche Wohnung in der "Rue de Bièvre" bewachten. -<br />

Staatsgeheimnis.<br />

Im Gegensatz zu Deutschland und vor allem den angel-sächsischen Staaten sind im<br />

romanischen Frankreich in der Öffentlichkeit außerhäusige Bettgeschichten, längere Amouren,<br />

dauerhafte Zweisamkeiten und damit auch uneheliche Kinder geradezu tabu. Vornehmlich dann,<br />

wenn es den Namen eines hochgestellten Mannes aus Politik, Wirtschaft oder Verwaltung <strong>als</strong><br />

Erzeuger auf dem Geburtsschein einzutragen gilt. Zu sehr ist die familiäre Daseinsfürsorge der<br />

Männer zu einem scheinbar unanfechtbaren Dogma geworden. Dabei weiß die Republik insgesamt<br />

etwa 1,2 Millionen uneheliche Kinder in ihren stolzen Reihen. Nur Heimlichtuereien pflastern den<br />

Karriere-Weg im Dunstkreis des gesellschaftlichen Anstands. Dabei gelten doch auch unter den<br />

Männern des Pariser Etiketten-Milieus nur die "besten Jäger" <strong>als</strong> förderungswürdig für den<br />

erhofften Aufstieg, der sich im Kürzel "PDG"("Président Directeur Général") nennt. Und François<br />

Mitterrand gefiel sich schon immer in der Rolle des "homme à femmes" - <strong>als</strong> diskreter Frauenheld<br />

der Republik. Einer Frauen-Zeitschrift bekundete er: "Frauen lieben, das ist wie Blumen lieben."<br />

Tatsächlich nimmt nun ein vom Krebs gezeichneter Mann Abschied - von seiner Macht,<br />

von der Politik, von seinem Leben. Und während des Schlusschor<strong>als</strong> für die "Ära Mitterrand" wagt<br />

er es wohlbedacht, sich mit seiner ihm verblüffend ähnlich sehenden illegitimen Tochter Marzarine<br />

im Pariser Restaurant "Le Divellec" in der "Rue de l'Université" zu zeigen. Schließlich galt es, mit<br />

Freunden ihre Aufnahme in die Elite Hochschule "Ercole nNormalesuperiere zu feiern. Heimlich<br />

geschossene Fotos und Reportagen aus der Schlüsselloch-Perspektive - ein Urknall im Frankreich<br />

der Männer. "Eine ganze Macho-Gesellschaft zitterte", schrieb die Satire-Zeitung "Charly Hebdo"<br />

mit hämischen Unterton.<br />

Verständlich, dass derlei von Mitterrand offenkundig beabsichtigte Indiskretionen sein<br />

Vorgänger, der liberal-konservative Valéry Giscard d'Estaing, "bedauerlich" fand. Verständlich<br />

auch, dass sich der gaullistische Innenminister Charles Pasqua "tief schockiert" zeigte und<br />

Sozialistenchef Henri Emmanuelli gar von einem "absoluten Tiefschlag" wetterte. Frankreichs<br />

Männer-Phalanx in einer Großen Koalition vereint oder Geschlechterkampf auf französisch. Nur<br />

Danielle Mitterrand, die eigentlich betroffene Ehefrau, blieb ganz gelassen. Sie äußerte frohgemut:<br />

"Wären wir alle ehrlicher miteinander, es blieben uns diese lüsternen Schlüsselloch-Effekte einer<br />

gesellschaftlichen Doppelmoral erspart. François und ich, wir haben uns noch sehr viel zu sagen."<br />

Von Danielle Mitterrands Abschied an der Seite ihres Mannes mag so eigentlich niemand<br />

in Frankreich Kenntnis nehmen. Er findet praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.<br />

624


Dabei ist die einstige Buchbinderin länger die "Première Dame de la France" gewesen <strong>als</strong> alle ihre<br />

Vorgängerinnen - Napoléon III. und die Ära Charles de Gaulle eingeschlossen.<br />

Sie wird politisch in der Dritten Welt mehr bewegt, gezielter in die Innenpolitik<br />

eingegriffen haben <strong>als</strong> so manche der berufenen Münder des "Corps diplomatique" oder die<br />

politischen Klassen Frankreichs überhaupt.<br />

"Leb wohl, Danielle, man mochte dich nicht besonders, aber Respekt hatte man schon<br />

vor Dir", schrieb lediglich das Magazin "L'événement du jeudi". Merklich unterkühlt war dieses<br />

"Adieu" -geradezu emphatisch erschienen dagegen die Zeilen über den vermeintlichen Neubeginn<br />

mit Marie-Josèphe Balladur <strong>als</strong> der künftig "Ersten Dame" am Hofe der Republik. Zweifelsfrei<br />

steht Madame Balladur in einer nahtlosen Kontinuität großen Frauen des französischen Staates.<br />

Vergangene, verschollen geglaubte Standes-Regularien erleben eine ungeahnte Renaissance. "Wenn<br />

ich im Elysée bin", gesteht sie freimütig, "wird sich so manches gewaltig ändern. Anstand, Moral<br />

und Werte sind heute gefragter denn je." Wird das Terrain so vermessen, dann weiß sie im<br />

heimatlichen Chamonix in den Alpen <strong>als</strong> Fabrikerbin nicht nur das Großbürgertum an ihrer Seite.<br />

Im Alltag achtet Madame streng auf zwei arg vernachlässigte Vorgaben. Die Balladur-Kinder haben<br />

ihren Vater in der "Sie-Form" anzusprechen, und sie überwacht mit peinlicher Genauigkeit, dass<br />

ihr Ehemann, der "Doudou", nicht zu viel zunimmt, wenn er einmal Zeit für den häuslichen<br />

Kamin hat. Frankreich in Wendezeiten!<br />

Das schließt die Kasten-Philosophie ein: Es ist fest gezurrte Traditionen der französischen<br />

Oberschicht - Frauen haben sich zuvörderst <strong>als</strong> Schmuckstück ihres Mannes darzustellen.<br />

Sogenannte Traumkleider weisen die gesellschaftliche Richtung, das Schloss von Versailles bildet<br />

den emotionsgeladenen Hintergrund, wenn es sich um stilsichere Momentaufnahmen<br />

republikanischer Daseinsbewältigung handelt. Hießen sie nun Yvonne de Gaulle, die sich "Tante<br />

Yvonne" umschmeicheln ließ, oder war es die unnahbare Anne-Aymone Giscard d'Estaing - mit<br />

familien- und harmoniebetonter Weiblichkeit- sie alle wussten und mussten mit Frankreichs<br />

großen Männern ihren Staat zu machen; ob beim Teekränzchen oder auf Kunstausstellungen -<br />

geflüsterte Neuigkeiten gab es allemal.<br />

Die Modehäuser Chanel, Dior, Chardin schufen ihren Blickwinkel auf feminine<br />

Wirklichkeitsaus-schnitte der letzten Jahrzehnte, wobei den Vorzeige-Damen stets ein gebührender<br />

Platz eingeräumt wurde - genauer gesagt ihren Prestige-Kleidern aus der "Haute Couture" im<br />

Pariser Mode-Museum. Dabei ist die französische Nation so unendlich stolz darauf, einen Umsturz<br />

im Sinne der Gleichheit aller Staatsbürger erlebt zu haben - nur nicht für die Frauen in der Politik.<br />

Das bleibt Männer-Sache. Diese "Herren-Mentalität" gesteht den Frauen alle nur erdenklichen<br />

Privilegien zu, aber einklagbare Rechte? Die gab es früher nicht und die soll es auch in den<br />

kommenden Jahren des konservativen Neubeginns nicht geben.<br />

Es versteht sich, bei diesen Klischees dürfte Danielle Mitterrand <strong>als</strong> eine unberechenbare,<br />

zänkische Politiker-Gemahlin in die grob gefrästen Annalen der französischen Oberschicht<br />

eingehen, die sich so ganz und gar nicht dem höfischen Zeremoniell der Männer fügen wollte. In<br />

ihrem Büro bei "France Libertés" hängen Bilder, Fotos, Masken oder Gemälde von naiven Malern,<br />

die Danielle Mitterrand von ihren Reisen in Staaten der Dritten Welt mitgebracht hat, wenn sie zu<br />

Aids-Stationen in Afrika, den Obdachlosen von Dacca oder den Straßenkindern von Manila<br />

unterwegs war. Mit besonderer Hingabe hat sie sich stets nach dem kurdischen Volk gewidmet. Im<br />

irakischen Kurdengebiet entging sie 1992 nur knapp einem Attentat, <strong>als</strong> eine Autobombe<br />

explodierte. Sieben Menschen fanden den Tod.<br />

625


"Bin ich Französin oder Kurdin? Ich weiß es nicht mehr", sagte sie bei ihrer Rückkehr<br />

nach Paris. Tonnen um Tonnen an Nahrung und Medikamenten schickte sie auf die Reise: die<br />

Gattin des Präsidenten <strong>als</strong> Flugbegleiterin gleich neben den Kisten. Szenen Kräfte zehrende<br />

Selbstbehauptung in den Jahren der bewusst riskierten Regelverletzungen, des Affronts gegen<br />

Frankreichs etablierte Machteliten, die sich an Export-Ambitionen und eine flankierende<br />

Außendiplomatie zu halten pflegen, wenn es um die Dritte Welt ging. Es krachte zusehends<br />

heftiger zwischen den Außenpolitikern am Quai d'Orsay und Madame. Immer wieder waren es<br />

dieselben Interessenkonflikte. Frankreich verkaufte Waffen oder Atomkraftwerke - natürlich <strong>als</strong><br />

Entwicklungshilfe deklariert.<br />

Ob in China, Südamerika oder auch in Marokko - die unliebsame Danielle Mitterrand<br />

hatte längst ihre Paralleldiplomatie in Sachen Menschenrechte aufgebaut. Ihr blieb es vorbehalten,<br />

auf höflich unterkühlten Staatsempfängen Politiker-Frauen wie Hillary Clinton oder auch Olga<br />

Havel zu einem Netzwerk in puncto Zivilgesellschaft und Bürgerrechte zu motivieren. Sie blieb das<br />

stete Ärgernis, woraus schon 1990 der gaullistische Abgeordnete Erich Raoult die rigide Forderung<br />

ableitete, dieser "Brachi<strong>als</strong>ozialistin" müsse "das Handwerkzeug genommen werden".<br />

Aber ihre Grenzüberschreitungen ließen sich nicht nur geografisch verfolgen, Danielle<br />

Mitterrand wollte auch den Text der französischen Nationalhymne erneuern. Diktion wie Inhalt<br />

der "Marseillaise" waren ihr zu "kriegerisch", besonders Formulierungen von den "brüllend wilden<br />

Soldaten, die unsere Söhne und Frauen erwürgen und "deren Blut unsere Ackerfurchen tränkt"<br />

störten ihr Empfinden. Natürlich ein aussichtsloser Vorstoß, aber es entsprach ihrem<br />

Selbstverständnis. "Ich habe es satt, wie ein Paket des Präsidenten herum geschoben zu werden,<br />

artig Chrysanthemen-Shows zu eröffnen und die Pariser Mode zu repräsentieren. Mein ganzes<br />

Leben hatte ich einen Faltenrock und einen Pullover für den Winter und einen anderen Faltenrock<br />

und ein T-Shirt für den Sommer", konnte sie in aller Öffentlichkeit poltern.<br />

Ausgerechnet in diesem Jahr des Abschieds ist Danielle Mitterrand noch zusätzlich in eine<br />

unerwartete Ausnahmesituation geraten. Eine Herzoperation zwang sie, sich mehr Ruhe und Muße<br />

zu verordnen - sich Momente der Besinnung zu gönnen, der Fragen an eine sich schon auflösende<br />

Ära.<br />

Von ihrem Büro lässt sie den Blick herabgleiten auf das Weichbild der Metropole, die im<br />

letzten Monat vor der Präsidentenwahl viele bunte, überlebensgroße Männer-Plakate und über vier<br />

Millionen Quadratmeter leer- stehende Bürofläche kennt, aber keine Schmuddelkinder mehr<br />

duldet. Wer kein Geld hat, der wird aus diesem hypermodern herausgeputzten Paris der Alt- und<br />

Neureichen in die kaum vorzeigbaren Vorstädte, an die soziale Peripherie vertrieben wie in kaum<br />

einer anderen westlichen Hauptstadt. Dort, wo nach den Wahrnehmungen des<br />

Präsidentschaftskandidaten Jacques Chirac schon "die Gerüche und der Lärm" auf viele<br />

Einwandererfamilien schließen lassen.<br />

Auf ihrem Schreibtisch liegt das Gesprächskonzept für ihren letzten Termin an diesem<br />

Tag, es wird um den "Europäischen Pass gegen Rassismus" gehen. Erst vor wenigen Wochen ist<br />

der siebzehnjährige Komorer Ibrabim Ali in Marseille von Wahlhelfern der rechts- radikalen "Front<br />

National" des Jean-Marie Le Pen während einer Kundgebung zur Präsidentschaftswahl von hinten<br />

erschossen worden.<br />

Als ich mich schon verabschiedet habe, ruft sie mir noch hinterher: "Wer nicht handelt,<br />

begeht ein Verbrechen. Ich werde mit France Libertés kämpfen, bis ich umfalle..."<br />

626


1996<br />

Grösstes Frauen-Gefängnis Europas – Väter, Freier, Wärter<br />

Armut in Frankreich: Freier Fall ins Elend<br />

SOS-Attentats: Keine Zeit für Wut und Tränen<br />

627


VÄTER, FREIER,WÄRTER<br />

Das französische Gefängnis Fleury Maronis ist Europas größte Haftanstalt für<br />

Frauen. Ein restlos überfüllter Frauen-Knast mit Haftrevolten, Geiselnahmen, Ausbrüchen;<br />

ein SingSing aus Selbstverletzungen, Selbstmorden, Selbstverstümmelungen. Für<br />

Rauschgiftsüchtige und HIV-infizierte bedeutet Fleury-Mérogis Endstation - die letzte<br />

Bleibe vor ihrem Tod. Meist im Morgengrauen fährt der Bestattungsbus zu den<br />

Sammelgräbern des Städtchen Thiais. Friedhofsruhe im Vollzug. Kein Politiker mahnt im<br />

Land der Menschenrechte Reformen an. Mit "Landgraf-Werde-hart-Parolen" wird<br />

Frankreich unter Nicolas Sakorzy regiert. - Bleierne Zeiten.<br />

Trierischer Volkfreund vom 25. Oktober 1996<br />

Es gab Zeiten, da fuhr der Bestattungsbus schon früh im Morgengrauen zum Sammelgrab<br />

der Frauen - genauer gesagt: Zum Friedhof des Städtchen Thiais, das südlich von Paris liegt. Dort<br />

hatte die Gefängnisleitung in Fleury-Mérogis, der größten französischen Frauenhaftanstalt in<br />

Europa, gleich auf Verdacht mehrere Sammelgrababschnitte der Nummer 104 bis 146 in den<br />

Reihen 22, 23, und 24 für seine Insassinnen reservieren lassen. Vor-sichtshalber, weil von Fleury-<br />

Mérogis ein merkwür-diger Sog auf in ganz Frankreich inhaftierte Frauen ausging -auch<br />

Selbstmordwelle genannt.<br />

Immerhin schnellten in Frankreich die Suizidfälle von 1979 bis 1995 in insgesamt 183<br />

Strafanstalten mit 58.000 Häftlingen (etwa 4.500 Frauen) von jährlich 37 auf 107<br />

Gefängnisselbstmorde in die Höhe. Und in Fleury-Mérogis reichte der Freitod von vier Frauen<br />

binnen weniger Tage aus, um eine Selbstmordketten-Reaktion in Haftanstalten von Rennes bis<br />

Marseille auszulösen.<br />

"Die Haft der Frauen ist durch und durch härter <strong>als</strong> die der Männer", urteilt<br />

Anstaltsdirektor Bernard Cuguen vom Centre National d'Orientation in Fresnes, der na- tionalen<br />

Gefangenenverteilerstation. "Keiner will es wahrhaben", fährt Cuguen fort, "aber wir wissen es<br />

mittlerweile sehr genau. Frauen in Gefängnissen sind einsamer, von der Außenwelt isolierter, auch<br />

in ihrer Haft verlassener <strong>als</strong> Männer." Allein daraus ergebe sich schon eine ohnmächtige<br />

Angriffslust.<br />

Doch im Gegensatz zu den Männern sei die Aggressivität der Frauen nicht gegen andere,<br />

sondern gegen sich selbst gerichtet; Selbstverletzungen, Selbstverstüm-melungen, Selbstmord. Die<br />

Psychologin Marie-Cécile Bourdy aus Fleury-Mérogis ergänzt: "Früher starb eine Anzahl von<br />

Frauen draußen, kurze Zeit nach Haftentlassung. Häufig an einer Überdosis Heroin, was eigentlich<br />

nur ein verfehlter Selbstmord war. Heute hingegen suchen sie schon lieber im Knast den Tod, weil<br />

die Haftbedingungen noch härter geworden sind, und die Zuflucht sich <strong>als</strong> Sackgasse erweist. Sie<br />

erleben Momente tiefer Traurigkeit und Selbstzweifel. Dabei sind es im wesentlichen sehr junge<br />

Frauen. Einst hatten wir den Frauen-Selbstmord so gut wie nicht gekannt. Heute machen es die<br />

Frauen wie die Männer - sie erhängen sich in ihren Zellen. Und das meist nachts, ohne ein Wort zu<br />

hinterlassen. Ab zum Sammelgrab."<br />

Wenn es wieder einen Selbstmordversuch in Fleury-Mérogis gegeben hat, werden<br />

präventiv im Knast etwaige Suizidkandidatinnen aus ihren Zellen geholt und im Nachbartrakt nackt<br />

zwischen zwei Matratzen eingebunden -und das über Stunden. Erst dann darf der bereits<br />

vollzogene Selbstmord übers Radio öffentlich gemacht werden. So gesehen befinden sich die<br />

628


Gefängnisfrauen in einem permanenten Aufbruch, Umbruch, Umschluss - tagein, tagaus. Folglich<br />

ist in Frankreichs Frauenhaft Fleury-Mérogis so gut wie nichts intim. Alles unterliegt der Umzug<br />

signalisierenden Guckloch-Öffentlichkeit. Angst heißt der unabänderlicher Wegbereiter und -<br />

Flurbegleiter in jenen entsagungsreichen Zeiten des Freiheitsentzugs.<br />

Dabei gehörte Frankreichs Frauengefängnis Fleury-Mérogis mit seinen dreitausend<br />

inhaftierten Frauen auf 2.400 Plätzen lange Zeit noch zu den halbwegs vorzeig-baren Haftanstalten<br />

des Landes. Ob kleine, aber gut gepflegte Zellen, ob Bibliotheken, Gesprächsräume oder auch die<br />

Krankenstation - vornehmlich in den siebziger Jahren ließ sich das Frauen-Gefängnis Fleury-<br />

Mérogis vorführen <strong>als</strong> Paradebeispiel eines auf Resozialisierung bedachten Frauenstrafvollzug. -<br />

Lang ist's her; ein Torso ist von allem geblieben. Heute heißt es: Kein Geld für einen<br />

gesellschaftsnahen Strafvollzug, kein Geld für eine leistungsgerechte Arbeitsentlohnung, auch keine<br />

finanziellen Mittel für Renten- und Krankenversicherung.<br />

Dafür drei oder manchmal sogar vier Frauen, die in einer acht Quadratmeter großen Zelle<br />

zusammenhausen. Ein Frauen-Knast voller Drogen samt ihren Kurieren. Sind doch exakt 80<br />

Prozent der Frauen rauschgiftsüchtig und gar 45 Prozent HIV-infiziert. Für viele Frauen ist der<br />

Gefängnisbau von Fleury-Mérogis Endstation - die letzte Bleibe vor dem Tod.<br />

"Uns reicht's", sagen sie da. "Wir essen nicht mehr, wir waschen uns nicht mehr, lasst uns<br />

in unseren Betten verrecken. Wir rühren uns nicht mehr von der Stelle, nehmen keinen Teller,<br />

keinen Becher mehr an." Verweigerung. Naheliegend, dass in diesem Vollzugsmilieu ein<br />

Kindheitsschock schon immer <strong>als</strong> neben-sächlich belächelt wurde, <strong>als</strong> unglaubwürdig, halt <strong>als</strong> nicht<br />

gerichtsverwertbar abgetan wird. Und das, obwohl sich etwa bei der Hälfte der Frauen in Fleury-<br />

Mérogis jenes traumatische Urerlebnis in ihren Gefühlsabläufen eingenistet hat - der sexuelle<br />

Missbrauch vieler Töchter durch ihre Väter, die sexuelle Nötigung der weiblichen Häftlinge durch<br />

so manche Wärter. Junge Mädchen von Fleury-Mérogis, zwischen 13 und 20 Jahren alt, wissen von<br />

jenen Männer-Übergriffen in jenen Grauzonen - sie alle schweigen. Gewohnheitsrecht.<br />

Glaubwürdigkeit ist gefragt. Einmal kriminell, immer unglaubwürdig, heißt es. Erst verge- waltigen<br />

Väter ihre Töchter, Erzieher in Heimen folgen. So betrachtet bewahren dann einige französische<br />

Vollzugsbeamten in ihren meist eigens dafür flüchtig hergerichteten Zellenseparé lediglich eine<br />

unscheinbare Kontinuität männlicher Alltagszugriffen dieser Jahre. Einmal Freiwild, immer<br />

Freiwild.<br />

Längst hat sich die französische Öffentlichkeit - von Berührungsängsten getragen<br />

augenzwinkernd darauf verständigt, einen explosiven Notstand notdürftig zu verwalten.<br />

Verantwortlich dafür sind insgesamt 18.000 schlecht bezahlte Vollzugsbeamte mit einem<br />

Durchschnittsgehalt von monatlich mehr oder weniger von tausend Euro. Die Folge in diesen<br />

Jahren: Im ausgegrenzten Fleury-Mérogis haben zwei Wärter bis zu fünfhundert Frauen beim<br />

Rundgang zu beaufsichtigen. Mit 1,4 Prozent des Staatshaushalts, weniger <strong>als</strong> 3,5 Milliarden Euro<br />

ist die Justiz ohnehin am unteren Ende der Politikerinteressen angesiedelt.<br />

Am Punkt 34,40 Meter im Sammelgrab des Friedhofs von Thiais wird an diesem Morgen<br />

die 24jährige Laurence verscharrt. Ein Mädchen, das wegen Diebstahl im Trakt D6 E, Zelle vier<br />

zum 25. Male eingesperrt worden war, diesmal drei Monate. Todesursache: Heroin. Gefunden<br />

wurde Laurence in einem der Stundenhotels; ganz in der Nähe der Haftanstalt. Bei ihr lag noch ein<br />

verschmierter Zettel. Auf ihm stand: "Ich lächele und gehe fröhlich. Die Menschen sollen Laurence<br />

in guter Erinnerung behalten. Nicht wie eine Kranke, die hässlich, mager, unschön aussah, sondern<br />

wie eine Frau, der man Blumen wenigstens ans Grab mitbringt. Adieu."<br />

629


Dabei hatte Laurence ihre Strafe schon verbüßt, sich - wieder in Freiheit - bei der<br />

Wiedereingliederungs-Organisation ARAPEGE, beim Bewährungshelfer - um Unterkunft und<br />

beim Arbeitsamt gar um einen Job <strong>als</strong> Verkäuferin bemüht. Doch wie immer widerfuhren ihr<br />

Absagen - Fehlanzeigen über Fehlanzeigen in diesen bedrückenden Jahren der<br />

Massenarbeitslosigkeit.<br />

Vielleicht zählte Laurence in Fleury-Mérogis zu jenen Frauen, die im Knast letztendlich<br />

ihr Zuhause fanden. Meist, wenn Laurence wieder eingeliefert wurde, soll sie sich lauth<strong>als</strong> mit dem<br />

Hinweis getröstet haben: "Wenn man hier rauskommt - das ist das Schlimmste. Wir lernen hier<br />

nämlich nicht zu leben. Im Gegenteil. Wir lernen, uns suchtzerfressen an die Tabletten zu halten,<br />

auf die Post, auf das Essen, auf den Hofgang, auf die Kommandos zu warten. In der Freiheit bleibt<br />

mir nur der Straßenstrich. Für Bauch und Kiff reicht das schon."<br />

Als Laurence aus der Haftanstalt entlassen wurde, brachte man ihre Zellennachbarin Joelle<br />

gleich für acht Tage in Isolierhaft. Sie hatte es gewagt, eine Wärterin <strong>als</strong> "unterversorgtes<br />

