Text - Knappschaftskrankenhaus Dortmund
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"Der Maulwurf ist blind und die Biene ist taub"<br />
Gelegentliche Gedanken zu Wissenschaft und Bildung<br />
Gastvortrag von Herrn Prof. Dr. Dr. Albert Klein anlässlich des<br />
10. <strong>Dortmund</strong>er Urologie-Symposiums im <strong>Knappschaftskrankenhaus</strong><br />
<strong>Dortmund</strong> am 22. November 2008<br />
Lassen Sie mich, [Anrede], mit einer Vorfrage beginnen. Über was soll ein<br />
Geisteswissenschaftler anlässlich eines Urologischen Symposium sprechen? Auf die<br />
Bitte von Herrn Dr. Thiel, meinem rotarischen Freund, dem ich für seine Einladung<br />
zu diesem Vortrag herzlich danke, reagierte ich dementsprechend zwiespältig,<br />
einerseits zustimmend, andererseits auch mit erheblicher Verlegenheit. Eine<br />
Verlegenheit als Folge eines fortgeschrittenen Alters, in dem man Sie, meine Herren,<br />
schon durch das Stundenglas betrachtet, eine Betrachtung , in der Respekt vor der<br />
urologischen Kunst mit Furcht und Schrecken einhergeht. Nun denn: Mit was<br />
könnte ich den sicher für Sie anstrengenden Tag einleiten? Als Literarhistoriker mit<br />
einem Thema zu Goethes Steinleiden oder die im weltberühmten Tagebuch des<br />
Samuel Pepys verewigten Blasensteine?<br />
Ich habe diese und ähnliche, teils amüsante Themen verworfen, überlasse sie<br />
der Geschichte der Medizin, wo sie gut aufgehoben sind. Ich möchte mit Ihnen ein<br />
Thema eines zu verkümmern drohenden interdisziplinären Dialogs ansprechen.<br />
Gegenüber einem fest etablierten Wissenschaftsbereich wie dem der Medizin geht es<br />
mir um die Frage nach dem Ort der Geisteswissenschaften in dieser Welt und<br />
Gesellschaft, ein Problemfeld, an dessen Anfang und Ende die Frage nach der<br />
Bildung des Menschen und die nach dem gebildeten Menschen steht. Geht es Ihnen<br />
um die Gesundheit des Menschen, so berührt mich die Frage nach seiner Bildung, die<br />
Frage, welche Bedeutung oder Stellenwert Bildung im traditionellen Sinn von<br />
Gebildetsein in einer sogenannten Wissensgesellschaft hat, in der Bildungsdefizite<br />
bedrückende Ausmaße annehmen. Es geht etwa nicht darum, dass die Rektorin einer<br />
norddeutschen Universität, so in der FAZ zu lesen, nicht weiß, wer Pindar ist, indes<br />
dazu bemerkt, sie kenne nur Peanuts, sonder darum, dass - um einen ebenso<br />
exemplarischen wie widersinnigen Fall anzuführen - in Berlin letzte Woche mehrere<br />
tausend Jugendliche für bessere Bildung demonstrierten, dabei 1000 von ihnen zur<br />
Unterstreichung der Forderung nach mehr Bildung die Humboldt-Universität<br />
stürmten , dort erhebliche Verwüstungen und Zerstörungen anrichteten und im<br />
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Foyer Teile der Ausstellung "Verraten und verkauft" zerstörten, eine Ausstellung, die<br />
an die Existenzvernichtung jüdischer Unternehmer während der NS-Zeit und an die<br />
Pogromnacht vom 9. November 1938 erinnerte.<br />
Ich reklamiere Bildung – nicht ohne Not - für diese Gesellschaft und setze<br />
meine Überlegungen zu ihrer Bedeutung am Beginn der Moderne an, am Ausgang<br />
des Mittelalters im Übergang zur Renaissance. Im rhetorischen Kontext der<br />
Feststellung und Behauptung, dass der „Maulwurf blind und die Biene taub sei“,<br />
eröffnet einer der profiliertesten und vornehmsten Wortführer des Humanismus im<br />
14. Jahrhunderts , Francesco Petrarca, ein erstes Plädoyer für ein individuelles<br />
Bildungsverständnis. Das Plädoyer gerät zur provozierenden Polemik gegenüber<br />
der zeitgenössischen Wissenschaft. Die Formulierung meines Themas, das Diktum<br />
vom blinden Maulwurf und der tauben Biene, entstammt einer wegweisenden<br />
