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LOU ANDREAS SALOMÉ

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<strong>LOU</strong> <strong>ANDREAS</strong> <strong>SALOMÉ</strong><br />

JESUS der Jude.<br />

Essay<br />

Bearbeitet von George de Courtenay


2<br />

<strong>LOU</strong> <strong>ANDREAS</strong> SALOME<br />

JESUS DER JUDE.<br />

Lou Andreas-Salomé – Jesus der Jude.<br />

Essay<br />

Aus: Neue Rundschau (Freie Bühne), VII. Jahrgang, Erstes und zweites Quartal, S. Fischer Verlag, Berlin, 1896, S. 342-351. 9<br />

Seiten – 10 Digitalisat. Na-5. Mai.2014, zum Artikel: Christus, Elf Visionen von Rainer Maria Rilke. Anlage1


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Einst sagte man schlankweg: »alle Religion entsteht ans der Wechselbeziehung zwischen Gott und Menschen.« Heute,<br />

nachdem die wissenschaftliche Betrachtungsweise des religiösen Phänomens längst zu erklären versucht hat, wie in den<br />

primitiven Religionen die Gottheiten durch die Menschen selbst entstanden sind, beschränkt man sich darauf, anstatt der<br />

»Wechselbeziehung«, nur diese Eine Seite des Prozesses zu betonen. Dadurch wird man leicht dazu verführt, die andere Seite<br />

desselben in ihrer psychologischen Bedeutung zu unterschätzen.<br />

Indem man vom Menschen ausgeht, anstatt wie einst vom Gott, übersieht man fast unwillkührlich, dass das eigentliche<br />

religiöse Phänomen in der That erst gegeben ist in der Rückwirkung einer, gleichviel wie entstandenen, Gottheit auf den an sie<br />

glaubenden Menschen. Nur wo es sich um die Erklärung der allerprimitivsten Religionszustände, – um diejenigen also handelt,<br />

die uns, streng genommen, nirgends historisch vorliegen –, da genügt es einigermaassen, die Götter ausschliesslich auf ihren<br />

anthropomorphen Charakter hin anzusehen, und nach den Bedingungen zu fragen, unter welchen die Menschen sie in jedem<br />

einzelnen Fall so und nicht anders gebildet haben.<br />

Hingegen genügt dies nicht mehr, sobald die Religionen sich cultiviren und compliziren, sich verinnerlichen und ein<br />

persönlicheres Gepräge annehmen, bis sie endlich, aus den dumpfen Glaubenssuggestionen der Masse, an die Führerschaft<br />

einzelner grossen Persönlichkeiten übergehen, um in den Talenten, Genies und »Stiftern« der Religionen ihre höchste<br />

Fortentwicklung zu finden. Denn in allen diesen Fällen ist das Wesentliche die Einwirkung der längst zu Recht bestehenden,<br />

konkret bestimmten und gläubig anerkannten Gottheiten auf die Gesinnung eines Menschen, den sie allmählich so ergriffen,<br />

so »gottdurchtränkt« haben, dass er nur in ihnen sich selbst lebt und ertragt.<br />

Die Frage lautet dann eben: wie hat die ursprünglich menschenerschaffene Gottheit durch ihren<br />

Einfluss den Menschen so in ihren Dienst genommen, wie ist sie, sein Geschöpf, zum schöpferischen<br />

Prinzip seines gesammten innern Lebens geworden? Und erst in dem Maasse, als sich ein solcher Prozess schon vollzogen hat,<br />

kann man im engern Sinn von religiösen, d. h. sich auf die Gottheit beziehenden Empfindungen sprechen, denn diejenigen<br />

Gefühle, die ursprünglich aus dem Drang menschlicher Furcht, Noth, Hoffnung, Schwäche zur Götteranbetung getrieben haben<br />

mögen, fallen durchaus zusammen mit den Gefühlen, die das Dasein mit seinen Wechselfällen Überhaupt erregt, – haben sich<br />

nicht auf diesem besonderen Gebiet spezialisirt. Ja, man kann sagen: die ursprünglich götterbildenden Regungen und die von<br />

schon vorhandenen Göttern gebildeten Regungen, die sich allmählich im Verlauf der Religionsentwicklung nothwendig<br />

ergeben, verhalten sich, logisch und historisch betrachtet, wie zwei ganz von einander verschiedene Empfindungskomplexe,<br />

und beinahe wie Ursache und Wirkung.<br />

Psychologisch betrachtet, spielen sie dagegen natürlich in jedem einzelnen Fall in der ganzen Geschichte der Religionen und<br />

des menschlichen Seelenlebens fortwährend ineinander über. Schon in den ältesten uns erhaltenen Hymnen stossen wir auf<br />

Ausdrücke hingebender Gottbegeisterung, und andererseits erkennen wir unschwer noch innerhalb des durchgeistigtesten<br />

Kultus überall die Motive unreligiösen Charakters, – d. h. der Benutzung der Gottheit als eines Mittels für menschliche Zwecke.<br />

