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Hans Christian Andersen - Ministère de l'éducation nationale et de ...

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<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

2005<br />

Numéro spécial du Courrier <strong>de</strong> l'Éducation <strong>nationale</strong>


Das vom dänischen Graphiker Per Arnoldi<br />

gestalt<strong>et</strong>e Logo von <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> 2005<br />

wird gemeinsame Erkennungsmarke aller<br />

Veranstaltungen sein<br />

Es ist kaum mehr ein Geheimnis: Im<br />

diesem Jahr wer<strong>de</strong>n wir <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> feiern, wie wir nie zuvor jeman<strong>de</strong>n<br />

gefeiert haben. Der 200. Jahrestag<br />

<strong>de</strong>r Geburt <strong>de</strong>s dänischen Schriftstellers<br />

und Märchenerzählers <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> wird vom 2. April bis 6. Dezember<br />

2005 weltweit gefeiert.<br />

Das Ziel <strong>de</strong>r Jubiläumsfeierlichkeiten ist es,<br />

die Bekanntheit und Beliebtheit <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

weltweit zu för<strong>de</strong>rn. Sie verfolgen außer<strong>de</strong>m<br />

das Ziel, das über die Jahre merkwürdig<br />

verengte und unangemessene Image<br />

<strong>de</strong>s dänischen Po<strong>et</strong>en und Erzählers in<br />

Angriff zu nehmen und ein neues Licht<br />

auf die mo<strong>de</strong>rne Relevanz <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s als<br />

Schriftsteller und Person zu werfen.<br />

4 MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE | LUXEMBOURG 2005<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> weltweit<br />

Die Jubiläumsfeierlichkeiten wer<strong>de</strong>n <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> in die ganze Welt hinaustragen<br />

– von <strong>Christian</strong> Have<br />

Die weltweiten Feierlichkeiten wer<strong>de</strong>n sich<br />

in drei Hauptbereichen abspielen: Kunst<br />

und Kultur, Bildung und Tourismus. Neue<br />

künstlerische Ansätze in allen Genres, die<br />

sich auf das Leben und Werk <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

stützen, wer<strong>de</strong>n während <strong>de</strong>s Jubiläumsjahres<br />

weltweit präsentiert. Außer<strong>de</strong>m<br />

wird <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s literarisches Gesamtwerk<br />

in neuen Qualitätsübers<strong>et</strong>zungen in zahlreiche<br />

Sprachen zugänglich gemacht. Das<br />

Jubiläum richt<strong>et</strong> sich auch an ein neues<br />

Publikum durch inter<strong>nationale</strong> Bildungsprojekte,<br />

und das dänische Kulturerbe wird<br />

ebenfalls geför<strong>de</strong>rt und besser zugänglich<br />

gemacht, in<strong>de</strong>m neue Initativen für einen<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-bezogenen Tourismus in Dänemark<br />

umges<strong>et</strong>zt wer<strong>de</strong>n.<br />

Die <strong>nationale</strong>n und inter<strong>nationale</strong>n<br />

Feierlichkeiten zum 200. Geburtstags<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s im Jahre 2005<br />

gehören zu <strong>de</strong>n größten Kulturprojekten,<br />

die je in Dänemark durchgeführt<br />

wor<strong>de</strong>n sind. Die Gründung <strong>de</strong>s <strong>Hans</strong><br />

<strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> 2005 Fonds war ein<br />

historischer Schritt, bei <strong>de</strong>m Dänemark<br />

– repräsentiert durch das Dänische<br />

Ministerium für Kultur und das Wirtschaftsministerium<br />

gemeinsam mit <strong>de</strong>r<br />

Stadt O<strong>de</strong>nse, <strong>de</strong>r Amtskommune Fünen<br />

und <strong>de</strong>m Bikuben Fonds – mehr als 200<br />

Millionen Kronen (rund 27 Millionen<br />

Euro) für die Feierlichkeiten zur Verfügung<br />

gestellt hat.<br />

Mit <strong>de</strong>m Ziel, das globale Publikum mit<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s inspirieren<strong>de</strong>r Botschaft zu<br />

erreichen, hat <strong>de</strong>r Bikuben Fonds <strong>de</strong>n HCAabc<br />

Fond gegrün<strong>de</strong>t, um <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn und<br />

Jugendlichen weltweit die Möglichkeit<br />

zu geben, das Lesen und Schreiben zu<br />

erlernen.<br />

Ziel <strong>de</strong>s HCA-abc Fonds ist es, laufen<strong>de</strong><br />

Programme und neue Initiativen zur<br />

Bekämpfung <strong>de</strong>s Analphebitismus unter<br />

Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen in <strong>de</strong>r Dritten<br />

Welt zu unterstützen. Es ist eine Vereinbarung<br />

mit <strong>de</strong>m <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

2005 Fonds g<strong>et</strong>roffen wor<strong>de</strong>n, dass<br />

alle Unternehmen, die das <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> 2005-Logo auf kommerziellen<br />

Produkten führen, einen Beitrag an<br />

<strong>de</strong>n HCA-abc Fonds leisten müssen.<br />

Die Kommunikation <strong>de</strong>s <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-<br />

Jubiläums 2005 basiert auf einem inter<strong>nationale</strong>n<br />

N<strong>et</strong>zwerk an PR-Plattformen<br />

in <strong>de</strong>n 35 Schlüsselmärkten. Um eine<br />

weltweite Deckung zu erreichen, ist <strong>de</strong>r<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> 2005 Fonds<br />

eine Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>m Dänischen<br />

Ministerium <strong>de</strong>s Äußern, <strong>de</strong>m<br />

Dänischen Frem<strong>de</strong>nverkehrsämtern, <strong>de</strong>n<br />

dänischen Botschaften und Konsulaten<br />

im Ausland, <strong>de</strong>m Dänischen Kulturinstitut<br />

sowie lokalen PR-Agenturen eingegangen.<br />

Dies ist das erste mal, dass eine dänische<br />

Kulturpräsentation in einer solch integrierten<br />

Weise koordiniert wor<strong>de</strong>n ist, um<br />

eine optimale weltweite Medienpräsenz<br />

sicherzustellen.<br />

Weltweit wer<strong>de</strong>n <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-Botschafter ernannt: Künstler,<br />

Politiker, Journalisten, Geschäftsleute<br />

und Sportler wur<strong>de</strong>n geb<strong>et</strong>en, die<br />

Feierlichkeiten zum <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-Jubiläum<br />

zu repräsentieren. Es ist die Aufgabe <strong>de</strong>r<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-Botschafter,<br />

in ihren Heimatlän<strong>de</strong>rn Aufmerksamkeit<br />

auf die Feierlichkeiten zu lenken,<br />

entwe<strong>de</strong>r durch ihre Anwesenheit bei<br />

Veranstaltungen zum <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-Jubiläum<br />

o<strong>de</strong>r dadurch, dass sie <strong>de</strong>r Öffentlichkeit<br />

ihre Sicht auf <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> vermitteln. Die<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-Botschafter<br />

wer<strong>de</strong>n auch dazu beitragen, die<br />

öffentliche Aufmerksamkeit auf <strong>de</strong>n<br />

HCA-abc Fonds zu lenken.<br />

Der <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> 2005<br />

Fonds rechn<strong>et</strong> mit <strong>de</strong>r Ernennung von<br />

rund 100-150 <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-<br />

Botschaftern in aller Welt. Unter <strong>de</strong>n<br />

Personen, die bereits ernannt wor<strong>de</strong>n<br />

sind, fin<strong>de</strong>t man Persönlichkeiten wie<br />

<strong>de</strong>n Schauspieler Roger Moore aus Großbritannien,<br />

die Fußballlegen<strong>de</strong> Pelé aus<br />

Brasilien und die brühmte chilenische<br />

Autorin Isabel Allen<strong>de</strong>.<br />

<strong>Christian</strong> Have ist Direktor <strong>de</strong>r PR-Agentur<br />

Have PR, die mit <strong>de</strong>r Kommunikation<br />

<strong>de</strong>r Jubiläumsfeierlichkeiten beauftragt<br />

wor<strong>de</strong>n ist.


Der standhafte Mo<strong>de</strong>rnist<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> ist weit mehr als ein Märchenonkel – von Jens <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

Es stimmt sehr wohl, dass <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> in mehr als 125 Sprachen übers<strong>et</strong>zt<br />

wor<strong>de</strong>n ist und nach wie vor in aller<br />

Welt gelesen wird, obwohl wir häufig<br />

vergessen, dass er mit seiner radikalen<br />

Sicht auf das Kind im Menschen die Kulturgeschichte<br />

revolutionierte und mit<br />

seinen 156 Märchen und Geschichten <strong>de</strong>n<br />

Weg für <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen Durchbruch in <strong>de</strong>r<br />

Weltkunst ebn<strong>et</strong>e. Und das alles begann<br />

im Deutschland <strong>de</strong>r vierziger Jahre <strong>de</strong>s<br />

19. Jahrhun<strong>de</strong>rts.<br />

Im Herbst 1840 <strong>de</strong>ut<strong>et</strong>e nichts darauf<br />

hin, dass <strong>de</strong>r 35-jährige <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> jemals <strong>de</strong>r größte Däne aller<br />

Zeiten und einer <strong>de</strong>r weltweit am meisten<br />

gelesenen Schriftsteller wer<strong>de</strong>n sollte. Er<br />

hatte bereits drei Romane, drei Gedichtsammlungen,<br />

Dramen, Märchen und eine<br />

prächtige Sammlung kleiner Erzählungen,<br />

das im Jahr zuvor erschienene „Bil<strong>de</strong>rbuch<br />

ohne Bil<strong>de</strong>r”, geschrieben. Außer<strong>de</strong>m war<br />

er schon auf <strong>de</strong>utsch und auf schwedisch<br />

erschienen, und 1838 hatte <strong>de</strong>r dänische<br />

König ihm einen festen jährlichen Dichterlohn<br />

bewilligt.<br />

Am dänischen Parnass jedoch war <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

in eine Ecke gedrängt und ohne Freun<strong>de</strong><br />

o<strong>de</strong>r Unterstützer unter <strong>de</strong>n machtvollen<br />

Künstlern und Kritikern, die sich in <strong>de</strong>r von<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> spöttisch als „Maßschnei<strong>de</strong>rgil<strong>de</strong>“<br />

bezeichn<strong>et</strong>en Gesellschaft versammelten.<br />

Selbst <strong>de</strong>r junge Philosophiestu<strong>de</strong>nt Søren<br />

Kierkegaard war mit seinem Debütbuch<br />

„Aus <strong>de</strong>n Papieren eines noch Leben<strong>de</strong>n“<br />

(1838) auf <strong>de</strong>m Kriegspfad. Das Buch han<strong>de</strong>lte<br />

ausschließlich davon, welch ein unzusammenhängen<strong>de</strong>r<br />

und schlapper Mensch dieser<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> doch sei und welches künstlerische<br />

Flickwerk er 1837 mit seinem Roman „Nur<br />

ein Spielmann“ doch produziert habe. Sollte<br />

es ihm <strong>de</strong>nn nie gelingen, sich zu profilieren?<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>, <strong>de</strong>r sich ohnehin im schwierigen<br />

und häufig krisenbehaft<strong>et</strong>en Mittelabschnitt<br />

<strong>de</strong>s menschlichen Lebens<br />

befand, war mit an<strong>de</strong>ren Worten in <strong>de</strong>r<br />

dänischen Kunst marginalisiert, von einem<br />

Grüppchen Meinungsbil<strong>de</strong>rn, die nicht<br />

das geringste von <strong>de</strong>n 1835 erstmals<br />

veröffentlichten und im Ausland mehr<br />

und mehr gelobten „Märchen, erzählt<br />

für Kin<strong>de</strong>r“ hielten, in Grund und Bo<strong>de</strong>n<br />

kritisiert.<br />

Wie bekannt ist, gelang es <strong>de</strong>r dänischen<br />

Literaturkritik anno 1840 allerdings nicht,<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Stimme zu ersticken. Dafür war<br />

diese viel zu kräftig und – insbeson<strong>de</strong>re – zu<br />

gut. In Deutschland hatte man das schon längst<br />

erkannt. Der 35-jährige <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> benötigte<br />

jedoch eine Denkpause. Deshalb packte er<br />

im Herbst 1840 seinen fliegen<strong>de</strong>n Koffer,<br />

flücht<strong>et</strong>e aus <strong>de</strong>m klaustrophobischen<br />

Kopenhagen und reiste hinaus in die …<br />

LUXEMBOURG 2005 | MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE 5


… weite Welt. Nach Deutschland, Italien,<br />

Griechenland, in die Türkei und auf <strong>de</strong>n<br />

Balkan, wo er in <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Jahren<br />

auf einer abenteuerlichen Reise über<br />

Wasser und Land sich selbst und seine<br />

Wurzeln fand.<br />

Die acht Monate währen<strong>de</strong> Fahrt in <strong>de</strong>n<br />

Orient hatte, wenn man sie in <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

impressionistischen Reisebuch „Basar eines<br />

foto: gyl<strong>de</strong>ndal<br />

In <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>r vierziger Jahre hatte<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> es geschafft. Hier ein Portrait <strong>de</strong>s Malers<br />

August Grahl, das 1846 in Dres<strong>de</strong>n entstand.<br />

Dichters“ (1842) nacherlebt, <strong>de</strong>n Charakter<br />

einer Wie<strong>de</strong>rgeburt. Und in <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n<br />

Jahren öffn<strong>et</strong>e <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>, <strong>de</strong>r<br />

bis dahin nur siebzehn bis achtzehn<br />

Märchen geschrieben hatte, eine wahre<br />

Schatzkiste an Kurzprosa, die bei einem<br />

Tod im August 1875 auf 156 Märchen und<br />

Geschichten angeschwollen war.<br />

Anfang <strong>de</strong>r vierziger Jahre <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />

nahm das alles richtig Fahrt an. 1841<br />

erschienen Märchen wie „Ole Luköje“ und<br />

„Der Schweinehirte“, 1843 „Die Nachtigall“,<br />

„Das hässliche Entlein“ und „Der Engel“,<br />

1844 „Die Tanne“ und „Die Schneekönigin“<br />

und 1845 „Elfenhügel“, „Die Hirtin und <strong>de</strong>r<br />

Schornsteinfeger“, „Die Stopfna<strong>de</strong>l“ und<br />

„Das kleine Mädchen mit <strong>de</strong>n Schwefelhölzern“.<br />

Wie <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

im November 1843 einem guten Freund<br />

und Ratgeber, <strong>de</strong>m Dichter B.S. Ingemann,<br />

schrieb, hatte er nach 15 Jahren <strong>de</strong>r Suche<br />

und <strong>de</strong>r Experimente in allen möglichen<br />

literarischen Genres endlich seine stärkste<br />

Stimme gefun<strong>de</strong>n:<br />

6 MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE | LUXEMBOURG 2005<br />

„Nun erzähle ich aus meiner eigenen Brust,<br />

ergreife eine I<strong>de</strong>e für <strong>de</strong>n Älteren – und<br />

erzähle dann für die Kleinen, während<br />

ich daran <strong>de</strong>nke, dass Vater und Mutter<br />

häufig zuhören mögen, und <strong>de</strong>nen muss<br />

man ein wenig für die Gedanken geben!”<br />

Ich habe eine Menge Stoff, mehr als für<br />

irgen<strong>de</strong>ine an<strong>de</strong>re Dichtart; es ist mir<br />

häufig, als wenn je<strong>de</strong>s Plankwerk, je<strong>de</strong><br />

kleine Blume mir sagen will ‚Sieh mich<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Phantasie spiegelt sich auch in seinen<br />

zahlreichen Scherenschnitten wie<strong>de</strong>r: hier ein Schnitt<br />

mit acht Männern, acht Schwänen und 52 Herzen.<br />

an, dann wird eine Geschichte in Dir aufgehen!’<br />

Und tu ich das, dann habe ich die<br />

ganze Geschichte!“<br />

Große Teile Europas nahmen sich schnell<br />

dieser neuen wun<strong>de</strong>rbaren Geschichten<br />

an und fügten sie zu jenen Märchen, die<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> bereits in <strong>de</strong>n dreißiger Jahren<br />

geschrieben hatte, so dass schon bald<br />

größere Sammlungen von „<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Märchen“ in Deutschland,<br />

Frankreich, England, Schwe<strong>de</strong>n, Russland<br />

und <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n erschienen. 1847<br />

wur<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r Herausgabe seiner gesammelten<br />

Werke in Deutschland begonnen,<br />

jenem Land, dass <strong>de</strong>r dänische Dichter<br />

sein ganzes Leben lang als sein zweites<br />

Vaterland b<strong>et</strong>racht<strong>et</strong> hatte und wo er in<br />

unter an<strong>de</strong>rem in Luwig Tieck, Adalbert<br />

von Chamisso, Franz Liszt, <strong>de</strong>m Erbgroßherzog<br />

Carl Alexan<strong>de</strong>r von Sachsen-Weimar,<br />

König Max von Bayern und <strong>de</strong>ssen lebenslustigen<br />

siebenjährigen Sohn Ludwig II.,<br />

<strong>de</strong>m <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> während eines Besuchs<br />

auf Hohenschwangau im Jahre 1854<br />

foto: gyl<strong>de</strong>ndal<br />

Märchen vorlas, enge Freun<strong>de</strong> fand. Der<br />

Junge hatte von „Der standhafte Zinnsoldat“<br />

gehört, und we<strong>de</strong>r ihn noch <strong>de</strong>n<br />

standhaften dänischen Dichter sollte er<br />

je vergessen. Als eines Tages einige <strong>de</strong>r<br />

beste Spielzeugsoldaten <strong>de</strong>s Kronprinzen<br />

verschwun<strong>de</strong>n waren, rief er ganz außer<br />

sich „Drei tapfere Zinnsoldaten! Was wird<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> bloß sagen, wenn er davon<br />

erfährt?“<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n vierziger<br />

Jahren <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts weltberühmt.<br />