Arschloch" zu beschimpfen. Andere Häftlinge, wie beispielsweise Chantal, weigerten sich<br />

wiederholt, "ihr Aspirin" einzunehmen. Die Gefängnisleitung hat das Recht, weibliche Häftlinge bis<br />

zu 45 Tage ohne rechtsstaatliche Kontrolle in eine spezielle Abteilung verfrachten zu lassen. Und<br />

Isolierhaft (le mitard) bedeutet in Fleury-Mérogis leere, durchnässte, abgedunkelte Zellen, ohne<br />

Decken, kein Besuch, keine Beschäftigung, kein Spaziergang, kein menschlicher Blickkontakt. -<br />

Essen wird unter der Tür durchgeschoben.<br />

Joelle, 28 Jahre alt, ist wegen ihrer Taschenspielertricks hierher gekommen - immer<br />

wieder, immer länger. Mittlerweile riskiert sie gar schon einem kleinen Rück-blick. "Als ich hier<br />

ankam", erzählt Joelle, "bin ich fast durchgedreht. Ich habe nicht kapiert, was hier vor sich geht.<br />

Ich bin mit acht oder zehn jungen Mädchen zusammengekommen, die sich alle kannten. Ich, so<br />

blöd wie ich war, hatte gedacht, dass sie wegen der gleichen Sache hier sind. Aber sie kannten sich<br />

allesamt aus Fleury-Mérogis. Ich habe erst hier verstanden, was das bedeutet, im Knast zu leben.<br />

Sie waren hochgradig rückfällig. Seit einem Jahr sehe ich sie weggehen und wiederkommen." -<br />

Fleury-Maronis ein Durchlauferhitzer.<br />

Fleury-Mérogis - das größte Frauengefängnis in Europa. Haftrevolten, Ausbrüche,<br />

Geiselnahme überziehen ansonsten die französische Republik vielerorts: in Paris, Nancy,<br />

Dunkerque oder Nimes. Und immer wieder sind Polizeieinheiten oder gar Kompanien der<br />

französischen Armee in Aktion. Nur in Fleury-Mérogis herrscht Fried hofsruhe. Kein Politiker<br />

verliert ein Wort über die Zu- stände im französischen Strafvollzug, mahnt gar Reformen an.<br />

Lediglich die Sprecherin der französischen Grünen, die Ärztin Dominique Voynet (Ministerin für<br />

Umwelt und Naturschutz 1997-2001), mag sich über die Innenausstattung französischer<br />

Gefängnisse erregen. Einzelkämpferin. "Entsetzliche Missstände", schimpft sie. "Die meisten<br />

Frauen in Fleury-Mérogis gehören nämlich nicht in den Knast, sondern ins Krankenhaus , in eine<br />

Langzeittherapie. Nein", fährt sie fort, "Frankreich ist dabei, seine Gefängnisse aus Kostengründen<br />

für Aids-Kranke <strong>als</strong> Warteschleifen auf dem Wege zum Tod umzufunktionieren."<br />

630


MONSIEUR MAIGRET IST EINE FRAU IN PARIS<br />

Frankreich verfügt über die meisten Sicherheitskräfte in Europa. Doch<br />

Polizistinnen wie Polizisten haben das Gefühl, von der Bevölkerung verachtet zu werden.<br />

Pistole in der Tasche - Stimmung auf Halbmast, Übergriffe auf Revieren, hohe<br />

Selbstmord- und Scheidungsraten, schlechte Moral, schlechte Arbeitsbedingungen,<br />

schlechte Bezahlung - Überstunden. Jeder zweite Franzose hält die "femmes-flics nicht für<br />

richtige Frauen.<br />

Frankfurter Rundschau 7. September 1996<br />

Im Untergeschoss, einem früheren Kohlenkeller, befinden sich die Privatquartiere des<br />

Polizei-Reviers von Montbéliard: einem 35.000 Einwohner zählenden Städtchens nahe der<br />

Schweizer Grenze, etwa 80 Kilometer von Basel entfernt. Das Souterrain, auch "U-Boot" genannt,<br />

ist sehr gut besucht von den 170 Ordnungshütern und zehn Polizistinnen, die hier täglich ihrem<br />

Dienst nachgehen. Fensterlos reihen sich Kantine neben Umkleideraum aneinander.<br />

Wie vielerorts in Frankreich wagt es auch in Montbéliard kein Ordnungshüter mehr, seine<br />

Uniform außer der Dienstzeit - etwa auf dem Heimweg - zu tragen. Der Polizeistatus schützt die<br />

Beamten keineswegs vor Aggressionen. Folglich herrscht vor den Spinden auf kleinstem Raum<br />

Hochbetrieb. Hauptwachtmeisterin Simone Cuvelier, 32, sagt: "Wir haben schon recht lange das<br />

Gefühl, bei der Bevölkerung unbeliebt zu sein und von staatlichen Institutionen verachtet zu<br />

werden." Ganz nach dem Überlebensmuster, Pistole in der Tasche, Stimmung auf Halbmast,<br />

versucht jeder, schnell in eine beliebtere, zivile Rolle zu schlüpfen - "nur raus aus den Polizei-<br />

Klamotten".<br />

Dafür sind um den großen Tisch in der Kantine die Sandwiches üppig, da das Essen hier<br />

sehr preiswert ist. Muss doch ein junger Polizist monatlich mit circa 1.230 Euro auskommen.<br />

Gebrutzelt wird hier rund um die Uhr. Koch Laurent, ein Muskelprotz mit Schürze, unterhält sich<br />

mit seiner Kollegin Hauptkommissarin Marie-Julia Aranda über die französischen Geiseln, die in<br />

Algerien entführt worden sind. "Wenn sie ermordet wären", erklärt der Küchenchef, "hätten wir<br />

zum Maschinengewehr gegriffen und wären auf die in Barbès losgesprungen." (Barbès ist ein<br />

Ausländerviertel in Paris und gilt <strong>als</strong> Synonym für Überfremdung.) Kommissarin Maria-Julia<br />

erwidert kühl: "Wenn alle gescheitert sind, die Politiker, die Arbeitgeber, die Erzieher, die Eltern,<br />

dann bricht alles auf uns ein." Und sie fragt: "Aber was können wir eigentlich tun gegenüber<br />

diesem Scheißhaufen an Elend?<br />

Mit der Maschinenpistole herumzufuchteln, das ist keine Lösung. Doch<br />

Sozialarbeiterinnen sind wir schließlich auch nicht." Kollegin Jacqueline, die zuhört, erhärtet die<br />

Identitätskrise der französischen Polizei. Sie bemerkt: "In einer zunehmend regelloseren<br />

Gesellschaft werden wir <strong>als</strong> Ordnungskräfte für nahezu alles verantwortlich gemacht, und unser<br />

Ruf rutscht in den Keller. Dabei ist die Situation so erstarrt, dass es keinen Sinn macht, Fleiß oder<br />

sogar Verständnis zu zeigen. Vorbeugung, Abschreckung durch Anwesenheit. Dass ich nicht lache.<br />

Angst haben wir."<br />

Unerwartet, geradezu über Nacht, erfahren alte Fragen des Polizisten-Selbstverständnisses<br />

in Montbéliard und anderswo in der französischen Republik eine verschärfte Aktualität - auch <strong>als</strong><br />

"Polizei-Krise" gebrandmarkt. Ob Jacqueline Simone oder Marie-Julia - gemeinsam mit 15.000<br />

Kollegen machten sie sich in Sonderzügen zur Demonstration gen Paris auf. Auf ihren<br />

631


Transparenten stand geschrieben: "Schlechte Moral, schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte<br />

Bezahlung - wir haben es satt" (Pas le moral, de mauvaises conditions de travail, mal payés; on en a<br />

marre). Tatsächlich steigen in kaum einem anderen Beruf so viele junge Männer und Frauen bereits<br />

während der Ausbildung wieder aus, drücken Krankheit, Tod und vorzeitige Aufgabe das<br />

"durchschnittliche Dienstaustrittsalter" auf knapp 55 Jahre. In kaum einem anderen Beruf lassen<br />

sich die Menschen so häufig von ihrem Ehepartner scheiden. Kein anderer Beruf hat ein so<br />

negatives Image wie der der "flics" (Polizei).<br />

Da prügeln in den Kommissariaten um Marseille Beamte Nordafrikaner schon mal<br />

krankenhausreif. Da verabreden sich Polizeioffiziere zu bewaffneten Raubzügen in der Innenstadt<br />

von Lyon. Da vergewaltigen Staatsbeamte Frauen sozusagen bei Verhören auf ihren Dienststellen<br />

in Paris oder Toulouse. Das sind gerichtskundige Alltagsschilderungen illegaler Polizeigewalt im<br />

Nachbarland Frankreich Mitte der neunziger Jahre.<br />

Zudem - in keinem anderen Beruf gibt es eine derartige Selbstmordgefährdung wie in dem<br />

des französischen Gendarmen. Laut offizieller Statistik des Waisenamtes der Polizei tötet sich in<br />

Frankreich alle neun Tage ein Uniformierter von eigener Hand. Neunzig Prozent der Beamten<br />

benutzten zum Selbstmord ihre Dienstpistole der Marke Nanurhin. Auffallend ist, dass es fast<br />

ausschließlich Männer sind, die den Freitod wählen.<br />

Die Pariser Soziologin Frédérique Mezza-Bellet nennt in einer internen<br />

Suiziduntersuchung für das Innenministerium drei Gründe, warum immer mehr Polizisten<br />

Selbstmord begehen. Sie schreibt: "Die Arbeitsbedingungen sind dürftig. Sie ermöglichen kein<br />

stabiles Familienleben mehr. Aus der hohe Scheidungsquote resultieren extreme Überschuldungen.<br />

Vornehmlich bei Männern sind geistige Verschleißerscheinungen zu konstatieren, die zum finalen<br />

Todesschuss gegen sich selbst führen. Ständig dasselbe Elend oder dieselben tristen Zustände vor<br />

Augen zu haben, einen Alltag zwischen schnell wechselnder Angst und Routine, Gefahr und<br />

Langeweile zu erleben - das greift letztendlich die psychische Konstitution an, schiebt gefühlsarme<br />

Reaktionen oder auch Selbstwerterlebnisse beiseite. In Wirklichkeit kann die Erinnerung an den<br />

mitverursachten gewaltsamen Tod eines Bürgers nur halbwegs unterdrückt, tatsächlich aber nie<br />

vergessen werden."<br />

Dabei sind Frankreichs Politiker in ihrer Selbstdarstellung prestigebewusst darauf bedacht,<br />

die innere Sicherheit zu einem prosperierenden Eckpfeiler französischer Politik ausgebaut zu<br />

haben. Tatsächlich verfügt die französische Republik pro Einwohner über die meisten<br />

Sicherheitskräfte in Europa. Die "Police National" kann auf 126.163 Beamter, die dem<br />

Verteidigungsministerium unterstehen, "Gendarmerie National" auf 80.000 Polizisten<br />

zurückgreifen. Hinzu kommen nach weitere 80.000 Hilfssheriffs privater Sicherheits-dienste. Allein<br />

in der Hauptstadt Paris sind ständig 20.000 Polizeibeamte im Einsatz. Und für besondere delikate<br />

Konflikte - Raub, Geiselnahme, Bombenanschläge, Demonstrationen - stehen die 16.000 auf<br />

Straßenkampf trainierten Polizisten der "Compagnies républicaines de sécurité" (CRS) in über<br />

sechzig Einheiten - übers Land verteilt - bereit.<br />

Für die Verbrechensbekämpfung vor Ort sowie für die Ausstattung der Polizei gibt der<br />

Staat von 1995 bis 1999 insgesamt etwa 3,05 Milliarden Euro aus. Mit weiteren 380.000 Euro sollen<br />

zudem viertausend neue Hilfspolizisten bezahlt werden.<br />

Nur Frauen <strong>als</strong> Polizistinnen, noch dazu in Führungsetagen - die waren in Frankreich bis<br />

1975 gar nicht vorgesehen. Bestätigte doch eine eigens in Auftrag gegebene Untersuchung der<br />

632


französischen Regierung zudem, "dass die Polizisten-Funktionen mit dem Frausein unvereinbar<br />

ist."<br />

Szenenwechsel - zwei Jahrzehnte später. Im Zimmer 315 am Quai des Orfèvres - dem Sitz<br />

der Brigade Criminelle - liegt im Schrank die Ausrüstung für eine Polizistin in diesen Tagen: Jeans,<br />

Jacke, Pistole, Funkgerät, Hand-schellen, Sportschuhe. Am Schreibtisch sitzt im kurzen Rock mit<br />

eleganter Bluse eine Frau, die im Jahre 1989 den härtesten Job der Hauptstadt-Gendarmen bekam.<br />

Seither ist die 46jährige Martine Monteil die Vorgesetzte von 110 Beamten. Zum ersten Mal in der<br />

französischen Kripo-Geschichte wurde eine Frau Chefin der Pariser Sittenpolizei und des<br />

Rauschgiftdezernats.<br />

Auf dem Montmartre hat Martine Monteil es mit korsischen Zuhältern zu tun, mit<br />

Straßenmädchen am Place Pigalle, mit brasilianischen Transvestiten im Bois de Boulogne und mit<br />

verdeckter Kinderprostitution am Gare de Lyon. Wenn Martine Monteil von aufgeregten<br />

Menschen in ihrem Büro aufgesucht wird, lautet die angsterfüllte Frage meist: "Pardon Madame,<br />

wo ist eigentlich der Kommissar?" An die tausend Mal hat die Karriere-Polizistin gelangweilt<br />

geantwortet: "Monsieur Maigret ist nun mal eine Frau in Paris. Und die bin ich!"<br />

Erste Hinweise auf eine feminine Berufsauffassung und auch auf qualitative<br />

Veränderungen in der Polizeiarbeit lieferte Martine Monteil schon <strong>als</strong> junge Kommissarin im 17.<br />

Arrondissement, dem undurchsichtigen Liebes-viertel unterhalb des Monmartre. Ein Serbe hatte<br />

drei Frauen vergewaltigt und erwürgt - immer in einer Tiefgarage. Nur die zweifelsfreien Beweise,<br />

um den Mann zu überführen, reichten nicht. Eine Nacht hat Martine Monteil dann mit dem Täter<br />

geredet, ihn systematisch verhört, ohne Notizblock und Aktenordner, ihm alle Einzelheiten<br />

beharrlich immer wieder vorgehalten - bis er mürbe wurde. Er gestand.<br />

Ihr antiker Schreibtisch in der fünften Etage des Polizei-Hauptquartiers ist nahezu leer.<br />

"Akten brauche ich nicht, ich weiß die Einzelheiten auch so, schließlich habe ich Jura studiert und<br />

Examen gemacht. Da wird das Gedächtnis durchtrainiert", strahlt sie siegesgewiss.<br />

Madame Martine zählte zum zweiten Frauen-Jahrgang auf der Polizeischule in Saint-Cyrau<br />

Mont d'Or, die seit 1975 auch Polizistinnen ausbildet. Es ist eine Frauen-Generation, die in<br />

Frankreich erst ganz allmählich, dann aber immer deutlicher Ermittlungsmaßstäbe verschob -hin<br />

zur kriminalistischen Frauen Wahrnehmung Ihre einstige Mitschülerin Mireille Ballestrazzi leitet<br />

heute das Kripo-Regionalbüro im korsischen Ajaccio, und Danielle Thièry sorgt sich um die<br />

Flugsicherheit bei der Air France. Als diese drei Frauen noch die Schulbank drückten, da haben sie<br />

sich auf eine weibliche Ausgangsposition verständigt, die es nunmehr im Polizieialltag umzusetzen<br />

gilt. "Wenn wir dort draußen irgendwo im Einsatz sind, wird es einen neuen Röntgenblick geben.<br />

Wir werden Vergewaltiger durch die ganze Republik jagen und erst mit einem Geständnis Ruhe<br />

geben."<br />

Nur so ist es mittlerweile zu erklären, warum in Frank-reich die zu Protokoll gegebenen<br />

Vergewaltigungsfälle um zwölf Prozent gestiegen sind. Madame Martine bedeutet:"Durch die<br />

erstarkte Frauen-Präsenz in unseren Straßen trauen sich immer mehr Vergewaltigungsopfer, das<br />

Verbrechen zu benennen und Strafanzeige zu erstatten. Wir haben auch unseren Polizistinnen das<br />

Bewusstsein geschärft: Achtet auf diese Männer, auf ihre Bewegungen, auf ihre Blicke."<br />

Mittlerweile verfügt Frankreich über 31.000 Polizistinnen. Das entspricht einer Quote von<br />

15 Prozent. (In Deutschland beträgt der Frauenanteil circa sieben Prozent).<br />

633


"Die Polizistinnen sind natürlich keine Wundertiere", urteilt Michel Richardot, Direktor<br />

der Staatlichen Hochschule für Polizei in Saint-Cyr am Mont d'Or. "Aber sie haben unsere Arbeit<br />

qualitativ erheblich verbessert in diesen sozial zerrissenen Zeiten. Sie sind scharfsinnig, nicht so<br />

draufgängerisch, eben rechts-staatlicher <strong>als</strong> Männer. Keine Polizistin ist in einem der berüchtigten<br />

Gewaltskandale verwickelt. Frauen in Uniform können nachweislich vor allem eines - den<br />

öffentlichen Frieden in Polizei-Revieren oder auch im Stadtviertel wieder herstellen."<br />

634


ARMUT IN FRANKREICH - FREIER FALL INS ELEND<br />

Die Konjunktur läuft, aber gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit. Menschen<br />

bleiben draußen vor der Tür. Über 2,5 Millionen Französinnen leben von Sozialhilfe, eine<br />

halbe Millionen ziehen obdachlos durchs Land - jeder vierte Jugendliche bleibt ohne Job.<br />

In ehem<strong>als</strong> reichen Bergarbeiterdörfer - wie hier in Le Chambon Feugerolles in der Loire -<br />

oder in vielen banlieues großer Metropolen prägt und bestimmt nur noch die halbwegs<br />

versteckte Not ihren Alltag. Schriller Überlebenskampf. "Wir Frauen schämen uns hier in<br />

Frankreich noch, wenn uns die Armut erwischt. Das ist nicht normal", sagt die 48-jährige<br />

Annie Bonnard .<br />

Neue Osnabrücker Zeitung 29. Februar 1996<br />

Nur ein schmaler, gewundener Dienstbotenaufgang führt auf den Dachboden eines<br />

verwinkelten Apartementhauses in der Rue Salengro im Loire-Städtchen Le Chambon Feugerolles<br />

in der Nähe von St. Etienne. Hinter einer antiken Holztür ohne Namensschild versteckt sich die<br />

Armut dieser Region - Frauen-Armut. Die 48jährige Annie Bonnard kommt seit neun Jahren<br />

nahezu täglich zum "Colletif Chômeurs", zur Bürgerinitiative der Arbeitslosen in diesem ehem<strong>als</strong><br />

reichen Bergarbeiter-Ort.<br />

"Einfach deshalb", wie sie knapp bemerkt, "um die krankmachende Isolation zu<br />

durchbrechen und ein bisschen Not mit den kostenlosen Fresspaketen der "restaurants du coeur"<br />

zu lindern. Wir Frauen verstecken und schämen uns hier in Frankreich immer noch, wenn uns die<br />

Armut erwischt hat. Das ist doch nicht normal. Schließlich sind wir in der Mehrheit", fügt sie<br />

trotzig hinzu.<br />

Immerhin können die Frauen vom "Collectif Chômeurs" sechs Nähmaschinen und drei<br />

Bügeleisen ihr eigen nennen. Geschneidert wird wochentags in drei Gruppen zur<br />

"Wiedereingliederung", wie es offiziell bedeutungsvoll heißt. Tatsächlich geht es den Frauen darum,<br />

für sich und ihre Kinder wenigstens halbwegs tragbare Klamotten zu nähen. "Sonst bliebe uns ja<br />

nichts", murmelt Annie irgendwie rechtfertigend.<br />

Annie Bonnard ist keineswegs verbittert. Aber viel über Einzelschicksale zu reden, eine<br />

sogenannte Betroffenheits-Mimik wachzurütteln - das hat sie längst aufgegeben. Derlei Szenarien<br />

öden sie an. Madame Annie deutet kurz auf ihren leicht gespreizten Mittelfinger der rechten Hand.<br />

Jedenfalls will Annie das oft zerkratzte Innenleben jener in Not geratenen Frauen in der<br />

Öffentlichkeit nicht breitgetreten wissen - nicht mehr.<br />

Dabei läuft nichts mehr - so gar nichts mehr - in Le Chambon Feugerolles. An die 55<br />

Prozent der Einwohner und jede zweite Frau lebt ohne Broterwerb. Viele handwerkliche<br />

Kleinbetriebe haben geschlossen, die einst einträglichen Bergwerke liegen brach, Häuser des<br />

sozialen Wohnungsbaus stehen leer, Läden verfallen, etliche Bars und Hotels machten stickum<br />

dicht. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt durchschnittlich nur noch 4.150 Euro während<br />

es sich etwa im Ring um Lyon noch auf etwa 21.400 Euro beläuft. Und Steuern nimmt die<br />

Kommune lediglich ganze 280 Euro je Einwohner im Jahr ein. Minusrekorde der Republik,<br />

Armutszahlen.<br />

"Die Kinder dieser Stadt", flüstert die Sozialarbeiterin Véronique Rullière hinter<br />

vorgehaltener Hand, "lernen hier vieles kennen - Hunger, Alkohol, Cannabis, Prostitution,<br />

Schulden. Das alles spielt sich mehr oder weniger auf den hundert Metern zwischen Jugendhaus<br />

635


und Supermarkt ab, der Kleinstadt-Meile. Nur arbeitende Eltern, die haben die Jugendlichen noch<br />

nie erleben dürfen." Dafür aber unisono ein nachhaltig prägendes Erwachsenen-Milieu, das der<br />

rechtsradikalen Front National mit über einem Drittel aller Wählerstimmen in Le Chambon<br />

Feugerolles ihr Vertrauen gab.<br />

An die 800.000 Schul- und Universitätsabgänger, beinahe 24 Prozent der Altersgruppe bis<br />

zu 25 Jahre, sind in Frankreich ohne Beschäftigung. Jeder vierte Jugendliche ist ohne Stelle - das<br />

sind drei Mal so viele wie in Deutschland. Und die Benachteiligung verdoppelt sich zudem noch für<br />

junge Mädchen und Frauen. Nicht nur, dass sie bei gleicher Qualifikation nach wie vor um ein<br />

Drittel weniger <strong>als</strong> Männer verdienen. Ihre Arbeitslosenquote macht immerhin über 14 Prozent aus<br />

- und das seit Jahren (Männer 12,2 Prozent).<br />

Ob allein stehende ältere Frauen, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben, ob<br />

kinderreiche Mütter oder auch junge Mädchen, die von zu Hause fortgegangen sind - ihre<br />

Endstation heißt Arbeitslosigkeit, ohne An spruch auf Unterstützung oder gar Hoffnung auf<br />

Einstellung irgendwann und irgendwo bei irgendwem. Wenigstens in dieser Sparte sind die<br />

Französinnen überproportional präsent - und das durchgängig mit etwa 60 Prozent. Denn mit<br />

Sozialhilfe können erst jene kinderlosen Frauen rechnen , so das Gesetz, die das 25. Lebensjahr<br />

vollendet haben.<br />

Bis an die 300.000 Jugendliche, so schätzt der Regierungsbeauftragte für gesellschaftliche<br />

Wiedereingliederung, Roland Morceau, vagabundieren durch die Republik, ziehen verarmt<br />

und hungernd der Sonne und dem Festspielkalender hinterher. Karitative Vereinigungen<br />

veranschlagen die Zahl der Zugvögel, die in ihrer Gesellschaft keine Perspektive finden, auf das<br />

Dreifache.<br />

Im Wahlkampf erklärte Präsidenten-Kandidat Jacques Chirac ( 1995-2007) samt seinem<br />

Gefolge <strong>als</strong> gaullistischer Erneuerer der Nation zumindest rhetorisch der Arbeitslosigkeit und dem<br />

gesellschaftlichen Ausschluss "den Krieg". Erst wenige Monate an der Macht, verhängten sie über<br />

südfranzösische Touristen-Metropolen ein "Bettelverbot". Seither werden nicht nur die<br />

Lebensmittelabteilungen der Supermärkte durch Video-Kameras rund um die Uhr wie Banken<br />

überwacht. Auf den Parkplätzen spüren Ordnungsdienste mit abgerichteten scharfen Maulkorb-<br />

