SKOS CSIAS COSAS
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe
Conférence suisse des institutions d’action sociale
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale
Conferenza svizra da l’agid sozial
ZeSo
Zeitschrift für Sozialhilfe
04/15
armut und Wohnen die wohnversorgung armutsbetroffener ist
prekär im interview roland A. müller, direktor des schweizerischen arbeitgeberverbands
richtlinienrevision die neuen bestimmungen ab 1. januar 2016
SCHWERPUNKT14–25
Armut und WOHnen
Ein Grossteil der armutsbetroffenen Menschen in
der Schweiz ist nicht angemessen wohnversorgt.
Sie leben in qualitativ schlechten Wohnungen
oder unsicheren Wohnverhältnissen. Sie bezahlen
überteuerte Mieten und habe wenig Chancen,
eine passendere Wohnung zu finden. Der Schwerpunkt
präsentiert Zahlen und Fakten zur Situation
benachteiligter Menschen auf dem Wohnungsmarkt
und beleuchtet mögliche wohnpolitische
Massnahmen.
ZESO
zeitschrift für sozialhilfe
Bild:
Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion ZESO, SKOS,
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,
Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi, Regine Gerber
Redaktionelle begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen
und Autoren in dieser Ausgabe Monika Bachmann, Annalis
Dürr, Lea Gerber, Peter Gomm, Claudia Hänzi, Christin Kehrli,
Sonja Matter, Hansjürg Rohner, René Scheu, Nathalie Schneuwly,
Bernadette von Deschwanden, Robert Weinert, Felix Wolffers
Titelbild Rudolf Steiner layout Marco Bernet, mbdesign Zürich
Korrektorat Karin Meier Druck und Aboverwaltung Rub
Media, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86
preise Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-Mitglieder CHF 69.–),
Jahresabonnement ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.
Die ZESO erscheint viermal jährlich.
ISSN 1422-0636 / 112. Jahrgang
Keystone
Erscheinungsdatum: 7. Dezember 2015
Die nächste Ausgabe erscheint im März 2016.
2 ZeSo 4/15 inhalt
INHALT
5 Sozialhilfe-Richtlinien reformieren,
weiterentwickeln und stärken.
Kommentar von Peter Gomm
6 Die Revision der SKOS-Richtlinien ist
eine ausgewogene Lösung
7 Die SKOS ist zu raschen und
grundlegenden Reformen fähig
8 Die Debatte muss auch den
Grundrechtsschutz beachten
10 13 Fragen an Nathalie Schneuwly
12 Praxis: Anrechnung zu hoher Wohnkosten
bei hängigem IV-Verfahren
13 Serie «Monitoring Sozialhilfe»:
Bei der Rückerstattung stellt sich die
Frage der Rechtsgleichheit
14 SCHWERPUNKT:
Armut und Wohnen
16 Die Wohnversorgung ist bei armutsbetroffenen
Haushalten oft
ungenügend
18 Wohnversorgung aus Sicht der
Sozialhilfe
20 Das Wohnungsangebot entspricht oft
nicht den Nachfragebedürfnissen
22 Günstige Wohungen bereitstellen
oder bei der Miete unterstützen?
24 Eine Wohnung ist nicht alles, aber
ohne Wohnung ist alles nichts
26 «Potenzial bedeutet zuallererst
einmal Möglichkeiten»
Interview mit Roland A. Müller
30 Reportage: Medaillenränge für den
Luzerner Rodel
32 Plattform: Entlastungsdienst
Schweiz
34 Forum: «Geberqualitäten aktivieren».
Betrachtungen zur Sozialhilfe von
René Scheu
35 Lesetipps und Veranstaltungen
36 Porträt: Hanna ist Telefonberaterin
bei der Dargebotenen Hand
ReVISION SKOS-Richtlinien
DEr ARBEITGEBER-CHEF
RODELFIEBER
DIe ZUHörerin
Claudia Hänzi, Präsidentin der Kommission
Richtlinien und Praxis, schildert den Prozess
und die in der Kommission geführten
Debatten zur Richtlinienrevision. Felix
Wolffers, Co-Präsident der SKOS, legt dar,
wie die Anpassungen dazu beitragen,
das bewährte Sozialhilfesystem neu zu
positionieren.