Deutschland war hierbei<br />

das Sprungbr<strong>et</strong>t für die explosionsartig<br />

anwachsen<strong>de</strong> inter<strong>nationale</strong><br />

Anerkennung. Seine Reisen<br />

durch Deutschland, Frankreich und<br />

England in <strong>de</strong>n Jahren 1843, 1844,<br />

1845-46 und 1847, wo er unterwegs<br />

aus „Das hässliche Entlein“ las und<br />

damit <strong>de</strong>n romantischen Mythos<br />

über sich selbst zementierte, wur<strong>de</strong>n<br />

zu einem wahren Triumpfzug.<br />

Allmählich mussten selbst die<br />

heimischen Kritiker in Dänemark<br />

zugeben, dass diese Märchen und<br />

Geschichten <strong>et</strong>was waren, dass<br />

mit nichts an<strong>de</strong>rem, das man<br />

kannte, vergleichbar waren. Ja, dass<br />

sie vielleicht gar nicht einmal so<br />

schlecht waren.<br />

Das kann man wohl sagen. Und lei<strong>de</strong>r<br />

wird das heutzutage in <strong>de</strong>r großen weiten<br />

Welt nicht häufig genug gesagt, überall<br />

dort, wo man <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> als gemütlichen<br />

Kin<strong>de</strong>rbuchautoren pflegt. Denn er war<br />

viel mehr. Der Meilenstein, <strong>de</strong>n er in <strong>de</strong>r<br />

Weltliteratur hinterlassen hat, steckt viel<br />

tiefer. Mit seinen 156 Märchen, von <strong>de</strong>nen<br />

selbst wir Dänen heute nur einen kleinen<br />

Teil kennen und lesen, revolutionierte<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> die Weltkulturgeschichte.<br />

Er erzählte seine Geschichten in einer<br />

mündlichen Weise, die bis dahin in <strong>de</strong>r<br />

Schriftsprache unbekannt war und<br />

die mit <strong>de</strong>r Zeit mehr und mehr raffiniert<br />

und mo<strong>de</strong>rnistisch im Spiel mit<br />

<strong>de</strong>r Sprache wur<strong>de</strong>, die Lautmalereien,<br />

Textcollagen und surrealistische Wortbildungen<br />

einbezog. Man höre sich nur<br />

folgen<strong>de</strong> Passage an: „So stiegen sie<br />

auf <strong>de</strong>n Wagen, auf Wie<strong>de</strong>rsehen Vater,<br />

auf Wie<strong>de</strong>rsehen Mutter! Die Peitsche<br />

knallte, peng, peng, und fort fuhren sie,<br />

hei wie <strong>de</strong>r Wind!”<br />


… Auch das Märchengenre ansich wur<strong>de</strong><br />

von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> radikal auf <strong>de</strong>n Kopf<br />

gestellt und zum absoluten Gegenteil<br />

<strong>de</strong>ssen benutzt, was man bis dahin als<br />

schickliches Märchen eracht<strong>et</strong> hätte. Wo<br />

Autoren vor <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

das Märchen in belehren<strong>de</strong>r Absicht zum<br />

Formen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s und zum Weisen <strong>de</strong>s<br />

Wegs zum rechten, vernunftsb<strong>et</strong>onten<br />

Erwachsenenlebens genutzt hatten,<br />

bezog sich <strong>de</strong>r dänische Dichter auf das<br />

eigene Gefühlsleben und die Phantasie<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, ja auf die gesamte Natur<br />

und Individualität, und gab diesem bis<br />

dahin stummen und unterdrückten Teil<br />

<strong>de</strong>r Menschheit eine Stimme und Freiheit<br />

in seiner Kunst. Zugleich erinnerte<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> <strong>de</strong>n erwachsenen Leser daran,<br />

niemals sein eigenes inneres Kind zu<br />

verdrängen.<br />

Wir sprechen hier von einem Quantensprung<br />

in <strong>de</strong>r Kunst und Kultur. Seit<br />

Jean-Jacques Rousseau in <strong>de</strong>n siebziger<br />

Jahren <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts hatte niemand<br />

das Kind im Menschen so kompromisslos<br />

geschil<strong>de</strong>rt wie <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> mit seinen 1835 erschienenen<br />

genialen Märchen „Das Feuerzeug“, „Die<br />

Prinzessin auf <strong>de</strong>r Erbse“, „Kleiner Claus<br />

und Großer Claus“ und „Die Blumen <strong>de</strong>r<br />

kleinen Ida“.<br />

Mit diesen Texten b<strong>et</strong>rat <strong>de</strong>r dänische<br />

Dichter ein jungfräuliches Land in <strong>de</strong>r<br />

Kunst und <strong>de</strong>r Wissenschaft, die noch<br />

darauf wart<strong>et</strong>e, von Psychoanalytikern<br />

wie Sigmund Freud und C.G. Jung erforscht<br />

zu wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>n Fußstapfen<br />

sollten noch mo<strong>de</strong>rnistische Künstler wie<br />

August Strindberg, Wassily Kandinsky,<br />

Paul Klee und Jean Cocteau folgen – alle<br />

erklärte <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-Fans.<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> übte einen<br />

unermesslich großen, sowohl direkten<br />

wie auch indirekten Einfluss auf die<br />

Kunst- und Kulturgeschichte aus.<br />

Vincent van Gogh las zum Beispiel<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> und erzählte von 1876 bis 1883<br />

in Briefen an seinen Bru<strong>de</strong>r von seiner<br />

tiefen Faszination von <strong>de</strong>r Bildwelt <strong>de</strong>s<br />

Dänen. Eine Bildwelt, mit <strong>de</strong>r van Gogh<br />

Bekanntschaft gestift<strong>et</strong> hatte und die<br />

ihn nun inspirierte.<br />

Auf gleiche Weise lag es st<strong>et</strong>s auch<br />

August Strindberg am Herzen seine<br />

Schuldigkeit gegenüber <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> zu<br />

tun. 1903 versuchte sich <strong>de</strong>r Schwe<strong>de</strong> im<br />

Märchengenre mit einer Märchensammlung,<br />

von <strong>de</strong>r er selbst sagte, dass sie<br />

vom „Hexenmeister H.C. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>“<br />

hervorprovoziert wor<strong>de</strong>n sei. Die Worte<br />

fielen in einem dänischen Zeitungsinterview<br />

von 1905 anlässlich <strong>de</strong>s 100.<br />

Geburtstags <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s. Strindberg<br />

wur<strong>de</strong> hier gefragt, wofür er <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

zu danken habe: „Lesen Sie meine einfachen<br />

Märchen von 1903 und sehen Sie<br />

selbst, wo ich in die Lehre gegangen bin!<br />

Jens <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> – Schriftsteller und Literaturkritiker<br />

Viele Lehrer habe ich gehabt: Schiller,<br />

und Go<strong>et</strong>he, Victor Hugo, Dickens und<br />

Zola, doch ich wer<strong>de</strong> dieses Interview<br />

mit <strong>de</strong>n Wörtern unterzeichnen: August<br />

Strindberg, Schüler von <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>.“<br />

Und so haben wir heute alle, in Dänemark,<br />

in Nor<strong>de</strong>uropa, in Deutschland und im<br />

Rest <strong>de</strong>r Welt, <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

viel zu verdanken. Er machte die Welt mit<br />

seiner Kunst märchenhaft.<br />

Jens <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> lebt als Schriftsteller und<br />

Literaturkritiker in Kopenhagen<br />

LUXEMBOURG 2005 | MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE 7<br />

foto: morten holm


Ich bin nur scheintot<br />

Das Jubiläumsjahr soll nicht konservieren,<br />

son<strong>de</strong>rn neu beleben – von Lars Seeberg<br />

2005 jährt sich <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

Geburt zum 200. mal. Das Jubiläum soll<br />

Anlass für eine Wie<strong>de</strong>rgeburt <strong>de</strong>s Schriftstellers<br />

und Menschen <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> sein, meint Lars Seeberg. Er ist<br />

Leiter von H.C. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> 2005, <strong>de</strong>ssen<br />

Aufgabe es sein wird, die <strong>nationale</strong>n<br />

und inter<strong>nationale</strong>n Feierlichkeiten zum<br />

Geburtstag <strong>de</strong>s Märchendichters zu koordinieren.<br />

Im Vorfeld <strong>de</strong>s 70. Geburtstags von <strong>Hans</strong><br />

<strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> im Jahre 1875 sammelte<br />

ganz Dänemark Geld für eine Statue<br />

<strong>de</strong>r Dichterkoryphäe, die im Königlichen<br />

Garten, Kongens Have, in Kopenhagen<br />

aufgestellt wer<strong>de</strong>n sollte. Das war ihm<br />

gar nicht so lieb und <strong>de</strong>r Tonfall war gar<br />

ungewöhnlich scharf, als er <strong>de</strong>n Entwurf<br />

<strong>de</strong>s Bildhauers August Saabye verwarf.<br />

Die Skizze zeigte <strong>de</strong>n Märchenschriftsteller<br />

beim Vorlesen vor einer Gruppe von<br />

Kin<strong>de</strong>rn. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> konnte es schlichtweg<br />

nicht aushalten, „<strong>de</strong>n langen Jungen<br />

ansehen zu müssen, <strong>de</strong>r mir ganz oben<br />

im Schritt sitzt” und erhob energischen<br />

Einwand gegen diese Art und Weise, ihn<br />

darzustellen. Der geschil<strong>de</strong>rte Augenblick<br />

sei unrealistisch, <strong>de</strong>nn er wür<strong>de</strong> …<br />

8 MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE | LUXEMBOURG 2005<br />

Ohne stören<strong>de</strong> Kin<strong>de</strong>r: Die <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-Statue in Kopenhagen


…<br />

„nie vorlesen können, wenn jemand hinter<br />

mir o<strong>de</strong>r nah an mir sitzt, ganz zu schweigen,<br />

wenn ich Kin<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Schoß o<strong>de</strong>r<br />

auf <strong>de</strong>m Rücken hätte.” Er mochte es<br />

überhaupt nicht, als „Dichter <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r”<br />

aufgefasst zu wer<strong>de</strong>n. Seine eigene Intention<br />

war es, „ein Dichter für alle Älteren zu<br />

sein, und dass Kin<strong>de</strong>r mich nicht repräsentieren<br />

können; das Naive ist nur ein<br />

einfacher Teil <strong>de</strong>s Märchens, <strong>de</strong>r Humor<br />

hingegen macht das Salz in ihm aus.”<br />

Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r schon einmal in Kongens Have<br />

war, wird wissen, dass <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Protest<br />

seine Wirkung hatte. In <strong>de</strong>r endgültigen<br />

Version <strong>de</strong>r Statue sitzt <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> einsam<br />

mit seinem Buch im Schoß und liest einer<br />

unsichtbaren Zuhörerschar vor.<br />

Die Situation ist eines <strong>de</strong>r frühen Beispiele<br />

für <strong>de</strong>n Mythos, <strong>de</strong>r fortan dauerhaft an<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> kleben sollte. Im 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />

haben viele sentimentalisieren<strong>de</strong> Darstellungen<br />

seines Lebens – nicht zul<strong>et</strong>zt die<br />

Hollywood-Version von 1952, in <strong>de</strong>r Danny<br />

Kaye <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> als einen süßen, path<strong>et</strong>ischen<br />

Entertainer schil<strong>de</strong>rt – das Bild <strong>de</strong>s<br />

Märchendichters auf eine Karikatur reduziert:<br />

ein göttlich inspirierter Dorftrottel.<br />

Nichts ist ungerechter als das.<br />

Im Jahre 2005 sollen <strong>de</strong>r wohl berühmteste<br />

Sohn und sein dichterisches Werk<br />

geehrt wer<strong>de</strong>n. Wir feiern <strong>de</strong>n 200. Jahrestag<br />

von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Geburt. Ein Jubiläum<br />

von einem solchen Charakter bi<strong>et</strong><strong>et</strong><br />

Anlass, einen kritischen Blick auf diese<br />

Gestalt zu werfen.<br />

Dass <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Märchen ein so wesentlicher<br />

Teil <strong>de</strong>r dänischen Kultur ist, dass wir<br />

ihn nicht <strong>de</strong>r Vergessenheit preisgeben<br />

dürfen, dürfte unumstritten sein. Soll es<br />

aber wirklich Sinn machen, einen längst<br />

verstorbenen Dichter <strong>de</strong>s 19. Jahrhun-<br />

<strong>de</strong>rts mit Pauken und Tromp<strong>et</strong>en zu feiern,<br />

dann müssen diese Bemühungen in<br />

erster Linie davon han<strong>de</strong>ln, ihn für unsere<br />

Tage verständlich zu machen. Er soll nicht<br />

aus musealen Grün<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r um aus<br />

Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Nostalgie einen geliebten<br />

Märchenonkel in Erinnerung zu halten<br />

abgestaubt wer<strong>de</strong>n.<br />

Zum Einen gilt es, die Kenntnisse <strong>de</strong>r<br />

eher unbekannten Kapitel aus <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

Gesamtwerk zu verbessern. Wenn es darauf<br />

ankommt, können Auslän<strong>de</strong>r ohne<br />

Probleme drei bis fünf <strong>de</strong>r bekanntesten<br />

Märchen <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s nennen, während<br />

sich die meisten Dänen sicher auf acht<br />

bis zehn Stück emporschwingen können.<br />

In <strong>de</strong>r Tat schrieb <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> aber mehr als<br />

150 Märchen und Geschichten. Das bi<strong>et</strong><strong>et</strong><br />

Stoff genug. In Wirklichkeit brauchen wir<br />

aber eine Wie<strong>de</strong>rgeburt <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s. Zwei<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rte nach seiner Geburt wird<br />

er immer noch nicht als <strong>de</strong>r Schriftsteller<br />

von Weltformat geehrt, <strong>de</strong>r er ohne<br />

Zweifel war; ein ebenso wesentlicher<br />

Repräsentant für <strong>de</strong>n Übergang zwischen<br />

<strong>de</strong>r Romantik und <strong>de</strong>m frühen Realismus<br />

wie seine Zeitgenossen – und im übrigen<br />

guten Bekannte – Honoré <strong>de</strong> Balzac und<br />

Victor Hugo.<br />

Auf die Spitze g<strong>et</strong>rieben kann man davon<br />

sprechen, dass <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

Bekanntheit zugleich ein Hemmschuh für<br />

die Kenntnisse über ihn sind. Alle, die <strong>de</strong>n<br />

Namen <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> hören<br />

– in China, in <strong>de</strong>n USA, ja überall in <strong>de</strong>r<br />

Welt – bekommen natürlich ein Lächeln<br />

auf <strong>de</strong>n Lippen. Doch dieses Lächeln ist<br />

ein nostalgisches Lächeln, das sich an<br />

das Kin<strong>de</strong>rzimmer und Erinnerungen an<br />

Gute-Nacht-Geschichten klammert. <strong>Hans</strong><br />

<strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> ist in Wirklichkeit<br />

eine Figur, die man in <strong>de</strong>n ganz frühen<br />

Jahren zurücklässt und mit <strong>de</strong>r man<br />

sich als Erwachsener nicht mehr richtig<br />

beschäftigt. Doch selbst die Märchen, die<br />

von Kin<strong>de</strong>rn gekannt und geliebt wer<strong>de</strong>n,<br />

enthalten vieles, das sie überhaupt nicht<br />

verstehen können und das sich in erster<br />

Linie an erwachsene Leser richt<strong>et</strong>. Dies gilt<br />

zum Beispiel für sein Verhältnis zur Natur<br />

und zur Gesellschaft, seine religiösen<br />

I<strong>de</strong>en, seine Sicht auf die Liebe und auf<br />

die Kunst, seine satirischen Beschreibungen<br />

<strong>de</strong>s menschlichen Verhaltens, seine<br />

Ironie und seinen scharfen verbalen Witz.<br />

In einer Zeit, in <strong>de</strong>r Geschichten für Kin<strong>de</strong>r<br />

ausschließlich moralisierend und didaktisch<br />

waren, revolutionierte er das Genre,<br />

in<strong>de</strong>m er ihm Humor, Anarchie und <strong>de</strong>n<br />

kummervollen Pathos <strong>de</strong>r großen Literatur<br />

verlieh. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Geschichten sind von<br />

<strong>de</strong>n schmerzvollsten und rohsten Gefühlen<br />

durchs<strong>et</strong>zt. In seinen besten Stun<strong>de</strong>n<br />

erzählt er uns – auf seine eigene, direkte<br />

und unprätentiöse Art – ebenso viel über<br />

das Menschenleben wie je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re<br />

