Die-Jahrhundertluege-V6_1
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<strong>Die</strong> Unsicherheit und Besorgnis der Nachbarn über die Perspektive einer Wiedervereinigung<br />
Deutschlands wurde bereits unmittelbar nach der Maueröffnung deutlich, als der französische Präsident<br />
François Mitterrand am 14. November 1989 ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der zwölf<br />
Länder der Europäischen Gemeinschaft forderte, um "die jüngsten Entwicklungen in Europa zu<br />
diskutieren" und "eine gewisse Kontrolle über die Veränderungen zu gewinnen". Nach der Vorlage<br />
des Zehn-Punkte-Plans von Bundeskanzler Kohl am 28. November teilte Mitterrand einer Gruppe<br />
französischer Journalisten mit, er halte eine deutsche Wiedervereinigung für eine "rechtliche und<br />
politische Unmöglichkeit".<br />
Gegenüber Bundesaußenminister Genscher äußerte er, ein<br />
wiedervereinigtes Deutschland "als eine eigenständige<br />
Macht, unkontrolliert", sei unerträglich für Europa.<br />
Mitterrands langjähriger Vertrauter Régis Debray drohte<br />
sogar mit einer Wiederbelebung "der alten französischrussischen<br />
Allianz", falls ein wiedervereinigtes Deutschland<br />
zu sehr an Gewicht gewinnen sollte.<br />
Geschichtliche Belastungen und die Sorge vor Deutschlands aktueller Wirtschaftsmacht verschmolzen<br />
zu der Vorstellung einer Bedrohung, die eine Vereinigung der Deutschen als eine Gefährdung von<br />
Ordnung und Frieden in Europa erscheinen ließ.<br />
Für die britische Premierministerin Margaret Thatcher spielte der europäische Ordnungsaspekt eine<br />
besondere Rolle. In der Tradition klassischen britischen Gleichgewichtsdenkens hielt sie ein geeintes,<br />
starkes Deutschland für eine ernsthafte Herausforderung der seit dem Zweiten Weltkrieg erreichten<br />
Stabilität - nicht, wie früher, im militärischen Sinne, sondern aufgrund der Stärke der deutschen<br />
Wirtschaft, die durch die Einbindung in die Europäische Gemeinschaft noch vergrößert werde. Daher<br />
dürfe man die deutsche Wiedervereinigung "nicht übereilen".<br />
Ähnlich sah es auch der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti: Der Zehn-Punkte-Plan des<br />
Bundeskanzlers komme "zum falschen Zeitpunkt"; eine deutsch-deutsche Konföderation oder gar eine<br />
Wiedervereinigung seien nicht aktuell.<br />
In den USA dagegen betrachtete man die Vorgänge in Deutschland durchaus positiv. <strong>Die</strong><br />
Wiedervereinigung, die man selber seit 1945 stets gefordert hatte, wurde nicht abgelehnt, sondern als<br />
Erfüllung eines langfristigen Ziels westlicher Politik nachdrücklich begrüßt. Präsident Bush und<br />
Außenminister Baker hoben lediglich die Notwendigkeit hervor, den Einigungsprozess mit der<br />
konstruktiven Entwicklung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen in Einklang zu bringen.<br />
Außerdem müsse die Vereinigung der beiden deutschen Staaten sich innerhalb der Institutionen von<br />
NATO und Europäischer Gemeinschaft vollziehen und die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier<br />
Mächte berücksichtigen.<br />
Offiziell wurden die divergierenden westlichen Standpunkte schon auf der Sitzung des NATO-Rates am<br />
15. Dezember wieder zusammengeführt, als die Mitglieder der Allianz, einschließlich Frankreich, eine<br />
Erklärung verabschiedeten, die auf dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes beruhte und der<br />
zufolge die NATO "auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirken" sollte, "in dem die deutsche<br />
Nation in freier Selbstbestimmung ihre Einheit wiedererlangt".<br />
Faktisch jedoch waren die Bedenken einiger westlicher Verbündeter noch keineswegs ausgeräumt. Vor<br />
allem Frankreich und Großbritannien blieben bezüglich einer möglichen deutschen Wiedervereinigung<br />
zurückhaltend, auch wenn Präsident Mitterrand eine Woche später bei einem Besuch in der DDR<br />
einräumte, dass die Deutschen das Recht hätten, über ihren Wunsch nach Einheit selbst zu<br />
entscheiden.<br />
Bestimmend für die französische Haltung blieb allerdings die Tatsache der gesicherten Einbindung<br />
Deutschlands in westliche Institutionen. So erklärte Mitterrand während eines inoffiziellen Treffens mit<br />
Bundeskanzler Kohl im Januar 1990 auf seinem Landsitz in Latché in der Gascogne, das größte<br />
Hindernis für eine deutsche Wiedervereinigung sei "die Gefahr einer Neutralisierung Deutschlands", die<br />
als Ausweg aus der Mitgliedschaft der beiden deutschen Staaten in verschiedenen Militärbündnissen<br />
gesehen werden könnte. Daher müsse die deutsche Einigung mit einer Intensivierung der europäischen<br />
Integration einhergehen. Kohl stimmte dem zu und war schließlich auch einverstanden, als Paris<br />
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