6
Roland A. Müller, Direktor des Arbeitgeberverbands
SAV, beobachtet die
Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt
aus unternehmerischem Blickwinkel.
Im Interview spricht er über
Integrationschancen für inländische
Arbeitskräfte und den Anpassungsbedarf bei
den arbeitsmarktlichen Massnahmen.
26
Individuell angefertigt, hochwertig und
hoffentlich rasend schnell ist der «Luzerner
Rodel». Hergestellt wird der Schlitten von
erwerbslosen Menschen, die in den ersten
Arbeitsmarkt zurückfinden wollen. Ein
Besuch in der Caritas-Schreinerei in Luzern.
30
Wer die 143 wählt, landet vielleicht bei
Hanna. Sie ist eine der über 600 Freiwilligen,
die bei der Dargebotenen Hand rund um die
Uhr den Problemen der Anruferinnen und
Anrufer zuhört. Mit Ratschlägen eindecken
will sie die Menschen aber nicht.
36
inhalt 4/15 ZeSo
3
Die Revision der SKOS-Richtlinien ist
eine ausgewogene Lösung
Die erste Etappe der Richtlinienrevision 2015-2017 ist geschafft. Das umsichtige Vorgehen unter
Einbezug aller Entscheidgremien war die Basis für eine konstruktive und lösungsorientierte Debatte.
Es war ein schwieriger Auftrag mit ehrgeizigem
Zeitplan, den die Kommission
Richtlinien und Praxis der SKOS (RiP)
erhalten hatte. Gemäss Vorgabe der Sozialkonferenz,
die am 21. Mai unter der Ägide
der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen
und Sozialdirektoren (SODK)
stattfand, sollten bis im Herbst eine Reihe
neuer Bestimmungen erarbeitet werden:
Ziel war eine Reduktion des Grundbedarfs
bei Grossfamilien, die Senkung der Ansätze
für junge Erwachsene beim Grundbedarf,
die Einführung verschärfter Sanktionsmöglichkeiten
und die Überarbeitung
des Anreizsystems. Im Rahmen des letztgenannten
Punkts sollten die minimale Integrationszulage
(MIZ) in die Integrationszulage
(IZU) integriert und die Voraussetzungen
für den Bezug der IZU präzisiert
werden. Insbesondere wurde gefordert,
qualifizierende, arbeits- und leistungsorientierte
Tätigkeiten festzulegen.
Trotz des engen Zeitrahmens ging die
RiP behutsam und ausgewogen vor und
achtete darauf, dass die neuen Bestimmungen
nicht zu rechtswidrigen Einschränkungen
bei existenzsichernden Leistungen
führen werden. Zudem war bekannt,
dass einzelne Revisionspunkte in gewissen
Kantonen zu grossen Veränderungen führen
würden.
Herangehensweise
Zum Gelingen der nun abgeschlossenen
ersten Etappe der Richtlinienrevision hat
sicher beigetragen, dass sich die RiP bereits
während einer Retraite und dann bei
der Grundlagenarbeit zu den Stossrichtungen
der Revision, die der SKOS-Vorstand
der SODK unterbreitete, intensiv über einzelne
Themen unterhalten und die «wunden
Punkte» weitgehend identifiziert hatte.
Dank dieser Vorphase konnten Grundsatzfragen,
Wertehaltungen und die politischen
Rahmenbedingungen geklärt werden. Die
Aufgabe erleichtert hat auch, dass der Gesamtauftrag
klar formuliert war und daraus
für jedes Revisionsthema ein konkreter Arbeitsauftrag
schriftlich festgehalten werden
konnte. Zusätzlich hat sich die RiP
fachliche Leitlinien geben, die es bei der
Ausarbeitung der Richtlinien-Entwurfe zu
beachten galt:
• Bei den Leistungseinschränkungen sind
die Bedürfnisse Minderjähriger besonders
zu beachten.
• Bei den Sanktionen ist das Verhältnismässigkeitsprinzip
in den Vordergrund
zu rücken. Zudem darf der Kerngehalt
von Art. 12 Bundesverfassung (Recht auf
Hilfe in Notlagen) nicht infrage gestellt
sein.
• Beim Anreizsystem ist eine Formulierung
zu finden, die die gewünschte
Leistungsorientierung hervorhebt, es
allerdings ermöglicht, ein positives Verhalten,
das bis dato mit einer minimalen
Integrationszulage (MIZ) honoriert
wurde, zukünftig mit einer IZU zu würdigen.