<strong>de</strong>r weltweit größten Schriftsteller o<strong>de</strong>r<br />

Philosophen. Einige <strong>de</strong>r Märchen, die sich<br />

ausschließlich an <strong>de</strong>n erwachsenen Leser<br />

richten, sagen <strong>de</strong>n Surrealismus und die<br />

freudianische I<strong>de</strong>e vom Unterbewussten<br />

voraus. Er experimentierte und wies <strong>de</strong>n<br />

Weg in <strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>rnismus.<br />

Als man 1955 <strong>de</strong>n 150. Jahrestag <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

feierte, erstatt<strong>et</strong>e <strong>de</strong>r ”Gemeinsame<br />

Rat für dänische Kulturarbeit im Ausland”<br />

sage und schreibe Anfang 1954 (!) Bericht<br />

an das Staatsministerium, dass man das<br />

Jubiläum mit Festlichkeiten begehen wer<strong>de</strong>,<br />

die in erster Linie von <strong>de</strong>n dänischen<br />

Repräsentationen im Ausland abgehalten<br />

wer<strong>de</strong>n sollten. Es wur<strong>de</strong> 100.000 Kronen<br />

für die Veranstaltung <strong>de</strong>r Ge<strong>de</strong>nkfeierlichkeiten<br />

und 72.225 Kronen für Informationsmaterial<br />

über <strong>de</strong>n <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-Tag<br />

bewilligt. O<strong>de</strong>r um die Gesamtübersicht<br />

über die Veranstaltungen, zusammengestellt<br />

vom Pressedienst <strong>de</strong>s Außenministeriums,<br />

zu zitieren:<br />

„Neben verschie<strong>de</strong>nem Material in Verbindung<br />

mit <strong>de</strong>n geplanten Ge<strong>de</strong>nkfeierlichkeiten<br />

(wie Noten, Gipsabgüsse<br />

von Bissens Büste von <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> usw.) wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Presse und<br />

<strong>de</strong>m Rundfunk ein Standardartikel, verfasst<br />

von Sven Møller Kristensen, und<br />

ein Kin<strong>de</strong>rartikel, verfasst von <strong>Christian</strong><br />

Winther, in je 2000 Exemplaren, verteilt<br />

auf 70 Län<strong>de</strong>r, zugesandt.” …<br />

LUXEMBOURG 2005 | MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE 9


… Heute mag man lächeln über die tieffliegen<strong>de</strong>n<br />

Visionen von damals, die die<br />

dänischen Aktivitäten in <strong>de</strong>n Fünfzigern<br />

prägten und die in erster Linie <strong>de</strong>m Ziel<br />

dienten, <strong>de</strong>n Dichter zu konservieren – in<br />

je<strong>de</strong>m Fall ging es nicht darum, ein neues<br />

Licht auf das Gesamtwerk zu werfen. Die<br />

Strategie <strong>de</strong>r Einrichtung <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> 2005, in <strong>de</strong>r die Aktivitäten zum<br />

Jubiläum koordiniert wer<strong>de</strong>n, ist natürlich<br />

eine an<strong>de</strong>re.<br />

Das klare Ziel <strong>de</strong>s Jubiläumsjahres ist<br />

es, dass – in Dänemark und weit über<br />

die Grenzen <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s hinaus – ein<br />

größeres und nuanciertes Wissen über<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s vielfältiges<br />

Gesamtwerk und die dahinter stehen<strong>de</strong><br />

Person erreicht wird. Das Glanzbild <strong>de</strong>s<br />

alten, naiven Märchendichters mit <strong>de</strong>n<br />

Kin<strong>de</strong>rn auf <strong>de</strong>n Knien soll <strong>de</strong>m vollen<br />

menschlichen Portrait weichen, das die<br />

Fac<strong>et</strong>ten zeigen soll, die er auch hatte: die<br />

Lei<strong>de</strong>nschaft, die Scham über seine Kindheit,<br />

die Einsamkeit als Folge <strong>de</strong>s Gefühls,<br />

nicht geliebt und unliebbar zu sein, <strong>de</strong>r<br />

nicht zu sättigen<strong>de</strong> Hunger nach Lob, <strong>de</strong>r<br />

Hass auf die Kritik, die Zukunftsbegeisterung,<br />

die Angst, die Hypochondrie, die<br />

Verfänglichkeit, die nicht zu sättigen<strong>de</strong><br />

Ambition, die Sexualität. Davon, dass das<br />

gesamte Bild <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s größer ist, als die<br />

meisten wissen, kann man sich vergewissern,<br />

in<strong>de</strong>m man Bekanntschaft mit einer<br />

<strong>de</strong>r jüngeren Biographie schließt. Die<br />

englische Kulturpublizistin Jackie Wullschlager<br />

s<strong>et</strong>zt dort an, wo Elias Bredsdorff<br />

vor 25 Jahren aufhörte. Ihre höchst qualifizierte<br />

Interpr<strong>et</strong>ation <strong>de</strong>s <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>schen<br />

Gesamtwerks – im Verhältnis zu einem<br />

mo<strong>de</strong>rnen psychologischen Portrait gesehen<br />

– ist eine unterhalten<strong>de</strong>, bewegen<strong>de</strong><br />

und überlegen komp<strong>et</strong>ente Biographie,<br />

die im Jahr 2000 erschien.<br />

Wullschlagers Biographie, die es bis auf<br />

die Vor<strong>de</strong>rseite <strong>de</strong>r literarischen Beilage<br />

<strong>de</strong>r New York Times schaffte, ist bloß<br />

einer <strong>de</strong>r Indikatoren dafür, dass es<br />

dort draußen in <strong>de</strong>r Welt ein Interesse<br />

an <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> gibt. In Japan gibt es zum<br />

Beispiel bereits seit 1997 ein <strong>nationale</strong>s<br />

Komitee für die Feierlichkeiten zu <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

200. Geburtstag. Es herrscht kein<br />

Zweifel daran, dass die Neugier hin zum<br />

Jubiläum ansteigen wird. Und wenn wir<br />

wohlgemerkt das Bild <strong>de</strong>s Dichters beeinflussen<br />

und einige <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utungen,<br />

die seinen Erzählungen zugesprochen<br />

wer<strong>de</strong>n, restaurieren. Kein böses Wort<br />

10 MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE | LUXEMBOURG 2005<br />

über simplifizieren<strong>de</strong> Bil<strong>de</strong>rbücher und<br />

Disneys Zeichentrickausgabe <strong>de</strong>r „Kleinen<br />

Meerjungfrau”. Sie haben bloß einfach<br />

nicht so viel mit <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> zu tun. Es muss<br />

Respekt eingeworben wer<strong>de</strong>n für <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

als Schriftsteller für ein erwachsenes<br />

Publikum und für ein Publikum, das ganz<br />

und gar in <strong>de</strong>r Gegenwart lebt.<br />

foto: hca 2005<br />

„H.C. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> 2005“ physischer Standort<br />

ist das A<strong>de</strong>lige Jungfrauenkloster in<br />

O<strong>de</strong>nse – mit Aussicht auf die Waschstelle,<br />

zu <strong>de</strong>r <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Mutter ihren täglichen<br />

Gang hatte. Das Sekr<strong>et</strong>ariat öffn<strong>et</strong>e<br />

im September 2001. Bis zum Jubiläum<br />

wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Geburtsstadt <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

einige Aktivitäten stattfin<strong>de</strong>n, doch das<br />

eigentliche Jubiläum wird national und<br />

international gefeiert. Ein künstlerischer<br />

Aufsichtsrat mit dänischen und ausländischen<br />

Mitglie<strong>de</strong>rn aus all <strong>de</strong>n Bereichen,<br />

mit <strong>de</strong>nen gearbeit<strong>et</strong> wird, wird <strong>de</strong>m<br />

Sekr<strong>et</strong>ariat als Berater zur Verfügung<br />

stehen, während das Sekr<strong>et</strong>ariat selbst<br />

koordiniert, sammelt, inspiriert und<br />

Zuschüsse für die vielen Projekte und<br />

Ereignisse leist<strong>et</strong>.<br />

Mit H.C. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> 2005 wer<strong>de</strong>n wir die<br />

Be<strong>de</strong>utung <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s mit einer langen<br />

Reihe an Ereignissen in <strong>de</strong>n klassischen<br />

Kunstarten wie auch in <strong>de</strong>n neuen Medien,<br />

in Theater, Musik, Tanz, Literatur, Spielfilm,<br />

Fernsehen, Animation, Ausbildungsformen,<br />

Das a<strong>de</strong>lige Jungfrauenkloster<br />

Konferenzen und im Intern<strong>et</strong> unterstreichen.<br />

Zeitgenössische Künstler aus allen<br />

Genres lassen sich von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Welt<br />

begeistern und beseelen. H.C. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

2005 wird ein breit angelegtes Ereignis<br />

sein, das für die ganz großen Produktionen<br />

und Initiativen ebenso Platz lässt<br />

wie für kleinere Veranstaltungen. Es wird<br />

Veranstaltungen geben, die ein breites<br />

Publikum ansprechen, und solche, die sich<br />

als eher marginale Produktionen an ganz<br />

bestimmte Zielgruppen richten. Natürlich<br />

wer<strong>de</strong>n sich zahlreiche Theaterhäuser,<br />

Museen, Orchester, Fernsehstationen und<br />

an<strong>de</strong>re Institutionen im Jubiläumsjahr<br />

konzentriert mit <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> beschäftigen.<br />

Hierüber hinaus wer<strong>de</strong>n aber auch Künstler<br />

außerhalb <strong>de</strong>r großen Institutionen<br />

mit <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> arbeiten.<br />

Ein Teil wird als inter<strong>nationale</strong> Co-Produktionen<br />

mit Beiträgen aus Kooperationspartnern<br />

in verschie<strong>de</strong>nen Län<strong>de</strong>rn realisiert.<br />

Es ist eine lange Reihe an Projekten mit<br />

<strong>de</strong>n interessantesten inter<strong>nationale</strong>n<br />

Theaterregisseuren, Komponisten, Choreographen<br />

usw. geplant. Eine Theatervorstellung<br />

wird zum Beispiel in ihrem …


… Heimatland China gezeigt, wonach sie<br />

durch eine Reihe von Großstädten in <strong>de</strong>r<br />

restlichen Welt tourt um schließlich – im<br />

Laufe <strong>de</strong>s Jahres 2005 – in Dänemark zu<br />

gastieren. Wir gehen davon aus, dass die<br />

ganze Welt an <strong>de</strong>n Feierlichkeiten b<strong>et</strong>eiligt<br />

wer<strong>de</strong>n soll. Nicht nur als passiver<br />

Empfänger eines offiziell verabschie<strong>de</strong>ten<br />

dänischen Blicks auf <strong>de</strong>n Dichter – wie<br />

1955 – son<strong>de</strong>rn als aktiv mitdichten<strong>de</strong> Teilnehmer,<br />

die einen vielfältigen Blick von<br />

Außen auf <strong>de</strong>n Dichter werfen. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

gehört <strong>de</strong>r ganzen Welt.<br />

Ein wesentliches Hin<strong>de</strong>rnis für <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

Anerkennung als Schriftsteller auch für<br />

Erwachsene sind die mangelhaften und<br />

häufig schlechten Übers<strong>et</strong>zungen, die bis<br />

heute in mehreren <strong>de</strong>r wichtigen Sprachen<br />

kursieren. Außer<strong>de</strong>m sind große Teile<br />

<strong>de</strong>s Gesamtwerks überhaupt noch nicht<br />

– zum Beispiel in das Englische – übers<strong>et</strong>zt<br />

wor<strong>de</strong>n. Es müssen bessere Übers<strong>et</strong>zungen<br />

angefertigt wer<strong>de</strong>n, wo es für<br />

notwendig eracht<strong>et</strong> wird. Auf Französisch<br />

gibt es eine ausgezeichn<strong>et</strong>e Auswahl<br />

an <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-Texten, gesammelt in <strong>de</strong>r<br />

Pleia<strong>de</strong>-Ausgabe <strong>de</strong>r Aka<strong>de</strong>mie. Sie zeigt<br />

die Spannbreite <strong>de</strong>s schriftstellerischen<br />

Schaffens und könnte als ausgezeichn<strong>et</strong>es<br />

Vorbild für ähnliche Herausgaben in<br />

an<strong>de</strong>ren Sprachen dienen.<br />

Die Kin<strong>de</strong>r dürfen aber auch nicht zu<br />

kurz kommen. Es ist eine Reihe an Unterrichtsprojekten<br />

in Kin<strong>de</strong>rgärten, Grundschulen<br />

und Gymnasien geplant. Wie<br />

wird zum Beispiel mit einem mo<strong>de</strong>rnen<br />

Bildungsbegriff in <strong>de</strong>n Schulen gearbeit<strong>et</strong>?<br />

Hier kann <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

als Ansatz für neue Wege innerhalb <strong>de</strong>r<br />

Pädagogik dienen. Es soll eine Reihe<br />

an Pilotprojekten in <strong>de</strong>n Ausbildungseinrichtungen<br />

in Gang ges<strong>et</strong>zt wer<strong>de</strong>n,<br />

zum Beispiel in Zusammenarbeit mit<br />

<strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong>rkulturrat.<br />

Kämpfte ein Leben lang mit seinen Ängsten: <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

Auch in <strong>de</strong>r Wissenschaft herrscht Bedarf<br />

an überraschen<strong>de</strong>n Neuinterpr<strong>et</strong>ationen<br />

von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>, die als augenöffnen<strong>de</strong> Analysen<br />

seines Gesamtwerks dienen können.<br />

Gerne geschrieben von Namen, die <strong>de</strong>n<br />

traditionellen, biographischen Zugang<br />

zum Werk brechen und die sich normalerweise<br />

nicht mit <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> beschäftigen.<br />

Im Intern<strong>et</strong> wird unter www.hca2005.com<br />

alles, was es wissenswertes über <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

gibt, in einem gemeinsamen Portal<br />

gesammelt. Hier wird man auch laufend<br />

über die vielen Ereignisse, die in Verbindung<br />

mit <strong>de</strong>m Jubiläum stattfin<strong>de</strong>n,<br />

erfahren. Die Homepage richt<strong>et</strong> sich an<br />

jene, die bloß allgemein daran interessiert<br />

sind, mehr über <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> zu erfahren,<br />

wie auch an Wissenschaftler, die durch<br />

die Homepage besseren Zugang zu <strong>de</strong>n<br />

Reliquien bekommen.<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> litt sein ganzes Leben lang an<br />

Schreckensvisionen. Er hatte zum Beispiel<br />

panische Angst vor Hun<strong>de</strong>n und vor<br />

Brän<strong>de</strong>n. Eine seiner schlimmsten Angstvorstellungen<br />

war, lebendig begraben<br />

zu wer<strong>de</strong>n. Deshalb legte er st<strong>et</strong>s einen<br />

Z<strong>et</strong>tel mit <strong>de</strong>n Worten „Ich bin nur scheintot”<br />

neben das B<strong>et</strong>t, wenn er sich schlafen<br />

legte. Hoffentlich wird H.C. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> 2005<br />

dazu beitragen, <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> aus <strong>de</strong>m mumifizieren<strong>de</strong>n<br />

Tiefschlaf, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Menschen<br />

und Dichter allzu lang umschlossen hat,<br />

zu befreien. Er soll gekannt und geschätzt<br />

wer<strong>de</strong>n als das, was er ist: ein Dichter in<br />

voller Figur. Aus Fleisch und Blut.<br />

Lars Seeberg<br />

„Das war doch ein neuer Schluss bei <strong>de</strong>r<br />

Geschichte”, sagte <strong>de</strong>r Storchvater. „Den<br />

hätte ich nie und nimmer erwart<strong>et</strong>, aber er<br />

gefällt mir ganz gut.“<br />

(Aus <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Märchen<br />

„Moorkönigs Tochter“)<br />

Lars Seeberg ist Generalsekr<strong>et</strong>är von H.C.<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> 2005. Der vorliegen<strong>de</strong> Artikel ist<br />

eine gekürzte und aktualisierte Ausgabe<br />

eines Beitrags, <strong>de</strong>r erstmals am 2. November<br />

2001 in <strong>de</strong>r dänischen Tageszeitung<br />

Politiken erschienen ist.<br />

LUXEMBOURG 2005 | MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE 11<br />

foto: have pr<br />

foto: hca 2005


Regenbogen auf dunkler Wolke<br />

o<strong>de</strong>r janusköpfiger Narziss o<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r noch mehr<br />