Es giebt ebendeshalb auch keinen Maassstab für die Prüfung eines mehr oder minder rein religiösen Fühlens auf den<br />

verschiedenen Kulturstufen und bei den verschiedenen Völkern; die Religiosität, als ganz auf Gott gerichtete Seelenverfassung,<br />

erscheint wohl als die Blüthe einer gewissen mittlern Entwicklung, aber sie blüht und welkt nicht nothwendig mit der<br />

steigenden oder sinkenden Kulturhöhe eines Volkes, ja, sie ist nicht einmal nothwendig abhängig von dessen rohern oder<br />

geistigem Gottesbegriffen. Nicht wie ein Volk sich seinen Gott gestaltet oder ihn von Andern übernommen hat, sondern nur in<br />

welcher Weise und in welchem Grade dieser Gott auf dieses Volk


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zurückwirkt, entscheidet darüber; was uns die abgeklärteste, vergeistigteste Gottesvorstellung zu sein scheint, kann sich zu<br />

Zeiten als religiös völlig unfruchtbar erweisen, oder kann, – wie dies z. B. der islamitische Monotheismus unter den<br />

polytheistischen arabischen Stämmen gethan hat, – geradezu die Innigkeit der Religion schädigen. Ebenso kann unter<br />

bestimmten Umständen die grobsinnlichste Gottes Vorstellung eine Fülle religiösen Lebens in einem Volk zeitigen.<br />

So entzieht sich das religiöse Phänomen der Möglichkeit seiner wissenschaftlichen Durchdringung desto mehr, je mehr es zur<br />

Reife kommt, d. h. je mehr es sich conzentrirt und seelisch vertieft, denn es verliert damit zugleich seine gröbern, historisch<br />

fixirbaren Aeusserungsformen, seine allgemeinen und gleichmässig geltenden Normen, – es wird heimlicher, individueller, und<br />

schliesslich nur noch erfassbar in der feinen psychologischen Monographie oder dem persönlichen Erleben. In Bezug auf die<br />

Seelenprobleme der Religion gilt eben das, was von so manchem Gebiete der Wissenschaft gilt, dass in dem Maasse, als ihre<br />

Erkenntnissmethoden immer strengere und reinere geworden sind, sie ihre Beute gerade in dem Augenblick loslassen muss,<br />

wo diese anfängt am interessantesten, am problematischesten zu werden.<br />

Nun kann es sich aber ereignen, dass das, was ein religiöses Genie ganz heimlich und individuell in seinem Innern erlebt, durch<br />

ein besonders glückliches Zusammentreffen von Zeiten, Umständen und historischen Zufälligkeiten, ausnahmsweise einmal in<br />

seinen Gottesvorstellungen völlig nach aussen gelangt, – sich den absolut adäquaten Ausdruck in Worten und Bildern schafft,<br />

so dass also, wie etwa in dem Werk eines Dichters dessen höchster künstlerischer Traum, der höchste religiöse Traum der<br />

Menschheit uns in seiner ganzen Vollendung gleichsam greifbar, plastisch geworden, entgegentritt.<br />

Von allen Zaubern, die der ursprünglichen Lehre Jesu, oder dem was der Hauptsache nach dafür gilt, anhaften, ist dies wohl<br />

einer der grössten Zauber, den sie selbst auf die glaubenslosesten Menschen auszuüben vermag: dass in ihr das tiefste Sehnen<br />

und Bedürfen der religiösen Seele, des auf Gott gerichteten Gemüthes, nackt und restlos ausgesprochen zu sein scheint. Im<br />

Menschen, der ganz in der Liebe zum Gott aufgeht, kann der Gott sich natürlich auch nur spiegeln als Liebe, wenn keine<br />

fremden Vorstellungen oder Zuthaten dieses Bild verwischen oder trüben, – und der Mensch, der sich in diesem Einheitsgefühl<br />

mit seinem Gott ganz als dessen Kind empfindet, kann ihn auch nur als seinen Vater erfassen und begreifen. Insofern ist in dem<br />

Vater- und Kindschaftsverhältniss, in welchem die Jesu-Lehre Gott und Welt in Einem Liebesbilde zusammenschloss, für alle<br />

Zeiten die höchste Religiosität auf ihren klassischen Ausdruck gebracht worden.<br />

Und damit zugleich der vollkommenste Gegensatz zur ursprünglichen Entstehung der Götter durch die Menschen: Damals<br />

lehrte, brutal geredet, die Noth den Menschen beten, veranlasste ihn, sich hülfeheischend an die Götter als an die mächtigsten<br />

Hülfsmittel zu wenden, – hier dagegen ist das »Eine das Noth thut« Gott selbst und seine innigste Nähe geworden, alles Andere<br />

aber, das ganze<br />

Leben nur Mittel zur Erfüllung dieses höchsten Zweckes. Mit einem Wort: hier erst ist der seelische Widerspruch gelöst, der<br />

darin liegt, dass der Mensch vor dem menschenerschaffenen Gott, seinem eigenen Geschöpf, kniet, dieser Widerspruch, der<br />

nothwendig tief im Herzen aller Religion steckt und nur in den Augenblicken der unermeßlichsten, unbedingtesten Hingebung<br />

und Begeisterung dem Gott gegenüber seelisch überwunden werden kann. Deshalb ist auch das Neue, was die grossen<br />