Schrift des wortgewandten spätmittelalterlichen Dichters und Diplomaten.<br />
Angriffspunkt ist der am scholastischen Aristotelismus geübte Wissenschaftsbetrieb<br />
seiner Zeit.<br />
Es sei hier nicht nur beiläufig erwähnt, dass Petrarca in der Geschichte der<br />
Medizin einen Platz gefunden hat, da er mit unermüdlichem Eifer die dialektische<br />
Bearbeitung der Heilkunde (die ars mechanica )bekämpfte , welche nur dazu diene,<br />
den Mangel der Erfahrung zu verbergen.( Invective contra medicum (1352-1355)<br />
Beiläufig sei erwähnt, dass ein bedeutender Kenner Petrarcas und Sammler<br />
seiner Werke ein Kölner Kollege von Ihnen ist(Reiner Speck).<br />
Der Mitbegründer des Humanismus, einer der bedeutendsten Poeten<br />
Italiens, dem die Ehre zuteil wurde, 1341 auf dem Kapitol in Rom zum Dichter<br />
gekrönt zu werden, verfasste Mitte des 14. Jahrhunderts ( 1367-1370) unter dem<br />
Titel "De sui ipsius et multorum ignorantia" eine heftige Streitschrift. In diesem<br />
Büchlein, in deutscher Übersetzung "Von seiner und vieler Leute Unwissenheit"<br />
wendet sich der gelehrte Humanist, dem man das Rektorat der Universität<br />
Florenz angetragen hatte, gegen das erfahrungslose Buchwissen, den<br />
Enzyklopädismus, die Abstraktion, den Formalismus und die eitle Subtilität<br />
der Philosophie der scholastischen Wissenschaft, der er die Würde und<br />
Nützlichkeit literarischer Studien entgegensetzt. Mit dem<br />
Bescheidenheitsgestus der klassischen Rhetorik im Titel seiner Altersschrift<br />
ansetzend - nicht nur die Unwissenheit vieler, sondern auch die eigene<br />
bekennend - agitiert Petrarca die Scholastik der Banausen im Felde ihres<br />
naturwissenschaftlichen Weltwissens.<br />
2
Da wissen sie nun viele Dinge über Tiere, Vögel und Fische: wie viel Haare der<br />
Löwe im Scheitel trägt und wie viel Federn der Falke im Schwänze, und mit<br />
wie viel Windungen die Meerschlange den Schiffbrüchigen umschlingt. Sie<br />
wissen, wie die Elefanten sich begatten, und dass sie zwei Jahre lang im<br />
Mutterschoße bleiben; dass der Phönix in wohlriechendem Feuer verbrannt<br />
wird und aus seiner Asche sich wieder erhebt; dass der Greif von dem<br />
einäugigen Skythen mit dem Messer angegriffen wird und der Haifisch den<br />
Seemann auf dem Rücken liegend belauert; dass der Maulwurf blind und die<br />
Biene taub ist und dass das Krokodil allein von allen Tieren die obere Kinnlade<br />
zu bewegen vermag — was alles gewiss zu einem großen Teile falsch ist, und<br />
wenn es auch schließlich wahr wäre, so würde es doch nichts zu einem seligen<br />
Leben vermögen.<br />
Petrarca beschließt den heftigen Ausfall mit der pointierten Hinwendung zum<br />
Menschen:<br />
Was nützt es, die Natur der Tiere, Vögel, Fische und Schlangen zu kennen und<br />
dafür die Natur des Menschen, seinen Zweck, seine Herkunft und sein Endziel<br />
nicht zu kennen oder gar zu missachten?<br />
Petrarca, den der große Kulturhistoriker Jacob Burckhardt als "einen der frühesten<br />
völlig modernen Menschen" bezeichnet, entwirft ein Welt- und Menschenbild, das<br />
auf Wissen und Bildung aufruht. Seine Kritik an Aristoteles gipfelt in dem<br />
vernichtenden Vorwurf, seinen Büchern fehle die Qualität ethisch zu bilden. Denn -<br />
die berühmte Sentenz - : Die Lektüre der ethischen Bücher des Aristoteles habe ihn<br />
wohl gelehrter, aber nicht besser gemacht" . Es gehe doch vielmehr darum, dass wir<br />
nämlich nicht so sehr viel wissen als vielmehr besser werden sollen. (...) Es ist ein<br />
großer Unterschied, ob ich etwas weiß, oder ob ich es liebe; ob ich es verstehe, oder<br />
ob ich nach ihm strebe.“<br />
Ich finde die <strong>Text</strong>stelle dieses Büchleins am Ende des Mittelalters insofern<br />
