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19./20. Oktober 2013 / Nr. 42 ORTSTeRmin<br />
Notre-Dame de Chartres (links Engel mit Sonnenuhr an der Fassade) ist „Urbild“ der hochgotischen Kathedrale und das bedeutendste Marienheiligtum Frankreichs. Doch<br />
auch der Ort selbst lohnt mit seiner umfassend erhaltenen mittelalterlichen Bausubstanz den Besuch. Rechts das Maison du Saumon (Lachshaus, 16. Jahrhundert).<br />
ein HeiligeR ORT<br />
Kaum fassbare dimensionen<br />
Die Kathedrale von Chartres lässt Besucher heute wie vor 800 Jahren staunen<br />
ein heiliger Ort von kaum fassbaren<br />
Dimensionen – als solcher<br />
zieht die Kathedrale<br />
Notre-Dame de Chartres seit bald<br />
1000 Jahren Pilger aus allen Teilen<br />
der Welt in ihren Bann. 130 Meter<br />
lang ist das Gotteshaus, das den malerischen<br />
40000-Einwohner-Ort 75<br />
Kilometer südwestlich von Paris<br />
weithin sichtbar überragt. Sein<br />
Querschiff gilt mit 64 Metern als<br />
das längste Frankreichs. Notre-<br />
Dame de Char tres, Teil des Unesco-<br />
Weltkulturerbes, ist die älteste und<br />
am besten erhaltene hochgotische<br />
Kathe drale der Welt. Nahezu unbeschadet<br />
überstand sie die Jahrhunderte<br />
und wirkt so auf den heutigen<br />
Besucher kaum anders als auf den<br />
Pilger des 13. Jahrhunderts.<br />
Wer nach Chartres kommt,<br />
staunt. Der Bildhauer Auguste Rodin<br />
(1840 bis 1917) etwa sprach von<br />
der „Akropolis Frankreichs“. Der<br />
Schriftsteller Joris-Karl Huysmans<br />
setzte Chartres 1898 mit „La Cathédrale“<br />
ein literarisches Denkmal.<br />
Schlüsselelement der Ausstrahlungskraft<br />
der Kathedrale ist ihr einzigartiges<br />
„sakrales Licht“: Mit 2600<br />
Quadratmetern Gesamtfläche besitzt<br />
Notre-Dame de Chartres den<br />
weltweit größten Schatz an Glasfenstern<br />
aus dem 12./13. Jahrhundert.<br />
Insgesamt 176 Fenster verweisen<br />
auf Höheres. Die ältesten leuchten<br />
auf besondere Weise: im klaren,<br />
reinen „Blau von Chartres“.<br />
Das Städtchen mit seinen verwinkelten<br />
Gassen, Hauptstadt des<br />
Départements Eure-et-Loire, gilt als<br />
bedeutendster Wallfahrtsort Frankreichs.<br />
Schon die romanische Vorgängerkirche<br />
zog Scharen von Pilgern<br />
an. Die Jungfrau Maria wurde<br />
hier seit jeher in besonderer Weise<br />
verehrt. Nach einem Brand im Jahr<br />
1194, der nahezu die gesamte romanische<br />
Kirche zerstörte, entstand in<br />
nur 26 Jahren der Neubau. Ein<br />
Wunder, so empfanden es die Menschen<br />
des Mittelalters, beflügelte die<br />
Baumeister: Die Reliquie der Tunika,<br />
die Maria bei der Verkündigung<br />
durch den Erzengel Gabriel getragen<br />
haben soll, hatte das Feuer unbeschadet<br />
überstanden. Tausende von<br />
Freiwilligen eilten nun nach Char-<br />
Die Kathedrale ist berühmt für ihre einzigartigen Glasfenster aus dem 12. und 13.<br />
Jahrhundert. Sie verliehen dem Ort den Beinamen „Stadt des Lichts“. Fotos: Loreck<br />
tres, um beim Bau zu helfen, Spenden<br />
flossen, Zünfte stifteten Glasfenster.<br />
Mit präzisem Wissen errichteten<br />
die Baumeister ein Wunderwerk<br />
nach dem Vorbild des „himmlischen<br />
Jerusalem“, durch dessen damals<br />
goldgefasste Portale mehr Pilger als<br />
je zuvor strömten, um der Jungfrau<br />
Maria nahe zu sein. Während die<br />
Kathedrale die Menschenmassen<br />
kaum fassen konnte, florierte die<br />
kleine mittelalterliche Stadt. Der<br />
Ort, seit dem 4. Jahrhundert Bischofssitz,<br />
zog Händler an und versammelte<br />
mit der Domschule von<br />
Chartres die wichtigsten Gelehrten<br />
der damaligen Zeit.<br />
Notre-Dame des Chartres ist eine<br />
Kirche der Superlative: Der Chor ist<br />
mit einer Gesamtfläche von 650<br />
Quadratmetern der größte Frankreichs,<br />
die aus dem 9. Jahrhundert<br />
stammende romanische Krypta die<br />
größte des Landes. Die Fensterrose<br />
mit einem Durchmesser von über<br />
13 Metern sucht ihresgleichen. Die<br />
neun Portale sind verziert mit 4000<br />
Skulpturen, in denen der mittelalterliche<br />
Mensch „lesen“ konnte,<br />
auch wenn er der Schrift nicht<br />
mächtig war: Die Geschichte der<br />
Menschwerdung Gottes beginnt am<br />
rechten Westportal mit der Kindheitsgeschichte<br />
Jesu und endet am<br />
linken Portal mit der Himmel fahrt.<br />
Berühmt ist Chartres auch für<br />
sein aus dem 12. Jahrhundert stammendes<br />
Labyrinth im Hauptschiff,<br />
das den Erlösungsweg symbolisiert.<br />
Zu Ostern begingen es einst die<br />
Geistlichen in einer Art Tanz, um<br />
die Auferstehung zu feiern.<br />
Susanne Loreck