Übergeordnet hat die RiP die Überarbeitung
der Richtlinien dazu genutzt,
Texte zu straffen und einfacher zu formulieren.
Stark vollzugsorientierte Empfehlungen
sollen künftig in einem Praxishandbuch
abgebildet werden, die Richtlinien
selbst mehr auf generell-abstrakte Empfehlungen
konzentriert sein.
Die konkrete Arbeit an den Richtlinien
Um den Zeitplan einhalten zu können, hat
sich die RiP in Untergruppen aufgeteilt,
die die einzelnen Revisionspunkte aufbe-
Was auf den 1. Januar 2016 ändert
• Grundbedarf bei Grossfamilien ab 6 Personen: Bei Haushalten mit
sechs und mehr Personen wird der Grundbedarf ab der sechsten
Person um 76 Franken pro Person und Monat reduziert.
• Junge Erwachsene: Der Ansatz für junge Erwachsene bis 25 Jahre
mit eigenem Haushalt wird von heute 986 Franken um 20 Prozent
auf 789 Franken reduziert. Die Voraussetzungen für das Wohnen
ausserhalb des Elternhauses sind klar definiert.
• Sanktionen: In schwerwiegenden Fällen können die Sanktionskürzungen
bis 30 Prozent des Grundbedarfs betragen. Die konkrete
Kürzung ist nach dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz festzulegen.
• Integrationszulage: Mit der Integrationszulage (IZU) werden neu Leistungen
anerkannt, die die Chancen auf eine erfolgreiche Integration
erhöhen oder erhalten. Die minimale Integrationszulage (MIZ) wird
abgeschafft. Positive Verhaltensweisen, die bis dato mit einer MIZ
honoriert wurden, können zukünftig meist mit einer IZU gewürdigt
werden.
Die Richtlinien erhalten durch die breite Abstützung mehr Akzeptanz.
Bild: SKOS
6 ZeSo 4/15 Richtlinienrevision
eiteten und Richtlinientexte ausfertigten.
Diese sind dann im Plenum der Kommission
diskutiert und nach einer Korrekturrunde
in den Untergruppen zu Handen
der Geschäftsleitung der SKOS verabschiedet
worden. So blieb genug Zeit für Diskussionen
und für die Suche nach ausgewogenen
Lösungen. Viel zu diskutieren gab das
Anreizsystem, insbesondere die Konsequenzen
für einzelne Kantone, aber auch
der Umgang mit jungen Erwachsenen und
die zukünftigen Leistungen an grosse
Haushalte. Das hat in einigen wenigen
Punkten zu Varianten-Vorschlägen geführt.
Demgegenüber stellte sich bei den Sanktionsverschärfungen
und den redaktionellen
Bereinigungen sehr rasch Konsens ein.
Die Debatte wurde mit hoher Fachlichkeit
und Respekt geführt. Die Ergebnisse konnten
zum Schluss von allen mitgetragen werden.
Ausblick auf die zweite Etappe
Das gewählte Vorgehen und insbesondere
das saubere Definieren von Auftrag und
Rahmenbedingungen haben sich gelohnt
und haben der Richtlinienkommission
Sicherheit bei der Erarbeitung der Revisionspunkte
gewährt. Zudem wurden dadurch
die Revisionsvorschläge erklärbar
und konnten so zügig durch die weiteren
Entscheidgremien transportiert werden.
Dies muss nun auch für die zweite Etappe
gelingen. Weiter müssen wir sorgfältig darauf
achten, dass die Richtlinien nicht zu
juristisch werden. Trotz Straffung und
dem Ziel, Anwendungsempfehlungen und
Richtlinien vermehrt zu trennen, ist dem
interdisziplinären Ansatz Sorge zu tragen.
Praktikerinnen und Praktiker der sozialen
Arbeit sollen weiterhin über ein auf sie
zugeschnittenes Arbeitsinstrument verfügen.