Wachhunden auf Bordsteinen kauernde Habenichtse auf.<br />

"Armut", empörte sich die Pariser Liga für Menschen- rechte, "ist unter Chirac öffentlich<br />

zur Schande erklärt worden". Die Tageszeitung "Le Monde" machte gar landesweit "eine<br />

armenfeindliche Stimmung" aus, die gar im "Schatten des Rassismus noch verschlimmert" werde.<br />

An diesem Nachmittag bei den mittellosen Frauen von Le Chambon Feugerolles schaut<br />

Annie mit ihrer Kollegin Céline verstohlen stundenlang aus dem Fenster im ersten Stock der<br />

Vorratskammer ihrer Bürgerinitiative. Als Armen-Auffangsbecken fühlen sich die etwa zwanzig<br />

Frauen um Annie gleichsam für die vom französischen Komiker Coluche im Jahre 1985 gegründete<br />

Wohlfahrtsorganisation "resto du coeur" (Armen-Essen) verantwortlich.<br />

Allein in ihrem Loire-Städtchen konnten sie im vergangenen Winter 918.460 Essen<br />

kostenlos - insgesamt 292 Tonnen Lebensmittel - ausgeben. Und das in einem Örtchen, aus dem<br />

ein Drittel der Bewohner irgendwie schon weggelaufen ist. Mit anderen Worten: Etwa 16.000<br />

Bürger durften sich im Winter durchschnittlich zwei Monate lang einmal wöchentlich bei den<br />

"Resto-Frauen" satt essen. Madame Annie strahlt, zeichnet sie doch eingegangene Spenden ab.<br />

Hinter den Frauen stehen auf dem Tisch Lebensmittel-Kisten voller Camembert-Käse, Hamburger,<br />

636


Kaffee, Marmelade, ganz 658 Liter Speiseöl und sogar sechs Dutzende Sardinen-Dosen, die<br />

Verwalterin Annie schon in den Herbsttagen in verschließ- bare Regale oder Kühltruhen<br />

einzuräumen hat - <strong>als</strong> "stille Reserve" für hungernde Mitbürger in harten Wintertagen sozusagen.<br />

An diesem Nachmittag verlieren sich die Blicke der beiden immer wieder im Weitwinkel-<br />

Panorama der gegenüberliegenden Straßenseite. - Dort, wo Wohnungslose, Bettler und neuerdings<br />

auffallend häufiger Frauen in Kellerabgängen oder auf schmutzüberzogenen Rinnsteinen dösend<br />

auf irgendeine x-beliebige 2-Euro-Brothappen samt Rotwein-Schlückchen warten.<br />

Die Ausgeschlossenen von Le Chambon Feugerolles sitzen unfreiwillig Kulisse für eine<br />

bizarre, schon Kino reife Wirklichkeit, die so manche überzeichneten Karikaturen längst zu<br />

übertreffen vermag. Sie hocken vor einem wandhohen Katzen-Plakat. "Können die Katzen wählen,<br />

so würden sie Whiskas kaufen" (Si les chats pouvaient choisir, ils achèteraient Whiskas), lautet jene<br />

großflächtige Werbebotschaft an diesem bebilderten Plakatgemäuer auf dem Boulevard de Gaulle.<br />

Und Annie Bonnard fragt: "Nur Katzen, nur für die? - Nein, ich habe es erlebt. So manche alte<br />

Frau ernährt sich heimlich von Kitekat. Schon Whiskas ist zu teuer."<br />

Vielleicht deshalb weiß Annie Bonnard <strong>als</strong> betroffene Zeitchronistin der<br />

Ausgeschlossenen ("Les exclus") dieser Epoche aus Le Chambon Feugerolles zu berichten: "Wer<br />

wie ich lange genug aus dem Fenster starrt, auf der Suche nach Gesichtern und Gestalten, die ich<br />

seit Jahren beobachtet habe, der ist unweigerlich ein Zeuge des Übergangs dieser Stadt zum<br />

Armenhaus der reichen französischen Republik. Und wir Frauen werden die Verliererinnen sein.<br />

Dieses Land hat seine Balance verloren. Eindeutig."<br />

Seit zehn Jahren ist Madame Annie ohne feste Anstellung. Als Näherin hatte sie sich in<br />

einer Textilfabrik ihren Lebensunterhalt verdient. Das Unternehmen machte pleite. Ihr Mann<br />

Jacques ließ sie mit drei Töchtern allein zurück. Erst gab es für sie den Alleinerziehenden-Zuschuss<br />

des Staates in Höhe von 840 Euro monatlich - und das zehn Jahre lang.<br />

Seit 1989 lebt Annie mit ihren Töchtern von der Sozialhilfe, in Frankreich kurz RMI -<br />

Revenu minimun d'insertion -genannt. Ganze 670 Euro bekommt sie monatlich für vier Personen.<br />

Pro Tag sind es etwa 22 Euro -ein Baguette kostet nahezu ein Euro, manchmal auch ein bisschen<br />

weniger.<br />

Wie Annie richteten sich in Frankreich nach einer Untersuchung des Pariser Centre<br />

d'hébergement et de réadaption (Zentrum für Wiedereingliederung) insge- samt 2.5 Millionen<br />

Frauen auf ein Leben mit dem staatlich genehmigten Existenzminimum ein - derzeit 380 Euro.<br />

Immerhin: Zwölf Millionen der insgesamt 57 Millionen Französinnen und Franzosen<br />

hängen in irgendeiner Form von staatlichen Überlebenszuschüssen (Mindestrente,<br />

Mindesteinkommen, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe) ab. Fünf Millionen müssen weniger <strong>als</strong> mit dem<br />

Existenzminimum von derzeit 380 Euro auskommen. Vom Arbeitsplatzverlust bis zur letzten<br />

Existenzsicherung - der Sozialhilfe -dauert es im Durchschnitt kaum länger <strong>als</strong> zwei Jahre. Über 3,3<br />

Millionen Menschen sind auf der Suche nach dauerhaften Jobs. Über 2,4 Millionen Arbeitsplätze<br />

subventioniert der französische Staat aus seinem Budget. Über eine halbe Millionen Frauen ziehen<br />

in ihrer Eigenschaft <strong>als</strong> SDF "Sans domicile fixe" (ohne festen Wohnsitz) von Flussbrücke zu<br />

Flussbrücke; etwa von der Seine, über die Saône und Rhône bis zur Loire. Die einst kulissenreife<br />

Clochard-Romantik wird in Frankreich zwar immer noch weinbeseelt besungen - allerdings längst<br />

nicht mehr an den sperrigen Schauplätzen, sondern nostalgisch verklärt an den Kino-Bars der<br />

Filmpaläste des Bürgertums.<br />

637


Der Überlebenskampf vieler Familien findet seit eh und je unter Ausschluss der<br />

Öffentlichkeit statt. Region Rhône-Alpes, Hauptstadt Lyon, Boulevard des Brotteaux. Auf dem<br />

Schreibtisch der 48jährigen Madame Noelle Boyer-Zeller von der Fédération syndicale des familles<br />

monoparentales (Interessenverband alleinerziehender Frauen) liegen die neuesten statistischen<br />

Erhebungen. Allein im vergangenen Jahr sind die Stromsperrungen wegen Nichtbezahlung um fünf<br />

Prozent, die Kündigung allein erziehender Frauen um neun Prozent gestiegen. Und ein Drittel der<br />

in den achtziger Jahren geschlossenen Ehen sind schon wieder getrennt. Über zwei Millionen<br />

Jugendliche unter 25 Jahren - jeder zehnte - lebt in Frankreich nur noch bei einem Elternteil, zu<br />

über 80 Prozent bei den allein erziehenden Müttern.<br />

Was soviel heißt: Jahrelange Hochkonjunktur für die umsichtige Madame Noelle und<br />

ihren Verband. "Ja, ja", sagt sie, "es stimmt schon, dass die wirtschaftliche Maschine wieder läuft.<br />

Nur wer einmal durchs Raster gefallen ist, der bleibt chancenlos draußen. Und das sind zuerst<br />

Frauen mit Kindern." Düster schaut Madame in die Zukunft. Nach einem Bericht der Genfer<br />

Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wird in Frankreich die Arbeitslosenquote im Jahr 2000<br />

auf 14 Prozent steigen (1995: 12,2 Prozent). "Aber immerhin", sagt Madame. "hat unsere Post im<br />

vergangenen Jahr schon en Sparbuch für Obdachlose geschaffen. Das ist doch auch schon was."<br />

638


KEINE ZEIT FÜR WUT UND TRÄNEN<br />

In einem Pariser Restaurant feierte sie mit ihrem Mann Hochzeitstag, <strong>als</strong> die<br />

Bombe explodierte und ihre Beine zertrümmerte. Im Klima von Terror und<br />

Bürgerkriegsneurosen boxte sie mit ihrer Selbsthilfegruppe S.O.S.-Attentats<br />

Entschädigungsgesetze durch. Das Leben der Françoise Rudetzki oder die Geschichte<br />

einer ungewöhnlichen Frau.<br />

Tagesspiegel, Berlin vom 25. Februar 1996<br />

Auf den ersten Blick sieht das alte Backsteinareal am Invalidendom erdrückend andächtig<br />

aus. Nicht nur die Militärhistorie aller Schlachten dieser Republik bis 1945 fand ihre ausgesucht<br />

verschnörkelte Heimstatt. Ihr Innenraum beherbergt schließlich das Nationaldenkmal der<br />

Franzosen - die Grabstätte Napoléons samt anderer berühmter Kriegshelden. Schweigeminuten,<br />

gemächliche Schritte meist soldatischer Männer-Gangarten tagaus, tagein.<br />

Wenn da auf dem "Corridor de Metz" unter den Arkaden nicht neuerdings eine Frau ihre<br />

Büroräume bezogen hätte, die noch dazu keiner der männlichen Erwartungshaltungen zu<br />

entsprechen vermag. Françoise Rudetzki gehört zu den behinderten Frauen der französischen<br />

Republik, die <strong>als</strong> zusammengeflicktes Terroropfer daher- kommen. Flink humpelt die 48jährige<br />

Juristin und frühere Boutiquenbesitzerin mit ihrem Krückstock des Weges, ehe sie ihr<br />

Arbeitszimmer erreicht. Die Gründerin von S.O.S.-Attentats, einer Selbsthilfeorganisation "von<br />

Opfern für Opfer" von Terroranschlägen, verkörpert die Gewalt moderner Kriegsführung.<br />

"Auch Terrorexplosionen in den Innenstädten sind Varianten eines Krieges, wenn auch<br />

meist mit subversiven Mitteln", so Françoise Rudetzki. "Insofern hat es schon eine innere Logik,<br />

dass ich hier bei den Kriegsversehrten im Verteidigungsministerium der Republik sitze." Und das in<br />

Frankreich, einer jahrhundertalten ausrangierten Kolonialmacht, die sich in den letzten Jahrzehnten<br />

unfreiwillig zu einer Hauptzielscheibe des internationalen Dritte-Welt-Terrorismus wie der<br />

algerische fundamentalistische Islamistische Heilsfront (FIS) entwickelt hat. Wollen jene<br />

nordafrikanischen Terroristen mit fortwährenden Anschlägen die französische Politik doch<br />

geradezu zwingen, dem westlich eingestellten algerischen Regime die politische und materielle<br />

Unterstützung zu entziehen.<br />

Wohl in keinem anderen Land der westlichen Welt hat der Terror so rasant zugenommen<br />

und zu verständlichen Bürgerkriegsneurosen bei Französinnen und Franzosen geführt. Allein auf<br />

Korsika - dem französischen Nordirland - wurden im vergangenen Jahr 37 Menschen ermordet.<br />

Zudem notierten die Verwaltungen insgesamt 602 Bombenanschläge, die weit über 50 Millionen<br />

Euro Sachschäden verursachten. Seit dem Jahre 1990 explodierten exakt 3.103 Sprengsätze.<br />

"Symbole der Kolonialmacht" wie das Finanzamt von Bastia wurden in Schutt und Asche gelegt.<br />

La France im Spätsommer 1995 - eine Nation gerät in Panik. Ob in Paris, Lyon, Marseille<br />

oder auch Bordeaux - überall gibt es wahllose, furchterregende Bombenalarme, 1.374 an der Zahl.<br />

Acht Terroranschläge, teils in der Pariser Metro, teils auf verkehrsreichen Boulevards, sind bereits<br />

verübt worden. Bilanz: sieben Tote und 160 (teils Schwer-) Verletzte.<br />

Niem<strong>als</strong> zuvor dominierten derart viele Uniformen die von Touristen bevölkerten<br />

Straßenbilder. 32.000 zusätzliche Polizisten, etwa dreitausend Soldaten, an die neun- tausend<br />

Zöllner überwachten Flughäfen wie Bahnhöfe, Grenzen, Kernkraftwerke oder Museen,<br />

Parkverbote vor Schulen und anderen "exponierten Gebäuden". Sperrgitter von Paris bis hinein in<br />

639


die ab gelegensten bretonischen Orte sollten verhindern, dass Autos vor den Schulen parken:<br />

Außer dem Lehrpersonal durfte ohne- hin kein Erwachsener mehr das Schulgelände betreten. In<br />

Paris sind zirka 7.000 Abfalleimer zugeschraubt oder gleich ganz entfernt worden, damit sie nicht<br />

etwa <strong>als</strong> potenzielles Bombenversteck herhalten können. Letztlich wurde praktisch jeder im Land<br />

von einem "gespenstischen Klima des Terrors", so die konservative Tageszeitung "Le Figaro",<br />

erfasst, ganz gleich, ob er nun einkaufen geht und seine Tasche durchsuchen lassen muss, ob er mit<br />

der Metro fährt und sein Blick unweigerlich kurz unter den Sitz schweift, ob er einen Bogen um die<br />

Telefonzellen und Mülltonnen schlägt, auch jede herumstehende Plastiktüte gilt es fortwährend<br />

misstrauisch zu beäugen. "Paris hat Angst", titelte das Boulevard-Blatt "Le Parisien". Und der<br />

gaullistische Premierminister Alain Juppé (1995-1997 ) antwortete beruhigend: "Frankreich wird<br />

nicht kapitulieren."<br />

Für Experten hingegen waren jene Attentatsserien lediglich Neuauflage von diversen<br />

politisch motivierten Terror-Aktionen mit unterschiedlichen Absichten: Paris eine Kapitale des<br />

Stellvertreterkrieges zwischen Nord und Süd, Arm und Reich, Kirchen und Moscheen. Zum ersten<br />

Mal wurde Paris in den Algerienwirren 1960 bis 1961 von gezielten Terrordetonationen erschüttert.<br />

Vor zehn Jahren versuchte der Iran mit terroristischen Mitteln auf die Nah- und Mittelostpolitik<br />

Frankreichs Einfluss zu nehmen. Seit dem Jahr 1987 hat es in Frankreich 297 Terroranschläge<br />

gegeben. In dieser Zeit wurde S.O.S.-Attentats geboren. Diese Vereinigung von 2.220<br />

Terroropfern, die die Gesetzgebung und damit die Entschädigungen in Frankreich noch<br />

maßgeblich verändern sollte, ist nicht etwa eine Schöpfung des Roten Kreuzes, auch nicht der<br />

Behörden, sondern das Werk einer dam<strong>als</strong> von der Bombenwucht schwer verletzten 38 jährigen<br />

Einzelgängerin.<br />

Am 23. Dezember 1983 saß Françoise Rudetzki mit ihrem Mann im Pariser Restaurant<br />

"Le Grand Vélour". Beide hatten sich vorgenommen, zu ihrem zehnten Hochzeitstag festlich zu<br />

dinieren. Aber draußen explodierte eine Bombe, und eine durch den Raum fliegende Metalltür<br />

zertrümmerte ihr beide Beine. Sieben Wochen lag Françoise in Lebensgefahr, zehn Jahre blieb sie<br />

an den Rollstuhl gefesselt. Erst ganz allmählich gehorcht das rechte Bein dem Gehirn. Das linke<br />

nicht: Françoise schiebt es mit einer Vierteldrehung der Hüfte nach vorn. Sie sitzt jetzt nicht mehr<br />

im Rollstuhl. Sie steht und bewegt sich auf Krücken. Insgesamt 41 chirurgische Eingriffe hat sie<br />

seit der Explosion vor dem Restaurant über sich ergehen lassen müssen: über ein Jahr bleibt das<br />

Krankenhausbett ihre Hauptstütze, hat sie immer wieder eine Serie von Vollnarkosen auszuhalten.<br />

Die Ärzte meinten: "Beim nächsten Mal können wir nur eine örtliche Betäubung vornehmen. Sie<br />

müssen halt die Zähne zusammenbeißen." Françoise hat ihre Zähne heftig zusammengebissen:<br />

"Manche schöpfen ihre Lebenskraft im religiösen Glauben. Aber ich habe keinen. Ich hole mir<br />

meine Energie aus dem Leben und aus der Hoffnung, auf eine gerechtere Welt. Dabei hatte sie so<br />

gar keine Zeit, keinen Sinn für Wut und Tränen."<br />

Zwischenzeitlich beobachtete Françoise, wie das beschädigte Restaurant binnen drei<br />

Wochen stattlich repariert worden war. Wie selbstverständlich hatte der Besitzer eine<br />

Versicherungssumme erhalten. Eben einen Betrag, der auch noch ausreichte, um für die<br />

Neueröffnung Werbeanzeigen zu platzieren, Sendeminuten in Funk und Fernsehen zu kaufen. Nur<br />

die Entschädigung von Opfern - die war in Frankreich nicht vorgesehen.<br />

Und Françoise weiß, wovon sie redet. "Sprechen wir", fährt sie fort, "von der jungen<br />

Sekretärin Michèle, einem Opfer in der Pariser RER-Bahn. Trotz ihrer Proteste wurde ihr<br />

blutüberströmter, halbnackter Körper von einem Passanten fotografiert. Das ist strafbar. Nur<br />

640


einige Tage später sah sie sich doppelseitig mit ihren Verletzungen voyeuristisch aufgeblättert in<br />

einer Illustrierten wieder. Hilfe, gar einen Rechtsbeistand, hat Michèle bis heute nicht bekommen.<br />

"Sprechen wir vom Betonmischer Albert, an den Beinen seit dem Metro-Attentat schwer<br />

verletzt. Er leidet auch zusätzlich noch an Hörstörungen. Aber Albert darf nach langem<br />

Krankenhausaufenthalt nicht mehr nach Hause. Seine Wohnung in einem Hochhaus wird<br />

unentwegt von Flugzeugen überflogen. Sein Département Val de Marne kann ihm mangels Masse<br />

keine andere Wohnung anbieten. Seiner schwangeren Frau Fabienne kann trotz der drei Millionen<br />

Arbeitslosen keine Haushaltshilfe zur Hand gehen. Ein finanzieller Haushaltszuschuss wird offiziell<br />

nicht gezahlt.<br />

Sprechen wir auch noch vom stets filmreif inszenierten Betroffenheitsgehabe des<br />

Premierministers in seinem Salon Matignon, wenn die Augen auf ihn gerichtet sind. Sonst stapeln<br />

und verstauben dort die Briefe in Säcken von Angehörigen, die um Hilfe bitten, einfach deshalb,<br />

weil sie die Beweisführung des Todes eines Verwandten beim Anschlag zu führen haben. Oder<br />

sprechen wir auch noch kurz von George und Felix. Über einen ganzen Monat lagen sie mit ihren<br />

Knochenbrüchen auf sich allein gestellt in der Orthopädie. Sie haben nicht einmal einen kurzen<br />

Besuch von Psychologen oder Psychiatern zwecks seelischer Hilfestellung bekommen. Keine Zeit<br />

hatten die Ärzte, jagten sie doch sinnigerweise von Pressekonferenz zu Fachkolloquien. Ihr<br />

Hauptthema: "psychologische Betreuung der Kriegsneurosen von Terroropfern im Rampenlicht<br />

der Öffentlichkeit."<br />

Françoise sitzt neuerdings an ihrem Schreibtisch im Arbeitszimmer des weiträumigen<br />

Invalidendoms. Über zehn Jahre diente notgedrungener weise die beengte Privatwohnung im 8.<br />

Pariser Arrondissement <strong>als</strong> zentrale Anlaufstelle für Attentatsopfer. Sie korrespondierte,<br />

informierte, überzeugte monatelang - und fast immer vergeblich. Keiner mochte die Frau im<br />

Rollstuhl ernst nehmen. Oft in den Abendstunden tütete sie mit ihrem Mann, Handelsdirektor<br />

einer Modegesellschaft, unverdrossen etwa Protestaktionen nach einer Fernsehsendung ein.<br />

Kärrnerarbeit einer Einzelkämpferin.<br />

Als Françoise eines Tages den fehlenden Schadenersatz - somit die längst überfällige<br />

finanzielle Versorgung - für Terroropfer in der Sécurité sociale (BfA - Bundesversicherungsanstalt)<br />

rügte und ein Gesetz forderte, da hatte sie den Nerv ihrer Landsleute freigelegt. "Meine Arbeit wird<br />

fortgesetzt, solange die Not nicht gelindert und kein Ort des Zuhörens, keine psychische Hilfe<br />

geschaffen wird. Wir lehnen die Todesstrafe strikt ab. Wir wollen keine Rache. Aber wir Opfer<br />

werden es nicht zulassen, dass Frankreich dem Staatsterrorismus so schnell nachgibt. Wir sollten<br />

uns schämen", verkündete sie dam<strong>als</strong> in die laufenden Kameras.<br />

Die Republik schrieb das Jahr 1986; in Frankreich herrschte die Atmosphäre des<br />

Bombenterrors. In den darauffolgenden Tagen erreichten Françoise Rudetzki 50 Postsäcke, jeder<br />

einzelne zwanzig Kilo schwer. Und bei Jacques Chirac, seinerzeit Premierminister in Paris, gingen<br />

500.000 Postkarten mit Unterschriften für eine Gesetzesinitiative ein. "Madame, sagen Sie mir bitte<br />

unverzüglich, was ich für S.O.S.-Attentats tun kann. Es wird geschehen", bekundete dieser geübten<br />

Blickes hingebungsvoll.<br />

So und nicht anders setzte Françoise Rudetzki in Frankreich ihren Garantiefonds durch,<br />

der in Hauptzügen dem deutschen Opferentschädigungsgesetz entspricht. Damit ist Frankreich das<br />

einzige Land, das über ein eigenes Gesetz zum Schutz von Terroropfern verfügt. Es besteht im<br />

wesentlichen aus einem speziellen Versicherungsfonds, der den betroffenen Menschen und ihren<br />

Familien sämtliche durch ein Attentat erlittenen Schäden ersetzen soll. Er wird durch einen<br />

641


jährlichen Aufschlag von etwa 76 Cents finanziert, die jeder Franzose pro privatem<br />

Versicherungsbeitrag zahlen muss.<br />

Mittlerweile tritt Françoise Rudetzki mit ihrer Organisation S.O.S.-Attentats <strong>als</strong><br />

Nebenklägerin in über 200 gerichtlichen Terrorverfahren des Landes auf. Alle vierzehn Tage steht<br />

S.O.S.-Attentats in den Amtsstuben von Richtern und Staatsanwälten der größten Prozesse. So soll<br />

verhindert werden, dass sich die Justiz wieder zum Faustpfand der Politik machen lässt, aus<br />

Gründen der Zweckmäßigkeit Terroristen in ihre Heimatländer -in die Freiheit - abgeschoben<br />

werden. Systematisch hat Françoise Rudetzki ein Netzwerk aus Rechtsanwälten und Ärzten<br />

geflochten. "Nur unsere Wachsamkeit schützt uns vor Mauscheleien. Irgendwie haben wir in<br />

Frankreich im Laufe der letzten Jahre verdrängt, dass wir doch ein durch und durch verkappt<br />

romantisches Land mit einer ganz gehörigen Portion Machismo sind. Wir müssen im Gericht<br />

Worte der Opfer wieder lauter werden lassen. Terroristen haben kein ausschließliches<br />

Erklärungsmonopol. So vertrackt sind die Zeiten."<br />

Das Telefon klingelt. Am anderen Ende der Leitung erkundigt sich Justizminister Jacques<br />

Toubon (1995-1997) nach ihrem Wohlbefinden. "Wir müssen endlich die juristischen Grenzen in<br />

Europa abschaffen", sagt Francoise ihm an diesem Abend. "Denn ein potenzieller Täter sollte<br />

zwingend in einem Land vor Gericht gestellt werden, in dem er gefasst wird. Die<br />

Auslieferungsverfahren verschleppen Prozesse und dünnen Anklagen aus. Somit gerät<br />