Religionsstifter zu Stande bringen, eigentlich nie ein neues Erschaffen von Gottheiten, sondern vielmehr eine neue<br />

Herzensstellung zu ihnen, ein Zurechtrenken der schiefen und zweideutigen Stellung, die von vornherein, durch den irdischen<br />

Gott-Ursprung, gegeben ist.<br />

Daher verkörpert sich jedesmal dann die neue Lehre in einem einzelnen gotterfüllten Menschen, welchem der Gott sich klarer<br />

und wahrer als bis dahin enthüllt, offenbart, und welcher als der


5<br />

natürliche Vermittler zwischen Gott und den andern Menschen angesehen wird. Denn nur für ihn fallen alle die Verkleidungen<br />

und Scheidewände wahrhaft fort, die sich am die Gottheit herum gebildet haben, weil die anbetenden Menschen diese nicht<br />

liebten, sondern nur brauchten, und sie darum durch jeden göttlichen Machtzuwachs, den sie ihr im Laufe der Entwicklung aus<br />

unbewussten Nützlichkeitsgründen zugestanden, immer weiter von ihrem Gemüthe entfernten. Erst die grossen religiösen<br />

Charaktere sind dann wieder nöthig, um den machtvoll, aber nicht liebevoll gewordenen Gott der von ihm beherrschten Welt<br />

zu nähern, und in der tiefen Intimität des religiösen<br />

Verhältnisses, in dem innigen Einheitsgefühl, durch welches sie das ermöglichen, kommt auch ihnen noch einmal, auf der<br />

Spitze der Religion, naiv und grossartig zu Tage, was von Urbeginn der Zeiten die grobe Basis aller Religion ausmacht: nämlich<br />

die faktische Einheit von Göttern und Menschen. – die Thatsache, dass beide gleichen Wesens, dass sie identisch sind.<br />

Dieser irdische Boden, auf dem die Religion erwachsen ist, kann also unter solchen Umständen der Grund zu ihrer höchsten<br />

Blüthe werden, kann am weitverzweigten Stamm der Religionsentwicklung die herrlichste Frucht zur Reife bringen. Aber nur<br />

seelisch ist damit die Stellung des Menschen zum Gottwesen des ihr anhaftenden innern Widerspruchs enthoben, zu einer<br />

positiven Gemüthswahrheit eroben, – theoretisch betrachtet aber bleibt das Illusorische des ganzen Prozesses nicht nur<br />

bestehen, sondern verstärkt sich noch. Denn Anfangs, wo die menschliche Geistesthätigkeit noch gering ist, wo Alles noch<br />

phantastisch verschwommen oder stumpfsinnig beschränkt bleibt, wo das meiste Erkennen noch ein unsicheres Verkennen der<br />

Dinge darstellt, da fällt es nicht in's Gewicht, dass auch der Gott dem Wirklichkeitsbilde nicht entspricht.<br />

Später aber unterscheidet sich dieses Bild, so wie der Verstand und die tägliche Erfahrung es allmählich zusammensetzen, in<br />

immer zahlreichern Punkten von dem religiösen Weltbild, wie es von Gott aus besehen sich ausnimmt. Und je inniger und<br />

souveräner der religiöse Mensch sich die Wirklichkeit aus seinem Gottesgefühle heraus schafft, desto verkehrter müssen seine<br />

Anschauungen über sie in allen ihren natürlichen Beziehungen ausfallen, bis zwischen beiden ein unversöhnlicher Gegensatz,<br />

eine unüberbrückbare Kluft entsteht. Denn das ist gerade die Art des wahrhaft naiven religiösen Genies, dass es sich bei<br />

seinem Schaffen von nichts bestimmen lässt als von dem, was ihm sein religiöser Genius einflüstert, dass es dagegen alle<br />

Erwägungen zweiten Ranges, alles was daneben Einfluss gewinnen will, ebenso rücksichtslos von sich weist, wie der grosse<br />

Klnstler bei seinem Werk.<br />

Denen, die nach ihm kommen, überlässt das religiöse Genie es dann, seine Visionen in bessern Einklang zu bringen mit den<br />

Erfahrungen des Lebens und Verstandes. Und wo dies geschieht, wo die spätere Entwicklung glücklich ergänzt und vermittelt<br />

zwischen der Welt der Wirklichkeit und der Welt der religiösen Illusion, da thut sie auch immer schon in demselben Masse dem<br />

beseligenden Inhalt der ursprünglichen genialen Conception Abbruch.<br />

Gewöhnlich redet man dann freilich mit Befriedigung von der spätem, »geistigern« Auffassung der ursprünglich vom Stifter<br />

noch ganz kindlich und positiv gemeinten Dogmen oder Lehren, und diese »Vergeistigung« geht dann weiter und weiter, bis<br />

endlich alle Glaubensideen in eine blasse Philosophie einmünden, deren Begriffe dehnbar genug sind, um jene in irgend einer<br />

geistreichen Deutung unterzubringen.<br />

Das religiöse Gemüth lehnt sich denn auch nicht direkt gegen diese Einmischung des Verstandes auf, obschon durch sie das<br />

vollendete Werk zerstört wird, das ein Genius ihm schenkte, denn es ist schon


6<br />

dazu erzogen, sich nur so weit auszuleben, als der Verstand es ihm in halbwegs aufgeklärten Zeiten gestattet. Wo es kräftig<br />

religiös veranlagt ist, da versucht es, die neuen, weit unbequemem und ungeeignetem Glaubensformen, die man ihm noch<br />

erlaubt, mit dem alten, schönen Glaubensinhalt zu füllen, aber immer schwerer gelingt dies, immer mehr und immer<br />