•
Claudia Hänzi
Präsidentin Kommission
Richtlinien und Praxis
Die SKOS ist zu raschen und
grundlegenden Reformen fähig
Auslöser der laufenden Revision der
SKOS-Richtlinien waren einerseits zwei
Studien der SKOS zum Verhältnis der
Lebenskosten und der Höhe des materiellen
Grundbedarfs sowie zur Wirkung
des Anreizsystem in der Praxis und
andererseits der immense politische
und mediale Druck, der in den letzten
Monaten auf der Sozialhilfe lastete. Die
Gefahr eines Auseinanderbrechens des
bisherigen, auf dem Regelwerk der SKOS
basierenden Systems der Sozialhilfe in
der Schweiz war erheblich. Die SKOS
hat nach einer Vernehmlassung bei ihren
Mitgliedern Reformvorschläge ausgearbeitet,
die teilweise eine Senkung
von Unterstützungsleistungen vorsehen
und den Sanktionsrahmen bedeutend
erweitern. Mit grossem Mehr hat die
Sozialdirektorenkonferenz SODK fast
allen Anträgen der SKOS zugestimmt.
Führt die Revision nun zu einem
«sozialpolitischen Dammbruch», wie dies
etwa von der Caritas befürchtet wird?
Oder sind die Anpassungen notwendige
und trotz der Leistungskürzungen sozialpolitisch
noch vertretbare Schritte, um
die Akzeptanz der Sozialhilfe zu stärken?
Für eine sozialpolitische Einordnung der
bisherigen Reformschritte ist es noch zu
früh, aber einige Schlüsse lassen sich
dennoch bereits ziehen: Das System der
SKOS-Richtlinien wurde von der SODK
gutgeheissen. Festgehalten wird von der
SODK auch am Konzept des sozialen
Existenzminimums und an der Höhe
des Grundbedarfs für die überwiegende
Zahl der unterstützten Personen. Die
eingeleiteten Reformen sollen sicherstellen,
dass es auch weiterhin eine
minimale gesamtschweizerische Harmonisierung
der Sozialhilfe gibt.
Die revidierten SKOS-Richtlinien
sind wegen der Beschlussfassung durch
die SODK nun politisch bedeutend besser
abgestützt als bisher. Die SODK ist
aber in der Pflicht, auf die Kantone einzuwirken,
damit diese die revidierten
Normen auch wirklich übernehmen.
Falls die nun beschlossene gemeinsame
Basis in den Kantonen nicht umgesetzt
wird, muss der Bund mit einem Rahmengesetz
für die Sozialhilfe ordnend
eingreifen, um einen Negativwettbewerb
mit immer tieferen Leistungen und ein
Abschieben von Unterstützungsfällen
in andere Kantone zu verhindern.
Bei der Beurteilung der vorliegenden
Beschlüsse muss auch bedacht werden,
was passiert wäre, wenn sich die SKOS
nicht für ein rasches Reformtempo und
Korrekturen bei den Leistungen entschieden
hätte. Wir sind davon überzeugt,
dass es ohne diese Reformschritte
zu einer raschen Absetzbewegung von
den SKOS-Richtlinien und damit zu
einem wirklichen Dammbruch in der
Sozialhilfe gekommen wäre. So gesehen
war die Anpassung der Richtlinien
dringend notwendig und hat dazu beigetragen,
ein bewährtes System neu zu
positionieren. Dank der Revision ist es
gelungen, die Richtlinien zu stärken
und eine Erosion der Sozialhilfe zu verhindern.
Als Organisation hat die SKOS
bewiesen, dass sie in einem partizipativen
Prozess zu raschen und grundlegenden
Reformen fähig ist. Das haben
der SKOS nicht alle zugetraut. •
Felix Wolffers
Co-Präsident der SKOS
Richtlinienrevision 4/15 ZeSo
7
Anrechnung zu hoher Wohnkosten
bei hängigem IV-Verfahren
Bei der Frage, ob sich eine Person mit überhöhten Wohnkosten, die einen IV-Rentenentscheid
erwartet, sich günstigeren Wohnraum suchen muss, sind öffentliches Interesse und das
Individualisierungsprinzip gegeneinander abzuwägen.
Der alleinstehende Moritz Mächler ist seit
längerem arbeitsunfähig. Die Abklärungen
der IV-Stelle im Hinblick auf eine Rente
sind noch nicht abgeschlossen. Den Anspruch
auf Krankentaggeld hat Herr Mächler
ausgeschöpft, er stellt Antrag auf Sozialhilfe.