Bemerkungen und Rezensionen – von Heinz Günnewig<br />

Janus war <strong>de</strong>r römische Gott <strong>de</strong>r Tür, <strong>de</strong>r<br />

mit <strong>de</strong>m zweigesichtigen Kopf vorwärts<br />

und rückwärts blicken konnte, <strong>de</strong>m Ausgang<br />

und Eingang zur gleichen Zeit zur<br />

Verfügung stan<strong>de</strong>n. In „Christines Bil<strong>de</strong>rbuch“,<br />

einem von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> phantasievoll<br />

collagierten, einmaligen Bil<strong>de</strong>rbuch lässt<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> ein achtbeiniges Krebstier auftr<strong>et</strong>en<br />

mit drei Gesichtern, von <strong>de</strong>nen<br />

zwei männlicher Physiognomie zuzurechnen<br />

sind.<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>, <strong>de</strong>r sich oft<br />

genug im Spiegel b<strong>et</strong>racht<strong>et</strong>e, war bis<br />

in die Jahre, in <strong>de</strong>r nach und nach seine<br />

Märchen entstan<strong>de</strong>n, ein oftmals lästiger<br />

Unruhestifter für an<strong>de</strong>re und ein ruheloser<br />

„Zurechtbieger“ 1 seines Schicksals.<br />

Obwohl in seiner Autobiographie 2 die<br />

Bemerkungen zu <strong>de</strong>n Märchen sehr rar<br />

sind und von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> gera<strong>de</strong>zu randständig<br />

abgehan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, scheint<br />

mir sein Seelenleben, während er mehr<br />

und mehr Märchen verfasst, mit erheblich<br />

weniger hektischen Ausschlägen<br />

belast<strong>et</strong> zu sein. Die ruhigere, gera<strong>de</strong>zu<br />

verweilen<strong>de</strong> Diktion seiner Erlebnisse<br />

(Freundschaften, Reisen) und B<strong>et</strong>rachtungen<br />

(Städte, Landschaften) beginnt<br />

m. E. schon vor seiner zweiten Reise nach<br />

Italien – vor 1840. Bis in diese Zeit hinein,<br />

war <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> ein gera<strong>de</strong>zu Besessener,<br />

seine Lebensrealität mit seiner Sehnsucht<br />

ein anerkannter Großer zu wer<strong>de</strong>n in Einklang<br />

zu bringen.<br />

1835 erschien sein erstes Märchenheft<br />

mit 4 Märchen:<br />

- Das Feuerzeug<br />

- Der kleine und <strong>de</strong>r große Klaus<br />

- Die Prinzessin auf <strong>de</strong>r Erbse<br />

- Die Blumen <strong>de</strong>r kleinen Ida<br />

Und heutzutage weiß man von 156 Märchen<br />

zu berichten, die in über 120 Sprachen<br />

übers<strong>et</strong>zt wur<strong>de</strong>n und Szenarien bereit<br />

halten, an <strong>de</strong>nen sich die ganz großen<br />

Illustratoren wie Vilhelm Re<strong>de</strong>sen, Ludwig<br />

Richter, Otto Speckter, Elsa Beskow, Alfred<br />

Kubin, Olaf Gulbransson, Maurice Sendak,<br />

Tomi Ungerer, Gerhard Oberlän<strong>de</strong>r, Lisb<strong>et</strong>h<br />

Zwerger und neuerdings Joel Stewart und<br />

Nikolaus Hei<strong>de</strong>lbach vergnügten. Es gibt<br />

12 MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE | LUXEMBOURG 2005<br />

Opern (Strawinsky), Ball<strong>et</strong>t und viele<br />

Verfilmungen (Renoir, Capote), von <strong>de</strong>nen<br />

Arielle, The little Mermaid o<strong>de</strong>r The little<br />

Matchgirl als Zeichentrickfilme seit zig-<br />

Jahren <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn ins Gehirn flimmern.<br />

Und hochaktuell hat Frank Castorf an <strong>de</strong>r<br />

Berliner Volksbühne einen dreistündigen<br />

Klamauk inszeniert, sich durch einige<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> Märchen hindurchgefressen,<br />

um die Unfähigkeit zu zeigen, ein Leben<br />

Illustration vom Cover <strong>de</strong>s Hörspiels<br />

„Die Prinzessin auf <strong>de</strong>r Erbse“ (Jumbo Verlag)<br />

zu führen. Ob mit <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> so gna<strong>de</strong>nlos<br />

verfahren wer<strong>de</strong>n darf? Auch Salvador<br />

Dali fand Gefallen an <strong>de</strong>n „roten Schuhen“<br />

und die neueste H&M-Ikone, <strong>de</strong>r sehr<br />

dünne Karl Lagerfeld, <strong>de</strong>signte ebenfalls<br />

an <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Märchen herum.<br />

Zunächst (1835) als „Märchen, erzählt<br />

für Kin<strong>de</strong>r“ übertitelt, entfiel schon<br />

1843 mit <strong>de</strong>m siebenten Märchenheft<br />

die Adressierung an Kin<strong>de</strong>r: „Ich hatte<br />

meine kleinen Erzählungen ganz in <strong>de</strong>r<br />

Sprache, mit <strong>de</strong>n Ausdrücken zu Papier<br />

gebracht, mit <strong>de</strong>nen ich sie <strong>de</strong>n Kleinen<br />

selbst mündlich erzählt hatte, und war<br />

zu <strong>de</strong>r Erkenntnis gekommen, dass die<br />

verschie<strong>de</strong>nsten Altersklassen darauf<br />

eingingen; die Kin<strong>de</strong>r hatten ihren größten<br />

Spaß an <strong>de</strong>m, was ich die Staffage nennen<br />

möchte, die Älteren interessierten sich<br />

dagegen für die tiefere I<strong>de</strong>e“; <strong>de</strong>rgestalt<br />

wollte <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> vermei<strong>de</strong>n, ausschließlich<br />

als Kin<strong>de</strong>rautor angesehen zu wer<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>nn seine Sehnsucht nach Anerkennung<br />

und Ruhm und sein Ehrgeiz, ein Hochgeacht<strong>et</strong>er<br />

zu wer<strong>de</strong>n, waren schon<br />

sehr früh hochwirksame psychische<br />

Antriebskräfte. Solch starke Bewegungen<br />

hatten sehr früh ihren Ursprung in einer<br />

armseligen Kindheit und wenig später in<br />

Erfahrungen, nicht zu <strong>de</strong>n Schönsten im<br />

Lan<strong>de</strong> Dänemark zu gehören. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

stammte aus ärmlichsten Verhältnissen.<br />

Sein Vater, ein Flickschuster, erzählte ihm<br />

Geschichten aus 1001 Nacht, die Märchen<br />

<strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r Grimm und las ihm aus Holbergs<br />

Komödien vor, war jedoch ein Träumer, <strong>de</strong>r<br />

sich als Freiwilliger für Napoleons Kriege<br />

mel<strong>de</strong>te und als gebrochener Mann daraus<br />

zurückkehrte. Als <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> 11 Jahre alt war,<br />

starb <strong>de</strong>r Vater. Die Mutter wird in manchen<br />

Biografien schnell als alkoholkrank<br />

abgemel<strong>de</strong>t und soll <strong>de</strong>mzufolge für die<br />

Entwicklung <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s keine berauschen<strong>de</strong><br />

Rolle gespielt haben. Auch <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

belässt es in seinen Ausführungen im<br />

Harmonischen, sein tatsächliches Verhalten<br />

ist jedoch von einer immer größer<br />

wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Distanzierung bis hin zur Nichtmehr-Beachtung<br />

gekennzeichn<strong>et</strong>. Es sollte<br />

zumin<strong>de</strong>st wahrgenommen wer<strong>de</strong>n, dass<br />

auch die Mutter für <strong>de</strong>n Bevölkerungsreichtum<br />

in <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Kopf das ihrige<br />

g<strong>et</strong>an hat, als sie, die abergläubische Frau,<br />

<strong>de</strong>m aufmerksamen Geschichtensammler<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> von Elfen, Alraunen,<br />

Nymphen, Irrlichtern, Lindwürmern, Hexen<br />

und Kobol<strong>de</strong>n erzählte. Als die Mutter 1833<br />

im Delirium tremens in einem Armenstift<br />

stirbt, lamentiert <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> in Rom, dass<br />

er nun „allein“ da steht. So wie er seine<br />

sechs Jahre ältere Halbschwester Karen<br />

Marie verschweigt, so hält er alle harten<br />

Unliebsamkeiten aus seinem Lebens-<br />

Märchen heraus. Was wirklich geschah,<br />

kann eher aus seinen Romanen „Der<br />

Improvisator“, „O.Z.“, „Der Spielmann“ und<br />

„Der Zwerg <strong>Christian</strong>s <strong>de</strong>s Zweiten“ erlesen<br />

und erkannt wer<strong>de</strong>n. Die Tante b<strong>et</strong>rieb<br />

ein Bor<strong>de</strong>ll, so dass noch die Großmutter, …


… die mehrere Kin<strong>de</strong>r von verschie<strong>de</strong>nen<br />

Männern zur Welt gebracht hatte, als<br />

Haltepunkt für <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> vorhan<strong>de</strong>n war.<br />

Doch die hatte wie<strong>de</strong>rum einen geistesschwachen<br />

Mann zu versorgen, <strong>de</strong>r in<br />

O<strong>de</strong>nse die johlen<strong>de</strong>n Straßenkin<strong>de</strong>r mit<br />

selbstgeschnitzten Holzfiguren versorgte.<br />

Die Angst <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s, verrückt zu wer<strong>de</strong>n<br />

wie <strong>de</strong>r Großvater, ließ ihm ein Leben lang<br />

keine Ruhe. In seinem Umfeld herrschte<br />

bittere Armut, moralische Normen galten<br />

nicht, Promiskuität wur<strong>de</strong> wie selbstverständlich<br />

gehandhabt. Mit <strong>de</strong>m Bild von<br />

<strong>de</strong>r „Sumpfpflanze“, wie sich <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

einmal selbst bezeichn<strong>et</strong>e, hat er selbst<br />

auf eindringliche Weise seine elen<strong>de</strong> und<br />

gestörte Ausgangslage charakterisiert und<br />

gleichzeitig ange<strong>de</strong>ut<strong>et</strong>, dass auch solch<br />

eine Pflanze aus Moor und Schlamm herauswächst.<br />

Inwieweit seine unglücklichen<br />

Liebesbeziehungen u. a. zu Louise Collin,<br />

<strong>de</strong>r Tochter seines frühen und nimmermü<strong>de</strong>n<br />

För<strong>de</strong>rers Jonas Collin, und vor<br />

allem zur schwedischen Sängerin Jenny<br />

Lind sich aus <strong>de</strong>n kindlichen Personenbeeinflussungen<br />

herleiten lassen, muss<br />

vorläufig <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r Spekulation<br />

überlassen bleiben.<br />

Am 2. April 1805 in O<strong>de</strong>nse geboren, wuchs<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> zwar in materiell<br />

ärmlichen Verhältnissen auf, jedoch<br />

– schreibt <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> selbst – hätte er keinen<br />

Begriff von Entbehrung o<strong>de</strong>r Mangel<br />

gehabt und wenigstens alles reichlich<br />

bekommen. Seine Eltern waren gar nicht<br />

so übel, <strong>de</strong>nn das einzige Kind „wur<strong>de</strong><br />

in hohem Gra<strong>de</strong> verzogen“. Ein vorlesen<strong>de</strong>r<br />

und scherenschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Vater und<br />

eine Mutter, die die Zimmer „rein und<br />

sauber hielt“ und dafür sorgte, dass das<br />

B<strong>et</strong>tzeug und die Fenstervorhänge immer<br />

recht weiß waren, wür<strong>de</strong>n heutzutage<br />

manchem Kind gut tun. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> war ein<br />

Stubenhocker, <strong>de</strong>ssen größtes Vergnügen<br />

war, Puppenklei<strong>de</strong>r zu nähen, mit Puppen<br />

zu tän<strong>de</strong>ln und Komödien in einem<br />

Kau<strong>de</strong>rwelsch-Deutsch zu spielen und<br />

sich selbstgeflochtene Blumenkränze auf<br />

<strong>de</strong>n Kopf zu s<strong>et</strong>zen. So ganz einsam war<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> jedoch nicht: „Nur mit kleinen<br />

Mädchen war ich gern zusammen. Ich<br />

erinnere mich noch an einen hübsche<br />

Kleine von <strong>et</strong>wa acht Jahren, die mich<br />

küsste und mir sagte, sie wolle meine<br />

Liebste sein. Das gefiel mir, und ich ließ es<br />

st<strong>et</strong>s zu, dass sie mich küsste, tat es jedoch<br />

niemals selbst …“ schreibt <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> in<br />

seinem Lebensbuch. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Mutter<br />

heirat<strong>et</strong>e nach <strong>de</strong>m Tod <strong>de</strong>s Vaters einen<br />

„jungen stillen Mann“, <strong>de</strong>r sich nicht in<br />

die Erziehung von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> einmischte,<br />

so dass <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> weiterhin sein „größtes<br />

Glück“ hatte, wenn er seine Lappen<br />

sammelte, Puppentheater spielte – und<br />

sich herumtrieb, bis die Mutter ihn<br />

auf eine Armenschule schickte. Als die<br />

Mutter ihn dann in eine Schnei<strong>de</strong>rlehre<br />

geben wollte, kam <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> „ein völlig<br />

unerklärlicher Trieb“ nach Kopenhagen<br />

zu reisen. Und da auch noch eine „alte<br />

so genannte kluge Frau“ seiner Mutter<br />

sein künftiges Schicksal als großen<br />

Mann prophezeite, brach <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> nach<br />

Kopenhagen auf.<br />

Als <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> mit 14 Jahren seiner Geburtsstadt<br />

O<strong>de</strong>nse <strong>de</strong>n Rücken kehrt und<br />

am 6. September 1819 mit kleinem Bün<strong>de</strong>l<br />

in <strong>de</strong>r Hauptstadt ankommt, ahnt er<br />

wohl kaum, wie grell und verwirrend sich<br />

ihm eine an<strong>de</strong>re Welt zeigt. Mit 120000<br />

Einwohnern bis an die Schanzwälle<br />

randvoll und mit 3000 Pfer<strong>de</strong>n, 1500<br />

Kühen, 700 Schweinen und unzähligen<br />

Hun<strong>de</strong>n, Katzen und Ratten bevölkert, mit<br />

<strong>de</strong>n „schönen Türmen“, <strong>de</strong>r Universität,<br />

<strong>de</strong>r Börse, <strong>de</strong>m Königlichen Theater, <strong>de</strong>m<br />

Observatorium, <strong>de</strong>n königlichen Schlössern<br />

und Gärten, <strong>de</strong>n Kirchen, <strong>de</strong>m quirligen<br />

Hafen, <strong>de</strong>n Seeleuten und <strong>de</strong>n Huren,<br />

muss Kopenhagen, trotz wirtschaftlichem<br />

Nie<strong>de</strong>rgang, katastrophalen hygienischen<br />

Verhältnissen und spannungsgela<strong>de</strong>nem<br />

sozialem Gefälle, auf <strong>de</strong>n 14jährigen in ihrer<br />

Unübersichtlichkeit eine erschrecken<strong>de</strong><br />

Wirkung und hinreißen<strong>de</strong> Anziehungskraft<br />

ausgeübt haben.<br />

Für <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> beginnt nun eine Zeit<br />

<strong>de</strong>s st<strong>et</strong>igen Wechsels. Das Gasthaus<br />

„Gar<strong>de</strong>rgaar<strong>de</strong>n“ war seine erste beschei<strong>de</strong>ne<br />

Bleibe, aber geblieben wur<strong>de</strong> in<br />

keiner seinen unzählbaren Wohnungen in<br />

Holmensga<strong>de</strong>, Dybensga<strong>de</strong>, Vingårdstrae<strong>de</strong>,<br />

im Hotel du Nord, Hotel d’Angl<strong>et</strong>erre,<br />

im Kaffeehaus Stefan à Porta o<strong>de</strong>r in<br />

<strong>de</strong>n Straßen von Nyhavn, wo ein Umzug<br />

nur ein paar M<strong>et</strong>er in Anspruch nahm.<br />

Illustration vom Cover <strong>de</strong>s Hörspiels „Die Eiskönigin“ (Jumbo Verlag)<br />

Wie eine Spinne ihr N<strong>et</strong>z auslegt, so zog<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> im Umkreis von 500 m seine Kreise<br />

mit zeitweiligem Nestaufenthalt, so dass<br />

dieses Vagabundieren ihm erlaubte, erst im<br />

61. Lebensjahr ein eigenes B<strong>et</strong>t zu kaufen<br />

– auch noch unwillig und gezwungen.<br />

Verwun<strong>de</strong>rlich(!) und anerkennenswert(?)<br />

war auch seine gera<strong>de</strong>zu geniale Gabe,<br />

auf sich aufmerksam zu machen, um dann<br />

auch bei begüterten Familien mitzutafeln<br />

und von reichen Gönnern entsprechen<strong>de</strong><br />

finanzielle Zuwendungen zu erhalten.<br />

Schon als 15jähriger manövrierte er sich<br />

mit einer Mischung von Unbeholfenheit<br />

und Überrumpelung in die Häuser <strong>de</strong>r<br />

angesehenen Familien hinein, <strong>de</strong>klamierte<br />

sein Gedicht, spielte eine Szene und<br />

beschloss <strong>de</strong>n theatralischen Auftritt mit …<br />

LUXEMBOURG 2005 | MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE 13


…<br />

einer Verbeugung. Sein Gespür für weiche<br />

Herzen war ausgeprägt und die Damen<br />

fan<strong>de</strong>n seine naiv-unbeholfene Art so<br />

rührend, dass die Herren <strong>de</strong>r Häuser <strong>de</strong>n<br />

Teller kreisen ließen und <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> – wie<br />

z.B. beim Singmeister Siboni – mit 80<br />

Reichstaler wie<strong>de</strong>r weiterzog. Hinter <strong>de</strong>r<br />

vorgehaltenen Hand mokierte sich die<br />

feine Gesellschaft über sein „ekelhaftstörrisches<br />

Verhalten“, aber <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>, <strong>de</strong>r<br />

schon sehr jung ein feines Gespür für die<br />

Labyrinthe <strong>de</strong>r Macht hatte, wusste bei<br />

wem er hingebungsvoll antichambrieren<br />

musste – bis er erreichte, wozu er sich<br />

geboren fühlte.<br />

Neben <strong>de</strong>r Kaufmannsfamilie Collin war es<br />

H.C. Ørstedt, <strong>de</strong>r Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Elektromagn<strong>et</strong>ismus,<br />