Wesentlicheres fällt dabei zu Boden, immer grösserer Kraftanstrengung bedarf es, um mit den ihm angelegten Fesseln und<br />

Verstandesapparaten so hoch in die zuversichtliche Glaubensstimmung aufzufliegen wie einst.<br />

Daher die allgemeine Erscheinung, dass religiöse Genies alter Zeiten, wie auch Jesus eines war, etwas so überaus Schlichtes und<br />

Kindliches haben, und selbst noch in ihren Extasen etwas Naives und Natürliches bewahren, als verständen sich die<br />

ausserordentlichen Dinge, die sie verkünden, ganz von selbst, – während die religiösen Menschen späterer Zeiten nur<br />

allzuleicht der Schwärmerei und Exaltation anheimfallen und gewissermassen aus dem Gleichgewicht ihrer Seele<br />

herausmüssen, um überhaupt auf die Höhen ihres Schauens und Glaubens zu gelangen: in diesem bewussten Gegensatz<br />

zwischen ihrer täglichen und ihrer religiösen Stimmung, zwischen den Gegenständen ihrer Verstandeserfahrung und denen<br />

ihres Glaubens liegt schon ein Ansatz zum Zweifel.<br />

Ob man deshalb sagt: Jesus, – oder sonst irgend ein grosses religiöses Genie, – stellte seinen Gott dar in dessen ganzer innerer<br />

Wahrheit, oder in dessen ganzem äusserm Verstandeswahn, ist fast dasselbe. Vielleicht haben Andere den Gott ebenso wahr<br />

und lebendig empfunden, aber nicht in jedem Fall durfte ihnen dies lebendige Gefühl ebenso reiche und passende Farben auf<br />

die Palette reiben, um das Gottesbild, unbekümmert um alles andere, in seiner ganzen Herrlichkeit und Güte auszumalen, –<br />

und so empfing es denn nach aussen hin seine Züge nur zum Theil vom Gefühl, zum Theil aber von andern Rücksichten. Dass es<br />

gerade Jesus gelang, seinen Gott so unvergleichlich zu schauen und zu gestalten, hängt eng mit dem Charakter des gesammten<br />

Judenthums zusammen, der ihm diese That erleichterte. Die jüdische Religion unterschied sich von allen übrigen nicht am<br />

wenigsten durch ihre tiefreligiöse Eigentümlichkeit, dass sie sich eigentlich niemals mit Verstandeskämpfen befasste.<br />

Sie liess jedesmal die theoretischen Widersprüche, die sich etwa ergaben, getrost stehen, und ihr ganzer Gehalt ging<br />

ausschliesslich auf in den praktischen Herzensfragen und Herzenssorgen zwischen Gott und Menschen. »Wie stehen wir<br />

innerlich zueinander? und was folgt aus unserer Stellung zueinander?« hiess ihre Kernfrage.<br />

Der Jude grübelte nicht über seinen Gott, er litt und lebte und fühlte. Gerade hierin erscheint Jesus als der schärfste Ausdruck<br />

des Judenthums selbst, und keineswegs als dessen »Ueberwinder«.<br />

Man vergleiche damit die Religionsentwicklung arischer Völker, die ja neben den Semiten den zweiten grossen Religionsstamm<br />

der Vergangenheit darstellen. Daher bei den Juden die naive, hartnäckige Voraussetzung, dass jede Verheissung Gottes sich<br />

selbstverständlich schon auf Erden, im wirklichen Lehen, auf das Unzweifelhafteste erfüllen müsse. Gewiss liegt ja hierin viel<br />

von dem kräftigen, auf das Irdische und Lebensvolle gerichteten Sinn aller semitischen Völker, die schon einst, als sie ihre<br />

Sprache schufen, nicht wie die Arier die Seele im Athem (Hauch, Geist), sondern im Blute sahen. Aber es liegt zugleich darin die<br />

echte Gewalt eines wahren, kindlichen Glaubens, dem ein Zweifel garnicht nahe kommt, und der sich deshalb auch garnicht<br />

davor fürchtet, dass das Leben ihn am Ende Lügen strafen, und die Gottessegnung ausbleiben könnte.<br />

Man hat so viel vom »Kontraktgeist« der jüdischen Religion gesprochen, aber soweit man nicht eine ganz bestimmte Periode<br />

der Verknöcherung und des Gealtertseins dieser Religion darunter versteht, fällt er doch wohl nur deshalb so stark in die<br />

Augen, weil das Eingreifen Gottes unmittelbarer und irdischer erwartet wird.