Er ist überzeugt, nur vorübergehend
im Sinne einer Rentenbevorschussung auf
Sozialhilfe angewiesen zu sein und möchte
deshalb nicht aus seiner zu teuren Wohnung
ausziehen.
Frage
Kann bei Personen mit hängigem IV-
Verfahren von den Mietzinsrichtlinien abgewichen
werden?
Grundlagen
Als bedarfsorientierte Leistung soll die Sozialhilfe
eine individuelle, konkrete, gegenwärtig
oder unmittelbar drohende Notlage
beziehungsweise Bedürftigkeit vermeiden
helfen. Auf deren Ursache kommt es nicht
an. Massgebende und einzige Anspruchsvoraussetzung
ist die aktuelle Bedürftigkeit
(Bedarfsdeckungs- und Finalprinzip, SKOS-
Richtlinien A.4). Dass die Bedürftigkeit
von Herrn Mächler auf die Länge des IV-
Abklärungsverfahrens zurückzuführen ist,
hat keinen Einfluss auf die Unterstützung
mit Sozialhilfe. Sie ist ursachenunabhängig
und rechtsgleich zu gewähren.
Überhöhte Wohnkosten sind in der Regel
nur so lange anzurechnen, bis eine zumutbare
günstigere Wohnung zur Verfügung
PRAXIS
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich
(einloggen) SKOS-Line.
steht. Es besteht kein Anspruch auf Übernahme
der Mietkosten einer beliebigen
Wohnung durch das Gemeinwesen. Bei
der Ansetzung einer Frist zum Wohnungswechsel
sind die üblichen Kündigungsbedingungen
zu berücksichtigen und die
betroffenen Personen sind bei der Suche
nach günstigem Wohnraum bedarfsgerecht
zu unterstützen (SKOS-Richtlinien B.3 und
BGer 8C_805/2014 E. 4.1).
Moritz Mächler kann also grundsätzlich
zum Wohnungswechsel verpflichtet werden.
Allerdings ist das in der Sozialhilfe geltende
Individualisierungsprinzip zu beachten.
Es verlangt, dass den Besonderheiten
und Bedürfnissen des Einzelfalls angemessen
Rechnung zu tragen ist. Die finanzielle
und persönliche Hilfe ist nach den Erfordernissen
des Einzelfalls zu beurteilen und zu
bemessen (A.4).
Richtlinien wie jene zum Mietzins dienen
der Rechtsgleichheit. Sie relativieren den
Individualisierungsgrundsatz, aber sie heben
ihn nicht auf. Aus sachlichen Gründen
oder wenn die Besonderheiten des Einzelfalls
dies erfordern, darf beziehungswese
muss von ihnen abgewichen werden.
Durch das Individualisierungsprinzip erhält
die zuständige Sozialbehörde Handlungsfreiheiten,
die sie pflichtgemäss zu
nutzen hat. Sie hat Ermessen und Beurteilungsspielräume
wie folgt auszuüben:
• nach Sinn und Zweck der gesetzlichen
Ordnung
• willkürfrei, nach sachlichen Kriterien
• rechtsgleich
• in verhältnismässiger Weise.
Letzteres bedeutet, dass den Besonderheiten
und Bedürfnissen des Einzelfalls in angemessener
Weise Rechnung zu tragen ist.
Unterstützte Personen sollen materiell nicht
besser gestellt werden als nicht unterstützte,
in bescheidenen finanziellen Verhältnissen
lebende Personen (A.4). Leistungsbegrenzungen
entsprechen dem Wesen der
Sozialhilfe. Sozialhilfe gewährt nicht das
Leistungsniveau, das sich sozialhilfeunabhängige
Personen aus eigenen Mitteln leisten
können und dürfen (vgl. BGE 133 V
353 E. 4.2).
Die Hilfe hat sich deshalb nicht nur an den
Bedürfnissen der Betroffenen, sondern auch
an den Zielen der Sozialhilfe im Allgemeinen
– der Gewährleistung eines Existenzminimums
und der Förderung von wirtschaftlicher
und persönlicher Selbstständigkeit
– auszurichten. Diese beiden Interessen,
das private der Individualisierung und das
öffentliche der Zielkonformität, sind sowohl
hinsichtlich der Leistungen der Sozialhilfe
als auch hinsichtlich der den bedürftigen
Personen aufzuerlegenden Pflichten zu
beachten und im Einzelfall gegeneinander
abzuwägen.