<strong>de</strong>r schon 1820 die geniale<br />

Ausstattung <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s erkannte und ihm<br />

über Jahrzehnte ein verlässlicher För<strong>de</strong>rer<br />

blieb – intellektuell und finanziell. Der<br />

Vielleser <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> fand im Hause Ørstedt<br />

eine vorzügliche Bibliothek, aus <strong>de</strong>r er<br />

1829 für sein „Philologicum“ und „Philosophicum“<br />

an <strong>de</strong>r Universität Kopenhagen<br />

ausgiebig profitierte. Von H.C. Ørstedt<br />

stammt die frühe Sentenz, dass <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

mit seinen Märchen unsterblich wer<strong>de</strong>n<br />

wür<strong>de</strong>. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> selbst fand sich – wie<br />

könnte es an<strong>de</strong>rs sein – schon in jungen<br />

Jahren hinreißend. „Meine ganz son<strong>de</strong>rbare<br />

Persönlichkeit erregte ihr Interesse“ – da<br />

war <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> gera<strong>de</strong> Mal 30 und mit „ihr“<br />

meinte er „die vornehmen Familien“. Und<br />

als er mit 33 in <strong>de</strong>n Spiegel schaut, im eleganten<br />

Wintermantel, da fin<strong>de</strong>t <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

sich „richtig schön. Der Dichter ist ja gar<br />

nicht hässlich, sagen die Damen, und zwar<br />

feine Damen. Sie stoßen einan<strong>de</strong>r an und<br />

machen Augen.“<br />

Das konnte <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>, und er konnte auch<br />

nicht an<strong>de</strong>rs: Er war <strong>de</strong>r schüchterne<br />

– verschämte Liebhaber – wie z.B. bei<br />

Riborg Voigt o<strong>de</strong>r Jenny Lind – <strong>de</strong>r das<br />

Lieb-Haben auch spielen konnte und kunstvoll<br />

in Verse einwickelte – und zwar so – als<br />

ob er wollte, aber dann doch – unglücklicherweise<br />

– zurückstand, verzicht<strong>et</strong>e, für<br />

Höheres. Er war ein außeror<strong>de</strong>ntlich lei<strong>de</strong>nschaftlicher,<br />

beharrlicher, platonischer<br />

Liebhaber. Ob tatsächlich „<strong>de</strong>r Verlust <strong>de</strong>r<br />

mütterlichen Fürsorge die alleinige, tiefe<br />

Ursachen war zu seiner nicht ausgelebten<br />

sexuellen Ambivalenz, sowie seiner<br />

lebenslangen Unfähigkeit, sich Frauen<br />

gegenüber zu öffnen“ die ihn faszinierten,<br />

dazu ist noch mehr zu recherchieren, um<br />

die „verklebten Blätter im Tagebuch seines<br />

Herzens“ vorsichtig voneinan<strong>de</strong>r zu lösen<br />

und dann zu lesen.<br />

14 MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE | LUXEMBOURG 2005<br />

Einziehen und Ausziehen (Wohnungen),<br />

am Montag hier, am Freitag dort einkehren,<br />

dazwischen an drei Tagen im Park ein Brot<br />

essen, das brauchte <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> und das reichte<br />

ihm auch. Es begann bei <strong>de</strong>r „reichen Witwe<br />

Blügel“, s<strong>et</strong>zte sich fort bei weiteren „anständigen<br />

Witwen“, „vornehmen Familien“ und<br />

im Laufe <strong>de</strong>r Zeit häufig bei angesehenen<br />

Persönlichkeiten, Fürsten, Herzögen, Grafen,<br />

Königen. Um von solchen einflussreichen<br />

Kreisen wahr- und aufgenommen zu wer<strong>de</strong>n,<br />

bedurfte es einer enormen Seelen-Mischung<br />

an Zähigkeit, Erregung von Mitleid, Naivität,<br />

einer gehörigen Portion Unverschämtheit,<br />

Eitelkeit und inszenierter Selbstdarstellung.<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> ließ in seinem Bestreben kulturell<br />

Be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s zu wer<strong>de</strong>n nicht locker;<br />

seine Versuche als Schauspieler, Sänger,<br />

Tänzer o<strong>de</strong>r Bibliothekar zu reussieren,<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> liess in seinem Bestreben<br />

kulturell Be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s zu wer<strong>de</strong>n nicht<br />

locker; seine Versuche als Schauspieler,<br />

Sänger, Tänzer o<strong>de</strong>r Bibliothekar zu<br />

reussieren, mit Empfehlungsschreiben<br />

bekannter Stadtpersonen unterstützt,<br />

sind <strong>de</strong>n Anstrengungen eines Marathon-<br />

läufers ebenbürtig.<br />

mit Empfehlungsschreiben bekannter<br />

Stadtpersonen unterstützt, sind <strong>de</strong>n<br />

Anstrengungen eines Marathonläufers<br />

ebenbürtig. Immer wie<strong>de</strong>r versuchte er<br />

seine Gedichte und dramatischen Stücke<br />

ins Publikum zu tragen. Und immer wie<strong>de</strong>r<br />

musste er erfahren und erlei<strong>de</strong>n, wie<br />

abhängig er war und wie die Ablehnung,<br />

wenn wie<strong>de</strong>r ein Stück verworfen wur<strong>de</strong>,<br />

ihn fast zur Verzweiflung trieb. Fast<br />

– <strong>de</strong>nn dass die an<strong>de</strong>ren mit ihren Kritiken<br />

danebenlagen, daran ließ <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> mit<br />

bissigen Bemerkungen keinen Zweifel.<br />

Kierkegaard machte sich lustig über ihn,<br />

Heiberg überzog ihn mit Kritik, um <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

später dann doch zu verstehen. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

beacht<strong>et</strong>e je<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>druck, erinnerte<br />

sich je<strong>de</strong>r Bemerkung, registrierte, wer ihm<br />

die Tür öffn<strong>et</strong>e (das Dienstmädchen o<strong>de</strong>r<br />

Chamisso selbst, spähte(!) umher, ob sich<br />

nicht Missgünstiges auf <strong>de</strong>n Gesichtern <strong>de</strong>r<br />

Anwesen<strong>de</strong>n abzeichn<strong>et</strong>e. Sein Narzissmus<br />

zeigte sich auch, wenn er festzuhalten<br />

glaubte, dass ihm laute Anerkennung<br />

und <strong>de</strong>r „jubelndste Beifall entgegenscholl;“<br />

o<strong>de</strong>r er das Lob <strong>de</strong>s Dichterkollegen Hauch<br />

zitierte: „Die Hauptsache in <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

besten und am meisten durchgearbeit<strong>et</strong>en<br />

Schriften in <strong>de</strong>nen, worin die reichste<br />

Phantasie, das tiefste Gefühl, die bewegteste<br />

Dichterseele hervortritt, ist ein<br />

Talent o<strong>de</strong>r wenigstens eine edlere Natur,<br />

die sich aus knapper und drücken<strong>de</strong>r Lage<br />

hervorkämpfen will.“<br />

Reich, tief, bewegt – solche Qualifizierungen<br />

reichten nicht – reichste, tiefste,<br />

bewegteste, das waren <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> genehme<br />

Superlative. So wie sich <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> von<br />

einer Wohnung in die an<strong>de</strong>re hangelte,<br />

von reichen Witwen zu vornehmen Familien<br />

durchbiss, so bewies er auch sein<br />

Stehvermögen bei seinen künstlerischen<br />

Versuchen als Sänger, Schauspieler und<br />

Tänzer, bei <strong>de</strong>nen er die Erfahrung von<br />

Verzweiflung und Abhängigkeit oftmals<br />

durchlei<strong>de</strong>n musste. Sein Gesamtkörper<br />

kam <strong>de</strong>n Schönheitsi<strong>de</strong>alen damaliger Zeit<br />

wohl nicht sehr nahe. Da <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> ein<br />

außergewöhnlich hellsichtiger Selbstb<strong>et</strong>rachter<br />

war, was aus seinen Tagebüchern<br />

zu erkennen ist, sah er im Spiegel einen<br />

jungen Mann, <strong>de</strong>r keinen beson<strong>de</strong>rs<br />

anziehen<strong>de</strong>n Eindruck auf seine Mitmenschen<br />

ausübte und es blieb ihm, als<br />

beson<strong>de</strong>rs hellhörigem Zeitgenossen,<br />

nicht verborgen, wie hochnäsig und mit<br />

welch gehässiger Scha<strong>de</strong>nfreu<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n<br />

Kreisen, in die er sich vorwagte, über<br />

ihn gesprochen wur<strong>de</strong>. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> war<br />

ausgesprochen dünn, hochaufgeschossen<br />

mir sehr großen Hän<strong>de</strong>n und Füßen, die<br />

Arme baumelten ihm um <strong>de</strong>n Körper und<br />

seine Bewegungen kamen <strong>de</strong>nen eines<br />

hüpfen<strong>de</strong>n Kranichs nahe. Den traurig,<br />

ironischen Gesichtsausdruck prägte in herausragen<strong>de</strong>r<br />

Weise eine große Adlernase.<br />

Dass solch ein hässliches Entlein mit einem<br />

langen Schwanenhals und geblähten<br />

Nasenhöhlen sich flügelschlagend über<br />

an<strong>de</strong>re erheben wollte, zeigt eine bissige<br />

Karikatur <strong>de</strong>s polnischen Malers Andrzej<br />

Ploski.<br />

Friedrich Hebbel beschrieb in seinem Tagebuch<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> als eine „lange, schlotterige,<br />

lemurenhaft eingeknickte Gestalt mit<br />

einem ausnehmend hässlichen Gesicht.“<br />

Noch grausamer bezeichn<strong>et</strong>e ihn die britische<br />

Autorin Elizab<strong>et</strong>h Rigby als einen<br />

langen, mageren, fleischlosen Mann mit<br />

einem hohlwangigen, kadaverartigen<br />

Gesicht, <strong>de</strong>r sich wand und buckelte wie<br />

eine Ei<strong>de</strong>chse. Die Kränkungen, die <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

einsammelte, trieben ihn in manche<br />

Depression und Verzagtheit, diese Qualen<br />

und sein gera<strong>de</strong>zu halsbrecherischer<br />

Ehrgeiz trieben ihn aber in eine geniale<br />

Bewältigung durch Schreiben. Nur zwölf<br />

Märchen gingen auf Vorlagen zurück, 144<br />

waren <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Erfindungen, und schon …


… sein erstes Märchen „Das Feuerzeug“<br />

spiegelte sein immerkehren<strong>de</strong>s Leitmotiv<br />

<strong>de</strong>r Befreiung aus armseligen Zustän<strong>de</strong>n.<br />

Obwohl <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> seinen märchenhaften<br />

Aufstieg auf die Höfe von Herzögen und<br />

Fürsten und an die Tafel <strong>de</strong>s Königs, nicht<br />

frei von Eitelkeit, genoss, blieben seine<br />

Selbstzweifel und seine Unsicherheiten<br />

ins kulturelle Niveau <strong>de</strong>s Bürgertums zu<br />

passen. Um von <strong>de</strong>n oberen Gesellschaftsschichten<br />

anerkannt zu wer<strong>de</strong>n, griff er zu<br />

bizarren Selbstinszenierungen, wenn er<br />

mit seiner zweifelsohne schönen Stimme<br />

die Zuhörer brillant unterhielt und mit <strong>de</strong>r<br />

spitzen Zunge <strong>de</strong>s Schelmenhumors in<br />

seinen Bann zog. Solche Aufdringlichkeiten<br />

brauchte er nicht, wenn er seine<br />

Märchen Kin<strong>de</strong>rn erzählte; <strong>de</strong>nn seine<br />

immense Begabung anschaulich in<br />

Szenen von reliefartigem Zuschnitt<br />

eine einfangen<strong>de</strong> Atmosphäre<br />

entstehen zu lassen, ebn<strong>et</strong>e je<strong>de</strong><br />

soziale Abgrenzung ein. In solchen<br />

Situationen wur<strong>de</strong> sein Harmoniebedürfnis<br />

gestillt und sein Hang zu<br />

Sentimentalität nicht durch spöttische<br />

Bemerkungen <strong>de</strong>r Erwachsenen<br />

g<strong>et</strong>rübt.<br />

Neben diesem, von ihm<br />

so benannten „Kin<strong>de</strong>rsinn“,<br />

<strong>de</strong>n ihm alle<br />

Biographen attestieren,<br />

wird seine Fähigkeit<br />

brisante soziale<br />

Probleme in seinen<br />

Märchen aufzuzeigen als<br />

nur halbherzig und vorsichtig<br />

qualifiziert. Hier scheint mir angeraten,<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> mehrfach und genau zu lesen,<br />

um in <strong>de</strong>n eingestreuten Ironien die<br />

harten(!) Hiebe auf die Missstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Zeit ent<strong>de</strong>cken zu lernen. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> war<br />

<strong>de</strong>r Reisen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Von<br />

Kopenhagen bis Konstantinopel, Venedig,<br />

Rom, Paris, Neapel, Berlin, nach Portugal,<br />

Schottland, England u.a.m. und ganz<br />

beson<strong>de</strong>rs im magischen Dreieck: Dres<strong>de</strong>n<br />

– Leipzig – Weimar war er mit Eisenbahn,<br />

Diligence (Postwagen), V<strong>et</strong>turin (Kutsche)<br />

und jungen Männern unterwegs. Die<br />

Eindrücke von <strong>de</strong>n Landschaften und<br />

<strong>de</strong>m quirligen Stadtleben waren für <strong>de</strong>n<br />

sensiblen Dänen eine Quelle für seine<br />

Inspirationen, und die Bekanntschaften<br />

mit <strong>de</strong>n jungen Männern eine Erfahrung,<br />

dass seine Lei<strong>de</strong>nschaft nie über Platons<br />

Schlucht hinüber springen wür<strong>de</strong>. Auch<br />

sein oft kolportierter Bor<strong>de</strong>llbesuch in<br />

Paris, bei <strong>de</strong>m er nach Entrichtung von<br />

5 Francs die erstaunte Frau und das<br />

Etablissement wie<strong>de</strong>r verließ, kann nur<br />

zwinkern<strong>de</strong> Voyeure befriedigen. Tatsache<br />

war, dass <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> viermal zwischen 1866<br />

bis 1868 ein Bor<strong>de</strong>ll besuchte – und auch<br />

mehr zahlte, als beim ersten Mal. Ging<br />

es <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> um „sinnliches Beschauen“,<br />

um die Grenzen seiner Sexualität, um ein<br />

Gelüb<strong>de</strong> auf die Probe zu stellen, um Erinnerungen<br />

an <strong>de</strong>n eigenen Familienclan<br />

mütterlicherseits an <strong>de</strong>n Lebensgeschichten<br />

<strong>de</strong>r käuflichen Frauen glatt zu bügeln?<br />

Die Neugier <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s war halt wie die<br />

eines Kin<strong>de</strong>s – umfassend und unstillbar.<br />

„Er war nicht nur das Werkzeug seiner<br />

Triebe und Verdrängungen, son<strong>de</strong>rn<br />

auch ein Künstler,<br />

Illustration vom Cover <strong>de</strong>s Hörspiels<br />

„Die Prinzessin auf <strong>de</strong>r Erbse“ . (Deutsche Grammophon)<br />

<strong>de</strong>r mit seiner Kunst <strong>et</strong>was erreichen<br />

und bewirken wollte – und <strong>de</strong>r in seinen<br />

Beschreibungen ein großes psychologisches<br />

Gespür entwickelte“ – so nimmt<br />

Johan <strong>de</strong> Mylius seinen <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> gera<strong>de</strong>zu<br />

in Schutz.<br />

Auf seinen Reisen machte <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> die<br />

Bekanntschaft be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Komponisten,<br />

u.a. Robert Schumann, Giacomo Meyerbeer,<br />

Felix Men<strong>de</strong>lssohn Bartholdy, Richard<br />

Wagner, Franz Liszt.<br />

In vielen Werken <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> lässt sich seine<br />

tiefe Zuneigung zur Musik erkennen.<br />

Beson<strong>de</strong>rs Franz Liszt mit seiner lei<strong>de</strong>nschaftlichen,<br />

wuchtigen und zärtlichen<br />

Art zu spielen, war für <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> „wie ein<br />

Teufel …, <strong>de</strong>r seine Seele freispielen wollte“.<br />

Ebenso fasziniert war <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> vom<br />