7<br />

Die himmlischen Güter des Jenseits spielten bei den Juden keine Rolle, da sie innerhalb ihrer eigenen Religion niemals<br />

selbständig eine Jenseitslehre ausgebaut hatten, sondern diese erst spät, namentlich auf Grund persischer Einflüsse zugleich<br />

mit der Engel- und Dämonenlehre rein äusserlich aufgenommen haben.<br />

Alle Religion beruht schliesslich auf einer Art von Kontraktverhältniss, d. h. auf einer irgendwie geordneten Gegenseitigkeit der<br />

Beziehungen zwischen Gott und Menschen; ich finde aber, dass der Jenseitsglaube, der bei den andern Völkern die<br />

Belohnungen und Bestrafungen, oder, religiös gesprochen: die Seligkeit der Gottesnähe und die Unseligkeit der<br />

Gottesverlassenheit, bis in das Leben nach dem Tode hinausschiebt, an diesem Kontraktcharakter garnichts ändert. Hingegen<br />

ist gerade der Mangel des Jenseitsglaubens, meiner Meinung nach, ganz ausserordentlich bezeichnend für die naive Festigkeit<br />

der jüdischen Religiosität, indem dieser, wie kein anderer Glaube, die Zuversicht auf Gott erleichtert und tröstlich macht.<br />

Erst durch ihn ist ja die Möglichkeit gegeben, den Zweifeln auszuweichen, wenn das wirkliche Lehen den Vorstellungen von<br />

Gott nicht entspricht, weil alle Räthsel und Widersprüche im Jenseits noch ihre Lösung finden mögen. Man könnte das Jenseits<br />

insofern geradezu definiren als eine in der Phantasie vorgenommene Verlängerung der beiden parallellaufenden sich niemals<br />

berührenden Linien von Glauben und Leben, Wunsch und Wirklichkeit, Gottesverheissung und Welterfahrung, – die, in's<br />

Unendliche verlängert, dem menschlichen Blick die wohlthätige Täuschung aufdrängen, dass sie schliesslich zusammentreffen.<br />

Darum hängt es nicht zum wenigsten von einer plausibeln Entwicklung der Jenseitstheorien ab, wie lange und wie erfolgreich<br />

eine Religion sich gegen alte Skrupel wehren, und wie viele Anhänger sie sich gewinnen kann. Um die Zeit von Jesu Geburt<br />

waren dem Judenthum viele Heiden zugethan, die sich allerdings infolge der allzurigorosen Reinlichkeitsbestimmungen nicht in<br />

den jüdischen Verband aufnehmen liessen, sondern unter dem Namen der »Gottesfürchtigen« nur am Kultus theilnahmen,<br />

aber zu einer wirklichen Weltreligion hätte es sich dennoch nicht ausbreiten können, weil in der ganzen alten Welt allmächtig<br />

stark der Schrei nach dem Jenseits laut geworden war und Befriedigung um jeden Preis verlangte: der Nothschrei der<br />

lebensmüden, der sinkenden Kulturen. Indem das Judenthum auf diese Hauptsache verzichtete, indem es seine Religion<br />

muthig und kindlich auf das gründete, was sie ihrem innern Sinn und Wesen nach war, nämlich eine Korrektur und Beseligung<br />

des praktischen Menschenlebens, – begab es sich auf den gefährdetesten Posten, auf den nicht Viele ihm zu folgen<br />

vermochten.<br />

Es besass die bornirte Grossartigkeit, denjenigen Zusatz zu seiner Religion zu verschmähen, der allein ihre Existenz noch<br />

schützen konnte, obwohl – oder vielleicht weil – er kein rein religiös bedingter Zusatz war. Das Judenthum fuhr fort Ernst zu<br />

machen mit der innersten Glaubensvoraussetzung: »was Gott verspricht, das muss das Leben halten«, – und machte damit<br />

sozusagen die Probe auf das Exempel: die nur tragisch enden konnte.<br />

Der Islam hat seinerzeit, als er zur Weltreligion emporstieg, genau das entgegengesetzte Verfahren eingeschlagen: er hat dem<br />

Altaraberthum alle strotzende Lebenskraft ausgebrochen und die altarabische Welt und Heiterkeit verschüttet, um dafür auf<br />

ihr das künftige Paradies aufzubauen, in dessen sinnlicher Ausmalung und Pracht sich die gewissermassen nur versetzte<br />

semitische Vollblütigkeit noch zeigt. Und damit hat er die Völker siegend um sich vereinigt, was der so unendlich viel edlern<br />

jüdischen Religion versagt blieb. Der Moslim, der auf dem Schlachtfelde stirbt, nachdem er im Kampfe für Allah noch einmal<br />

seinen nun eigentlich verpönten blutdürstigen Instinkten recht irdisch hat fröhnen dürfen, und dann dafür in das glänzende<br />

ewige Paradies eingeht:


8<br />

das ist der denkbar schneidendste Gegensatz zum Juden, etwa zur Zeit der römischen Herrschaft, der als Märtyrer für seinen<br />

untergehenden Glauben stirbt. Denn was bedeuten die Leiden selbst all der christlichen ihres Himmels gewissen Märtyrer<br />

gegen dieses Leiden des Treuen und doppelt Hoffnungslosen: hoffnungslos, weil Gott sich an ihm nicht bestätigt, seine Macht<br />

und sein Versprechen nicht bewahrheitet, – und weil der Moment der Selbstaufopferung, der höchsten menschlichen Treue,<br />

zugleich den grässlichen Tod im Zweifel in sich schliesst, im Zweifel an der göttlichen Treue, an der göttlichen Existenz.<br />

Zur Zeit Jesu litt und kämpfte bereits das Judenthum um der Widersprüche willen, die Leben und<br />

Glauben auseinanderzureissen drohten. Die Klage, die im erschütterndsten aller religiösen Klagelieder, dem Buch Hiob, zu uns<br />

spricht, war schon in das Bewusstsein Vieler gedrungen. In den immer wieder erneuten Messiaserwartungen sprach sich nicht<br />

zum wenigsten die Zuversicht aus, Gott müsse sich endlich auf das Zweifelloseste und Sichtbarste beweisen, müsse klar werden<br />

lassen, was denn versehen worden sei. Aber auch jetzt, in den Zeiten schweren politischen<br />

Zusammenbruchs, wird die Lösung der Frage immer noch praktisch, im Leben selbst, nicht mit Hülfe spitzfindiger Theorien und<br />

vermittelnder Philosophieen gesucht. Sogar der vielverlästerte Pharisäismus ist in seiner Art ein Beweis dafür, wie wenig die<br />

jüdische Religiosität sich durch den Verstand zu helfen wusste, wie ganz sie sich innerhalb der Handlung und Gesinnung<br />

bewegte.<br />

Die Härte, ja die pedantische Widersinnigkeit des Pharisäischen Gesetzesfanatismus war nichts als ein hülfloser letzter<br />

gewaltiger Appell an die göttliche Gerechtigkeit: »Wenn Israel nur zwei Sabbate hielte, wie sich's gebührt, so würde es sofort<br />

erlöst werden!« (Schabbath f. 118 b.) Und weil es nicht erlöst wurde, – die steigende Rigorosität der Vorschriften. Sicher<br />

beruhte die wohlthuende Wirkung, die von Jesu Persönlichkeit ausging, zum grössten Theil in seinem frohen, von keinen<br />

Skrupeln und Aengsten erschütterten Gottvertrauen, das »sich nicht sorgte,« so wenig wie die Lilien auf dem Felde oder die<br />

Vögel unter dem Himmel, weil es der Liebe des Vaters in seiner eigenen kindlichen Liebe überschwänglich gewiss war.<br />

Um zu dieser Auffassung zu gelangen, brauchte Jesus nur auf die vorexilischen Propheten zurückzugehen, für welche der<br />

fromme Wandel vor Gott noch ein Zeichen des Dankes und der Ehrfurcht, nicht aber ein Werk war, mit dem man sich mühsam<br />

Gottes Segen erkämpfen und verdienen musste. »An Liebe hab ich Gefallen, und nicht am Opfer,« sprach Jesu mit dem Gott<br />

des Propheten Hosea und mancher Anderen.<br />

Ja, Jesu eigner Zeitgenosse Hillel hat Maximen ausgesprochen, die den bei Matthäus in der sogenannten Bergpredigt<br />

stehenden völlig gleichen, und die Originalität der Persönlichkeit kann hier wesentlich nur in der freudigen Ruhe und<br />

Beseligung gelegen haben, die Jesus in seiner Einheit mit Gott empfand. Diese Innigkeit und Verinnerlichung, die er damit dem<br />

religiösen Verhältniss gab, hob dasselbe für seine Umgebung vielleicht einen Augenblick aus den lastenden äussern Zweifeln<br />

und<br />

Sorgen heraus: gehoben wären diese aber freilich erst dann gewesen, wenn Jesus mit seinem Gottvertrauen im weitesten<br />

Maasse Recht behielt, – d. h. wenn Gott sein Werk auf das Sichtbarlichste segnete.<br />

Kein Zweifel, dass Jesus das als ganz selbstverständlich voraussetzte, und dass er seine Mission erst vollendet glauben konnte<br />

mit dem politischen Sieg, mit der Bekehrung der Oberen und der Aufrichtung des Messiasreichs. Kann denn ein Vater sein Kind<br />

preisgeben, wenn es hingebt, ihn zu verkündigen? wie sollte er jemals für möglich halten, dass Gott ihn in seinem kindlichsten,<br />

heiligsten Thun im Stiche lassen werde?