Antwort
Sozialhilfe ist ursachenunabhängig zu gewähren.
Ein hängiges IV-Verfahren führt
nicht automatisch zur unbefristeten Anrechnung
überhöhter Wohnkosten. Wenn
jedoch die baldige Zusprechung einer IV-
Rente an Moritz Mächler höchst wahrscheinlich
ist und die zu erwartenden Mittel
(wie IV-Renten und Ergänzungsleistungen)
die Finanzierung seiner Wohnung
längerfristig erlauben, ist ein Wohnungswechsel
zur Erreichung des Ziels der wirtschaftlichen
Selbstständigkeit nicht erforderlich;
dann ist ein Abweichen von den
Mietzinsrichtlinien angezeigt. Dies gilt
auch dann, wenn ein Aus- und Umzug aufgrund
ganz besonderer Umstände im Einzelfall
nicht zumutbar ist.
•
Bernadette von Deschwanden
Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS
12 ZeSo 3/15 praxis
Bei der Rückerstattung stellt sich
die Frage der Rechtsgleichheit
Sozialhilfe ist grundsätzlich eine Bevorschussung zur Existenzsicherung. Damit der Anspruch auf
Rechtsgleichheit erfüllt ist, müssten die Kantone bei der Rückforderung von bezogener Sozialhilfe
ähnliche Vorgaben und Berechnungen anwenden.
Rechtmässig bezogene Sozialhilfe ist gemäss
Definition eine Bevorschussung zur
Existenzsicherung und muss im Rahmen
der gesetzlichen Grundlagen zurückerstattet
werden. Ab wann die Sozialdienste zur
Eintreibung dieser «Schuld» angehalten
sind und ob solche Forderungen überhaupt
sinnvoll sind, ist immer wieder Gegenstand
von Diskussionen. Denn wer sich von der
Sozialhilfe ablösen kann, befindet sich
meistens noch nicht in einer stabilen Situation
und hat lediglich ein paar Franken
mehr zur Verfügung als während der Unterstützung.
Ein Rückfall ist schnell möglich.
Daher ist es wichtig, diesen Menschen zu
ermöglichen, ein bescheidenes finanzielles
Polster anzulegen, um wieder eigenständig
auch unvorhergesehene Auslagen auffangen
zu können. Entsprechend empfehlen
die SKOS-Richtlinien, keine Rückerstattung
aus späterem Erwerbseinkommen einzufordern
(E.3.I). Falls dennoch eine Rückerstattung
aus Erwerbseinkommen gefordert
wird, empfehlen die Richtlinien, die
Höhe des monatlichen Rückerstattungsbetrags
mit einer Bedarfsrechnung zu ermitteln
(H.9). Eine Einzelperson kann, je nach
Resultat dieser Berechnung, bereits ab
einem monatlichen Einkommen von rund
3500 Franken zur Rückerstattung angehalten
werden. Erreicht eine Person ein Vermögen
von 25 000 Franken oder ein Ehepaar
ein Vermögen von 40 000 Franken – pro
Kind können weitere 15 000 Franken hinzu
gezählt werden –, empfehlen die Richtlinien,
eine Rückforderung zu stellen.
Grosse Vielfalt der Vorgaben
Wie bei den bisherigen Beobachtungen in
dieser Artikelserie übernimmt ein Teil der
Kantone (15) die Empfehlungen der SKOS.
Elf von ihnen fordern keine Rückerstattung
aus Einkommen und vier halten sich
beim Einkommen an die Berechnungsempfehlungen.
Von den anderen Kantonen erheben
fünf keine Forderungen auf Einkommen.
Bezüglich Vermögen pflegen sie aber
unterschiedliche Praktiken. Während die
Kantone Aargau und Waadt eigene
Limiten festlegen, liegt in den Kantonen
Neuenburg, Genf und Schaffhausen die
Handhabung punkto Vermögen im Ermessen
des Sozialdienstes.
Der Kanton Glarus übernimmt das
SKOS-Modell bei der Rückforderung aus
Einkommen und setzt mit 4000 Franken
pro Einzelperson eine eigene (tiefe) Vermögensgrenze
fest. Basel-Landschaft und
Thurgau setzten eigene Einkommensgrenzen
fest. Basel-Lanschaft liegt mit 6250 Franken
pro Einzelperson über der Grenze der
SKOS, Thurgau mit 2500 Franken steuerbarem
Einkommen tendenziell darunter.