bemerkenswert, als sie über die christliche Heilsorge eines Augustinus hinausgehend,<br />
das Verhältnis von Wissenschaft, Bildung und Ethik in einer lebensbejahenden<br />
Richtung definiert. Es obwaltet die den Humanismus prägende Weltanschauung,<br />
die den Weg in die Zivilisation der Renaissance öffnet. Das neue lebensbejahende<br />
und schöpferische Individuum schöpft seine Energie aus Bildung.<br />
Diese weit in die Neuzeit hineinreichende Bewegung , die den Menschen und seine<br />
Bildung in den Mittelpunkt des Denkens stellt, ist nicht an den Universitäten<br />
entstanden. Sie verdankt ihre Wirkung dem Erlebnis und der Begeisterung<br />
(Eppelsheimer) eines Dichters, der mit geharnischtem rhetorischen Impetus ein die<br />
antike Tradition erneuerndes literarisches Bewusstsein als Fundament<br />
abendländischer Bildung initiieren konnte. Diesseits der Alpen war es vor allem der<br />
berühmte und einflussreiche Theologe, Philosoph und Philologe Erasmus von<br />
3
Rotterdam, der welterfahrene und weltgewandte Vertreter der 'humanitas christiana',<br />
dessen Werk den Geist des Humanismus zukunftsweisend prägte und den<br />
Nährboden der neuen wirtschaftlichen und technischen Welt bereitete. (Denken Sie<br />
nur an Leonardo da Vinci !)<br />
Im Kulturwandel zur Neuzeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts und bis in das<br />
20. Jahrhundert fortlebend erfährt der Humanismus in der Bildungsidee des<br />
sogenannten Neuhumanismus in einer spezifisch deutschen Ausbildung eine<br />
erneuernde, ich meine neue Ausprägung. Die Bildungsidee steht zum einen in der<br />
Tradition des Humanismus, zum anderen findet sie ihre Identität aus dem Geist der<br />
Weimarer Klassik. Bildung bedeutet Aneignung von Weltwissen in einem Prozess<br />
einer "sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit"(Humboldt).<br />
Dieses Bildungsideal, realisiert als Artefakt der preußischen Kultuspolitik, führt zu<br />
einem Verständnis von Bildung als Allgemein- höherer und akademischer Bildung.<br />
Gebildetsein heißt über das notwendige Verfügungs- und Weltwissen hinaus an der<br />
Breite kultureller Erscheinungen vornehmlich der Sprache, Geschichte, Philosophie<br />
und Kunst der Vergangenheit und Gegenwart zu partizipieren mit der intendierten<br />
Fähigkeit, gewonnene Erfahrungen in die individuelle wie gesellschaftlich<br />
vorgegebene und zukünftige Lebenspraxis zu integrieren.<br />
Das neuhumanistische Bildungsideal strahlte über Schule (Neuhumanistische<br />
Gymnasien) weit in das Bürgertum. Dieses "Bildungsbürgertum" definierte sich<br />
nicht nur wirksam politisch und gesellschaftlich, sondern leitete – vielfach den<br />
ökonomischen Status relativierend - auch sein jeweiliges gesellschaftliches Prestige<br />
von Bildung ab. Das staatsloyale Bildungsbürgertum gerät zur "Deutungselite<br />
kultureller Erscheinungen". Der hohe Rang hat seine Kehrseite. Ihm entwächst<br />
Bildungsdünkel und Bildungsarroganz. Vollzog sich die Bildungsbewegung des<br />
Humanismus – wie oben gesagt - in einer Eigendynamik außerhalb der<br />
Universitäten, so erfährt Bildung im neu-humanistischen Verständnis ihre<br />
Institutionalisierung in Schulen und Universitäten, dort vor allem in den Impuls<br />
gebenden Geisteswissenschaften. Bildung auf einer Metaebene zu Ausbildung gerät<br />
zum geistigen Fundament der sich emanzipierenden bürgerlichen Gesellschaft, der<br />
Akademiker, Künstler und Literaten.<br />
Die hohe Reputation der Geisteswissenschaften als Leitwissenschaft im 19.<br />
und beginnenden 20. Jahrhundert ist einerseits ihren hervorragenden Leistungen,<br />
vor allem in den historischen und philologischen Disziplinen, zu verdanken,<br />