Gerechtigkeit immer noch zum x-beliebigen Spielball europäischer Interessenpolitik. Dieses muss<br />

ein Ende haben. Warum entkommen die Terroristen der Rechtssprechung in Europa immer<br />

noch?" fragt sie Jacques Toubon. , - Eine höchst berechtigte Frage, befindet der Justizminister.<br />

Darauf Francoise Rudetzki: "Monsieur, auf, auf nach Brüssel."<br />

642


1997<br />

Gewalt in Familien, misshandelte Französinnen<br />

643


MISSHANDELTE FRAUEN - GEWALT IN FAMILIEN<br />

Arbeitslosigkeit, Versager-Ängste - soziale Miseren führen in Frankreich zu immer<br />

mehr Gewaltausbrüchen gegen Frauen. "Er schlägt Sie - lehnen Sie Gewalt ab", heißt es<br />

überall auf einem Plakat des Amtes für Frauenrechte. Es will aufmerksam machen auf<br />

einen verdeckten Notstand: Männer-Gewalt gegenüber Frauen. - S.O.S. - Über 35.000<br />

Französinnen sind auf der Flucht - Angst vor Schlägen, Vergewaltigungen, Demütigungen.<br />

Jede siebte Frau ist Opfer sexueller Übergriffe. - Immerhin: Vierzig Frauenhäuser bieten<br />

Schutz. Über 150 Organisationen geben für Frauen-Klagen vor Gericht Rechtshilfe. Dabei<br />

dreht es sich nicht um Horrorvisionen aus der Kinowelt. Es handelt sich um französische<br />

Alltäglichkeiten - versteckt, bagatellisiert, verschwiegen, verharmlost. Frauen-<br />

Misshandlungen<br />

Frankfurter Rundschau 31. Mai 1997<br />

Die Alltäglichkeit der Gewalt vermittelt sich im Pariser Osten, genauer gesagt im 11.<br />

Arrondissement mit scheinbar beruhigend monotoner Stimme. Insgesamt 58 Anrufe , Frauen-<br />

Notrufe, gehen täglich im ersten Frauenhaus der französischen Republik in der Cité Prost Nr. 8<br />

ein. Das sind immerhin 95.000 Hilfsappelle bei der Frauenorganisation "Solidarité des femmes" in<br />

viereinhalb Jahren. Und all diese Telefonate drehen sich immer wieder um den gleichen<br />

Tatbestand. "Violence et Viol"; Gewalt und Vergewaltigung, geschlagene, geschundene Frauen -<br />

Etappen der Gewalt, die gewöhnliche Männer-Gewalt im Frankreich dieser Tage, Jahre,<br />

Jahrzehnte.<br />

Die 38jährige Telefonistin Isabelle führt dir Telefonstatistik, weil es in puncto<br />

Männergewalt weder eine offizielle Datenerhebung noch aussagekräftige Faktensammlung in der<br />

Regierung zu geben scheint. Das ist schließlich auch der Grund, warum gleich neben der<br />

Telefonzentrale und der Bettwäscheausgabe im Frauenhaus die frühere Kindergärtnerin Christine<br />

Poquet nunmehr wöchentlich sämtliche Zeitungen der Republik auf der Suche nach Gewalt in<br />

Familien, Brutalität gegen Frauen auswertet. Christine meint: "Irgendwie müssen wir hier immer<br />

noch den absurden Beweis antreten, dass es zwischen Menschenrechten und dem Status einer Frau<br />

einen kausalen Zusammenhang gibt.<br />

Es reicht nicht, dass wir zusammengeschlagen werden. Wir müssen es auch noch<br />

zweifelsfrei beweisen." Und Kollegin Monique Bergeron, die ebenfalls fleißig mit ausschnippelt,<br />

ergänzt: "Wer diese Berichte hintereinander liest, glaubt an Horror-Visionen in Filmen - nur nicht,<br />

dass derlei Männer-Übergriffe Tag für Tag in Frankreich passieren. Letztendlich ist es die rohe<br />

Form der Machtverhältnisse. Unsere französische Gesellschaft ist krank und erlaubt solche<br />

Gewaltform. Handgreiflichkeiten gegen Frauen - das ist keine bedauerliche Panne des Mannes,<br />

sondern eine gesellschaftliche Erscheinung: ein Virus dieser Jahrzehnte."<br />

Immerhin wissen jene beherzten Frauen zu berichten, dass es in Frankreich eine jährliche<br />

Dunkelziffer von nahezu vier Millionen Frauen gibt, die geschlagen und vergewaltigt werden,<br />

körperliche Verletzungen davontragen. So seien in Frankreich durchschnittlich etwa 35.000 Frauen<br />

auf der Flucht - aus Angst vor Schlägen, Demütigungen. In jeder fünften Ehe, so schätzen sie bei<br />

"Solidarité des femmes", erzwingen sich Frankreichs Männer mit Gewalt den Beischlaf. In<br />

Deutschland ist nach einer Studie des Bundesfamilienministeriums jede siebte Frau Opfer sexueller<br />

Übergriffe. Frauen sind demnach in ganz Westeuropa von sexueller Gewalt mehr bedroht <strong>als</strong> durch<br />

andere Schwerdelikte wie Raub oder Wohnungseinbrüche.<br />

644


Schlimm sieht Jacqueline aus, die gerade von zwei Pariser Gendarmen uns Frauenhaus in<br />

der Cité Prost Nr. 8 gebracht wird. Ihr linkes Auge ist grünblau. Beule auf der Stirn. Pflaster auf der<br />

Nase. Sie zittert. Ihre Hand zur Faust geballt, flucht Jacqueline: "Ich hasse ihn nur noch."<br />

Weinkrämpfe. Ein Prügeldrama in einer unauffälligen Dreizimmerwohnung am Pariser<br />

Außengürtel; angezettelt von ganz "normalen" Männern. Und Polizist Olivier Delattre murmelt<br />

routinegeübt: "Für uns ist das Alltag. Etwa 60 Prozent unserer Noteinsätze gelten handgreiflichen<br />

Familienkrächen, bei denen zu cirka 95 Prozent die Frauen Opfer sind."<br />

Tatsächlich setzt eine schleichende Verarmung in Jahren der Massenarbeitslosigkeit -<br />

vornehmlich der französischen Mittelschicht - ein unvermutetes Aggressionspotenzial frei. Ein<br />

Viertel der erwerbstätigen Bevölkerung kann nämlich seinen Lebensstandard nicht mehr halten.<br />

Martine de Maximy, Familienrichterin am Pariser Amtsgericht, sieht die Hauptursache für<br />

neuerliche Kälte mit ihren Konfliktfeldern in der wirtschaftlichen Krise und dem sozialen<br />

Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen. Madame de Maximy äußert besorgt: "Auch das Ausmaß<br />

an Brutalität in angeblich bessergestellten Familien ist beachtlich. Angst vor der Zukunft lauert<br />

dort. Die Gewaltanwendung wird kulturell durch das Bild der Männlichkeit in der Öffentlichkeit<br />

verstärkt. Der männliche Stereotyp frohlockt mit solch einem Verhalten. Dann haben diese<br />

Versagerangst vor Leistungsabfällen. Das macht irgend- wann bitter. Oft wird unvermutet wahllos<br />

zugeschlagen; meist zu Hause Frau wie Kind. Fast die Hälfte aller Vergewaltigungen findet in<br />

Frankreich in der Familie statt. Grausam."<br />

Die Pariser Psychoverhaltens-Forscherin Christine Dessieux hat bei einer<br />

Langzeituntersuchung von 600 Französinnen herausgefunden, "dass manche Frauen sich<br />

gegenüber ihrem Mann in einer Art 'ehelicher Prostitution' befänden. Sie sagen ganz offen, 'stimmt,<br />

ich bin die Hure und die Magd." So weiß die Lyoner Gerichtsärztin und stellvertretende<br />

Vorsitzende des Verbandes S.O.S. Femmes, Dr. Liliane Daligand zu berichten, dass "nach einer<br />

Vergewaltigung selbst in Langzeittherapien bei diesen Frauen nur schwer von einer Heilung<br />

gesprochen werden kann. Es kann allenfalls eine Vernarbung der seelischen Verletzung geben."<br />

Jahrelange Untersuchungen von Gewaltforscherinnen an der Universität Portiers in<br />

französischen Krankenhäusern über die seelische Langzeitfolgen unmittelbarer männlicher<br />

Aggressionen bei zweitausend Frauen ergaben, dass<br />

• 43 bis 47 Prozent unter Angstgefühlen litten;<br />

• 16 bis 30 Prozent bei Anspannung zitterten;<br />

• 10 Prozent waren selbstmordgefährdet;<br />

• 20 Prozent klagten über Traurigkeit;<br />

• 32 Prozent verloren ihr Selbstwertgefühl;<br />

• 14 Prozent flüchteten in Alkohol.<br />

Die Telefonistin Isabelle vom Frauenhaus im Pariser Osten war vor fünfzehn Jahren<br />

gleichsam Zielscheibe eines prügelnden Ehemannes. "Ich war einfach verliebt", sagt sie heute fast<br />

entschuldigend. Und dieses Adjektiv verliebt, das tönt schon ein wenig so wie verfahren, vertan,<br />

verloren - vielleicht auch verrückt, weil Gewalt <strong>als</strong> einzige Form der "Zuwendung" übriggeblieben<br />

ist. Schon dam<strong>als</strong> schloss sich die einstige Sekretärin Isabelle der französischen<br />

Frauenbefreiungsbewegung an. Seither nimmt Isabelle Hilfsschreie ihrer Leidensgenossinnen<br />

entgegen - Tag für Tag, Jahr für Jahr sitzt sie am Telefonhörer des Frauenhauses. Sie beachtet: "Im<br />

645


Vergleich zu früheren Jahren durchleben wir eine Wende in Frankreich. Geprügelt und misshandelt<br />

wurde schon immer in den Familien hinter verschlossenen Türen. Und das nicht zu knapp. Nur<br />

mit dem Unterschied: Die Frauen sind jetzt couragierter geworden, verklagen ihre Ehemänner oder<br />

benennen ihre Peiniger vor Gericht. Sie flüchten und machen ihr Leid öffentlich."<br />

"Masken runter" ("Bas les Masques") hieß die erste Fernsehsendung im Jahre 1995, in der<br />

Frauen über ihr Schicksal am Tatort Familie, zugerichtet mit Handkantenschlägen , öffentlich<br />

berichteten. In Zahlen: Im Jahre 1982 registrierten Frankreichs Gerichte 2.459 Strafanzeigen wegen<br />

Vergewaltigung. Dreizehn Jahre später - im Jahre 1995 - waren es 7.069 Strafverfahren. Eine<br />

Steigerungsrate um 65 Prozent - ausnahmslos qua Strafanzeige von den Opfern angestrengt. Wobei<br />

seit dem Jahre 1994 strafverschärfend gilt, wenn ausdrücklich Ehemänner oder Lebensgefährten <strong>als</strong><br />

Täter überführt werden.<br />

Noch in die siebziger Jahren hinein konnten Frankreichs Ehemänner ihre Frauen<br />

verdreschen, ihnen die Zähne ausschlagen - nichts geschah. Privatsache. Noch bis Mitte des<br />

neunziger Jahrzehnts mussten sich muslimische Nordafrikanerinnen vielerorts zwischen Paris und<br />

Marseille stillschweigend Beschneidungsriten unterwerfen. Schmerzhafte Misshandlungen, da nach<br />

alter Tradition in 26 afrikanischen Ländern den Mädchen im Kindesalter die Klitoris entfernt wird.<br />

Männliche Lust- und Gebärkontrolle. Immerhin kam es nach informellen Berechnungen 1992<br />

noch zu 23.000 Frauenbeschneidungen. Es gab keinerlei öffentliche Kritik.<br />

Bis in die späten achtziger Jahre war es absolute Privatsache, was sich tatsächlich in<br />

französischen Familien ereignete. Es war die Frauenbewegung im siebziger Jahrzehnt, die die<br />

Republik dam<strong>als</strong> nahezu unbemerkt mit einem flächendeckenden Netz von Zufluchtsstätten,<br />

Beratungsstellen und Krisenzentren überzog. Für Französinnen wie Carole Damiani von der<br />

Pariser Opferhilfe (Aide aux victimes) kümmerten sich nicht der französische Staat, sondern<br />

"einzig und allein die aufgeschreckten Feministinnen in ihren politisch besten Jahren um<br />

malträtierte Geschlechtsgenossinnen. Sorge für Brot, Kleidung, Unterkunft, Zuwendung,<br />

Gespräche. Ohne diese Zwischenlösungen wären die Zustände auch der Tausende von Müttern<br />

unerträglich gewesen."<br />

Catherine vom Aufnahmezentrum aus Besançon hingegen richtet ihr Augenmerk auf ein<br />

neuerliche Flucht-Phänomen. "Frauen kommen zu uns und sagen, dass sie es nicht mehr aushalten,<br />

obwohl sie nicht geschlagen worden sind. Sie dürfen nichts tun in ihrem Gefängnis. Sie werden<br />

eingeschlossen und ohne Schlüssel zurückgehalten. Sie bekommen kein Geld. Sie können nicht<br />

einmal einkaufen. Sie dürfen sich nicht kleiden, wie sie wollen. Und um alles müssen sie inständig<br />

bitten." An die 150 Organisationen bieten Frauen in ganz Frankreich mittlerweile kostenlose<br />

juristische Beratung und psychische Betreuung an.<br />

Allein im Verband "Solidarité des femmes" stehen in der französischen Republik über<br />

vierzig Frauenhäuser bereit. Betreuerin Patricia Montageron von der Frauengruppe "la paranthèse"<br />

(die Klammer) verfügt in jedem Département auch noch über eine größere Anzahl von<br />

unerkannten Wohnungen. "Als Geheimwaffe allenthalben. So groß ist mittlerweile der Bedarf, weil<br />

wir Stück um Stück mit den Tabus aufgeräumt haben", beteuert die Sozialpädagogin. Dabei will es<br />

vielen Französinnen einfach nicht in den Kopf, dass sich jener Mann, den sie am Anfang <strong>als</strong><br />

Freund und Partner erlebten, den sie liebten, irgendwann <strong>als</strong> Gewalt-Gegner entpuppte.<br />

"Aber immerhin", fährt Patricia fort, "in der Mitterrand-Ära (1981 bis 1995) ist es uns<br />

ganz gelungen, endlich die Tabus zu brechen und das Strafrecht für uns Frauen einzunehmen."<br />

Früher war Brutalität gegen Frauen, wenn überhaupt, ein Kavaliersdelikt, allenfalls ein Vergehen -<br />

646


niem<strong>als</strong> ein Verbrechen. Und gar Ehefrauen - die waren in der französischen Rechtsprechung erst<br />

gar nicht vorgesehen.<br />

Anders <strong>als</strong> in Deutschland wird nunmehr die Vergewaltigung in der Ehe im Nachbarland<br />

ebenso hart bestraft wie die Vergewaltigung einer fremden Person. Verabschiedet von der<br />

Nationalversammlung am 23. Dezember 1990. Strafmaß zwischen zehn und fünfzehn Jahre<br />

Freiheitsentzug. Außerdem hat die Frau bei solchen Delikten keine Möglichkeit mehr, das von ihr<br />

angezeigte Strafverfahren zurückzunehmen - selbst wenn der Vergewaltiger sich formal <strong>als</strong> reuiger<br />

Ehepartner auszuweisen vermag. Allerdings müssen nach dem französischen Rechtsverständnis die<br />

Opfer die Strafanzeige stellen. Als Zwischenstufe reicht gleichwohl auch ein Vermerk im<br />

Meldebuch auf dem Polizeirevier - der sogenannten "main courante" aus.<br />

Indes - Frauenrechtlerinnen und Sozialpolitiker Frankreichs reicht es mittlerweile nicht<br />

mehr aus, dass laut novelliertem Gesetz aus dem Jahre 1992 auch Gewerkschaften automatisch bei<br />

sexueller Belästigung am Arbeitsplatz die Gerichte anrufen können. Die Republik steht demnach<br />

vor einer Prozesslawine. Allein 20 Prozent aller Frauen, so die gerichtsverwertbare Aktenlage der<br />

Gewerkschaften, fühlen sich an ihrem Arbeitsplatz sexuell belästigt, drangsaliert.<br />

"Nein", bedeutet Liliane Daligand vom S.O.S. Femmes gemeinsam für die französischen<br />

Frauenverbände gegen Gewalt, "der Staat muss den Kampf selbst aufnehmen wie etwa gegen Aids<br />

und Prostitution. Allein schaffen wir das nicht mehr."<br />

Das glaubt auch der Sozio-Anthropologe an der Universität Lyon II, Daniel Welzer-Lang.<br />

Er ist der Meinung, dass das Gewaltproblem malträtierter Frauen nicht zu lösen sei, "wenn sich<br />

keiner um die gewalttätigen Männer kümmere. Seit nahezu einem Jahrzehnt betreut Welzer-Lang<br />

mittels geduldiger Gesprächstherapien etwa 150 prügelnde Ehemänner. Sein alter Vorschlag: "Wir<br />

müssen uns viel stärker in die private Sphäre mit Alkohol-, Drogenverboten und Zwangstherapien<br />

einmischen. Das Refugium Familie hat sich ein für allemal überlebt - ein Schlachtfeld sozialer Kälte<br />

und der Rücksichtslosigkeit für Frauen ist das da vielerorts." Ganz im Sinne der in Frankreich<br />

populären Rockgruppe "Nique ta mère" <strong>als</strong> jugendliche Hoffnungsträger, <strong>als</strong> Ausdruck<br />

verwahrloster Gewalterlebnisse in der französischen Republik. Zu deutsch: "Fick deine Mutter".<br />

647


648


2005<br />

Detemido – torturado – desaparecido – Elisabeth Käsemann<br />

649


DETENIDO - TORTURADO - DESAPARECIDO -<br />

VERHAFTET, GEFOLTERT, VERSCHWUNDEN IN<br />

ARGENTINIEN - BEERDIGT AUF DEM FRIEDHOF<br />

LUSTNAU IN TÜBINGEN<br />

Friedhöfe - Endstationen - Innehalten ... ... "Der Mensch ist erst dann wirklich tot, wenn<br />

niemand an ihn denkt" - Bertolt Brecht<br />

„Denken heißt Überschreiten Prinzip Hoffnung"<br />

"Die Sehnsucht des Menschen ein wirklicher Mensch zu werden"<br />

auf dem Bergfriedhof zu Tübingen Ernst Bloch *8. Juli 1885 in Ludwigshafen am<br />

Rhein + am 4. August 1977 in Tübingen Carola Bloch * am 22. Januar 1905 in Lodz; + am<br />

31. Juli 1994 in Tübingen<br />

Elisabeth Käsemann * am 11. Mai 1947 in Gelsenkirchen + am 24. Mai 1977 in Buenos<br />

Aires<br />

Mir ging an diesem denkwürdigen Tag des 8. März 1977 im fernen Buenos Aires der<br />

Name der deutschen Soziologiestudentin und Entwicklungshelferin Elisabeth Käsemann aus<br />

Tübingen nicht mehr aus dem Sinn. Aus der Redaktion in Hamburg kam die Nachricht: Autos<br />

ohne Kennzeichen hatten vor ihrer Wohnung in Buenos Aires gestoppt. Kreischende Bremsen.<br />

Türen wurden aufgerissen. Männer sprangen heraus. Sie drangen in ein Haus ein und fielen über<br />

Elisabeth her. Handschellen, Kapuze über'n Kopf, Spray in die Augen. Elisabeth Käsemann wurde<br />

von Soldaten abgeführt, in eines der Auto gezerrt. Türen schlugen zu. Motoren heulten auf. Die<br />

Autos rasten davon. Die junge Frau, die Argentiniens Schergen abholen, wird in der Öffentlichkeit<br />

nicht mehr lebend gesehen. Es ist, <strong>als</strong> hätte die Erde sie verschluckt. Anschuldigungen, Gerüchte<br />

lauteten seinerzeit, sie hätte mal zu jemandem aus dem linken Montonero-Umfeld - der<br />

Stadtguerilla -Kontakte gehabt, gefälschte Papiere zur Ausreise besorgt. Nur Belege gab es nicht:<br />

Fehlanzeige. Vermutungen, Verdächtigungen -mehr nicht.<br />

So oder ähnlich muss es in der Nacht vom 8. auf den 9. März 1977 geschehen sein, <strong>als</strong> die<br />

deutsche Staatsbürgerin Elisabeth Käsemann in Buenos Aires von ihren Folterern abgeholt,<br />

geraubt, gekidnappt worden ist. Ausgerechnet an diesem Tag trafen wir aus Sao Paulo (Brasilien)<br />

kommend in Buenos Aires ein - auf der Suche mach dem Verbleib weiterer hundert Deutscher<br />

oder auch Deutschstämmiger , die während 1976 bis 1983 spurlos in Argentinien wie vom<br />

Erdboden verschluckt worden sind. -<br />

"Detenido - torturado - desaparediso - verhaftet, gefoltert, verschwunden"; über 30. 000<br />

Menschen in dieser verdüsterten Epoche.<br />

In Elisabeths Alter und Leben, ihrem Werdegang, ihrer Wahrnehmungen <strong>als</strong> auch<br />

gesellschaftspolitischen Ansichten konnte ich Ähnlichkeiten zu meiner Biografie entdecken.<br />

Parallelen, die mich aufwühlten. Nur mit dem folgenschweren Unterschied, dass mich mein<br />

Veränderungswille in den Journalismus - <strong>als</strong> Instrument der Aufklärung - trieb. Elisabeth hingegen<br />

setzte sich auf die andere Seite des Tisches - zu den Armen, Farbigen, Entrechteten,<br />

650


Ausgestoßenen oder zu den Verdammten dieser Erde, um mit Frantz Fanon (*1925+1961) zu<br />

sprechen - dem Vordenker der Entkolonialisierung.<br />

Rückblick auf eine Biografie. -Elisabeth, Tochter des Tübinger Theologie-Professors<br />

Ernst Käsemann (*1906+1998), studiert um 1968 Soziologie an der Freien Universität in West-<br />

Berlin. Sie diskutierte immer und immer wieder mit dem SDS-Vordenker und<br />

Gesellschaftsarchitekten Rudi Dutschke (*1940+1979). APO-Jahre, Rebellen-Jahre. Jahre der<br />

Träume, der Entwürfe von Skizzen oder auch Utopien nach einer gerechteren Welt, einer neue<br />

deutschen Republik. Elisabeth wollte nicht warten auf bessere Zeiten, nur in Studenten-Milieus<br />

diskutieren, theoretisieren und dort in solch einem praxisfernen akademischen Umfeld kleben<br />

bleiben. - Hoffnung.<br />

Ihren Unterhalt verdiente sie sich mit Übersetzungen und Deutsch-Unterricht. Den<br />

besorgten Eltern im fernen Tübingen schrieb Elisabeth: "Diese Entscheidung, hier in Buenos Aires<br />

zu bleiben, und nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren, fällte ich nicht aus persönlichen<br />

Gründen, sondern aus ideellen. Sie entspringt meiner Verantwortung <strong>als</strong> Mensch. Ich werde arm<br />

sein, ich werde manchmal mich zurücksehnen nach allem, was ich zu Hause hatte."<br />

In ihren nahezu 300 Folterzentren verschleppten die argentinischen Militärs politische<br />

Gefangene aller Schattierungen: Peronisten, Kommunisten und Bürgerliche, Christen, Juden und<br />

Atheisten - eben Menschen, den der vorauseilende Gehorsam fremd geblieben ist. Es gab<br />

Zeugenaussagen, die beweisen, dass Elisabeth Käsemann <strong>als</strong> "Mitglied einer politischen<br />

oppositionellen Gruppe" im Folterzentrum "El Vesubio" interniert und zugerichtet worden war -<br />

bis Todesschüsse in den Rücken und ins Genick aus nächster Nähe am 24. Mai 1977 hinrichteten.<br />

Es gab Zeugenaussagen, die zweifelsfrei belegen, wie Elisabeth um ihr Leben flehte, auf<br />

Knien kroch, winselte und immer wieder auf Spanisch mit ihrem harten deutschen Akzent<br />

beteuerte: "Das ist die Wahrheit, das ist die Wahrheit...". Sie lag angekettet am Boden,<br />

untergebracht in Verschlägen, die an Hundehütten erinnerten. Nichts half, niemand half. Eine<br />

englische Freundin, die ebenfalls interniert, gefoltert worden war, diese Weggefährtin kam nach<br />

gezielt-massiver Intervention Englands wieder frei. -England.<br />

Nicht so Elisabeth Käsemann. Es ist ein Frauen-Schicksal, das mich auch Jahrzehnte<br />

danach zornig, bitter, verächtlich werden lässt - unvergessen bleibt. Wie der deutsche Botschafter<br />