Zauberbann Liszts auf Frauen. Mit seinen<br />

neunundzwanzig Auslandsreisen und<br />

<strong>de</strong>n damit verknüpften Bekanntschaften<br />

(Dickens, Hugo, Balzac, Heine u.a.m.), seinen<br />

häufigen Ortswechseln, die oftmals mit<br />

seinen Lebens- und To<strong>de</strong>sängsten in Verbindung<br />

gebracht wur<strong>de</strong>n, entwickelte<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> auch einen scharfen Blick für<br />

soziale und politische Situationen, die<br />

er dank seiner kraftvollen Imagination<br />

manchmal nur verschmitzt und oftmals<br />

gera<strong>de</strong>zu satirisch bis sarkastisch zugespitzt<br />

in seine Märchen hinein gleiten ließ.<br />

Sein nomadisches Leben, auch die<br />

Begegnungen mit <strong>de</strong>n Dichtern<br />

<strong>de</strong>r Romantik Ludwig Tieck o<strong>de</strong>r<br />

A<strong>de</strong>lbert von Chamisso und die<br />

Freundschaft mit <strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>rn<br />

Grimm, beflügelte ihn zu aufschlussreichen<br />

Tagebuchnotizen<br />

und bemerkenswerten Schil<strong>de</strong>rungen<br />

und Reisebüchern. Obwohl<br />

seine Devise „Reisen heißt leben“<br />

hieß, schleppte er – zur Sicherheit<br />

– immer ein Tau mit, um sich damit<br />

rechtzeitig aus <strong>de</strong>n Unterkünften<br />

abseilen zu können. Es hätte ja<br />

mal brennen können. Zu dieser Sorge<br />

hatte er am wenigsten Anlass, wenn<br />

er auf <strong>de</strong>n Schlössern, Rittergütern und<br />

Herrenhöfen einkehrte, wo ihm Lakai,<br />

Kutsche und Zimmer zur Verfügung<br />

gestellt wur<strong>de</strong>n, sei es u.a. auf Schloss<br />

Ettersburg <strong>de</strong>s Erbgroßherzogs Carl<br />

Alexan<strong>de</strong>r von Sachsen – Weimar – Eisenach,<br />

<strong>de</strong>m Rittergut Maxen <strong>de</strong>s Ehepaars Serre,<br />

<strong>de</strong>m Herrenhof Nysø <strong>de</strong>s Barons Hendrik<br />

Stampe o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Landsitz Rolighed<br />

<strong>de</strong>r Familie Melchior.<br />

Die Herrschaften erwart<strong>et</strong>en von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

geistreiche Unterhaltung, genossen sein<br />

grandioses Vorlesen und seine Inszenierungen<br />

– und die Kin<strong>de</strong>r waren hingerissen,<br />

wenn er vor ihren Augen dreidimensionale<br />

Scherenschnitte zauberte. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> konnte<br />

ein fulminanter Entertainer sein, wenn<br />

ihm nicht – und das geschah auch – eine<br />

miesep<strong>et</strong>rige Laune ins Gemüt fuhr. In<br />

seinen l<strong>et</strong>zten Lebensjahren bes<strong>et</strong>zten<br />

ihn mehr und mehr die pessimistischen<br />

Gedanken von Krankheit, Zerfall und Tod.<br />

Als Gast war <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> dann mit seinen<br />

manchmal beschämen<strong>de</strong>n Auftritten<br />

kaum zu ertragen. Er merkte dies selbst<br />

und dachte dann an seinen geistesschwachen<br />

Großvater, was ihn noch mehr<br />

<strong>de</strong>primierte.<br />

…<br />

LUXEMBOURG 2005 | MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE 15


…<br />

Sein Körper wur<strong>de</strong> von Koliken, Gelbsucht,<br />

Zahnweh und Glie<strong>de</strong>rschmerzen geschüttelt,<br />

so dass er sein l<strong>et</strong>ztes Lebensjahr – von<br />

August 74 bis Juli 75 – ziemlich einsam in<br />

seinen Zimmern am Nyhavn verbrachte.<br />

Im Juli 75 ließ er sich mit <strong>de</strong>r Kutsche auf<br />

Gut Rolighed <strong>de</strong>r Familie Melchior fahren.<br />

Der Tod trübte seine Augen und seine<br />

Kräfte nahmen rapi<strong>de</strong> ab, er konnte die<br />

Tafel nicht mehr mit Blumen und Gräsern<br />

schmücken, wie in all <strong>de</strong>n Jahren zuvor.<br />

Am 4. August 1875 starb <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>.<br />

Gegenüber seinen langjährigen Freun<strong>de</strong>n<br />

hatte sich <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> Jahre zuvor einmal<br />

geäußert, dass er dafür sorgen wür<strong>de</strong>,<br />

dass ein Guckloch in seinen Sarg zu<br />

bohren sei, damit er <strong>de</strong>n Trauerzug beobachten<br />

könnte; es könnte ja sein, dass<br />

er nur scheintot sei. Sogar im Falle seinen<br />

tatsächlichen To<strong>de</strong>s hielt <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> noch<br />

einen einmalig spritzigen Sarkasmus<br />

bereit: „Wer mir nicht folgt, <strong>de</strong>m erscheine<br />

ich als Geist, und ich wer<strong>de</strong> bestimmt ein<br />

furchtbarer Geist sein!“ Eigentlich ist es<br />

eine Binsenweisheit, dass große Literatur<br />

fast immer durch schwere seelische<br />

Vertracktheiten zustan<strong>de</strong> kommt und in<br />

manchen Einzelfällen grandiose Gestalt<br />

annimmt. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> war grandios.<br />

Die Spannweite seiner Gefühls- und Gemütszustän<strong>de</strong>,<br />

die enorme Bandbreite<br />

seiner Sozial-Erfahrungen, seine heftigen<br />

Introspektionen und seine überragen<strong>de</strong><br />

Sprachgenialität erklären zu einem Teil<br />

die vielfältigen Qualitäten seiner literarischen<br />

Werke – vor allem die <strong>de</strong>r Märchen.<br />

Dort gilt es noch einiges zu entwirren.<br />

Nun steht ein Jubeljahr ins europäische<br />

Haus und am 2. April, <strong>de</strong>m Tag <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s,<br />

wird <strong>de</strong>s 200. Geburtstag von <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> zu ge<strong>de</strong>nken sein; hoffentlich<br />

mit Glanz und Elend, mit Sentimentalität<br />

und Subversion, schnellem Witz und<br />

tiefgründiger Doppelbödigkeit und mit<br />

weiteren abenteuerlichen Ent<strong>de</strong>ckungen<br />

in <strong>de</strong>n Märchen <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s.<br />

16 MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE | LUXEMBOURG 2005<br />

Beson<strong>de</strong>rs illustrierte Publikationen<br />

wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Liebhabern von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-<br />

Märchen nahe gelegt, wobei zwischen<br />

Sammelbän<strong>de</strong>n und Büchern, in <strong>de</strong>nen<br />

ein einziges Märchen illustriert wur<strong>de</strong>,<br />

unterschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n muss:<br />

• Das <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> Märchenbuch.<br />

Bearbeit<strong>et</strong> von Frie<strong>de</strong>run Reichenst<strong>et</strong>ter.<br />

Illustriert von Silke Leffler. Wien: B<strong>et</strong>z;<br />

94 Seiten. (13 Märchen)<br />

• Das große Märchenbuch.<br />

Illustriert von Joel Stewart.<br />

Aus <strong>de</strong>m Dänischen von Thyra Dorenburg.<br />

Einleitung von Naomi Lewis,<br />

aus <strong>de</strong>m Englischen von Gabriele Haefs.<br />

Düsseldorf: Sauerlän<strong>de</strong>r;<br />

208 Seiten. (13 Märchen)<br />

• Die allerschönsten Märchen von H.C. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>.<br />

Illustriert von Sabine M<strong>et</strong>z.<br />

Aus <strong>de</strong>m Dänischen von Heinrich Denhardt.<br />

München: Arsedition;<br />

128 Seiten. (10 Märchen)<br />

• <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> Märchen.<br />

Illustriert von Nikolaus Hei<strong>de</strong>lbach.<br />

Aus <strong>de</strong>m Dänischen von Albrecht Leonhardt.<br />

Weinheim: Beltz & Gelberg;<br />

376 Seiten. (43 Märchen)<br />

• Die schönsten Märchen.<br />

von <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>.<br />

Mit Bil<strong>de</strong>rn von Anastassija Archipowa.<br />

Einzelne Märchen nacherzählt<br />

von Arnica Esterl.<br />

esslinger.atelier. 5. Auflage 2004.<br />

• Die schönsten Märchen.<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>.<br />

Illustriert von Christa Unzner.<br />

Altberliner 1997.<br />

• Die kleine Meerjungfrau.<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

mit Bil<strong>de</strong>rn von Lisb<strong>et</strong>h Zwerger.<br />

minedition. Michael Neugebauer. 2004.<br />

• Des Kaisers neue Klei<strong>de</strong>r.<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>.<br />

John Alfred Rowe. minedition.<br />

Michael Neugebauer. 2004.<br />

Das Märchen „Das hässliche Entlein“ soll<br />

als exemplarisches Beispiel herangezogen<br />

wer<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n höchst verschie<strong>de</strong>nen<br />

Umgang von Illustratoren/Innen mit <strong>de</strong>m<br />

zweigesichtigen <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> anzu<strong>de</strong>uten.<br />

Mit prägnanten Bil<strong>de</strong>rn, Episo<strong>de</strong> an<br />

Episo<strong>de</strong> geknüpft und aus einer 1,40 m<br />

Perspektive beobacht<strong>et</strong>, wahrgenommen<br />

und beschrieben sowie mit einer mehr<br />

als zweifelhaften Herkunftsmoral durchzogen,<br />

gleichlautend o<strong>de</strong>r in ähnlichen<br />

Zuweisungen wer<strong>de</strong>n die wesentlichen<br />

formalen Elemente und die angenommene<br />

Moral für dieses Märchen skizziert.<br />

Die Bil<strong>de</strong>r sind kräftig und klar: „Das Land“,<br />

„<strong>de</strong>r Sommer“, „das Korn“, „das Entennest“,<br />

„die Mutter“, „die Alte … die Wil<strong>de</strong>nten und<br />

die Jagdhun<strong>de</strong> … das Bauernhaus mit <strong>de</strong>r<br />

alten Frau, <strong>de</strong>m Kater und <strong>de</strong>r Henne“ …<br />

Episo<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n aneinan<strong>de</strong>rgereiht:<br />

Entennest, Entenhof, Entenjagd, Bauernhaus,<br />

erste Begegnung mit Schwänen,<br />

Winterteich, noch ein Bauernhaus,<br />

zweite Begegnung mit Schwänen, vor<br />

<strong>de</strong>m Schönsten verneigen sich die alten<br />

Schwäne;<br />

Der Blick bekommt die entsprechen<strong>de</strong><br />

Höhe zugewiesen:„…große Ampferblätter…,<br />

dass kleine Kin<strong>de</strong>r aufrecht unter <strong>de</strong>n größten<br />

von ihnen stehen konnten … – wie ist die<br />

Welt doch so groß …, ein fürchterlich großer<br />

Hund dicht neben ihm“; Die Zeile: „Es macht<br />

nichts, im Entenhof geboren zu sein, wenn<br />

man nur in einem Schwanenei gelegen hat!“<br />

wird durchweg als entlarven<strong>de</strong> Aussage<br />

zu <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Auffassung interpr<strong>et</strong>iert,<br />

naturgegeben ausgericht<strong>et</strong> zu sein; m.E.<br />

durchweht gera<strong>de</strong>zu ein bissiger Spott die<br />

„hässliche Entlein-Welt“:<br />

„… stolzierte <strong>de</strong>r Storch … schwatzte ägyptisch,<br />

<strong>de</strong>nn diese Sprache hatte er von<br />

seiner Mutter gelernt …“ • o<strong>de</strong>r – „Wie ist<br />

die Welt doch groß“ staunen die Entlein<br />

und die Mutter gibt ihnen <strong>de</strong>n Plan mit<br />

„Glaubt ihr, das sei die ganze Welt? … Die<br />

erstreckt sich weit bis auf die an<strong>de</strong>re Seite<br />

<strong>de</strong>s Gartens, gera<strong>de</strong> hinein in das Feld <strong>de</strong>s<br />

Pfarrers. Aber dort bin ich nie gewesen“ …<br />

• o<strong>de</strong>r – sagt doch die Entenmutter über<br />

ihre gera<strong>de</strong> ausgebrüt<strong>et</strong>en Entlein: „Sie<br />

gleichen alle miteinan<strong>de</strong>r ihrem Vater. – Der<br />

Schuft! Er kommt mich nicht mal besuchen.“<br />

Wie aktuell, in Zeiten flüchten<strong>de</strong>r Väter<br />

und selbstbewusster Mütter.<br />

• O<strong>de</strong>r – als die zwei draufgängerischen<br />

Wildgänse kurz bevor sie „piff, paff“ abgeknallt<br />

wur<strong>de</strong>n zum hässlichen Entlein<br />

sagen: „ … du bist so hässlich, dass wir dich<br />

gut lei<strong>de</strong>n mögen … hier ganz in <strong>de</strong>r Nähe …


… in einem an<strong>de</strong>rn Moor sind einige süße,<br />

liebliche Wildgänse, alles junge Fräulein,<br />

die rapp sagen können. Du kannst dort<br />

vielleicht <strong>de</strong>in Glück machen, so hässlich<br />

du auch bist.“<br />

• O<strong>de</strong>r – als das Entlein vom Kater gefragt<br />

wird: „Kannst du einen Buckel machen,<br />

schnurren und knistern?“ und das Entlein<br />

sagen muss: „Nein“. Und dann vom Kater<br />

gera<strong>de</strong>zu hellseherisch erfährt: „Dann<br />

darfst du auch keine Meinung haben,<br />

wenn vernünftige Leute re<strong>de</strong>n!“<br />

Man muss <strong>de</strong>r schönen Stimme <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

die Ironie geben, die in seinen Augen und<br />

seinen Mundwinkeln zu sehen ist, dann<br />

wird es doppelbödig bis zur Subversion<br />

– im Angesicht <strong>de</strong>r sozialen Verhältnisse<br />

<strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Obwohl – „Das hässliche<br />

Entlein“ könnte ich mir auch als richtungsweisen<strong>de</strong><br />

Lesung zu Beginn<br />

eines Parteitages zu<br />

Anfang <strong>de</strong>s dritten<br />

Jahrtausends gut<br />

vorstellen. „So viel<br />

Glück (kann ich)<br />

mir nicht träumen<br />

lassen“, sagte das<br />

Entlein.<br />

Nikolaus Hei<strong>de</strong>lbach illustriert drei Szenen<br />

– Brotbrocken und Krümel sind nur<br />

abschließend hing<strong>et</strong>upft:<br />

• ein ungestaltiges Entlein, mehr breit<br />

als hoch, watschelt mit <strong>de</strong>m Hinterteil<br />

zum B<strong>et</strong>rachter von <strong>de</strong>r auseinan<strong>de</strong>r<br />

gebrochenen Eierschale weg, <strong>de</strong>ren eine<br />

Hälfte die Silhou<strong>et</strong>te eines menschlichen<br />

Gesichts zeigt. Das Entlein – plump,<br />

unförmig, gesichtslos.<br />

• Mit scharfen Augen fixieren Henne, Kater<br />

und alte Frau das Entlein am Tisch; die alte<br />

Frau hält einen Eierlöffel in <strong>de</strong>r Hand, vor<br />

ihr steht ein ausgelöffeltes Ei; die drei starren<br />

mit aggressivem Blick auf das Entlein;<br />

und dieses schaut unbeeindruckt mit aufgericht<strong>et</strong>em<br />

Kopf die Herrschaft an;<br />

• ein Schwan hebt concor<strong>de</strong>gleich aus <strong>de</strong>m<br />

Schilf ab, das Entlein blickt ihm mit weit<br />

geöffn<strong>et</strong>em Schnabel nach.<br />

Sabine M<strong>et</strong>z illustriert auf je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 21 Seiten<br />

• eine Entenmutter mit einer Fe<strong>de</strong>r auf<br />

<strong>de</strong>m Kopf, die alte Ente mit einem<br />

Sauerampferblatt auf <strong>de</strong>m Kopf<br />

und mit Brille und Stock utensiliert;<br />

• Bauernfrau, Kater<br />

und Henne mitleidsvoll<br />

<strong>de</strong>m Entlein zugeneigt;<br />

• das Entlein als ausgewachsener<br />

Schwan mit<br />

Flaumfe<strong>de</strong>rchen auf<br />

<strong>de</strong>m Kopf.<br />

Silke Leffler wählt zwei Situationen:<br />

• Entenmutter mit vier Entenküken und<br />

<strong>de</strong>m größeren Entlein, Truthahn und<br />

Hühner; die Entenmutter hält eine gelbweiße<br />

Handtasche im Flügel und trägt<br />

vier Sauerkrautsträhnen auf <strong>de</strong>m Kopf;<br />

<strong>de</strong>r Truthahn eine Krone auf <strong>de</strong>m Kopf,<br />

die Hühner beschuht und beschürzt; die<br />

Entenfamilie steht auf einem Teppich;<br />

• Henne, Entlein, Kater sitzen am Tisch,<br />

Tassen und Kuchen stehen auf <strong>de</strong>m Tisch,<br />

die Bauersfrau (?) mit hochtoupiertem<br />

Haar hinter <strong>de</strong>m Tisch.<br />

Fazit: Beim Anblick <strong>de</strong>r Illustrationen<br />

von Silke Leffler wür<strong>de</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> wohl in<br />

zusätzliche Depressionen fallen, <strong>de</strong>nn die<br />

verständnislosen Arrangements können<br />

nur aus einer umfassen<strong>de</strong>n Unkenntnis<br />

seines 70jährigen Lebens hingekritzelt<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Auch Sabine M<strong>et</strong>z (von arsedition verlegt!)<br />

hat <strong>de</strong>n zweiten Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Märchens<br />

nicht gefun<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn pinselt in allerseeligsten<br />