andererseits der unmittelbaren Nähe zur der sie befördernden bürgerlichen<br />
Bildungselite.<br />
4
Mit dem Ende des Bildungsbürgertums, spätestens nach dem zweiten<br />
Weltkrieg anzusetzen, verlieren die Geisteswissenschaften zunehmend an Bedeutung<br />
sowohl innerhalb der universitären Disziplinen wie gegenüber einer sich wandelnden<br />
Gesellschaft. Der inneruniversitäre Dialog verebbt, die Identität mit dem Bürgertum<br />
verliert sich. Parallel dazu erfährt der Begriff der Bildung eine regressive<br />
Umgewichtung in einer Definition, die der Utilität den Vorrang gibt.<br />
Ein Jahr nach dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung<br />
ausgerufenen "Jahr der Geisteswissenschaften" ist nach ihrem Zustand zu fragen.<br />
Auf nahezu allen Wissenschaften lastet der Druck steigender Zweckrationalität.<br />
Unter dem Legitimationszwang von messbarer Praxisqualität werden die<br />
Geisteswissenschaften zu Stieftöchtern der Universitäten. Sie scheinen bestenfalls<br />
schmückendes Beiwerk der "nützlichen" Disziplinen in den von Aufsichtsräten<br />
geleiteten Forschungs- und Lehrbetrieben zu sein, welche den Geist von Universitas<br />
verdrängen.. Die politisch permanent eingeforderte Forderung nach Bildung in der<br />
Bildungsrepublik Deutschland, wie sie die Bundeskanzlerin aus der Not materialer<br />
Defizite ausgerufen hat, ist vornehmlich zweckrational von einem eindimensionalen<br />
Bildungsbegriff her definiert und an Märkten orientiert (materiale<br />
Ausbildungsqualifikationen/Behebung von 'Pisa-Defekten' u. a.). Es hat den<br />
Anschein, als habe die technische Zivilisation in der Krise ihrer Zukunft die Kultur<br />
des Gebildetseins überholt.<br />
Eine Geisteswissenschaft, die nicht energetisch in die Bildung und Zivilisation<br />
einer Gesellschaft wirkt, entschwindet in die Elfenbeintürme der Universitäten und<br />
überlässt Kultur und Zivilisation ökonomischen Spielregeln. Soll Bildung nicht den<br />
verbliebenen Schöngeistern vorbehalten bleiben, sondern auf das "universale<br />
humanum" bezogen sein, so muss sie naturwissenschaftliche und technische<br />
Kenntnisse in ihr Spektrum einbeziehen. Die damit verbundenen Erkenntnisse<br />
ergeben einen auf die menschlichen Lebensverhältnisse bezogenen Sinn, wenn wir<br />
uns angemessen 'gebildet' über sie verständigen und auf sie eingehen wie auf die<br />
kulturellen Gebilde.<br />
Was hat der um Bildung bemühte Mensch von den Geisteswissenschaften zu<br />
erwarten, wenn es um die Frage nach Bildung, nach gebildetem Wissen, geht ?<br />
Geisteswissenschaften vermitteln, gestalten und erinnern. Somit richtet sich ihre<br />
Tätigkeit allem zuvor auf Bildung, sie intendiert gebildetes Wissen als Grundlage vor<br />
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allem auch ethischer Reflexion in einer auf ökonomischer Rationalität versessenen<br />
und von Geschwindigkeit besessenen technischen Zivilisation.<br />
Über die Differenzen von wissenschaftlichen Kulturen hinweg geht es der<br />
Geisteswissenschaft wie den anderen Wissenschaften in der Wissenschaftswelt doch<br />
einzig und allein darum, ich berufe mich auf den früheren Vorsitzenden der<br />
Deutschen Forschungsgesellschaft, den Münchner Kollegen Wolfgang Frühwald,<br />
"Forschung und Wissenschaft in ihrer kulturbildenden Kraft zu betreiben, von ihrer<br />
Grundbestimmung her, 'die Mühseligkeiten der menschlichen Existenz' (Bertolt<br />
Brecht) zu erleichtern und vielleicht sogar jenes „universale humanum“ wieder zu<br />
finden, das in den geschichtlichen Abwandlungen verborgen liegt, uns aber in den<br />
Beschleunigungstendenzen der Nachmoderne abhanden gekommen scheint".<br />
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