9<br />

Wenn man die Verschmelzung der religiösen Mission Jesu mit seiner politischen später so rasch wie möglich weggeleugnet hat,<br />

so ist das nur natürlich, da der jüdische Messias zum metaphysischen Erlöser der ganzen Welt sublimirt werden musste, und<br />

gerne vergass man dabei, dass die Bezeichnung »Gottes Sohn« in den Psalmen und bei den Propheten ein Titel des irdischen<br />

Königs war. Denkt man sich aber in die Seelenstimmung des wirklichen Menschen Jesus hinein, des Juden seiner Zeit, nicht des<br />

konstruirten, sei es freisinnigen Jesus oder orthodoxen Christus, in das, was in ihm vorgehen mochte, als er seine Sache<br />

verloren sah, so gewinnt der Kampf in Gethsemane eine geradezu furchtbare Bedeutung.<br />

Denn dann war er, als er starb, eben nur der erste jener vorhin erwähnten jüdischen Märtyrer, die in einem entsetzlichen<br />

Zweifel, mit starr und hülflos zum unerbittlichen Himmel gerichteten Augen, gestorben sein mögen. Bis hinein in die letzte<br />

Stunde, von Gethsemane bis Golgotha, hat er gewiss seine sinkende Hoffnung tapfer und mit Aufwand aller Glaubenskraft<br />

getragen, denn es ist als wahrscheinlich anzunehmen, dass er sich vor dem Prokurator als den Gesalbten Gottes bekannt hat:<br />

schon die Inschrift am Kreuz lässt dies vermuthen.<br />

Noch im letzten Augenblick, als er schon am Kreuze hing, mag er seinen Gott entschuldigt haben, denn immer noch war ein<br />

Wunder möglich, und musste geschehen: ein Gerechter konnte nicht im Elend sterben, nicht seinen Feinden erliegen, konnte<br />

nach jüdischen Begriffen am allerwenigsten den schimpflichsten Tod, den Tod der äussersten Schmach am Kreuze, erleiden, –<br />

selbst wenn er der Messias nicht war, sondern nur der gerechten Juden einer, so sicherte ihn davor Gottes feste, heilige<br />

Verheissung.<br />

Es liegt ein tiefer Sinn in der üblichen orthodoxen Deutung von Jesu Sterben, wenn sie sagt: »nein, er litt nicht den Tod allein, er<br />

litt das Leiden der ganzen Menschheit.« Das Leiden der religiösen Menschheit, das ihr selbst nicht zum Bewusstsein kommt,<br />

das ihn aber vielleicht mit grässlicher Klarheit durchzuckte, als er für sein Volk die Probe auf's Exempel machte.<br />

Die Religion in ihrer ganzen Wahrheit und in ihrem ganzen Wahn, verkörpert in einem Menschen, verblutete hier an dem<br />

Kreuze, das seitdem, eigentümlich genug, zum Symbol der Religion geworden ist. Mit Bestimmtheit wissen wir von Jesus nur,<br />

dass er Nachmittags, allein, mit einem lauten Schrei verschieden ist, von ferne erblickt von drei Jüngerinnen, die zu seinem<br />

Hügel hinüberschauten. Aber das älteste der ihm zugedichteten »Herrnworte«, das in seiner Angst und Noth so seltsam in die<br />

später erfundenen Segensworte am Kreuze hineinklingt, enthält, gleichviel ob er es gerufen hat, oder nach seinem Tode die<br />

trostlose Verzweiflung und Scham der Jünger, denselben Schrei der höchsten Qual, nur in artikulirten Lauten:»Mein Gott! mein<br />

Gott! warum hast Du mich verlassen?«<br />

In diesem Ende Jesu ist die Tragik des Judenthums gleichsam persönlich zum Ausbruch gekommen; wer kann sagen, wie viele<br />

Vorgänge ähnlicher Art sich im Stillen und in geringerm Maassstabe noch abgespielt haben, bis die jüdische Religion sich ihrem<br />

Schicksale ergab, d. h. auf jede<br />

Weiterentwicklung verzichtete, zu ihrer heutigen Gestaltung verknöcherte und innerlich abstarb.<br />

Aber da geschah vorher das höchst Merkwürdige und Geheimnissvolle: indem sie verblutete und starb, gab sie einer jungen<br />

Weltreligion das Leben. Denn die ersten Auferstehungsberichte, diejenigen, aus denen plötzlich das Christenthum<br />

hervorsprang, fallen noch gänzlich in den Bereich der jüdischen Religion.<br />

Das Christentum ist das Resultat eines jähen und ungeheuren Stimmungs-Umschwunges im Jüngerkreise, einer unbegreiflichen<br />

Umkehrung der tiefsten Enttäuschung und Deniüthigung in


10<br />

vollkommene Beseligung, für die es fortan keine Rath sei und Aengste mehr giebt: und der Grund davon ist ohne Zweifel Jesu<br />

Erscheinung unter seinen Getreuen. Wir leugnen die Auferstehung aus logischen, nicht aus historischen Gründen, denn wir<br />

wissen nicht, was damals vor sich gegangen, wir können nur aus der riesenhaften Wirkung, mit der das Christenthum steht und<br />

fällt, auf die Ursache zurückschliessen.<br />

Eine solche Wirkung: den anhaltenden und unwiderstehlichen Enthusiasmus innerhalb einer neuen, frischen,<br />

entwicklungsfähigen Religion hervorzubringen, hatte das Judenthum sich ausser stande gezeigt; es endete mit der Niederlage<br />

seines letzten Versuches. Ebenso unfähig erwies sich dazu die alte Welt mit ihren alten, alternden Religionen, an die der<br />