Aquarellfarben herzige Kindlein,<br />

eine sturmumbrauste Strohhütte und<br />

einen beschwipsten Schwan. Das ist putzig,<br />

puttig, trottelig. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> wür<strong>de</strong> wohl<br />

seine nicht gera<strong>de</strong> unterdimensionierte<br />

Nase rümpfen.<br />

Nikolaus Hei<strong>de</strong>lbach hingegen hat mit<br />

seinen drei Illustrationen: <strong>de</strong>r Missgeburt,<br />

<strong>de</strong>r aggressiven Mitwelt, <strong>de</strong>r bewun<strong>de</strong>rten<br />

und erstrebten Schönheit <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

Dilemma strichgenau<br />

entwickelt. …<br />

Illustration: „Das hässliche Entlein“ (Jumbo Verlag)<br />

LUXEMBOURG 2005 | MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE 17


Illustration vom Cover <strong>de</strong>s Hörspiels „Des Kaisers neue Klei<strong>de</strong>r“ (Jumbo Verlag)<br />

Auch Joel Stewart hat in seinen <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

hineingesehen; vor je<strong>de</strong>m Märchen lässt<br />

er <strong>de</strong>n Vorhang aufziehen: Das Theater<br />

beginnt.<br />

Und zum schlichten, erhellen<strong>de</strong>n und<br />

<strong>de</strong>tailreichen Kommentar <strong>de</strong>r exzellenten<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-Kennerin Naomi Lewis pinselt<br />

Stewart durchgängig die winzige böse<br />

Fee und die ebenso winzige gute Fee an<br />

<strong>de</strong>n Rand – oft weit voneinan<strong>de</strong>r entfernt,<br />

aber immer miteinan<strong>de</strong>r im Clinch „vereint“.<br />

Bei<strong>de</strong> Feen hatten sich schon bei <strong>de</strong>r Taufe<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong>s alle Mühe gegeben, ihm<br />

ihre sehr verschie<strong>de</strong>nen Wünsche in die<br />

Wiege zu legen. Und so lässt Stewart<br />

die Stechmücken-ähnliche böse Fee ihre<br />

klitzekleinen Boshaftigkeiten an <strong>de</strong>r<br />

Engelchen-gleichen guten Fee austoben.<br />

Gleichzeitig figurieren diese Minimal-Bild-<br />

Story wie philosophische Bin<strong>de</strong>glie<strong>de</strong>r für<br />

das jeweilige Märchen.<br />

Stewart zeichn<strong>et</strong> mit großer Brillanz<br />

karge Figuren, die durch ihre Einfachheit<br />

die Phantasie <strong>de</strong>s B<strong>et</strong>rachters auf Trab<br />

bringen. Mit seinen gebrochenen Farben<br />

erreicht Stewart oftmals eine mitnehmen<strong>de</strong><br />

und an einigen Stellen mitlei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Emotionalität<br />

(Schneekönigin, Meerjungfrau,<br />

wil<strong>de</strong>n Schwäne). Je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r dreizehn Märchen<br />

wird von einer charakteristischen<br />

Vign<strong>et</strong>te begleit<strong>et</strong>, die Kolorierung <strong>de</strong>r<br />

Blätter wechselt von Märchen zu Märchen,<br />

fa<strong>de</strong>ngeheft<strong>et</strong> und in einem stabilen<br />

Einband – all diese Anerkennung hätte<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> wohl gefallen:<br />

…„die Kirchenglocken läut<strong>et</strong>en alle von selbst,<br />

und die Vögel kamen in großen Schwärmen“.<br />

18 MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE | LUXEMBOURG 2005<br />

Kein Zufall, kein Schicksal, aber doch ein<br />

hinterlustiges Zusammentreffen zweier<br />

grandioser Illustratoren. John Alfred<br />

Rowe, Ex von Lisb<strong>et</strong>h Zwerger, illustriert<br />

„Des Kaisers neue Klei<strong>de</strong>r“, und Lisb<strong>et</strong>h<br />

Zwerger, Ex von John Alfred Rowe, illustriert<br />

„Die kleine Meerjungfrau“.<br />

Lisb<strong>et</strong>h Zwerger aquarelliert dieses tieftraurige<br />

Märchen mit allen Schattierungen<br />

<strong>de</strong>r Farbe Blau, ihre Figuren- und Formgebung<br />

hat durchweg <strong>et</strong>was Schwingen<strong>de</strong>s,<br />

Schweben<strong>de</strong>s, Fließen<strong>de</strong>s: die Haare <strong>de</strong>r<br />

Meerjungfrau, die Zweige <strong>de</strong>r Bäume, die<br />

Fahnen am Schloss und auf <strong>de</strong>m Schiff,<br />

die Hochzeitsgesellschaft. Viele Tiere, von<br />

Schildkröte bis Dompfaff, von Seepferdchen<br />

bis Schm<strong>et</strong>terling, schwimmen, fliegen,<br />

taumeln am Rand <strong>de</strong>r Texte und dokumentieren<br />

die Ebenen Unter-Wasser/<br />

Über-Wasser als Real- und Zauberwelt.<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> hätte vermutlich anerkennend<br />

genickt.<br />

Schon in Erweiterung <strong>de</strong>s Titels:<br />

„Des Kaisers neue Klei<strong>de</strong>r“ gibt John<br />

Alfred Rowe die Stimmungsrichtung an:<br />

Maßgeschnei<strong>de</strong>rt, geheft<strong>et</strong> und genäht.<br />

Und Rowe schnei<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>rmaßen auf <strong>de</strong>n<br />

Seiten herum, dass von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> nichts<br />

mehr übrig bleibt, son<strong>de</strong>rn John Alfred<br />

Rowe nur in <strong>de</strong>n eigenen Spiegel schaut<br />

– und – sich Klasse fin<strong>de</strong>t. Der Kaiser, eine<br />

rotbackige, glatzköpfige, dickbäuchige,<br />

rotnasige Clownsfigur, die sich in grelle<br />

o<strong>de</strong>r skurrile Out-fits zwängen lässt,<br />

grinst verlegen im Spiegel seine Nacktheit<br />

an. Die dünnen, kurzen Beinchen können<br />

kaum die darüber abfallen<strong>de</strong>n, herunterfallen<strong>de</strong>n<br />

mächtigen Pobacken halten.<br />

Der Körper scheint nach Entledigung eines<br />

Kors<strong>et</strong>ts (!) amöbisch auseinan<strong>de</strong>rzulaufen.<br />

Da halten sich sogar die dienstbaren Affen<br />

die Augen zu – und <strong>de</strong>r hölzerne Spiegelrahmen<br />

schlägt die Pupillen nach oben.<br />

Man wird sich wohl an <strong>de</strong>r Menagerie<br />

Rowes (Hasen, Hun<strong>de</strong>, Füchse, in grellen<br />

Kostümen) und <strong>de</strong>n irren Szenerien, die<br />

listigen B<strong>et</strong>rüger (Füchse!) mit Bün<strong>de</strong>l<br />

und Bierkrug, <strong>de</strong>r Webstuhl mit käsegieriger<br />

Maus u.ä. zunächst (!) amüsieren,<br />

doch bei genauerem Hinsehen ent<strong>de</strong>ckt<br />

man auf einem Hausplakat die Aufschrift<br />

ROWE und über <strong>de</strong>m Friseureingang<br />

ALFREDO ROVELLI und eine Hausinschrift<br />

mit: IN THIS HOUSE LIVES SIR JOHN ROWE.<br />

Spätestens dann weiß man, dass es J.A.R.<br />

um John Alfred ROWE geht – und eben<br />

nicht um ein Märchen von ANDERSEN. …


… Und wie könnte es in Zeiten <strong>de</strong>s Hörbuch-<br />

Booms an<strong>de</strong>rs sein, wer<strong>de</strong>n nicht wenige<br />

vorgesprochene Versionen von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-<br />

Märchen zur Erleichterung und zum<br />

Genuss für die Nicht-so-gerne-Selbstleser<br />

angeboten:<br />

• <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> Märchen<br />

Vorgelesen von Fritzi Haberlandt,<br />

Nikolaus Hei<strong>de</strong>lbach, <strong>Christian</strong>e Paul<br />

und David Striesow.<br />

Hör Company. 244 Minuten.<br />

Musik: Wolfgang v. Henko.<br />

ISBN 3-935036-60-4<br />

• Die schönsten Märchen<br />

von <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

2 CD’s. 145.26 Min.<br />

Susanne Lothar erzählt fünf Märchen.<br />

„Die Schneekönigin“ als musikalisches<br />

Hörspiel von Jürgen Treyz. Patmos Verlag.<br />

ISBN 3-491-24096-4<br />

• Des Kaisers neue Klei<strong>de</strong>r.<br />

Klassik-Hörbücher für Kin<strong>de</strong>r<br />

Gelesen von Matthias Brandt.<br />

• Die kleine Meerjungfrau.<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>.<br />

ARGON. Hörbuch.<br />

Sprecher: Marek Harloff. 59 Minuten.<br />

ISBN 3-87024-683-9<br />

Bekannte Personen aus Film, Fernsehen,<br />

Funk und Theater tr<strong>et</strong>en mit ihren charakteristischen<br />

Stimmen auf (z.B. traurigrauchig<br />

<strong>Christian</strong>e Paul, virtuos in <strong>de</strong>r<br />

Stimmgebung Matthias Brandt), aber auch<br />

Stimmen, die sich sonst nicht auf <strong>de</strong>m<br />

Hörbuch-Markt tummeln, versuchen <strong>de</strong>n<br />

verzwickten Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r Märchen<br />

von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> auf die Spur zu kommen<br />

bzw. Ton und Rhythmus zu geben.<br />

Und dass dies nun eben gar nicht einfach<br />

ist, lässt sich unschwer an einer Vielzahl(!)<br />

von Lesungen erkennen.<br />

Bei Fritzi Haberlandt, hochgelobte Nachwuchsschauspielerin<br />

am Thalia-Theater,<br />

die in 55 Minuten eines <strong>de</strong>r wesentlichsten<br />

Märchen, „Die kleine Meerjungfrau“, liest,<br />

stört die prononciert-forcierte Sprechweise<br />

und <strong>de</strong>r im Grund immer gleiche<br />

Rhythmus. Ihre Stimme, wohl ausgebil<strong>de</strong>t,<br />

sitzt nicht am Text und schlängelt sich<br />

nicht mit ihm durch die Verstrickungen<br />

und Unglaublichkeiten.<br />

Cover <strong>de</strong>s Hörbuchs: „<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> Märchen“<br />

Cover <strong>de</strong>s Hörbuchs: „Die schönsten Märchen“<br />

Und dies gilt – auch auf die Gefahr hin<br />

g<strong>et</strong>eert und gefe<strong>de</strong>rt zu wer<strong>de</strong>n – für<br />

alle (!) Frauen-Stimmen, die ich gehört<br />

habe <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> Märchen lesen. Auch für<br />

die perfekte Susanne Lothar.<br />

„Liebevoll von Susanne Lothar erzählt“ hat<br />

hr2 die Vorlesungen von Susanne Lothar<br />

qualifiziert; das sagt nicht viel; ach ja,<br />

wie<strong>de</strong>rum ist es wie bei <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren: Eine<br />

berühmte bekannte Stimme nimmt sich<br />

<strong>de</strong>r nicht wenig geheimnisvollen Lebensmärchen<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s an und lässt das<br />

Tiefgründig-Geheimnisvolle außen vor.<br />

Gera<strong>de</strong> die Oszillation zwischen latenter<br />

Distanzierung und vollkommener<br />

Befangenheit wird höchst selten erreicht.<br />

Jedoch ein Out-Si<strong>de</strong>r fin<strong>de</strong>t m.E. diesen<br />

schmeicheln<strong>de</strong>n mit einer Prise Ironie<br />

durchwirkten Ton, und das dann noch mit<br />

einer mild verschnupften Stimme; wenn<br />

Nikolaus Hei<strong>de</strong>lbach das Märchen „Der<br />

Kragen“ auferstehen lässt und näselnd,<br />

verführerisch, knisternd sagt: „Kommen<br />

Sie mir nicht zu nahe – sagte das Strumpfband<br />

– sie schauen so männlich aus!“ dann<br />

– ja dann – ist <strong>de</strong>r vielgesichtige <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

Cover <strong>de</strong>s Hörbuchs: „Des Kaisers neue Klei<strong>de</strong>r“<br />

Cover <strong>de</strong>s Hörbuchs: „Die kleine Meejungfrau“<br />

präsent: <strong>de</strong>r brillante Entertainer für Kin<strong>de</strong>r.<br />

Auch Striesow kommt mit seinen Darstellungen<br />

in die Nähe <strong>de</strong>s „Kragens“. Aber<br />

eben nur in die Nähe.<br />

Auf eine an<strong>de</strong>re Art gekonnt ist die Interpr<strong>et</strong>ation<br />

von „Des Kaisers neue Klei<strong>de</strong>r“<br />

durch Matthias Brandt. Die Stimme, die<br />

er <strong>de</strong>m Kaiser gibt, fängt wie<strong>de</strong>rum das<br />

<strong>et</strong>was dümmlich, <strong>et</strong>was satirische, <strong>et</strong>was<br />

ratlose und <strong>et</strong>was …worüber Kin<strong>de</strong>r<br />

lachen müssen – auf eine hinreißen<strong>de</strong><br />

Art ein.<br />

Eine einzige Fähigkeit scheinen jedoch<br />

alle SprecherInnen nicht zu haben: So zu<br />

lesen, so die Worte und Passagen zu lesen,<br />

dass Kin<strong>de</strong>r die Chance haben, durch die<br />

gera<strong>de</strong> aufgenommen Textstückchen ein<br />

inneres Bild aufzubauen, hineinspazieren,<br />

herauskommen und auf das, was nun zu<br />

hören ist, gespannt sind; d.h. alle lesen<br />

viel, viel zu schnell. „Wirklich, wirklich!“,<br />

wür<strong>de</strong> Shrek sagen. Und <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> hätte<br />

gegen eine Verweilung bestimmt nichts<br />

einzuwen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn so läge er wie<strong>de</strong>rum<br />

vielen ganz schön lange in <strong>de</strong>n Ohren.<br />

…<br />

LUXEMBOURG 2005 | MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE 19


… Aus <strong>de</strong>r Vielzahl <strong>de</strong>r Hörmärchen wer<strong>de</strong>n<br />

zwei „Vertonungen“ herangenommen,<br />

die exemplarisch für alle an<strong>de</strong>ren stehen:<br />

Hella von Sinnen liest „Die Prinzessin auf<br />

<strong>de</strong>r Erbse“ und Gerd Baltus „Des Kaisers<br />

neue Klei<strong>de</strong>r“, wobei man die Cover-Legen<strong>de</strong>n<br />

g<strong>et</strong>rost vergessen sollte z.B. feinsinnig,<br />

amüsant und anrührend – o<strong>de</strong>r – feinfühlig<br />

und mitreißend – o<strong>de</strong>r – fesselnd und unterhaltsam.<br />

Von all diesen Qualifizierungen kann ich in<br />

<strong>de</strong>n Aufnahmen nichts erhören. Hella von<br />

Sinnen lässt’s rollen, das es nur so rumst:<br />

frrror – Strrroh – Rrrest – herrrlich und<br />

dies alles in einem Sprechtempogalopp,<br />

dass Kin<strong>de</strong>r (Kin<strong>de</strong>rrr!) kaum eine Chance<br />

haben, eine klitzekleine Passage aufzunehmen,<br />

zu verstehen, sich ein Bild zu<br />

machen, um dann überhaupt neugierig<br />

sein zu können, auf das, was dann zu<br />

hören ist. Ebenso <strong>de</strong>r vorzügliche Schauspieler<br />

Gerd Baltus: atemlos, aufgeregt<br />

und völlig humorlos. Auch die weiteren<br />

Sprecher/Innen legen ihren theatergeschulten<br />

Stimmen nicht die Zügel an, um<br />

durch eine Verlangsamung <strong>de</strong>r Sprache<br />

kindliches Verstehen zu ermöglichen. Zwischen<br />

<strong>de</strong>n gesprochenen Märchen gibt es<br />

noch ein wenig Gedu<strong>de</strong>l, Geflöte und<br />

Geklimpere von Ulrich Maske. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

kann’s nicht mehr hören. Wie beruhigend.<br />

20 MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE | LUXEMBOURG 2005<br />

Die von allen biographisch erhellendste<br />

und schmerzlichste Verwicklung scheint<br />

mir “Die kleine Meerjungfrau“.<br />

Tief auf <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Meeres wohnen<br />