Jörg Kastl (1977-1980) mit schrägem, süffisantem Grinsen im fernen Buenos Aires mir beim<br />

Hummer-Menü seine Lebensweisheit verdeutlicht: "Wer in einem - äh - Span- nungs-feld in die<br />

Schuss -äh - linie gerät, der ist in Gefahr."<br />

Dabei hatte das Auswärtige Amt genaue Hinweise, wo Elisabeth Käsemann gefangen<br />

gehalten wurde. Aber die Diplomaten unternahmen nachweislich nichts, um das Leben einer<br />

deutschen Staatsbürgerin, dieser jungen Studentin aus der Gefahrenzone zu holen. Mittlerweile gilt<br />

es verbrieft, dass weder die Botschaft in Buenos Aires, noch das Außenministerium mit Hans-<br />

Dietrich Genscher (FDP) an der Spitze noch Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) sich jem<strong>als</strong><br />

nachhaltig bemühten, intervenierten -um das Leben einer gefolterten Frau aus kirchlichem Haus<br />

aus den Klauen der Militärjunta zu retten. Die englische Regierung hingegen intervenierte<br />

fieberhaft und hatte letztendlich Erfolg. Heimflug für eine gefolterte Geisel nach London-<br />

Heathrow.<br />

Für Deutschland hieß insgeheim die Moral der Geschichte: Eine verkaufte Mercerdes-<br />

Karosse wiegt eben mehr <strong>als</strong> ein Atem. Schubladen auf, Schubladen wieder zu. Ende der<br />

Durchsage. Argentiniens Propaganda-Trick über eine vermeintliche Terroristin, der angeblichen<br />

651


Ulrike Meinhof (*1934+1976) Südamerikas, hatte funktioniert. Eine "Terroristin", die in<br />

Wirklichkeit eine friedfertige Sozialarbeiterin in den Armenviertel war, zeitigte Wirkung.<br />

Bemerkenswert an dieser diplomatischen Vertretung der Deutschen in Buenos Aires war,<br />

wem sie da sonst so ihre Fürsorgepflicht angedeihen ließ. Vornehmlich dann, wenn es in der<br />

Nachkriegs-Epoche um Alt-Nazis ging, waren bundesdeutsche Diplomaten stets hilfsbereit zur<br />

Stelle. Tatsache ist, dass SS-Massenmörder Adolf Eichmann (*1906+1962 , für die Ermordung von<br />

sechs Millionen Juden zentral mitverantwortlich), vor seiner Entdeckung im Jahre 1962 in<br />

Argentinien in der deutschen Botschaft zu Buenos Aires unter f<strong>als</strong>chem Namen Schutz, Obhut,<br />

Gespräche und gefälschte Ausweispapiere suchte. Ein Einzelfall? Den deutschen Diplomaten zu<br />

Südamerika waren über Jahre offenkundig flüchtende Nazis mehr wert, wichtiger, dringlicher, <strong>als</strong><br />

etwa helfende Kontakte zu einer angereisten Soziologie-Studentin - mit kesser Lippe ohnehin <strong>als</strong><br />

"linke Spinnerin" abgetan. Bei Eichmann und Co. stimmte zumindest eines einvernehmlich:<br />

Herkunft, Gedanken-Nähe, Karriere-Muster, Beamten-Apparate - unverwechselbar der Stallgeruch.<br />

Es galt in Deutschlands betulichen Diplomaten-Kreisen zu Bonn und anderswo Ende der<br />

sechziger bis Mitte der siebziger Jahre hinein <strong>als</strong> ein "offenes Geheimnis", wer noch und schon<br />

wieder auf dem Erdball in Sachen Diplomatie unterwegs war, wie reibungslose ihre informellen<br />

Nazi-Kontakte funktionierten. Jeder wusste es, keiner sprach darüber. - Als junger Reporter, in<br />

vielen Ländern unterwegs, habe ich es zunächst glauben wollen - dann aber notgedrungen zur<br />

Kenntnis nehmen müssen, wie viele Braunröcke aus der Nazi-Zeit unter dem Schutz der "Corps<br />

diplomatique unbehelligt und betucht zudem überwinterten. -Schon-Zeiten. Garstige Zeiten.<br />

Folgerichtig gab Außenamts-Staatssekretär Günther von Well (FDP *1922+1993) nach<br />

einem Treffen mit General Videla im Jahre 1978 in Buenos Aires freimütig zu, dass das Thema der<br />

verschwundenen, gefolterten, ermordeten Deutschen in Argentinien überhaupt nicht angesprochen<br />

worden sei. Operation "Leisetreterei" hieß das dam<strong>als</strong> hinter vorgehaltener Hand -ausschließlich<br />

standen deutsche Exportlieferungen im Werte von drei Milliarden Mark im Mittelpunkt - Waffen<br />

und nochm<strong>als</strong> Waffen, Kampf-Panzer und nochm<strong>als</strong> U-Boote, Maschinenpistolen insbesondere<br />

für den Straßenkampf gegen eine rebellierende Jugend. Schnellfeuerwaffe G3 - Made in Germany.<br />

Am 10. Juni 1977 kehrte die Leiche Elisabeth Käsemanns im Frachtraum einer Lufthansa-<br />

Maschine nach Deutschland zurück, wurde sie in ihrer Heimatstadt Tübingen beerdigt. Die Eltern<br />

hatten über Mittelsmänner den Leichnam ihrer Tochter für 22.000 Dollar freikaufen können. Vater<br />

Ernst Käsemann musste nach Argentinien reisen, um den Leichnam seiner Tochter ausgehändigt<br />

zu bekommen. Der zerschundene Körper hatte weder Haare noch Augen. Gerichtsmediziner in<br />

Tübingen konstatierten: dass Elisabeth von hinten durch vier Schüsse abgeknallt worden war , was<br />

auf eine typische Exekution hinweist.<br />

Elisabeth Käsemann wurde am 16. Juni 1977 auf dem Friedhof Lustnau in Tübingen<br />

beigesetzt. An diesem Tag erklärten ihre Eltern: "Wir haben heute unsere Tochter Elisabeth<br />

bestattet. Am 11. Mai 1947 geboren, am 24. Mai 1977 von Organen der Militärdiktatur in Buenos<br />

Aires ermordet, gab sie ihr Leben für Freiheit und mehr Gerechtigkeit in einem von ihr geliebten<br />

Lande. Ungebrochen im Wollen mit ihr einig, tragen wir unsern Schmerz aus der Kraft Christi und<br />

vergessen nicht durch sie empfundene Güte und Freude."<br />

Finale des Verbrechens - im Auftrag der Koalition gegen die Straflosigkeit vieler<br />

Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Argentinien während der Militärdiktatur erstattete am 25.<br />

März 1999 Rechtsanwalt Roland Deckert Strafanzeige im Fall Käsemann. Das Amtsgericht<br />

Nürnberg erließ am 11. Juli 2001 Haftbefehl gegen den früheren argentinischen General Carlos<br />

652


Guillermo Suárez Mason. Er stand unter konkretem Verdacht, die Ermorderung Elisabeth<br />

Käsemanns befehligt zu haben.<br />

Ihr Scherge, Carlos Guillermo Suárez Mason (*1924+2005), der in Argentinien den<br />

Beinamen "der Schlächter des El Olimpo" trug, wurde für die Entführung von 254 Personen und<br />

der illegalen Adoption von Kindern verschwundener Kritiker verurteilt. Im Jahre 1979 sagte er<br />

angeblich gegenüber einem Vertreter der US-Botschaft, dass er jeden Tag zwischen 50 und 100<br />

Todesurteile unterzeichne. Italien, Deutschland und Spanien hatten seine Auslieferung beantragt. -<br />

Abgelehnt.<br />

Im November 2003 wurden Auslieferungsanträge der deutschen Justiz gegen die<br />

Beschuldigten Jorge Rafael Videla, ehemaligen Präsidenten der Militärjunta und gegen Ex-Admiral<br />

Emilio Eduardo Massera erlassen. - Die Anträge aus Deutschland wurden am 17. April 2007 vom<br />

Obersten Gerichtshof Argentiniens abgewiesen - die Akte Elisabeth Käsemann endgültig<br />

geschlossen.<br />

Nur wenige der geheimen Gefangenenlager oder Folterzentren sind nach den Jahren der<br />

Militärdiktatur (1976-1983) <strong>als</strong> Gedenkstätten erhalten geblieben. Die Gebäude von "El Vesubio",<br />

in der Elisabeth Käsemann ihr Leben ließ, wurden vorsorglich abgerissen. Ein früheres<br />

Folterzentrum im Stadtteil Belgrano von Buenos Aires diente in den 90er Jahren <strong>als</strong> Partykeller -<br />

ein ehemaliges Junta-Mitglied hatte ihn gemietet, um dort die Hochzeit seiner Tochter zu feiern.<br />

653


654


2007<br />

Elisabeths Badinters Rendezvous mit der Zukunft<br />

655


ELISABETH BADINTERS RENDEZVOUS MIT DER<br />

ZUKUNFT -FRAUEN UND MÄNNER ERFINDEN SICH NEU<br />

- HOFFNUNG<br />

Die französische Philosophie-Professorin Elisabeth Badinter wurde 1944 geboren.<br />

Sie ist Autorin namhafter Werke, die die Geschichte, Philosophie und Soziologie der<br />

Frauen reflektieren. Sie ist damit ideengeschichtlich die bedeutendste Nachfolgerin der<br />

Schriftstellerin Simone de Beauvoir, die im Jahre 1986 starb. Simone de Beauvoir war<br />

Begründerin des französischen Feminismus nach 1968. Mit 22 Jahren heiratete Elisabeth<br />

Badinter den Politiker und späteren Justizminister Robert Badinter.<br />

Ihre drei Kinder bekam sie innerhalb von dreieinhalb Jahren während ihrer<br />

Abschlussexamen an der Universität. Als sich zu Beginn der siebziger Jahre der<br />

Feminismus in Frankreich zusehends heftiger artikulierte, entdeckte Elisabeth Badinter<br />

die Kompliziertheit des häuslichen Lebens <strong>als</strong> Mutter. Als Vertreterin des<br />

Differenzdenkens geht Elisabeth Badinter von einem grundlegenden Unterschied der<br />

Geschlechter aus. Daher müssen Frauenrechte besonders betont werden, weil die<br />

universalistische Theorie Frauen schon immer benachteiligt hat, indem sie den Mann mit<br />

dem Menschen gleichsetzt.<br />

"Vive la française - Die stille Revolution in Frankreich" Rasch und Röhring Verlag, Hamburg 2. März 1997<br />

In einem der stattlichen Bürgerpaläste am Pariser Jardin du Luxembourg ist, sozusagen,<br />

die Zukunft zu Hause, die Zukunft der Frauen. In einem weiträumigen Appartement, umgeben<br />

von Gemälden aus dem 18. Jahr-hundert, auserwählter Kunst und seltenen, wertvollen alten<br />

Büchern, lebt, denkt - schreibt Elisabeth Badinter, 51jährige Philosophieprofessorin an der École<br />

Polytechnique. Wer sie zum ersten Mal besucht, könnte meinen, dort, zwischen den lindgrünen<br />

Wänden und grauen Spannteppichen mit den tannengrünen Sitz-polstern wirke Abgelebtes,<br />

Überholtes, Vergangenes -geduldet und abgeschottet - fort. Andererseits fühlt er sich dort auch<br />

versucht, die hastige, sich überstürzende Gegenwart, die herbeigeredeten, schließlich geglaubten<br />

Trends oder Tricks der Bewusstseinsindustrie samt ihrer Marktforschung <strong>als</strong> Hirngespinste<br />

abzutun. Ein Ort wie außerhalb der Zeit, an dem man verschnaufen, sich besinnen und wieder<br />

erinnern kann: ans Wesentliche. An den Kern der Ordnung.<br />

Auf dem Balkon der Wohnung bleibt der Blick am gegenüberliegenden Panthéon haften,<br />

in dem Rosseau, Voltaire, der Geist der Unsterblichkeit liegen. "Hier", sagt Elisabeth Badinter,<br />

"sind meine Wurzeln. Alles liegt im 18. Jahrhundert. Ich könnte kein aktuelles Buch schreiben ohne<br />

diese stets Rückbesinnung auf die Aufklärung."<br />

Elisabeth Badinter trägt keinen Schmuck. Sie schminkt sich nicht, verschmäht noch das<br />

zarteste Rouge. Soviel gewollte Unscheinbarkeit kann im Paris der aufgesetzten Äußerlichkeiten<br />

kein Zufall sein. Auch nicht Nachlässigkeit. Madame ohne f<strong>als</strong>che Bescheidenheit: "Ich wollte nie<br />

die Tochter des reichen Vaters oder das Anhängsel eines einflussreichen Politikers sein." Ihr Vater,<br />

Marcel Bleustein-Blanchet, war einst Frankreichs Tycoon in der Werbung. Ihr Mann, Robert<br />

Badinter, schaffte <strong>als</strong> Justizminister (1981-1995) unter François Mitterrand (*1916+1996, Präsident<br />

von Frankeich 1981-1995) zu Beginn seiner Amtszeit die Todesstrafe ab. Drei Kinder hat die<br />

Wissenschaftlerin großgezogen. Ihre drei Kinder Judith, Simon und Benjamin bekam sie innerhalb<br />

von dreieinhalb Jahren während ihrer Abschlussexamen an der Universität.<br />

656


Elisabeth Badinter ist eine wegweisende Persönlichkeit. Ihre Dominanz und Vehemenz,<br />

das, was sie antizipiert und vorhersieht, ihr Denken und Vordenken - das ist die Zukunft der<br />

Frauen. Und ihre Wohnung, ihre Vorlesungen oder Seminare sind Lern- , auch<br />

Bewusstseinsrefugien für Studentinnen und jene jungen Herren, in denen die Philosophin den<br />

"versöhnten Mann" erkennt. Weil er in der Lage ist, die altüberkommene Männlichkeit in Frage zu<br />

stellen, etwas von der gefürchteten Weiblichkeit anzunehmen und dadurch letztlich eine neue<br />

Männlichkeit zu finden.<br />

"Er hat die beiden verstümmelten Männer", sagt die Professorin prononciert, "den harten<br />

Mann (Macho) und die Antwort auf ihn, den weichen Mann (Softie), hinter sich gelassen."<br />

Viele Bücher hat Elisabeth Badinter geschrieben, bedeutende Werke. Es sind Bücher, die<br />

schon jetzt unser Denken beeinflussen, das der nachfolgenden Generationen wohl noch<br />

nachhaltiger. Die Hochschullehrerin sieht ihre Lebensaufgabe darin, das - ziemlich erbärmliche -<br />

Geheimnis der Männlichkeit zu lüften. Das Ende angemaßter männlicher Vorherrschaft mit<br />

wissenschaftlich fundierter Akribie zu untermauern. "Wir erfinden uns gerade neu", urteilt sie, "das<br />

ist das Aufregendste in dieser Epoche."<br />

In ihrem Buch "Mutterliebe", erschienen 1980, wies Elisabeth Badinter nach, dass die<br />

immer wieder, auch pathetisch beschworene "Mutterrolle" <strong>als</strong> unumstößliches gesellschaftliches<br />

Fundament in Wirklichkeit erst mit dem Aufstieg des Bürgertums begann. Historisch belegte die<br />

Autorin, dass der Mythos der aufopferungs-vollen Mutterschaft, dieses naturgegebenen Monopols,<br />

den Frauen angedichtet worden ist.<br />

Erst am Ende des 18. Jahrhunderts mühten sich Ärzte, Moralisten und Administratoren in<br />

Frankreich, den Frauen-Mythos <strong>als</strong> Mutterinstinkt aufzuwerten -der Frau die Funktion einer<br />

"Gebärmaschine" zuzuweisen. Im Hintergrund standen wirtschaftliche Interessen, das Volk der<br />

Franzosen in einer großen Anzahl zu erhalten. Die Philosophie der Aufklärung ersetzte die Theorie<br />

des natürlichen und göttlichen Ursprungs väterlicher Gewalt durch die Idee der Beschränkung<br />

dieser Macht.<br />

Zentraler Ausgangspunkt war vielmehr die Gleichheit von Mann und Frau in der<br />

Erziehung. Das 19. Jahrhundert war geprägt von Appellen, eine gute Mutter zu sein. Heftigst<br />

wurden Frauen gesellschaftlich gebrandmarkt, die ihrer Mutterrolle nicht im gewünschten Umfang<br />

nachkamen. Erst in dieser Epoche entstand die Vorstellung, dass Fürsorge und Zärtlichkeit der<br />

Mutter für die Entwicklung und das Wohlbefinden des Babys unersetzlich sind.<br />

Demzufolge kritisierte Elisabeth Badinter und mit ihr schon die feministischen<br />

Bewegungen der sechziger Jahre das von Sigmund Freud entworfene Frauenbild <strong>als</strong><br />

Hauptverantwortliche für das Glück des Kindes. Durch scheinbare Selbstaufopferung, so Freud,<br />

findet die Mutter ihre Erfüllung in ihren Kindern. Sie sei verantwortlich für das psychische<br />

Wohlbefinden ihrer Kinder. Mit den sechziger Jahren begann Elisabeth Badinter mit den<br />

feministischen Bewegungen in Frankreich, diesen Mythos von der natürlichen Mutterschaft<br />

grundlegend zu zerstören. Im Klartext: Mutterliebe ist nichts Selbst-verständliches mehr,<br />

mütterliche Fürsorge ist Arbeit, für die Entgelt zu verlangen ist. Badinter: "Mutterliebe ist ein<br />

wandelbares Gefühl, kein Instinkt. Die Väter nehmen mehr Anteil an ihren Kindern, sie werden<br />

mütterlicher, während die Frauen männlicher werden."<br />

Sechs Jahre später präsentierte die Philosophin der Öffentlichkeit ihr Werk "Ich bin du".<br />

Darin fragt sie: Der Busch ist weit weg, wenn er nicht schon abgeholzt wurde, und wo haben<br />

Männer eigentlich noch die Chance, ihre Männlichkeit unter Beweis zu stellen? Wohl nirgendwo in<br />

657


der westlichen Hemisphäre. Androgyn sind die Zeiten, die Geschlechter sind sich sehr viel<br />

ähnlicher geworden. Es sind Individuen, die Geschlechtermerkmale von Mann und Frau in sich<br />

verbinden wissen und diese Zweigeschlechtigkeit je nach Erfordernis ausleben. Sie konstatiert: "Mit<br />

diesem neuen Modell der Ähnlichkeit wird die traditionelle Bestimmung der Gattung in Frage<br />

gestellt.<br />

Unsere Identität, sogar unsere Natur sind Veränderungen unterworfen. Wir befinden uns<br />

in einer Phase der Mutation." Sie folgert: Ärzte laborieren an Mütter-Maschinen. Die Entwicklung<br />

eines Kindes liegt nicht mehr im Bauch der Frauen, sondern in der Hand von Wissenschaftlern.<br />

"Kinder können heute außerhalb des weiblichen Körpers gezeugt werden. Ich reagiere auf die<br />

Vorstellung, dass man einem Mann einen Embryo einpflanzt mit Panik - aber es wird kommen und<br />

zwar sehr bald." Männliche Paviane haben den Beweis längst erbracht, für die Wissenschaft<br />

erbringen müssen. Wenn aber Männer und Frauen zusehends ähnlicher werden, folgert Elisabeth<br />

Badinter, was geschieht dann mit der männlichen Identität in der Postmoderne?<br />

"XY - Die Identität des Mannes" heißt folgerichtig ihre nächste Publikation von 1992.<br />

Damit will sie den Beweis für die Umkehrung einer dominanten Kultur mit ihrem "schwachen<br />

Geschlecht" antreten. Es gelingt. Sie schreibt: "Als Modell ist das Patriarchat tot, es ist intellektuell,<br />

moralisch und sozial am Ende ... Seit Entstehung des Patriarchiats hat sich der Mann <strong>als</strong><br />

privilegiertes Menschenwesen definiert, stärker, mutiger, intelligenter, verantwortungsbewusster,<br />

schöpferischer oder rationaler <strong>als</strong> Frauen. " Nur verfüge die Medizin mittlerweile über hinreichende<br />

Erfahrungen, Ergebnisse und Statistiken, die bewiesen, dass Männer in Wirklichkeit das schwache<br />

Geschlecht darstellen. Die Sterblichkeit bei männlichen Säuglingen ist weitaus höher, Männer<br />

leiden unter mehr Krankheiten - physisch wie psychisch - und sie sterben auch früher <strong>als</strong> Frauen.<br />

Für Elisabeth Badinter zählt das Fehlen einer Identität zu den schmerzlich gelebten<br />

Erscheinungen dieser Zeit. Viele Männer wissen seit dem feministischen Umbruch nicht mehr so<br />

recht, wie sie eine Beziehung zu Frauen und welche sie aufbauen sollen. Angst vor Androgynität,<br />

vor der Ähnlichkeit der Geschlechter. Ängste vor Rollenverlusten - Verluste des Mannes, seiner<br />

überkommenen, unzeitgemäßen Männlichkeit. Angeknackst ist die männliche Herrschaft, die<br />

Frauen seit jeher symbolisch und tatsächlich zum Objekt machte. Von ihnen wurde und wird noch<br />

immer - ein kulturelles Gesellschaftsspiel -sexuelle <strong>Verfügbar</strong>keit diskret wie selbstverständlich<br />

eingefordert. "Aus männlicher Sicht", rekapitulierte Pierre Bourdieu (*1930 +2002), einst<br />

Soziologie-Professor am Collège de France, "wirken diejenigen Frauen, die das stillschweigende<br />

Verhältnis der <strong>Verfügbar</strong>keit unterbrechen und sich ihres eigenen Körperbildes in gewisser Weise<br />

wieder bemächtigen, 'unweiblich' oder wie Lesben." - Kulturverwerfungen - Identitätsbrüche.<br />

Erst leise und zaghaft, unbestimmt vielerorts und vage, dann immer deutlicher rückte ein<br />

Schauplatz der Geschlechter zwangsläufig in den Mittelpunkt - das Bett. Es ist nun einmal der<br />

Austragungsort der Verführung, Verfügung und Verweigerung, der sexuellen Leidenschaften mit<br />

ihren leichtgängigen Lippenbekenntnissen der Lust und des Lustverlustes. Dort, auf den weichen<br />

Federn der Matratze, findet die eigentliche Kulturrevolution dieser Tage statt - zuweilen ein wenig<br />

verschämt oder auch verdutzt; in ihren qualitativen Folgen zumindest nicht auszumachen - noch<br />

nicht.<br />

Für Elisabeth Badinter wird das traditionelle Rollenmuster aus Liebe und Leidenschaft<br />

bald passé sein. Vorbei deshalb, weil der Motor dieser scheinbar ungestillten Sehnsüchte abhanden<br />

gekommen ist. Die Gesellschaft kennt keine Tabus mehr, aber diese Verbote waren es gerade, die<br />

den Reiz der Übertretung aus- machten. Ende der Sexualität? Madame Badinter lacht<br />

kopfschüttelnd amüsiert und sagt: "Die Sexualität ist eine Sache für sich. Im Alltag ist die<br />

658


Beziehung zwischen Mann und Frau heute viel stärker <strong>als</strong> früher von Gefühlen wie Ähnlichkeit,<br />

Zärtlichkeit und Freundschaft geprägt. Die Mann-Frau-Beziehung ist heute generell komplex. Wir<br />

suchen die Transparenz der Beziehung, das vollkommene Einverständnis, wir sorgen für- einander.<br />

Daneben existiert die erotische Beziehung, die auf Spannung und Polarität aufbaut. Ich denke, dass<br />

man in der Partnerschaft in erster Linie Komplizenschaft und Zärtlichkeit sucht und dann erst<br />

Gegensätzlichkeit und Leidenschaft. Man möchte jemanden haben, mit dem man Gefühle oder<br />

Ideale teilt. In dem Moment, in dem man die Schlafzimmertür hinter sich schließt, ändern sich das<br />

natürlich...".<br />

Gewiss haben es die Frauen weltweit in den vergangenen drei Jahrzehnten weitreichend<br />

verstanden, traditionelles Geschlechterverhalten aufzubrechen. So stellen heute Frauen insgesamt<br />

40 Prozent aller Jura und Medizinstudierenden auf dem Erdball. Vor dreißig Jahren brachten sie es<br />

mal gerade eben vier Prozent. -Bewusstseinswandel.<br />

Vielerorts ängstigen sich heute die Frauen aus gutem Grund, dass sie zuallererst Opfer der<br />