Glaube zusammengesunken war. Dennoch entstand nun zwischen beiden, aus beiden gemischt und doch selbständig, plötzlich<br />

ein drittes Gebilde, das allen Anforderungen genügte und eine neue Weltepoche einleitete.<br />

Das Judenthum gab ihm die historische Basis sozusagen, schob ihm das alte Testament, die feststehende, geheiligte Tradition,<br />

noch als Sockel unter die Füsse, lehnte es aber dann gänzlich von sich ab, als die darauf aufgerichtete Gestalt immer deutlicher<br />

rein asketische und himmlische Züge aufwies.<br />

Das Heidenthum seinerseits bemächtigte sich der neuen Thatsache, der feststehenden, in der<br />

Wirklichkeit begründeten, dass da ein Mensch auferstanden war, der (in der paulinischen Lehre) Erlösung und Seligkeit<br />

verkündete. Durch das ganze Heidenthum ging ja schon ein Bestreben, sich, auf dem Wege der Grübelei und Askese, einen<br />

sicheren Jenseitsglauben zu schaffen, ohne dass es gelungen wäre, ihn hinterher den religiösen Vorstellungskreisen einzufügen,<br />

die in einer noch lebenskräftigen, weltfrohen Menschheit entstanden waren.<br />

Jenseitsglaube und Askese stellten die Rettung der alten Welt vor sich selbst dar und machten diese noch einmal schöpferisch,<br />

als es galt, die verschiedenartigsten, disparatesten Bestandteile der einander fremden Nationen und Culturen zu dem einzigen,<br />

gemeinsamen Werk Einer mächtigen Sehnsucht zusammenzuschweissen.<br />

Diese eklektische Entstehung des Christenthums, der urchristlichen Theologie, mit ihrem neuen Himmelsgott Jesus in der<br />

Mitte, hat keine Aehnlichkeit mit dem innern, höchsten Seelenprozess, in dem ein einzelnes religiöses Genie seine<br />

Gottoffenbarung empfängt und verkündet.<br />

Denn das Eine Mal handelt es sich eben um einen Ausbruch der höchsten, gesammelten und endlich Genie gewordenen<br />

Religiosität selbst, die in ihrer Gottversunkenheit Alles ausser Acht lässt angesichts der Gottvision, – das andere Mal aber<br />

handelt es sich um die wogende Gährung der widerstreitendsten praktischen Triebe und Empfindungen, die mit dem Leben<br />

nicht mehr in Einklang zu kommen vermögen und um Hülfe bei dem höchsten Hülfsmittel nachsuchen: bei der Gottheit.<br />

Von ihnen gilt, nur in einem feinern und complizirtern Sinn, dasselbe, was vom groben Ursprung der Götter überhaupt galt:<br />

dass die Noth zur Gott-Schöpfung treibt.<br />

Die Noth der rathlos gewordenen Völker hat das Christenthum in's Leben gerufen, und weil sie dasselbe brauchten, haben sie<br />

sogar aus dem leidenden, geschmähten Märtyrer Jesus dessen strahlendsten Mittelpunkt zu machen verstanden: die mystische<br />

Verknüpfung der tiefsten Erniedrigung mit der höchsten Erhöhung.


11<br />

Damit lösten sie mit paradoxer Keckheit den tödtlichen Widerspruch zwischen Leiden und<br />

Gerechtigkeit, an dem das Judenthum zu Grunde ging; sie kehrten einfach die Rangordnung um, – die Letzten wurden die<br />

Ersten, und wen Gott liebte, den züchtigte er.<br />

So ist Jesu Kreuzesbild stehen geblieben in dieser triumphirenden christlichen Glaubenswelt, und erinnert uns daran, dass es<br />

immer nur der Einzelne, der grosse Einzelne ist, der die Spitzen der Religion, ihre echte Seligkeit und ihre volle Tragik, erreicht.<br />

Was er dort oben erlebt, erfährt die Menge unten nicht; sein tragisches Ende, sein tragisches Erkennen bleiben so heimlich und<br />

individuell, wie seine Beseligung und Gotteinheit es waren, und entziehen sich der Geschichte.<br />

In das Triumphgeschrei des kompakten und nützlichen Glaubens, der für Alle ist, klingt immer nur ganz – ganz leise und<br />

schmerzlich das letzte Wort der Religiosität, die nur hier und da für einen armen Einsamen ist, – der sie zu tief durchkostete:<br />

»Eli! Eli! lama sabachthani!«<br />

11<br />

Albrecht Altdorfer Kreuzigung Christi.<br />

Eli Eli lama sabachthani! Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen


12<br />

Ein georgeBook.<br />

Essay Jesus der Jude von Lou Andreas Salomé,<br />

bearbeitet von George de Courtenay, in<br />

Verbindung mit Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen.<br />

1St.Edition Juni 2014

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