<strong>de</strong>r Meerkönig, seine sechs Töchter und<br />

ihre Großmutter. Fünf Schwestern hat<br />

die kleine Meerjungfrau, die jeweils an<br />

ihrem 15. Geburtstag vom Meeresbo<strong>de</strong>n<br />

aufsteigen durften, „und sehen durfte(n),<br />

wie es bei uns aussieht“. Die erste fin<strong>de</strong>t<br />

die Lichter, die Musik und <strong>de</strong>n Lärm <strong>de</strong>r<br />

Stadt am Schönsten; die zweite <strong>de</strong>n Sonnenuntergang;<br />

die dritte, die auch noch<br />

<strong>de</strong>n Fluss hinaufschwamm, die Schlösser,<br />

Bauernhöfe, die Wäl<strong>de</strong>r und die Kin<strong>de</strong>r,<br />

die ohne Fischschwanz sogar schwimmen<br />

konnten; die vierte, die auf <strong>de</strong>m Meer blieb,<br />

erzählte von <strong>de</strong>n Möwen, Delphinen und<br />

Walfischern; die fünfte s<strong>et</strong>zte sich auf<br />

<strong>de</strong>n Eisberg und erschreckte die Seeleute<br />

mit ihrem langen Haar. Als die kleine<br />

Meerjungfrau aufsteigen darf, geht es<br />

mit schnellem Flossenschlag in <strong>de</strong>n<br />

Liebeskummer: sie erblickt ein Schiff mit<br />

einem jungen Prinzen an Bord, in <strong>de</strong>n sie<br />

sich sofort verliebt. Im Sturm bricht das<br />

Schiff auseinan<strong>de</strong>r, sie r<strong>et</strong>t<strong>et</strong> <strong>de</strong>n Prinzen.<br />

Um seine Liebe – und durch die eine<br />

unsterbliche Seele – zu erlangen, lässt<br />

sie sich von <strong>de</strong>r Meerhexe einen Trank<br />

brauen, <strong>de</strong>r ihren Schwanz in zwei Beine<br />

verwan<strong>de</strong>lt. Dafür muss sie ihre schöne<br />

Stimme hergeben und bei je<strong>de</strong>m Schritt<br />

Schmerzen erlei<strong>de</strong>n, wie als wenn sie auf<br />

scharfe Messer träte. Und falls sie die Liebe<br />

<strong>de</strong>s Prinzen nicht gewinnen kann, wird sie<br />

am Morgen nach seinem Hochzeitstag zu<br />

Schaum auf <strong>de</strong>m Wasser wer<strong>de</strong>n. …


…<br />

Zwar gelingt es <strong>de</strong>r kleinen Meerjungfrau,<br />

die Freundschaft <strong>de</strong>s Prinzen zu gewinnen,<br />

aber seine Liebe schenkt er einer an<strong>de</strong>ren,<br />

die er für seine R<strong>et</strong>terin hält. Die kleine<br />

Meerjungfrau kann sich ihm nicht erklären,<br />

weil sie keine Stimme mehr hat. In <strong>de</strong>r<br />

Hochzeitsnacht <strong>de</strong>s Prinzen erscheinen<br />

ihre Schwestern mit einem Messer und<br />

for<strong>de</strong>rn sie auf, <strong>de</strong>n Prinzen zu töten.<br />

Dann könnte sie wie<strong>de</strong>r zur Nixe wer<strong>de</strong>n<br />

und müsste nicht sterben. Sie aber wirft<br />

das Messer ins Meer und verwan<strong>de</strong>lt sich<br />

in Schaum. Luftgeister versprechen ihr,<br />

dass sie durch gute Taten und durch gute<br />

Kin<strong>de</strong>r, die ihren Eltern Freu<strong>de</strong> machen,<br />

später noch in das Reich Gottes aufsteigen<br />

wird.<br />

Zur Moral dieses Märchens wur<strong>de</strong> schon<br />

manches nie<strong>de</strong>r geschrieben; sentimental<br />

bis zur wegschwimmen<strong>de</strong>n Rührung,<br />

Armut wird gefühlig unterspült, herrliche<br />

Frauen sollen sich liebend selbst aufgeben,<br />

vor allem jedoch sei „die Meerjungfrau“<br />

die weibliche Sehnsuchtsfigur <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s,<br />

<strong>de</strong>r – so wird ebenfalls gemunkelt – Angst<br />

vor <strong>de</strong>r Erotik hatte. Ob sich die Frauen<br />

aus <strong>de</strong>n höheren Schichten, in die <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

sich verliebte, die „Sumpfpflanze“ vom<br />

Leibe hielten und dadurch <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> ihre<br />

Verklemmungen übernahm, verlangt<br />

eine genaue Analyse. Deshalb muss „The<br />

little Mermaid“ mit seiner „po<strong>et</strong>ischen<br />

Bildkraft stimmungshaltiger Einzelheiten“<br />

im Hinblick auf <strong>de</strong>n schichtbedingten<br />

Liebeskummer gelesen wer<strong>de</strong>n, und<br />

weniger auf festgelegte Geschlechtstypisierungen<br />

o<strong>de</strong>r „verklemmte“ Erotik.<br />

Die kummervolle Elementarsituation<br />

<strong>de</strong>r unerfüllten Zuneigung ist allgemein<br />

gültig und für je<strong>de</strong>n Leser nachvollziehbar<br />

– zwischen 8 und 80.<br />

Schon gleich zu Anfang hält <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong><br />

die gegebene Situation zur Projektion<br />

hin, <strong>de</strong>nn die alte Mutter <strong>de</strong>s Meerkönigs<br />

„war eine kluge Frau, jedoch stolz auf ihren<br />

A<strong>de</strong>l“; mit seinen Vergleichen, z.B. dass die<br />

Fische <strong>de</strong>n Prinzessinnen aus <strong>de</strong>r Hand<br />

fressen wie „bei uns die Schwalben“ und<br />

dass <strong>de</strong>r Meeresbo<strong>de</strong>n einen solchen<br />

blauen Schimmer hatte, als ob man „hoch<br />

oben in <strong>de</strong>r Luft stehe“, lässt er <strong>de</strong>n kindlichen<br />

Zuhörer zwischen realer Erfahrung<br />

und märchenhafter Szenerie hin und<br />

her tauchen. Die Zeile: „Es sah aus, als ob<br />

Wipfel und Wurzeln spielten und einan<strong>de</strong>r<br />

küssten“, zeigt einprägsam <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

Sehnsucht und gleichzeitig das scheue<br />

Zurückweichen („als ob“). Und genau diese<br />

Bewegung von oben nach unten – und<br />

umgekehrt – gibt <strong>de</strong>r kleinen Meerjungfrau<br />

<strong>de</strong>n Rhythmus vor, <strong>de</strong>r <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s<br />

Leben über weite Strecken bestimmte:<br />

Aufsteigen und zurückgestoßen wer<strong>de</strong>n,<br />

Wärme suchend und abgelehnt wer<strong>de</strong>n,<br />

Gunst genießen und Entzug von Zuneigung<br />

und wohl als „kleine Meerjungfrau“<br />

eine ergreifen<strong>de</strong> Gestalt, eingehüllt mit<br />

Wehmut und Einsamkeit.<br />

Noch ein Stockwerk im seelischen Schacht<br />

tiefer: Da <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> einen Freund nicht in<br />

Liebe erlangen konnte, vers<strong>et</strong>zt er sich in<br />

die kleine Meerjungfrau; sie hat jedoch<br />

einen Unterleib, <strong>de</strong>r umgestalt<strong>et</strong> wer<strong>de</strong>n<br />

muss. Dafür wird sie ihre Sprache verlieren.<br />

Selten trifft man Dichter, die mit solch<br />

einer arch<strong>et</strong>ypischen Wucht und Klarheit<br />

zur To<strong>de</strong>s- und Liebessehnsucht zeitlos<br />

aktuell bleiben; Wi<strong>de</strong>rspruch evozieren<br />

und vorbehaltlose Bewun<strong>de</strong>rung erwarten.<br />

Applaus für ein „Bas-Relief“, womit sich<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> mit überraschen<strong>de</strong>r Beschei<strong>de</strong>nheit<br />

zu <strong>de</strong>n „Statuen“ Shakespeare und<br />

Go<strong>et</strong>he positionierte – jedoch unwi<strong>de</strong>rstehlich<br />

hinzufügte „aber ewig“.<br />

Dr. Heinz Günnewig Universität Luxemburg<br />

lehrt an <strong>de</strong>r Fakultät für Sprachwissenschaften<br />

und Literatur, Geisteswissenschaften,<br />

Kunst- und Erziehungswissenschaften.<br />

1 Der Begriff „Zurechtbieger“ ist entlehnt von Johan<br />

<strong>de</strong> Mylius, <strong>de</strong>r am Forschungszentrum <strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong><br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> <strong>de</strong>r Universität O<strong>de</strong>nse arbeit<strong>et</strong>.<br />

2 H. Ch. <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>: Märchen meines Lebens.<br />

Eine Skizze. Frankfurt. 1979<br />

LUXEMBOURG 2005 | MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE 21


<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> neu illustriert<br />

Günter Grass hat eine Reihe von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Märchen neu illustriert – Beobachtungen von Kai Artinger<br />

Auf <strong>de</strong>r Frankfurter Buchmesse wur<strong>de</strong><br />

eine kleine Sensation präsentiert: Der<br />

Schriftsteller und Nobelpreisträger Günter<br />

Grass präsentierte sein neuestes<br />

Werk „Der Schatten“. Auf Initiative <strong>de</strong>r<br />

Dänischen Botschaft hat Grass sich mit<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> auseinan<strong>de</strong>rges<strong>et</strong>zt und eine<br />

Reihe <strong>de</strong>r Märchen neu illustriert.<br />

Die Lithographien von Günter Grass zu<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Märchen sind<br />

eine Beson<strong>de</strong>rheit in seinem grafischen<br />

Œuvre. In <strong>de</strong>n vergangenen fünf Jahrzehnten<br />

b<strong>et</strong>ätigte er sich nur ein einziges<br />

Mal als Zeichner auf <strong>de</strong>m<br />

Feld <strong>de</strong>r Buchillustration<br />

in jener klassischen Weise,<br />

dass er sein Talent zur Bil<strong>de</strong>rfindung<br />

für einen an<strong>de</strong>ren<br />

Autor nutzte. Vor bald<br />

40 Jahren zeichn<strong>et</strong>e er für<br />

Ingeborg Bachmanns Lyrikband<br />

„Ein Ort für Zufälle“<br />

(1965). Von diesem Standpunkt<br />

aus könnte man die<br />

nun im Göttinger Steidl Verlag<br />

erschienene, von Grass<br />

zusammengestellte und bebil<strong>de</strong>rte<br />

Anthologie von<br />

dreißig <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-Märchen<br />

als einen späten Auftritt<br />

<strong>de</strong>s Illustrators ansehen.<br />

Aber dieser Eindruck täuscht.<br />

Denn obwohl Grass im Falle<br />

von „Der Schatten“ sehr<br />

gern über <strong>de</strong>n eigenen Schatten<br />

sprang, sich von <strong>de</strong>n<br />

Geschichten inspirieren ließ<br />

und seine grafischen Künste<br />

in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>s weltberühmten<br />

Dichters stellte, Illustrator<br />

wur<strong>de</strong>, stand am Anfang <strong>de</strong>s Projekts<br />

<strong>de</strong>r Auftrag zu einem Mappenwerk mit<br />

zehn Lithographien anlässlich <strong>de</strong>s 200.<br />

Geburtstages <strong>de</strong>s großen Dänen. Bei <strong>de</strong>r<br />

Ausführung begann sich Grass für die<br />

Sache so zu begeistern, dass die Menge<br />

<strong>de</strong>r Zeichnungen beständig wuchs. Grass<br />

hierzu: „Ich begann mit Däumelinchen,<br />

Blatt nach Blatt auf Umdruckpapier.<br />

Es wur<strong>de</strong>n mehr und mehr. Aus <strong>de</strong>m<br />

Vergnügen an <strong>de</strong>r Arbeit ergab sich<br />

bald die eher verlegerische Absicht, eine<br />

Auswahl bekannter und weniger geläufiger<br />

22 MINISTÈRE DE L´ÉDUCATION NATIONALE | LUXEMBOURG 2005<br />

Märchen zwischen zwei Buch<strong>de</strong>ckeln zu<br />

versammeln ...“<br />

Grass’ ausgeprägtes Interesse für das <strong>de</strong>m<br />

Text zur Seite tr<strong>et</strong>en<strong>de</strong> Bild hat tiefe Wurzeln.<br />

Schon von Anbeginn seiner Laufbahn<br />

als Autor hat Grass <strong>de</strong>r Buchgestaltung<br />

große Aufmerksamkeit geschenkt. Bereits<br />

in sein erstes Buch, einen Lyrikband im<br />

Jahre 1956, gingen eigene Zeichnungen<br />

ein. Sein Interesse für Buchgestaltung<br />

und -herstellung (das sich im Impressum<br />

von „Der Schatten“ wi<strong>de</strong>rspiegelt: „Buchgestaltung:<br />

Günter Grass, Claas Möller,<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> und Grass – Illustration von Günter Grass<br />

Gerhard Steidl“), lässt sich auch an seinen<br />

Umschlagentwürfen ablesen. Bis auf<br />

einige Ausnahmen sind alle seine Bücher<br />

mit einem von ihm gestalt<strong>et</strong>en bzw. mitgestalt<strong>et</strong>en<br />

Umschlag erschienen. Hier<br />

tritt immer <strong>de</strong>r Buchgestalter neben <strong>de</strong>m<br />

Autor in Erscheinung, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utlich seinen<br />

Anspruch formuliert und einlöst, ihm sei<br />

die Verbindung von Wort und Bild selbst<br />

im Bereich <strong>de</strong>r Gebrauchsgraphik wichtig.<br />

Sind es erst Lyrikbän<strong>de</strong>, in die Grass seine<br />

Zeichnungen einstreut, kommen später<br />

Bücher hinzu, in <strong>de</strong>nen er bewusst und<br />

gezielt seine Texte mit passen<strong>de</strong>n Bil<strong>de</strong>rn<br />

ausstatt<strong>et</strong>, beispielweise in „Mein Jahrhun<strong>de</strong>rt“<br />

(1999).<br />

Blickt man auf das buchkünstlerische<br />

Werk <strong>de</strong>s Grafikers Grass zurück, ist er<br />

als Bil<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>r zu eigenen Texten immer<br />

sehr produktiv gewesen, bei <strong>de</strong>n Büchern<br />

an<strong>de</strong>rer Schriftsteller und Schriftstellerinnen<br />

hielt er sich jedoch zurück. Das<br />

lässt aber nicht <strong>de</strong>n Umkehrschluss zu,<br />

er schätze nicht die Kunst <strong>de</strong>r Buchillustration.<br />

Im Gegenteil, er selbst regte<br />

in <strong>de</strong>n achtziger Jahren eine illustrierte<br />

Ausgabe seines Romans<br />

„Die Blechtrommel“ an.<br />

Beim j<strong>et</strong>zigen Band „Der<br />

Schatten“ wechselt Grass<br />

nun einmal selbst die Seite,<br />

lässt uns erfahren, wie er<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Märchen sieht.<br />

Seine Bil<strong>de</strong>r versuchen <strong>de</strong>n<br />

schrägen Ton, die traurigmelancholische<br />

Stimmung,<br />

auch Brutales und Morbi<strong>de</strong>s<br />

einzufangen, die vielen<br />

<strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-Märchen eigen<br />

sind. Die Axt, die zwei Füße<br />

abhakt („Die roten Schuhe“),<br />

das erfrorene Mädchen<br />

(„Das kleine Mädchen mit<br />

<strong>de</strong>n Schwefelhölzern“), <strong>de</strong>r<br />

Soldat mit <strong>de</strong>m Strick um<br />

<strong>de</strong>n Hals („Das Feuerzeug“),<br />

das sind alles an<strong>de</strong>re als<br />

märchenhafte Motive, sie<br />

verwehren sich romantischverträumter<br />

Schwelgerei.<br />

Grass nimmt sich wie je<strong>de</strong>r<br />

gute Illustrator die Freiheit <strong>de</strong>s Interpr<strong>et</strong>en.<br />

So leucht<strong>et</strong> er das Biographische mancher<br />

Geschichten aus, in<strong>de</strong>m er in „Das hässliche<br />

Entlein“ Ente und <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> zum Doppelporträt<br />

vereint. Ähnliches geschieht<br />

bei „Der Schatten“, ein <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>-Porträt<br />

wird hier <strong>de</strong>m Schatten beigestellt. Die<br />

Illustrationen vermei<strong>de</strong>n durch ihren Zeichenstil<br />

je<strong>de</strong> historisieren<strong>de</strong>n Anklänge<br />

und vermitteln <strong>de</strong>shalb die Mo<strong>de</strong>rnität<br />

von <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong>s Märchen.<br />

© günter grass<br />

Dr. Kai Artinger ist Autor, Kurator und<br />

Leiter <strong>de</strong>s Günter Grass-Hauses in Lübeck.


Impressum:<br />

Dieser Son<strong>de</strong>rnummer diente als Vorlage die Publikation No. 69<br />

„Kennzeichen DK – Mitteilungen aus und über Dänemark“<br />

<strong>de</strong>r Kgl. Dänischen Botschaft Berlin – Presse- und Kulturabteilung<br />

Titel:<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Christian</strong> <strong>An<strong>de</strong>rsen</strong> – 2005<br />

Numéro spécial du Courrier <strong>de</strong> l'Éducation <strong>nationale</strong><br />

Grafik<strong>de</strong>sign und Layout:<br />

Carsten Knobloch Kommunikations<strong>de</strong>sign<br />

Bildnachweis Titelseite:<br />

Have PR

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