Neustrukturierung der Arbeitswelt werden. Elisabeth Badinter hingegen schaut überraschend<br />

zuversichtlich in die Zukunft. "Die Gefahr", bemerkt sie, "wird total überschätzt. Sicher, in Krisen<br />

leben immer wieder archaische Reaktionen auf. Aber die Frauen sind heute in so vielen Bereichen<br />

in so qualifizierten Positionen und schlicht nicht mehr weg-zudenken, dass man diese jetzige Krise<br />

nicht mit den vorausgegangenen vergleichen kann." Ein Frauenbollwerk in Frankreichs<br />

Arbeitswelt, in der Armee, in den Atomkraftwerken, an den Universitäten und anderswo.<br />

Sehr unterschiedlich hingegen sind Art und Weise, Methoden und Mittel, mit denen<br />

Frauen ihre Ziele voranbrachten - zum Teil ja auch erreichten. In Frankreich jedenfalls begegnen<br />

sich die Geschlechter freundlicher, aufmerksamer <strong>als</strong> anderenorts, hat ein Krieg zwischen Männern<br />

und Frauen, wie etwa in den USA oder auch in Deutschland, nicht stattgefunden.<br />

Für Elisabeth Badinter driftet der amerikanische Feminismus in die f<strong>als</strong>che Richtung, die<br />

männliche Sexualität insgesamt radikal abzustrafen, grundsätzlich in Frage zu stellen.<br />

Feindberührungen. Letztlich stilisiert diese US-kulturalistische Variante des Feminismus den Penis<br />

<strong>als</strong> todbringende Waffe. Vergewaltigung wird zum Paradigma der Heterosexualität erhoben. Und<br />

sie bemerkt: Diese Art des feministischen Denkens in der weiblichen Sexualität verlangt "eine Art<br />

von Gleichheit, die sich nach meinem Kulturverständnis nicht geben sollte". Sie kritisiert zudem<br />

diese Art der Frauen-Wahrnehmung, sich zusehends nur <strong>als</strong> Leidtragende zu sehen, die des<br />

besonderen gesellschaftlichen Schutzes bedürfe. Madame Badinter warnt eindringlich davor, den<br />

zentralen Unterschied zwischen Männer und Weiblichkeit auf das Biologische zu reduzieren, weil<br />

die Frauen ihre in den letzten 30 Jahren mühsam erkämpften Rechte unversehens wieder verlieren<br />

könnten. Besonders wehrt sich Elisabeth Badinter gegen die "Unsitte", alle Frauen pauschal wie<br />

grobschlächtig über einen Kamm zu scheren. Sie meint, dass die Unterschiede zwischen Frauen in<br />

verschiedenen Lebenssituationen und sozialen Schichten deutlich gravierender sind, <strong>als</strong> etwa<br />

zwischen Männern und Frauen mit einem ähnlichen Lebensstil. Durch solch einen wichtigen<br />

"feministischen Irrtum", so befürchtet Badinter, wird sich das Verhältnis zwischen Frauen und<br />

Männern weiter verschlechtern. - Grabenkämpfe über Kontinente hinweg.<br />

Wenn ein Amerikaner jedenfalls einer Lady auf Busen und Beine schaue, erzählt Madame<br />

Badinter zum Frauen-Verständnis , werfe man ihm vor, ein Schwein zu sein. Wenn ein Franzose<br />

das tue, finde eine Frau das charmant, selbst dann, wenn sie sich <strong>als</strong> Feministin begreife. "Und" -<br />

fragt die Philosophieprofessorin - "ist nicht ein Mann, der mir den Hof macht, viel ungefährlicher<br />

<strong>als</strong> einer, der es nicht tut?" Mit einer Feststellung fährt sie fort: "Bei uns haben Männer und Frauen<br />

weniger Angst voreinander. Die Statistiken zeigen übrigens, dass es auf der anderen Seite des<br />

659


Atlantiks sehr viel mehr Vergewaltigungen gibt. Ist nicht der harte amerikanische Feminismus mit<br />

ein Grund dafür?"<br />

Elisabeth Badinter zieht Bilanz zwischen den Ländern -ein zwischenzeitliches Frauen-<br />

Remüsee. Sie verdeutlicht: "Mir scheint, dass in Frankreich größere Erfolge erzielt werden - durch<br />

die Tradition der Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Feministinnen in Deutschland<br />

befanden sich oder sind immer noch im Krieg mit den Männern. In Frankreich wäre das nicht<br />

vorstellbar. Die meisten Frauen wollen einen Lebensgefährten, Kinder, ein erfülltes Privatleben,<br />

Sport treiben und kulturell aktiv sein, womöglich einen Geliebten haben - und arbeiten. Die<br />

französischen Frauen haben sich immer eine Art Komplizenschaft mit den Männern, die sie<br />

kritisieren, bewahrt. Das was sehr günstig für die Veränderung des männlichen Verhaltens. In den<br />

USA und in Deutschland herrscht hingegen ein weitaus aggressiverer Ton. Die Deutschen führen<br />

Krieg mit ihren Männern. Doch es braucht viel Feingefühl, Ausdauer, um den Mann, mit dem man<br />

lebt, zu verändern. Man braucht das Gesetz wie die Komplizenschaft. Die amerikanischen<br />

Feministinnen halten uns für zu nachsichtig. Aber ich finde, die Situation der französischen Frau ist<br />

wesentlich besser <strong>als</strong> die der Amerikanerinnen und der Deutschen. Denn wir haben mehr Rechte,<br />

mehr Gleichheit, auch in der Mentalität." -Die stille Revolution der Französinnen – auf lange Sicht<br />

der Frauen überhaupt.<br />

Nur selten steht Elisabeth Badinter wie jetzt in den frühen Abendstunden auf ihrem<br />

Balkon, dort, wo sich ihre Gedanken beruhigen, ihre Blicke das Panthéon umspielen, durchdringen<br />

können. Von fern leuchtet Sacré Coeur über Paris.<br />

"Das nächste Jahrhundert", sagt sie auf einmal, "wird definitiv die Verwirklichung des<br />

Androgynen bringen. Das bedeutet die Möglichkeit, beide Seiten seiner Persönlichkeit ausleben zu<br />

können. Wir Frauen haben hier in Frankreich schon mehr erreicht, <strong>als</strong> wir vor drei Jahrzehnten zu<br />

hoffen wagten. Nur müssen wir auf der Hut sein. Diese Bewegung nach rechts <strong>als</strong> Sinnbild des<br />

neuen Glücks scheint mir absurd. Feministinnen, die ihr Leben den Kindern widmen, sind keine<br />

Feministinnen mehr", sagt sie, schließt die Balkontür und fügt noch hinzu: "Das Erkennen der<br />

Einsamkeit ist eine Kraft und kein Ziel."<br />

660


2008<br />

Zeitgeschichte: Reiche Kommunisten von einst -<br />

Unaufhaltsamer Niedergang der PCF in Frankreich<br />

661


Zeitgeschichte: Reiche Kommunisten von einst - Unaufhaltsamer<br />

Niedergang der PCF in Frankreich<br />

Russische Kuriere schmuggelten bis in die fünfziger Jahre Dollarnoten und Goldbarren<br />

nach Frankreich , um ihre notleidenden Genossen beim Kampf gegen das kapitalistische System zu<br />

unterstützen. In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war der damalige KP-Chef<br />

Georges Marchais (*1920+1997) auf die Hilfe aus Moskau nicht mehr angewiesen. Der Arbeiter-<br />

Sohn und Maschinenschlosser steuerte inzwischen ein gigantisches Wirtschaftsimperium. Von<br />

Tante-Emma-Läden über Supermärkte, vom kleinen Buchhandel bis zur Großdruckerei, vom Reisebüro<br />

bis zum Möbelhaus. Frankreichs Kommunisten machten seinerzeit von der Öffentlichkeit<br />

nahezu unbemerkt Profit. Selbst wenn in Stadtparlamenten öffentliche Aufträge vergeben wurden,<br />

wirtschaftete die KPF über Mittelsmänner auf eigenes Konto. Jahrzehnte später: Schulden über acht<br />

Millionen Euro Defizite. Die einst vom brasilianischen Star-Architekten Oscar Niemeyer erbaute<br />

KPF-Parteizentrale öffnete sich <strong>als</strong> Schauplatz obskurer Modeschauen, gar christlicher Wohlfahrt-<br />

Veranstaltungen. Ursache: Mitgliederschwund, Geld-Desaster, Vertrauens-schwund - und aus<br />

Moskau keinen Cent mehr dazu. Rück- und Ausblick. Abgesang einer Epoche.<br />

Stern, Hamburg 16.März 1978 / 06. November 2008 °<br />

Geld ist die Verbrüderung der Unmöglichkeiten. Es zwingt das sich Widersprechende zum<br />

Kuss". Was Karl Marx (* 1818+1883) Mitte des 19. Jahrhunderts im "Kapital" philosophierte,<br />

führten gut 100 Jahre später Frankreichs Kommunisten in der Praxis vor: Angetreten zum Kampf<br />

gegen die großen Monopole, baut die KPF selbst riesige Wirtschaftskonzerne auf. Und im Kampf<br />

gegen die Kapitalisten marschieren vorweg parteieigene "Kapitalisten". An ihrer Spitze der 57 Jahre<br />

alte Bauer, Winzer, Tierzüchter, Obsthändler und Unternehmer Jean-Baptiste Doumeng<br />

(*1920+1987). Moment-Aufnahmen aus dem bizarren Leben eines kommunistischen Spitzen-<br />

Funktionärs in Frankreich; aufgenommen vor mehr <strong>als</strong> drei Jahrzehnte; jenen reichen Partei-Jahren.<br />

Retrospektive. Geschichts-Stunde.<br />

Auf dem Telefonbord des Jean-Baptiste Doumeng liegt das Dior-Brillenetui gleich neben<br />

der Lenin-Plakette. In der Bücherwand gegenüber stehen die Bibel und die Schrift des einstigen<br />

französischen KP-Prominenten Jacques Duclos (*1896+1975) über "die erste Internationale". Es<br />

war eben der markante Duclos, der jem<strong>als</strong> das beste Wahlergebnis für die KP in Frankreich erreichen<br />

konnte - bei der Präsidentschaftswahl 1969 mit 21,27 Prozent aller Stimmen. - Lang, lang ist's her.<br />

Indes: Vor dem Doumeng-Anwesen sind kreuz und quer die sechs Wagen der vierköpfigen Familie<br />

geparkt: Citroen CS, Mercedes und Landrover für den Hausherren, Renault R 16 für die Hausfrau.<br />

Alfas 2000 GTV für die beiden Söhne. Auf dem der Alfas liegen mit Hammer und Sichel<br />

geschmückte Mitgliedskarten der kommunistischen Jugendbewegung.<br />

Dem Stilleben entspricht der Lebensstil - auch in längst vergilbten Epochen. Sonntagmorgen<br />

im südfranzösischen Noe: Jean-Baptist Doumeng, der Hausherr in Windjacke und karierter<br />

Mütze inspiziert per Landrover einen Teil seiner Ländereien. Alles ist nicht zu schaffen in dem<br />

riesigen Gebiet, das sich in der Ebene der Haute-Garonne vor den schneebedeckten Bergen der<br />

Pyrenäen im Süden Frankreichs erstreckt. Nur schnell vorbei an den Fußballfeld großen Rinderstallungen<br />

- 1.000 Stück Vieh werden hier pro Woche verkauft. Weiter geht's über holprige Feldwege<br />

und das eigene Flüsschen hügelan zur Perle des Besitzes: dem Reitstall mit den Araber-Vollblütern.<br />

__________________________<br />

° unter Mitarbeit von Peter Koch<br />

662


Wie viele Pferde es sind ? Der Hausherr weiß es nicht: "Zehn, vielleicht 20." Sohn<br />

Michel,23, und Mitglied der kommunistischen Jugendbewegung, der mit einem der Hengste <strong>als</strong><br />

Springreiter an der nächsten Olympiade in Moskau teilnehmen will, korrigiert: "Es sind 24." Neben<br />

den Stallungen die private Reithalle, so groß, dass sie gut <strong>als</strong> Hangar einer Boeing 707 dienen könnte.<br />

Dahinter dann der offene Parcours. Auf dem Rückweg ein kurzer Stopp vor einem Haus aus unverputztem<br />

Feldstein, davor ein Hühnerstall und ein kleiner Blumengarten. Es ist das Geburtshaus des<br />

Patron, sein Vater war Tagelöhner; seine Mutter, die <strong>als</strong> Amme die Kinder begüterter Bürger im<br />

nahen Städtchen Noé nährte, starb hier an Auszehrung, <strong>als</strong> der Junge Jean-Baptist 16 Jahre alt war.<br />

Bei der Rückkehr springen vier Hunde den Hausherrn an: gefleckte Dogen, ein Schäfhund<br />

und der fohlengroße Barsoi "Kopek", eine zottelige Windhundart, die in ihrer sibirischen Heimat<br />

Wölfe jagt. Von der Straße her sieht das Wohnhaus unscheinbar aus, eine Betonmauer ohne Fenster,<br />

darauf ein Schrägdach. Zum Garten hin springt das Haus wie eine Muschel auf, durch bodentiefe<br />

Fensterfronten dringt Sonnenlicht in die gut 100 Quadratmeter große Wohnhalle, ein Balkon vor<br />

dem Schlafzimmer im ersten Stock ist zugleich Sprungbrett in den drei Meter tiefen Swimming-Pool<br />

- beheizt und mit Unterwasser-Beleuchtung.<br />

Die Mittagstafel, ein großer runder Holztisch mit drehbarem Innenteil, ist schon gedeckt.<br />

Der 23jährige Michel gibt dem Diener - einem gleichaltrigen Marokkaner - knapp Order: "Sie<br />

können jetzt servieren!" Gänseleberpastete und ein schwerer 69er Monbazillac-Weißwein beginnen<br />

auf dem Innentisch ihre Karussellfahrt. Der Hausherr philosophiert dazu: "Meine Lebenserfahrungen<br />

haben mir bewiesen, dass der Kapitalismus überholt ist". sagt er und rollt dabei die Konsonanten,<br />

"in spätestens 30 oder 50 Jahren ist es vorbei. Dann wird die Gesellschaft der Menschen<br />

wissenschaftlich so organisiert sein, dass Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen. Das ist mein<br />

innigster Wunsch."<br />

Der Hausherr ist Kommunist, Selfmade-Kommunist. Im Sterbejahr seiner Mutter gründete<br />

er mit zwei Freunden die kommunistische Partei seines Heimatortes. Der 16jährige Hirtenjunge,<br />

der keine Zeit für die Schule hatte, war vom Gemeindepfarrer und Dorfbriefträger - beide wegen<br />

aufrührerischer politischer Ideen nach Noé strafversetzt - in Marx und Engels, auch Kant und Hegel<br />

unterwiesen worden. Er wollte sich damit nicht abfinden, dass bei der Ordnung der Welt in Reiche<br />

und Arme die Reichen immer nur die anderen sein sollten. Jean-Baptiste Doumeng hat es geschafft.<br />

"Ich bin der reichste Kommunist der Welt", kann er heute von sich sagen. Wie reich genau, erzählt<br />

er nicht, vielleicht weiß er's nicht. Nur: "Für 20 Millionen Dollar würde ich meinen Platz nicht<br />

räumen."<br />

663


Er ist ausgewiesen <strong>als</strong> Präsident, Generaldirektor oder Teilhaber von rund 40 Unternehmen.<br />

Sein wahrer Einfluss aber ist nicht nur an Posten ablesbar. Mit Nikita Chruschtschow<br />

(*1894+1971) ging Jean-Baptiste Doumeng auf Bärenjagd. Leonid Breschnew (*1906+1982)<br />

empfängt ihn in Moskau am Flughafen - eine Ehre, von der KPF-Chef Georges Marchais<br />

(*1920+1997) nur Zeit seines Lebens träumen konnte. Doumeng gilt <strong>als</strong> die graue Eminenz der<br />

Kommunistischen Partei Frankreichs, <strong>als</strong> ihr heimlicher Schatzmeister. Früher hatte er auch einmal<br />

offizielle Posten in der Partei, bis 1964 saß er im Zentralkomitee. Für solche Ämter lassen ihm heute<br />

seine Geschäfte keine Zeit mehr.<br />

Doumeng, der trotz Goldrandbrille mit wuchtigem Kopf, seinen breiten Händen und der<br />

gedrungenen Gestalt noch immer so aussieht wie der Charakter-Darsteller des französischen Films<br />

Jean Gabin (*1904+1976) in der Rolle eines Bauern des Midi, wickelte sein erstes Geschäft nach<br />

dem Krieg ab: der Tausch französischer Kartoffeln gegen tschechische Traktoren. "Das war etwas<br />

schwierig", sagt Doumeng, "weil die damalige Tschechoslowakei noch keine Volksrepublik war." Mit<br />

dem Gewinn gründete Doumeng die "Union landwirtschaftlicher Genossenschaften des Südwestens".<br />

Im Genossenschaftswesen glaubte er merkantile Effizienz des Kapitalismus und moralische<br />

Ansprüche des Kommunismus synchronisieren zu können. Nunmehr handelt Doumeng - immer<br />

im Namen und Auftrag solcher Kooperativen von inzwischen 250.000 Bauern und Winzern - mit<br />

Fleisch, Getreide und Wein, mit Torte aus St-Tropez mit Haute Couture von Jacques Esterel<br />

(*1917+1997), mit Immobilien und Traktoren. Selbst aus Scheiße macht Doumeng inzwischen<br />

Geld. Er fand heraus, dass die Exkremente der Rinder einen hohen Prozentsatz unverdauter proteinreicher<br />

Nahrungsbestandteile enthalten, und entwickelte ein heute weltweit exportiertes Trennverfahren,<br />

das aus Rindermist wieder Rindernahrung macht.<br />

Als Geheimnis seines Geschäftserfolgs hält er die Selbsterkenntnis parat: "Ich bin eben<br />

klüger <strong>als</strong> die anderen." Und: "Ich hab' eben mit den Ländern des Ostblocks Verträge abgeschlossen<br />

- ohne Vorauskasse, Zahlung erst bei Lieferung -, <strong>als</strong> die Kapitalisten noch zu furchtsam waren." In<br />

der Tat: Der Osthandel war und blieb Motor und Haupteinnahmequelle aller seiner Unternehmungen.<br />

Über seine Firma Interagra - in einem Hinterhof von Toulouse ein Dreizimmerbüro, in<br />

Paris eine komfortablere Zentrale in der Rue Auber nahe der Oper - hat er praktisch ein Monopol<br />

für den Handel zwischen Frankreich und der Sowjetunion. Jährlicher Umsatz: etwa 1,8 Milliarden<br />

Euro. Über Interagra wickelte Doumeng seine spektakulären Geschäfte ab: Er verscherbelte an die<br />

Russen Kühlhausbutter West-Europas zum Niedrigstpreis und kassierte dabei Hunderte von Millionen<br />

Euro an Exportsubventionen. Die Russen ihrerseits zweigten ein gut Teil der Billigbutter ab und<br />

verkauften sie mit Aufpreis nach Chile des Salvador Allendes (Präsident Chile 1970-1973;<br />

*1908+1973). "Ich habe den Kapitalismus in den Dienst des Kommunismus gestellt", sagt<br />

Doumeng - und wenn's mal umgkehrt läuft, stört es ihn auch wenig. Hauptsache, dass rote Zahlen<br />

bei ihm Plus bedeuten.<br />

664


Und das dann nicht nur bei ihm. Wie viele Millionen Provision von Doumengs Geschäften<br />

jährlich auf die KPF-Konten fließen, ist eines der bislang und nie gelüfteten Geheimnisse in der<br />

ohnehin nicht gerade publikumsfreudigen Parteizentrale an der Place du Colonel Fabien in Paris.<br />

Und wohl selbst dem französischen Fiskus wird es nie gelingen, diese Transaktionen zu durchleuchten.<br />

Wie auch? Doumeng wickelt seine Osthandelsgeschäfte über die "Banque Commerçiale pour<br />

l'Europe du Nord" BCEN) ab, ein Geldinstitut am Boulevard Haussmann, dessen einstöckige<br />

unscheinbare Marmorfassade an die Außenfront einer Fahrschule erinnert. Die Aktien der BCEN<br />

gehören zu 99,7 Prozent der sowjetrussischen Staatsbank und der Moskauer Außenhandelsbank<br />

BCEN, 1921 gegründet und inzwischen auf einer Bilanzsummer von annähernd 2 Milliarden Euro<br />

<strong>als</strong> größte Auslandsbank Frankreichs, ist zugleich auch die Hausbank der KPF. Damit ist Vorsorge<br />

getroffen, dass aus Doumengs Geschäften vorab Provisionen auf KPF-Konten abgezweigt werden<br />

können, ehe die endgültige Gutschrift auf das Interagra-Firmenkonto erfolgt. - Satte, sorgenfreie<br />

Jahre. Doumeng hat auf die Fragen nach der Höhe seiner Zahlungen an die Partei eine Standardantwort:<br />

"Ich zahle meinen Beitrag und gebe der Partei ab und zu Spenden: eher 1.000 Francs <strong>als</strong> zwei<br />

Francs."<br />

Wer so viel bäuerlichem Charme nicht erliegt, dem liefert Doumeng noch einen zweiten<br />

Hinweis auf seine scheinbare Harmlosigkeit: "Sehen Sie, die 'Humanité hat noch nie über mich<br />

geschrieben." Schlüssiger ist indes nie der eigentliche Beweis für Doumengs Bedeutung geliefert<br />

worden. Das ehemalige KP-Zentralorgan "L'Humanité" ( gegründet 1904, im Jahr 1994 verschwanden<br />

Hammer und Sichel im Zeitungskopf) schwieg, <strong>als</strong> Doumeng 1976 wegen Weinpanscherei zu<br />

23 Millionen Francs Strafe verurteilt wurde. Die KPF schloss die Augen, <strong>als</strong> Doumeng sich mit dem<br />

kapitalistischen Erzfeind, dem Bankier Guy de Rothschild (leitete von 1967 bis 1979 die Familienbank,<br />

*1909+2007) in einer Vertriebsgesellschaft für Obst und Gemüse zusammentat. Doumeng:<br />

"Ich kenne alle Rothschilds beim Vornamen". Kein entrüsteter Kommentar in der KPF-Gazette<br />

prangerte Doumeng an, <strong>als</strong> er 1972 eine Millionen Hektoliter billigen algerischen Wein importierte,<br />

obwohl Südfrankreich zur selben Zeit nicht wusste, wohin mit den aus der eigenen Überschussproduktion<br />

stammenden Weinvorräten.<br />

Weshalb auch einen Mann angreifen, der schließlich auf dreifache Weise der Partei Nutzen<br />

bringt: <strong>als</strong> Finanzier, <strong>als</strong> Aushängeschild für kommunistische Unternehmer-Freundlichkeit und<br />

schließlich <strong>als</strong> Modell für eigene Finanzakrobatik. Denn die Abschaffung des Kapitalismus erfordert<br />

zunächst einmal Kapital - mehr <strong>als</strong> es Doumeng der Partei zukommen lassen konnte. Und da die<br />

direkte Expropriation der Expropriateure (laut Karl Marx die Enteignung der Enteigner) nach dem<br />

Vorbild Stalins, der 1907 bei einem Überfall in Tiflis auf Geldboten des Zaren 375.000 Rubel<br />

eroberte, nicht mehr in die Zeit passt, müssen andere Wege gefunden werden. Zumal sich die KPF<br />

mit ihrem neuen Kurs aus dem Jahre 1976 nach größerer Unabhängigkeit von Moskau, eine ihrer<br />

Haupteinnahmequellen zugeschüttet hatte: das direkte Geld aus Moskau. Zur Erinnerung: Während<br />

der zwanziger und dreißiger Jahre , selbst noch nach dem Zweiten Weltkrieg verkehrten ständig<br />

Kuriere mit Dollarbündeln im doppelbödigen Koffer zwischen Moskau und Frankreich.<br />

665


Der Geldsegen versiegte aber spätestens, <strong>als</strong> Georges Marchais (KPF-Gener<strong>als</strong>ekretär<br />

1972-1994) die Revolutionsanweisung von der "Diktatur des Proletariats" aus dem Programm der<br />

KPF tilgte, ein Vorgang, den das US-Magazin Newsweek damit verglich, dass die katholische Kirche<br />

plötzlich das Dogma von der unbefleckten Empfängnis verwerfen würde. Und für eine Partei, die<br />

sich gegen industrie-finanzierte Bürgerparteien durchsetzen muss, langten auch nicht mehr die<br />

Zinsen aus dem inzwischen schon zur Legende gewordenen Goldschatz der republikanischen<br />

Regierung Spaniens, den Frankreichs Kommunisten im Bürgerkrieg (1936-1939) zum größten Teil<br />

nach Paris verfrachten konnten. Die beiden Lastwagen-Ladungen Gold wurden mit dem Frachtdampfer<br />

Cap Pinede nach Frankreich verschifft - Direktor der Cap Pinede-Reederei "France<br />

Navigation" , eines Gemeinschafts-Unternehmens russischer und französischer Kommunisten, war<br />

der junge seinerzeit von den Nazis verschleppte und internierte KP-Funktionär Georges Gosnat.<br />

Als Schatzmeister der KPF verwaltete und wachte Gosnat (*1914+1982) über das Parteivermögen.<br />

Zur Erinnerung: Allein die erste Runde des Präsidentschafts-Wahlkampfes aus dem Jahre<br />

1978 kostete die Partei mindestens 7,7 Millionen Euro. Für eine einzige Parteiversammlung, etwa im<br />

Pariser Vorort Poissy, wurden 16.000 Plakate und 150.000 Traktate mit Marschais-Parolen gedruckt.<br />

Kosten: 31.000 Euro Und schon vor dem Wahlkampf hatte die KPF hohe Propaganda-Ausgaben.<br />

Im September 1977 nach der Aufkündigung des Zusammengehens mit den Sozialisten, gab die KPF<br />

1,6 Millionen Euro aus, um den Französinnen und Franzosen den plötzlichen Kollisionskurs gegen<br />

den bisherigen sozialistischen Partner François Mitterrand (Staatspräsident 1981-1995;<br />

*1916+1996) klarzumachen. - Kommunisten, die aus dem Vollen schöpfen konnten.<br />

Artikel 51 des KPF-Parteinstatuts bestimmt: "Die Finanzierung der Partei erfolgt über<br />

Beiträge, Spenden, Diätenrückzahlungen und durch die Unternehmen der Partei." Eine staatliche<br />

Parteieninfanzierung gibt es in Frankreich nicht. Seit dem Jahr 1973 veröffentlicht die KPF eine<br />

Bilanz von Einnahmen und Ausgaben - seit sie ihr neues, vom Brasilia-Architekten Oscar Niemeyer<br />

konstruiertes gläsernes Hauptquartier an der Place Colonel Fabien bezog. Slogan: "Wir sind so<br />

durchsichtig wie unser Haus." Das hinderte freilich die Pariser Staatsanwaltschaft im Jahre 2001 nicht<br />

daran, gegen den damaligen KPF-Vorsitzenden Robert Hue (1994-1998) ein Ermittlungsverfahren<br />

wegen Korruption einzuleiten. Danach sollen über 3.5 Millionen Euro Bestechungsgelder für nie<br />

erbrachte Leistungen im Rahmen der illegalen Parteienfinanzierung in den Jahren 1984 und 1994 in<br />

die Kassen der kommunistischen Partei geflossen sein. Auch wenn Robert Hue vom Vorwurf<br />

undurchsichtiger Finanztransaktionen <strong>als</strong> Gegenleistung für Aufträge in kommunistisch regierten<br />

Städten vom Gericht freigesprochen wurde, "König Geld" war schon immer seit Jahrzehnten ein<br />

klebriger Wegbegleiter der Genossen. Indes, schon der bereits im Jahre 1977 veröffentlichte Etat<br />

weist nur drei der im Statut genannten Einnahmequellen aus.<br />

666


Danach kassierte die Partei an<br />

o Mitgliedsbeiträgen im Jahre 1977 noch 6,92 Millionen Euro. Jedes der dam<strong>als</strong> 500.000 KPF-<br />

Mitglieder (im Jahre 2006: nur noch 138.000) muss ein Prozent seines Einkommens an die Partei<br />

abführen;<br />

o Diäten-Rückflüssen von etwa 1,3 Millionen Euro. Jeder über KPF-Liste in irgendein öffentliches<br />

Amt gewählte Funktionsträger - vom Abgeordneten der Nationalversammlung bis hin zum Bürgermeister<br />

des 5.000 Seelen-Ortes Port-Saint-Louis im Département Bouches-du-Rhône - muss seine<br />

vom Staat gezahlten Einnahmen an die Parteikasse abliefern. Verfügte die KPF im Jahre 1978 noch<br />

über 86 Abgeordnete (20,5 Prozent) in der Nationalversammlung, so sackte ihr Stimmenanteil im<br />

Jahre 2007 auf 4,3 Prozent mit 15 Sitzen zusammen. Die Folge: Seit 1958 konnten die Kommunisten<br />

erstm<strong>als</strong> im Pariser Parlament keine eigene Fraktion mehr bilden. Überdies blieben die<br />

Genossen auf einen hohen Schuldenberg aus ihren Wahlkämpfen sitzen. Für eine Rückerstattung<br />

dieser Auslagen hätte die KPF 5,0 Prozent der Wählerstimmen erreichen müssen. - Finanz-<br />

Desaster.<br />

o In früheren, sorglosen Jahrzehnten bekam jeder KPF-Offizielle - dam<strong>als</strong> Parteichef<br />

Georges Marchais eingeschlossen - von der Partei den Monatslohn eines "hochqualifizierten Metallfacharbeiters<br />

der Region Paris ausgezahlt - im Jahre 1978 genau 815 Euro. So überweist der Multifunktionär<br />

Georges Valbon (*1924+2009) Bürgermeister von Bobigny (1965-1996) bei Paris, einst<br />

Vorsitzender der Départment-Verwaltung von St. Denis und Mitglied der Regional-Verwaltung,<br />

jährlich insgesamt 21.100 Euro auf das Parteikonto Nr. 4890 bei der sowjetgeführten "Banque<br />

Commerçiale pour l'Europa du Nord". Doch stehts reicht das den Funktionären rückgezahlte<br />

Facharbeiter-Gehalt für gehobenen Lebensstandard, weil Spesen, Dienstwagen, Chauffeur und<br />

Hausangestellte hinzukommen. Zur damaligen Zeit etwa konnte sich Parteichef Georges Marchais<br />

auch mit dem offiziellen Minimun-Lohn einen Landsitz in Champigny kaufen;<br />

o Spenden und Sammlungen schlugen seinerzeit mit 7,7 Millionen Euro zu Buche. Auf<br />

jeder Parteiversammlung rappelte KPF-Jungvolk wie Bettelmönche mit der Sammelbüchse. Neben<br />

dem Pförtner in der Parteizentrale forderte noch immer, fünf Jahre nach dem Einzug, ein Schild zur<br />

Spendenaktion für die Abzahlung des Neubaus auf. Ehedem: Im Vorwahljahr 1977 richtete das<br />

Politbüro einen "nationalen Wahlkampf-Fonds" ein und erließ Spendenaufrufe. Bisheriger Eingang:<br />

900.000 Euro. An jedem 1. Mai schwärmen Tausende von Parteigenossen mit Mai-Glöckchen-<br />

Gebinden aus. Die vier Stengel, die sie für 27 Cents auf dem Pariser Großmarkt holen, verkaufen sie<br />

zum Preis von einem Euro - dam<strong>als</strong>. Mehrwertschöpfung zum Wohle der Partei: 311,76 Prozent.<br />

Gesamteinnahmen des 1. Mai 1977: 770.230 Euro.<br />

Alljährlicher Höhepunkt der Francs/Euro-Kollekte ist alljährlich im September das Fest<br />

der "Humanité". Allein der Eintritt zu diesem Mammutspektakel kostete seinerzeit 12 Francs (1,85<br />

Euro) und erbrachte 12 Millionen Francs ( 1,85 Millionen Euro). Dessen ungeachtet zahlen<br />

Konsum-Konzerne bis zu 700.000 Euro Standgebühren (zum Beispiel der Apéritif-Hersteller<br />

Ricard ). Sie locken zudem kommunistische Festbesucher mit Sprüchen an wie: "Das Fußfallspiel<br />

findet unter dem Exklusiv-Patronat von Coca-Cola statt." Immerhin gelang es den Veranstaltern<br />

trotz eines Eintrittspreises von 20 Euro im Jahre 2009 insgesamt die Aufmerksamkeit von zwanzigtausend<br />

Jugendlichen für Tage auf sich zu lenken. Einnahme: 400.000 Euro.<br />

667


So intensiv schien jedenfalls der Drang der Kapitalisten zu Kommunisten, dass es sich die<br />

Partei inzwischen leisten konnte, unbotmäßige Firmen von der Werbe wirksamen Teilnahme am<br />

Polit-Jahrmarkt auszuschließen. Seinerzeit führte der Direktor des Fête du l'humanité und Herausgeber<br />

gleichnamiger Zeitung (1974-1994) , Politbüromitglied Roland Leroy schwarze Listen jener<br />

Firmen, die das Jahr über nicht in "L'Humanité Dimanche" inserierten. Die Brauerei Kronenburg<br />

durfte zu besagter Zeit genausowenig aufs Fest wie der Getränkekonzern Schweppes, das Mineralwasser<br />

Evian oder der Champagner-Produzent Taittinger. Gleichwohl kamen so im Jahr 1976 - <strong>als</strong><br />

Beispiel - 18,5 Millionen Euro auf die Einnahmeseite des offiziellen Etats. - Lang ist's her.<br />

Ausgegeben wurden diese beträchtlichen Summen laut Rechenschaftsbericht des Parteischatzmeisters<br />

Georges Gossnat fürs Zentralkomitee (1,53 Millionen Euro), für nachgeordnete<br />

Funktionäre (6,15 Millionen Euro), für Verwaltungskosten (5,4 Millionen Euro) und für Propaganda<br />

(5,4 Millionen Euro). Dass diese Bilanz frisiert war, bewies der französische Investigations-Journalist<br />

Jean Montaldo in seinem 1977 im Verlag Albin Michel veröffentlichten Buch "Les Finanes du PCF,<br />

le parti plus capitaliste de France" eindrucksvoll wie unwidersprochen.<br />

Nach dieser Aufschlüsselung der Mitgliedsbeiträge (ein Prozent des Gehaltes) müssten<br />

über die Hälfte der französischen Genossen weniger <strong>als</strong> 220 Euro monatlich verdienen und damit<br />

weit unter dem gesetzlich garantierten Mindestlohn von dam<strong>als</strong> 270 Euro liegen. Dass die Genossen<br />

beitragsehrlich waren und sind, dafür sorgen schon KPF-Betriebsgruppen und die kommunistisch<br />

stark beeinflusste Gewerkschaft CGT mit ihren 700.000 Mitgliedern . Tatsächlich fehlt schon immer<br />

in dem offiziellen Etat der im Statut erwähnte Einnahmeposten "Unternehmen der Partei". Darüber<br />

mochte Georges Grosnat in seinem Rechenschaftsbericht nur sagen: "Sicherlich, unsere Partei<br />

musste Wirtschaftsunternehmen gründen. Aber die sollen ihr nur helfen, das Erscheinen der<br />

'L'Humanité', den Betrieb von Druckereien und Verlagen zu sichern. Deshalb ist es unnütz, darüber<br />

öffentlich zu spekulieren, wieviel Geld im einzelnen diese Wirtschaftspolitik erbringt."<br />

Kenner schätzen, dass dabei noch einmal die gleiche Summe zusammenkommt, wie sie die<br />

offizielle Bilanz ausweist. Denn die KPF hat sich im Laufe der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ein<br />

riesiges Imperium von Wirtschaftsunternehmen aufgebaut. Mitte der siebziger Jahre gehörten dem<br />

Konzern der Partei der Antimonopolisten etwa 300 Firmen an. Neben dem Zentralorgan<br />

"L'Humanité" (Auflage dam<strong>als</strong> 198.000, im Jahre 2006: 50.000 ) und dessen Sonntagsausgabe (einst<br />

500.000, nunmehr 80.000 Exemplare) erschienen zwischen Marseille und Dünkirchen weiter 160<br />

kommunistische Publikationen . Von der Kinderzeitschrift "Pif" - die der Hamburger Verlag Gruner<br />

+ Jahr unter dem Titel "Yps" in der Bundesrepublik übernommen hat - über die in Toulouse erscheinende<br />

Provinz-Zeitung "Nouvelle de Toulouse" bis zum arabischen Gastarbeiter-Blatt "L'Immigrés<br />

d'Afrique du Nord".<br />

668


Parallel zum Zeitungsmarkt belieferte die KPF über ihre Verlags- und Vertriebsorganisation<br />

CDLP - die seinerzeit zweitgrößte Frankreichs - 40 ihrer angeschlossenen Büchereien und über<br />

100 öffentliche Bibliotheken kommunistisch regierter Gemeinden. Außerdem fungiert die CDLP <strong>als</strong><br />

Dachorganisation weiterer 20 Buchverlage. So für "Edition sociales" ,die hauptsächlich marxistische<br />

Literatur herausgibt und mit dem "gemeinsamen Buch-Programm" von Kommunisten und Sozialisten<br />

einen 1,8-Millionen-Bestseller landete. So auch für die "Editions la farandole", die Kinderbücher<br />

auf den Markt bringt, und für die Buchgemeinschaft "Club Diderot", dem immerhin über<br />

100.000 Mitglieder angehören.<br />

Von Paris aus steuert die KPF über ihre Holding-Gesellschaft GIFCO 23 spezialisierte<br />

Liefer- und Beratungsfirmen in die Provinz hinein. So versorgt die SOCOPAP die seinerzeit 1.813<br />

kommunistische Rathäuser mit Büromaterial, die SOFCOL liefert Schulmöbel, die Firma "Les<br />

Sports" baut Sportanlagen, und das Unternehmen Ferrandon installiert Heizungen. Unter dem<br />

Dach der GIFCO baute die KPF einen Staat im Staate auf. Die GIFCO-Tochter SOGIR hilft<br />

Gemeinden, durch neue Computer-Technologien ihre Daten zu speichern. Die erfassten Personalien<br />

der Bürger - ob Kommunisten oder nicht - sind für die Partei jederzeit abrufbar.<br />

Mit der 1960 erstm<strong>als</strong> ausgegebenen Parole "Mit dem Giebel zur Straße" ("Du Pignon sur<br />

rue") begann die KPF rapide Gebäude und Grundstücke anzuschaffen. Mitte der siebziger Jahre<br />

war sie Eigentümerin von über 130 Parteihäusern, von neun solventen Verwaltungsgesellschaften<br />

und zahlreichen kleinen Immobilienfirmen, deren Aufgaben sich oft darauf beschränkten, Parteihäuser<br />

oder auch nur Büchereien zu verwalten. In einem der expansivsten Wirtschaftszweige, dem<br />

Tourismus, haben die französischen Kommunisten mit ihrem Reiseunternehmen "Tourisme et<br />

Travail" den fünften Branchenplatz erobert. Gemeinsam mit der CGT-Gewerkschaft verkaufte das<br />

PCF-Reisebüro an 2,7 Millionen Franzosen Pauschalurlaube weltweit. Eine andere kommunistische<br />

Reisefirma "Loisir et vacances", warb für Billig-Reisen nach Moskau, nach Budapest oder auch nach<br />

Ost-Berlin in der früheren DDR. Der Slogan aus damaliger Epoche klingt wie eine Parole aus einer<br />

fremden Welt des vergangenen Jahrhunderts:" Der Sozialismus lebt! Fahrt hin und seht ihn euch<br />

an!"<br />

Hauptaugenmerk galt dem Aufbau eines Mechanismus, öffentliche Gelder über Parteifirmen<br />

in die Parteikassen zu leiten, um damit Progaganda-Schlachten zu gewinnen und Wählerstimmen<br />

finanzieren zu können. Filzokratie in den Kommunen wurde damit zum System. Ein perfektes<br />

Beispiel dafür ist die pittoreske südfranzösische Stadt Arles, einst Hauptstadt der römischen Provinz<br />

Gallia Transalpina. In diesem Städtchen mit seinem historischen Gemäuern und nahezu 52.000<br />

Einwohnern in der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur genießen Kommunisten seit Jahrzehnten<br />

das Vertrauen ihrer Bürger, regieren in der Nachkriegszeit - ohne Unterlass. Geradezu zwangsläufig<br />

ist daher, dass die KPF es schon in den siebziger Jahren ohne Aufschrei vermochte, die gesamte<br />

Wirtschaft der Stadt in ihre Abgängigkeit zu bringen: vom Kleinkrämerladen über den Supermarkt<br />

bis zum Bestattungsunternehmen. Wer in Arles Geschäfte machen will, kommt an der Kommunistischen<br />

Partei nicht vorbei. Um sich öffentliche Aufträge zu sichern, hat die KPF das Beratungsunternehmen<br />

"Sud-Est-Equipement" gegründet. Diese Firma, in deren Direktorium nur Kommunisten<br />

saßen, hatte vornehmlich die Aufgabe , für kommunale Projekte ein Gutachten anzufertigen,<br />

und anschließend die Aufträge u vergeben, gegen Höchstgebote zugunsten der KPF.<br />

669


Ein makabres, einprägsames Beispiel war der neue Friedhof auf den weitflächigen neun<br />

Hügeln im Süden dieser Stadt. Er war vor Jahrzehnten, im Jahr 1971, ein bedrückendes, nie enden<br />

wollendes Wahlkampfthema. KP-Bürgermeister Jacques Porret, 51, Pfeifenraucher und Mercdesfahrer<br />

(auch er führt seine etwa 1.000 Euro Diäten) monatlich an die Partei ab), sagte dam<strong>als</strong>: "Für<br />

die Armen ist das Sterben zu teuer. Wir Kommunisten werden einen Friedhof bauen, auf dem jeder<br />

seinen Platz findet und keine 400 Euro Bestattungsgebühr zahlen muss. Auch das gehört zur<br />

Gerechtigkeit und zur Qualität des Lebens."<br />

Die Oberaufsicht über das Projekt bekam der Architekt Laurence Manolakakakis, Widerstandskämpfer<br />

und KP-Stadtrat. Der schob das Auftragspaket weiter an die Sud-Est-Equipement.<br />

Die vergab den Auftrag an die Baufirma Chavagnas, obwohl sie teurer <strong>als</strong> die Konkurrenten war.<br />

Der Grund: Ihr Chef kannte den Trick der indirekten KPF-Finanzierung und zahlte von vornherein<br />

8.000 Euro (fünf Prozent des Endpreises ) <strong>als</strong> Provision an die Genossen-Organisation Sud-Est-<br />

Equipement. Indes: Von keiner Behörde mehr belästigt, konnte Chavagnas nun auf dem Friedhof<br />

bauen: Massengräber, eines wie das andere, austauschbar, bis zur Unkenntlichkeit verlaufen sich<br />

suchende Blicke , wo in 50 Meter langen Gräbern Sarg neben Sarg kommt und die Toten auf schlichten<br />

Holzkreuzen nur noch eine Nummer erhalten.<br />

Auch <strong>als</strong> die Kommune eine Kläranlage in der Rhône, ene Saline in Giraud, einen Großraumparkplatz<br />

im Stadtzentrum baute - immer kassierte die Genossenfirma Sud-Est-Equipement.<br />

Allein im Jahre 1976 nahmen die roten Kapitalisten 200.000 Euro für die Vermittlung von Aufträgen<br />

ein. In der Praxis bedeutete dies, dass jeder Bürger von Arles ungewollt einen Parteibeitrag zahlt:<br />

etwa 4 Euro pro Kopf. Sud-Est-Equipement-Manager Roger Teboul deponiert über seine Dach-<br />

Organisation GIFCO in der Pariser Rue de Dessous des Berges, die Gelder auf ein Konto bei der<br />

sowjetischen Banque Commerçiale pour l'Europe du Nord. Konto-Inhaber: KPF-Schatzmeister<br />

Georges Grosnat. - Satte Jahre mit Millionen-Summen französischer Kommunisten.<br />

Die Duplizität der Ereignisse. Als der Kommunismus in den Ostblock-Staaten zu Beginn<br />

der Neunziger zusammenbrach, Jahre zuvor bereits Auflösungserscheinungen zeitigte - in jener Ära<br />

traten in Frankreich zwei Vater-Figuren ab, die die französische Nachkriegeschichte geprägt haben.<br />

Mit dem Tod des roten Multi-Millionärs Jean-Baptiste Doumeng ,67, im April 1987 aus dem<br />

südfranzösischen Noe trat ein Mann von der Bühne ab, der die "Prinzipien des Bauerntums und des<br />

Marxismus" unter einen Hut brachte und die "Ausbeutung des Kapitalismus" zu seinem Prinzip<br />

erkor. Wenn und wann auch immer die EU-Kommission aus ihrer Überschussproduktion Lebensmittel,<br />

Butter-Berge oder Milchseen verkaufte, KPF-Mitglied Doumeng machte mit dem Ostblock<br />

die Geschäfte. So zahlten etwa die Moskauer Käufer für eine Rindfleischlieferung von 175.000<br />

Tonnen im Jahre 1985 genau 175 Millionen Dollar an Doumeng. Obwohl Doumeng zweifelsfreie<br />

Transaktionen zugunsten der KPF nicht nachgewiesen werden konnten, galt er <strong>als</strong> der "heimliche<br />

Finanzier" der Partei. Auffällig war zudem, dass mit seinem Abgang sich Frankreichs Kommunisten<br />

Schuldenberge anhäuften, ein finanzielles Desaster seinen Ausgangspunkt nahm. Die Ära der Vaterfigur<br />

Jean-Baptiste Doumeng <strong>als</strong> Geldbeschaffer aus dem Ostblock war damit jäh zu Ende.<br />

670


Mit dem Abgang des Alt-Stalinisten Georges Marchais <strong>als</strong> Gener<strong>als</strong>ekretär der KP begann<br />

ein nahezu unaufhaltsamer Aderlaß - Ausverkauf der Partei. Er starb im November 1997 nach einer<br />

Herzattacke in Paris im Alter von 77 Jahren. Über Jahrzehnte regierte er seine Genossen mit eiserner<br />

Faust, erstickte Demokratisierungen im Keim. Alles, was aus Moskau kam, verteidigte der volkstümliche<br />

Metallarbeiter <strong>als</strong> ein Dogma; so die blutige Unterwerfung des Ungarn-Aufstands 1956 wie<br />

auch den Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag (1968) und Afghanistan (1979). Als Frankreichs<br />

Kommunisten sich neuen linken sozialen Bewegungen öffnen wollten, gar die Umbenennung der<br />

Partei verlangten, konnte er derlei Reformversuche noch abwehren. Die Folge: Wählerschwund.<br />

Ehedem scharten sich um die 700.000 Mitglieder bei den Kommunisten; zu Beginn des Jahres<br />

2000/2004 waren es nur noch 138.000 Getreue. Auch die vielzitierten Wählerstimmen fielen im<br />

freien Fall. Im Jahre 1978 konnte Marschais und Genossen noch 5.870.402 Stimmen (20,5 Prozent)<br />

und damit 86 Parlamentssitze ergattern; im Jahre 2007 musste seine Nachfolgerin Marie-George<br />

Buffet, einen drastischen Vertrauensschwund verzeichnen - einen Rückgang auf 1.115.719 Wählerstimmen<br />

(4,3 Prozent). Insgesamt haben über 2,3 Millionen Wähler der KPF den Rücken gekehrt.<br />

Aderlaß<br />

Verheerend wirkten sich dürftige Wahlergebnisse auf die ehem<strong>als</strong> prall gefüllten Bankkonten<br />

aus. Da die KPF bei den Parlamentswahlen 2007 unter der Fünf-Prozent-Marke blieb, wurden<br />

ihr nach französischem Gesetz die Rückvergütung der Wahlkampfkosten versagt. Millionen-Verluste<br />

- acht Millionen Euro. Daran konnte auch die glaubwürdige Reformerin Marie-George<br />

Buffet(Ministerin für Jugend und Sport von 1997-2002) <strong>als</strong> neu gewählte Gener<strong>als</strong>ekretärin wenig<br />

ausrichten. Es gelang ihr nicht, den Abwärtstrends ihrer KPF noch zu stoppen. Bei der Präsidentschaftwahl<br />

2007 bekam die bekennende Feministin 1,94 Prozent der Stimmen; die KPF <strong>als</strong> plittergruppe,<br />

die neue soziale Bewegung der trotzkistischen Partei LGR des Postboten Olivier Besancenot<br />

<strong>als</strong> Sammelbecken einer neuen Linkspartei auch enttäuschter KPF-Wähler. Den Niedergang der<br />

KPF dokumentieren zweifelsfrei die Wahlergebnisse zur französischen Präsidentsschaftswahl aus<br />

dem Jahre 2007. Der ledige Vater Besancenot schaffte es auf Anhieb im ersten Wahlgang 1.498.581<br />

Stimmen auf sich zu vereinen.<br />

671


Die bombastisch anmutende KPF-Parteizentrale am Pariser Place Colonel-Fabien in<br />

diesen Tagen. Auf den langen Fluren herrscht Funkstille, weit und breit keine Menschen, viele<br />

Räume sind verweist, warten auf eine wie auch immer finanzierte Zukunft, auf Agenturen aus der<br />

"sozialen Wirtschaft", aus der Versicherungsbranche. Um die Euro-Not halbwegs zu lindern,<br />

vermieteten KPF-Chefs ihre Räume gar schon an weltanschauliche Erzfeinde; mal liefen Models<br />

von Pariser Courturiers über den Laufsteg in ihren Hallen auf und ab, mal durften christliche Sekten<br />

in Räumen der Kommunisten in ihrem Halleluja "Gott" um Erlösung bitten. - Gegen Bares versteht<br />

sich. Selbst das Ende der schon Jahre währenden Mund-zu-Mund-Beatmung des einstigen Paradestücks<br />

der Tageszeitung "L'Humanité" scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Die 1904 von<br />

dem Sozialistenführer Jean Jaurès (*1859+1914) Tageszeitung dümpelt magersüchtig im roten<br />

Bereich mit einer knappen 50.000-Auflage vor sich hin. Das Blatt unterhält keine Auslandskorrespondenten<br />

mehr und hat nur noch 58 Redakteure. Indes: Der Verkauf des Zeitungsgebäudes in der<br />

Pariser Vorstadt St. Denis an starke Immobiliengesellschaften dürfte offenkundig 15 Millionen Euro<br />

bringen. Das könnte die angesammelten acht Millionen Euro Haushaltslöcher der Partei wettmachen.<br />

Vorerst. Tafelsilber. Die Ära dogmatischer KPF-Marxisten-Leninisten in Frankreich ist<br />

unwiderruflich zu Ende. Ein Notgroschen bleibt allerdings noch in Reserve: Die französische<br />

Tageszeitung Le Monde berichtete, dass die KPF den Wert einiger in ihrem Besitz befindlichen<br />

Kunstwerke habe schätzen lassen: Werke von Pablo Picasso, Fernand Leger sowie Marcel<br />

Duchamps Spottbilder der Mona Lisa. Die hatte die KPF im Jahre 2005 für 99 Jahre ans Centre<br />

Pompidou verliehen. Na denn.<br />

672


2009<br />

Matriarchat in Deutschland und seine Folgen<br />

673


MATRIARCHAT IN DEUTSCHLAND: "MUTTER, WAS HAST<br />

DU AUS MIR GEMACHT?" - BILANZ DER VATERLOSEN<br />

GESELLSCHAFT. EIN LEBEN LANG IN THERAPIE.<br />

Über den deutschen Autor und Politiker Jörg-Ulrich Vandreier 13 28.September 2008<br />

Leidensprozesse im Matriarchat der Nachkriegszeit: Intentionen von Alexander<br />

Mitscherlich (*1908+1982) in seinem Werk "Auf den Weg zur vaterlosen Gesellschaft" vorgelebt<br />

und durchlitten. Möglicherweise sollte nicht der Autor, sondern die Psychoanalyse selbst therapiert<br />

werden. In den "wilden Jahren" bei den Liberalen <strong>als</strong> Kandidat und auf Parteitagen auf den Putz<br />

gehauen; vergeblich auf Parteikarriere gehofft. Mutter schenkte ihrem Sohnemann 1963 eine<br />

Schallplatte der dänischen Schlagersängerin Gitte Henning: "Ich will nen Cowboy <strong>als</strong> Mann - nimm<br />

doch gleich den von nebenan, denn der ist bei der Bundesbahn." Filius wurde Sachbearbeiter bei<br />

der Landwirtschaftlichen Narzissmus verflossener Epochen - nichts ist aufregender <strong>als</strong> nostalgisch<br />

verklärt in jenen Mama-Jahren der Berufsgenossenschaft.<br />

Narzissmus verflossener Epochen – nichts ist aufregender <strong>als</strong> nostalgisch verklärt in jenen<br />

Mama-Jahren der Nachkriegszeit zu wühlen, immer wieder aufs Neue herumzuwühlen. Der Autor<br />

bei einer Lesung: "Meine Mutter hatte sich auf das Sofa gelegt. Mein Herz, mein Herz es schlägt<br />

immer ... unregelmäßiger. - Ihre Augen traten hervor. Ich kann nicht mehr . Die Sonne hatte<br />

zwischenzeitlich ihren Höchststand überschritten. Die Schatten der Hocken wurden länger und<br />

dann und wann strich ein kühler Luftzug über das Stoppelfeld. Meine Mutter hatte sich wieder<br />

erhoben und wandte sich dem Abwasch zu. War ja doch nicht so schlimm mein Junge ".<br />

Flurschäden: Der deutsche Buch-Autor Jörg-Ulrich Vandreier aus Barsinghausen bei<br />

Hannover fest in Frauen-Hand; links die Schwester, rechts die Ehefrau. Für die Öffentlichkeit<br />

bebildert er gern sein Leben <strong>als</strong> mahnendes Beispiel. Fluchtversuche aus dem Matriarchat dieser<br />

Jahre - aussichtslos. Ob nun in der Psychotherapie oder beim Heilpraktiker - längst waren aus den<br />

Müttern von einst Feministinnen geworden. Frauen-Jahre.<br />

Leidenswege, Gefühlsrinnsale aus den fünfziger Jahren. Geschichten der Jungen. "Er", der<br />

schwule Friseurmeister Rolf Heuer aus dem niedersächsischen Diepholz, ein Freund des Autors, "<br />

litt unter der Strenge und Macht seines Vaters, einem allgewaltigen Dorfpfarrer". Freund Rolf aus<br />

dem Friseursalon musste sein Anderssein verstecken, durfte allenfalls einfühlsam beim<br />

Haareschneiden um den Sessel herumturteln. Ja, ja, Rolf schien all das im Überfluss zu haben, "<br />

nach dem ich mich so sehnte: Die Auseinandersetzung mit dem Starken. Ich hingegen lebte in der<br />

ständigen Angst, meine selbstlose Mutter zu enttäuschen, musste Schwachem nachgeben. Während<br />

Machtstreben eine Überzeugung enthält" (da irrt der Autor), "und zum Beziehen einer eigenen<br />

Haltung zwingt, erschwerte die Lebensangst meine Orientierung." - Auf der Suche nach starken<br />

Männern. - Mama-Jahre.<br />

Die Einleitung in das Vandreier-Werk (VW) aus den fünfziger Jahren würde der<br />

Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, wenn er denn noch lebte, <strong>als</strong> eine "ambivalente<br />

Gefühlsspannung des Kindes" bezeichnen. Eben eines verwöhnten Vandreier-Sohnemanns bei<br />

mütterlicher Vollverpflegung , der die dam<strong>als</strong> mit Beruf und Haushalt überforderte Frau an das<br />

13 „Im Schatten der Ruinen blühten Honigblumen – Kindheitserinnerungen an Aschen aus den 50erJahren“ Schröderischer<br />

Verlag. Bassum,1997 (ISBN 3-89728017-5)<br />

674


idealtypische Wunschdenken an ihre Pflichten im "Heim und Herd" erinnerte. Gehätschelt,<br />

umsorgt, auch bevormundet von Nachkriegsmüttern, die die Wünsche ihre Jungs befriedigten, wo<br />

und wann immer sie auch rumorten. Knaben-Gesellschaften mit mütterlich angedichtetem<br />

Madonnen-Kult späterer Jahre.<br />

Der Autor: "Ich kam nach Hause. Wie jeden Mittag befand sich meine Mutter am Herd ...<br />

Ihre 46jährige Schwester, Tante Hilde, saß neben der Tür, las, häkelte, aß Petersilie oder<br />

Mohrrüben. Meine Großmutter nähte an der Maschine nahe am Fenster. Alles wartete auf meine<br />

drei Jahre alte Schwester Gudrun, die das Diepholzer Gymnasium besuchte. Mit uns Kindern<br />

kehrte das Leben zurück in die zwei kleinen Zimmer der ausgebauten Scheune eines Bauernhofes.<br />

Der Morgen der drei Frauen verlief ereignislos. Das Gespräch drehte sich um die schöne alte<br />

Heimat, um die verpassten Chancen in Pommern und um die Rückständigkeit der einheimischen<br />

Bevölkerung."<br />

Trennung erzeugt Sehnsucht und Hoffnung, das wissen wir seit eh und je. Der Tod des<br />

Vaters, der in einem Armen-Grab auf dem Diepholzer Friedhof im Jahre 1947 seine letzte Ruhe<br />

fand, wird zur "tragischen Liebe" erkoren, die sich nicht mehr erfüllen kann. Legendenbildung statt<br />

Aufklärung. Jörg-Ulrich Vandreier liest leise vor, wenn er gerade mal diese Textpassade erwischt.<br />

Nachhaltigkeit ist angesagt. Diese "große" Liebe im Vandreier-Haus des Matriarchat fehlender<br />

Männer wird idealisiert wie idyllisiert. (Backsteinhäuser sind natürlich rot und der Schulhof ein<br />

wehmütiges Asservat ehrwürdiger Linden-Bäumen). Nur, so will es scheinen, ist diese nachträglich<br />

verkitschte Liebes-Vehemenz nicht zu widerlegen. Sie ist ein Teil des Fertigwerdens mit dem<br />

Kriegsdesaster, der Überlebens-Strategie in jenen verklemmten, ungepuderten Zeiten. Sie ist eine<br />

seelische "Notwendigkeit, der sich auch Fantasielose kaum werden entziehen können", schrieb<br />

Rüdiger Wurr in seinem Buch "Prinzen und ihre Mütter" (Klett-Cotta , Stuttgart, 1985).<br />

Der Autor: "Meine Mutter sah mir sofort an, dass sich meine Laune nach unten bewegte.<br />

'Hast du in der Schule Ärger gehabt?' In meinen kurzen 'Nein' war zu erkennen: Ich wollte meine<br />

Gemütsbewegungen alleine bewältigen. ... Mit einem hatte meine Großmutter endgültig aufgehört<br />

zu nähen, sie fiel förmlich in sich zusammen. Ihre wasserblauen Augen schauten sehr traurig aus<br />

dem Fenster (auf verschneiten ) Landschaften und Wiesen zu dem weit entfernten Bauernhof, dem<br />

einzigen Haus, das von ihrem Platz aus zu sehen war. Dann trat Großmutter mit der ganzen Kraft<br />

auf das Pedal der Nähmaschine. Die mechanische Nadel fuhr rasend auf und nieder, und meine<br />

Großmutter schob mit ihrem ganzen Gewicht den Stoff gegen die blitzende Nadel. ... ... Jetzt kam<br />

meine Schwester Gudrun aus Diepholz nach Hause drei Jahre älter ist war sie. Auf dem Flur<br />

stampfte Gudrun den Schnee von den Schuhen. ... ... Am liebsten wäre ich aus dem engen Zimmer<br />

in den Hof gelaufen, doch meine Mutter schmeckte zum letzten Mal die Suppe ab. Ihrem<br />

Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass sie mit ihrer Kochkunst sehr zufrieden war. Ein<br />

nochmaliges Verlassen des Zimmers hätte den notwendigen Respekt vermissen lassen."<br />

Unbedachte Sätze des Autors lassen längst vergessene Rückschlüsse zu. Es sind<br />

offenkundig landläufig aufgedröselte Beiläufigkeiten über seelische Verfassungen wie<br />

Verklemmtheiten vieler in den fünfziger Jahren. Ob Buchschreiber Vandreier oder auch so manch<br />

anderer, sie wurden nach Maßgabe von Alexander Mitscherlich Opfer des Matriarchat. Vandreier<br />

schrie mehr <strong>als</strong> einmal: "Mutter, was hast du aus mir gemacht?" -Alexander Mitscherlich<br />

(*1908+1982) schrieb zu den ambivalenten Gefühlsverwirrungen : "Das Kind wird mehr oder<br />

weniger zum Objekt, an dem sie ihre (Mutter) Unlustspannungen auslässt. Diese unsere<br />

Gesellschaftsentwicklung immanente Belastung der Mutter-Kind-Beziehung zu bagatellisieren oder<br />

gar in madonnenähnlichen Überhöhungen der oft unschuldigen, gereizten, an ihre Pflichten<br />

675


gefesselt fühlende Mutter zu verleugnen mag zwar einem idealtypische Wunschdenken genügen,<br />

erleichtert aber weder Müttern noch Kindern das Leben. Es erspart freilich der Gesellschaft, sich<br />

zu verändern."<br />

In Deutschland waren es politisch markante Frauen-Verhinderungsjahre - bewusst<br />

geförderte Heim-und-Herd-Zuweisungen aus der Politik, die das Land um Jahrzehnte<br />

zurückwarfen. Über Jahre, Jahrzehnte stets dieselbe Ausgangslage: geringere Qualifikation;<br />

mangelnde Teilhabe an Berufen in Industrie wie Handel, kaum Ganztagsschulen, Frauen-Leicht-<br />

Lohn,schlechte Bezahlung. Unverständlich, dass FDP-Politiker Jörg -Ulrich Vandreier kein Wort<br />

über spezifische gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge besagter Aufbau-Epoche verliert. -<br />

Fehlanzeige.<br />

Mit seinen narzisstischen Mama-Betrachtungen und wehmütig verklärten Blicken wirkt<br />

das Büchlein wie eine schlechte Kopie von F. C. Delius Schilderung aus den Fünfzigern: "Der Tag<br />

an dem ich Weltmeister wurde." Gelegentlich fühlt sich der Leser in die Rolle eines stillen<br />

Beobachters seiner Psycho-Therapie-Stunde hineinversetzt. "Nenndorfer Gespräche" nannte der<br />

Autor das einmal. Er ,das Hilfe suchende Bübchen, "Uli" genannt, bei seinen tiefenpsychologisch<br />

ergründeten Couch-Plaudereien (Krankenkassen-Vollkasko) im Städtchen Bad Nenndorf. Sein<br />

Gegenüber - natürlich eine Frau - hatte gemeinsam mit "Uli" herauszufinden, "an welchen Punkt<br />

meines Lebens mein Selbstbewusstsein einen Knacks bekommen hatte". Kärrnerarbeit. Mutter und<br />

kein Ende. Vandreier rechtfertigt sich: "Ja, ja, gewiss doch, meine Mutter sah für ihre 45 Jahre sehr<br />

gut aus. Dunkles, welliges Haar, lebhafte, grau-grüne Augen, ein freundliches, leicht slawisch<br />

wirkendes Gesicht und eine wohlgeformte Figur verliehen ihr Anmut und Charme. Sie war stets<br />

auf ihr Äußeres bedacht und kleidete sich trotz der begrenzten finanziellen Mittel wie sie es <strong>als</strong><br />

Großstädterin gewohnt war: Sportlich, elegant und geschmackvoll." - Nur Mama-Jahre?<br />

Weiter im Originalton: "Meine Mutter war vor dem Kriege in der Landwirtschaftskammer<br />

Stettin gewesen. Ich stellte mir in Gedanken vor, wie sie den ganzen Tag an einer solchen<br />

Schreibmaschine saß - für Tierärzte schrieb. Unwillkürlich musste ich an die Männer-Namen<br />

Pümeyer und Niemann denken und daran, wie begehrt sie dam<strong>als</strong> war; Nebenbuhler um die Mama-<br />

Gunst zu schwerer Stunde. Naheliegend, dass der Autor seine Mutter in diesem Zusammenhang<br />

fragen lässt, was denn überhaupt Heimat sei? Die Wiesen, die Felder von einst, die Marsch-Äcker<br />

von heute? Achselzucken. Traurig schauen die Frauen drein - Mutter, Großmutter, Tante ,<br />

Schwester inbegriffen. Vor ihnen sitzt Sohnemann "Uli". Nur er hört den Weltschmerz bibbern.<br />

Solch rührselig angedichtete Textpassagen eignen sich aberm<strong>als</strong>, einen Blick in Bücher<br />

kompetenter Kenner seelischer Deutungen, emotionaler Aufarbeitungen zu riskieren. Der<br />

Gießener Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter (Der Gotteskomplex, Rowohlt, 1979) hätte<br />

"Uli" Vandreier "reaktionäre Überkommenheit" konzediert. Richter formulierte: " In der deutschen<br />

Romantik (Ende des 18. bis weit in das 19. Jahrhundert) gewann das Bild der Frau tatsächlich eine<br />

wichtige Rolle. Aber bei genauen Hinsehen stellte sich heraus, dass es genau um jene männliche<br />

narzisstische Verklärung des Frauenbildes handelt (ähnlich wie beim Autor) die gerade nicht dazu<br />

geeignet war, den Status der Frauen zu verändern.<br />

Diese "gefühlshaften Innerlichkeiten" sind in Europa vornehmlich den Deutschen<br />

vorbehalten. Es sind meist "gestandene" Männer, die des Abends an der Biertränke entweder vor<br />

"Madagaskar liegend die Pest" besingen oder gefühlstriefend ihrer Mama verflogener Jahre<br />

nachempfinden, Jörg-Ulrich Vandreier inklusive. Spätestens auf Seite 109 des "Honigblumen-<br />

"Buches ("Nun, etliche Jahre später, saß meine Mutter mit ihrer kleinen schwarzen Tasche endlich<br />

wieder vor mir") drängt sich für interessierte Leser die Frage auf, wen es hier eigentlich zu<br />

676


therapieren gilt; den Autor oder nicht vielleicht doch die Psychoanalyse insgesamt. Ein Einzelfall<br />

auf einer ansonsten noch intakten Bühne?<br />

"Schön wäre es", berichtet Vandreier, "bei uns in der Kirchengemeinde zu St. Markus in<br />

Barsinghausen", halten selbst Seelsorger das theologische "Doppelgebot der Liebe" nicht mehr aus.<br />

Männer in schwarzen Talaren, denen das Liebeswerben so mancher Frauen zu Kopf gestiegen ist;<br />

ganz nach dem Lebensgefühl: wer ist der attraktivste Pastor fürs weibliche Geschlecht weit und<br />

breit. Es sind halt schon entgeisterte Theologen, die ihre unnachahmliche Feindschaft auf offenem<br />

Kirchen-Mark austragen; sei es des Sonntags von der Kanzel, im Kirchenchor oder selbst vor<br />

jungen Knaben im evangelischen Kindergarten. Alltags-Satire. Bitterernst. Tatsächlich sind es<br />

verwirrte Pastoren, die stickum in psychoanalytischen Gesprächstherapien - ihre Obhut suchen.<br />

Jede Woche zwei Mal mit der Üstra-Stadtbahn Hannover-Barsinghausen und zurück.<br />

Mittlerweile ist es schon zu einer Mode der Moderne geworden, dass man etwa seelische<br />

Krankheiten, Depressionen, Antriebsschwächen, Verzagtheiten, Einsamkeiten allein schon durch<br />

Reden, Zuhören kurieren kann. In Hannover oder Frankfurt am Main war Sigmund Freud<br />

(*1856+1939) für jedes Aperitif-Parlieren mit Betroffenheits-Getue ein viel zitierter viel gefragter<br />

Zaungast. Kaum jemand aus dem links-intellektuell angehauchten Jet-Set-Schicki-Micki-Milieu, der<br />

nicht von seinem Seelen-Doktor zu berichten weiß; ganz nach dem Erfolgs-Dünkel: Es gibt gar<br />

keine Psychoanalyse, es gibt nur Psychoanalytiker. Sie hören wenigstens noch zu in einem Land<br />

schnelllebiger, erkalteter Allerwelts-Phrasen. Deutschland ein Land, in dem zumindest eine<br />

Charakter-Eigenschaft verbindlich zu sein scheint, die da lautet: "Was interessiert mich mein<br />

Geschwätz von gestern noch."<br />

So gesehen ist es sogar irgendwie folgerichtig, dass Buch-Schreiber Vandreier nach einem<br />

halben Leben auf der Couch, sein Mama-Schicksal einem früheren Missionar in Afrika anvertraute<br />

- die Therapie-Karriere bei einem Scharlatan unverbrauchte Höhepunkte suchte - und wohl auch<br />

fand. Zwischen den Zeilen seines Buches wird deutlich, dass der Autor Zeit seines Lebens auf der<br />

Suche nach Nähe und Durchbruch war; Weiber-Nähe, Karriere-Durchbruch für diesen "Uli"-<br />

Jungen. Bert Hellinger heißt der Glücksbringer aus dem fernen Südafrika, wo er <strong>als</strong> Missionar mit<br />

neuen, ungewohnten Stellungen die ermattete Zweisamkeit auffrischte - "Lebenshilfemethoden"<br />

genannt. Da tut es nichts zur Sache, dass die Wiener Psychoanalytische Vereinigung diesem<br />

Psycho-Guru verklemmter Seelen die Anerkennung seiner "Ausbildung" verweigerte.<br />

Hellinger, ehedem katholischer Mönch der Marianhiller Missionare lässt Aufstellen -nicht<br />

etwa in "Missionarsstellung". Gleichwohl gilt es alte vertraute Familienmitglieder neu mit xbeliebigen,<br />

fremden Personen ganz frisch zuzuordnen; Auge an Auge, Lippe an Lippen , Zunge auf<br />

Zunge. Schmatzen. Es gilt Vergangenes, Verklemmtes, Verdrängtes aberm<strong>als</strong> emotional in die<br />

Gegenwart zurückzuholen, erlebbar zu machen. Gefühlsausbrüche. Kritiker, wie der Schweizer<br />

Werner Haas, Klinischer Psychologe und Supervisor , sezieren die Hellinger-Methode. Werner<br />

Haas schreibt: "Magische Rituale würden dort eine Therapie ersetzen, anstatt einer Diagnose werde<br />

ein 'Orakel' veranstaltet und Ursachenforschung erschöpfe sich im Nachbeten der Okkult-Lehren<br />

des Meisters über die Entstehung von Krankheiten und Leid". - Wieder ein Guru.<br />

Zumindest werden Männer und Frauen so aufgebaut, hingestellt, dass sie der speziellen<br />

Wahrnehmung der Familiensituation - in diesem Fall die des Autors - entsprechen. Jörg-Ulrich<br />

Vandreier rekapituliert in seiner Lesung: "Es war auch noch dazu eine besonders schöne Frau, die<br />

mich beglückte und meine Mutter spielte. Sodann habe ich gemerkt, wie sehr ich dam<strong>als</strong> <strong>als</strong> Junge<br />

in meine Mutter verliebt war, in mir auch ein starkes sexuelles Verlangen nach meiner Mutter<br />

pochte. Sie war das A und O meines Lebens."<br />

677


Es waren vaterlose Zeiten vielerorts nach den Kriegen auf diesem Kontinent. Männer, die<br />

in den späteren Vorstellungen ihrer Söhne kaum noch eine Rolle spielen. Aus gutem Grund suchen<br />

klassisch geschulte Therapeuten in all den Jahren Vandreiers Hauptaugenmerk ein wenig auf seinen<br />

1947 an Kriegsverletzungen verstorbenen Vater zu lenken. - Gleichgültigkeit. Kein Interesse, keine<br />

Vorstellungskraft - selbst in Hellingers Familienaufstellung mochte der Autor seinen Erzeuger nicht<br />

finden. ("Der hat doch hier überhaupt nichts verloren") - Indes: Überall wie nirgends lauerte,<br />

winkte, schmuste, redete, schimpfte die Mama, die er abgöttisch liebte, liebkoste - ein Liebesgefühl,<br />

das nicht weichen will.<br />

Immerhin, weiß Vandreiers Ehefrau Monika zu berichten, kümmert sich ihr Mann,<br />

neuerdings <strong>als</strong> SPD-Mitglied, mehr in Sachen Umweltschutz um " Klimawandel" und "Bodengifte"<br />

in seiner Region. Schwerpunktverlagerung. Hin und wieder soll er gar <strong>als</strong> Früh-Rentner im Alter<br />

von 64 Jahren im Foyer des niedersächsischen Landtags zu Hannover im Lodenmantel mit<br />

Baskenmütze gesichtet worden sein. Das will schon was heißen, nach all den bitteren "Mama"-<br />

Jahren. Nur auch dort ist die längst verstorbene Frau diskret dabei: im Aktenköfferchen <strong>als</strong> Buch;<br />

für alle Fälle versteht sich.<br />

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