Die drei Kantone Wallis, St. Gallen und
Luzern stützen sich bei der Umsetzung des
Auftrags beim Einkommen allein auf das
Ermessen des Sozialdienstes.
Auch punkto Vermögen gehen die kantonalen
Vorgaben weit auseinander. In
vielen Fällen meldet sich das Sozialamt
erst bei Anfall einer grossen Erbschaft oder
eines Lotteriegewinns zwecks Rückzahlung.
In den Kantonen Thurgau, Glarus
und Aarau darf sich der Sozialdienst aber
schon ab einem Kontostand von 4000 bis
5000 Franken melden.
Unterschiede beim Inkasso
Die unterschiedliche Organisation des
Inkassos wie auch unterschiedliche Handlungsspielraume
der Sozialdienste verstärken
diese Differenzen. In sieben Kantonen
wird das Inkasso vom Kanton vollzogen.
Hier dürften die gesetzlichen Vorgaben
eng umgesetzt werden. In den anderen
Kantonen sind die Gemeinden zuständig.
Während in einigen dieser Kantone die
Vorgaben von allen Diensten umgesetzt
werden, schöpfen die Dienste in anderen
«Monitoring Sozialhilfe»
Dieser Text ist der vierte im Rahmen einer Artikelserie
zur konkreten Umsetzung der Sozialhilfe
in den Kantonen und zur Vielfalt der Sozialhilfe in
der Schweiz. Die Daten und die daraus abgeleiteten
Erkenntnisse basieren auf dem 2014
gestarteten «Monitoring Sozialhilfe» der SKOS.
Kantonen ihre Ermessenspielräume voll
aus und verzichten zum Teil auf Rückforderungen.
Einschätzung
Die teilweise gewichtigen Unterschiede bei
den Vorgaben der Kantone widerspiegeln
die föderale Vielfalt. Nicht unproblematisch
ist, dass sechs Kantone die Prüfung
und den Entscheid über eine Rückerstattung
dem Ermessen der Sozialdienste
überlassen. Denn wenn jemand in einem
Kanton X keine Rückerstattung leisten
muss und eine andere Person in der gleichen
Situation in einem anderen Kanton Y
während Jahren einen finanziellen «Tribut»
für den einstigen Hilfebezug leisten
muss, stellt sich die Frage nach der Rechtsgleichheit.
Zumal die Konsequenzen für
die Betroffenen oft langfristig sind.
In diesem Zusammenhang ist es auch
gut vorstellbar, dass durch eine sich abzeichnende
langfristige Verschuldung
aufgrund der Rückerstattungspflicht im
einen oder anderen Fall der Gang zum
Sozialamt zusätzlich erschwert wird
und – am anderen Ende der Sozialhilfeunterstützung
– die Rückerstattungspflicht
in einem Kanton mit sehr tiefen Limiten
die Ablösung von der Sozialhilfe erschweren
kann.
•
Christin Kehrli
Leiterin Fachbereich Grundlagen SKOS
SKOS-RICHTLINIEN 3/15 ZeSo
13
Die Wohnversorgung ist oft ungenügend
bei armutsbetroffenen Haushalten
84 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte in der Schweiz sind unzureichend wohnversorgt.
Die hohe Wohnkostenbelastung ist die häufigste Ursache. Dies zeigt eine Studie zum Thema
Wohnversorgung bei armutsbetroffenen Menschen. Experteninterviews haben zudem Hinweise zur
Verbesserung der Situation für Benachteiligte auf dem Wohnungsmarkt geliefert.
Ein Dach über dem Kopf zu haben, unter dem man sich wohlfühlt,
ist ein Grundbedürfnis. Die Versorgung mit angemessenem
Wohnraum ist deshalb ein zentraler Aspekt der Existenzsicherung
und ein Sozialziel in der Bundesverfassung. Ob dieses Ziel für
Haushalte von Menschen in Armut und in prekären Lebenslagen
erreicht ist, gibt es bislang nur wenig gesichertes Wissen. Um
diese Frage zu beantworten, muss zunächst definiert werden,
welche Kriterien eine angemessene Wohnversorgung bestimmen
und unter welchen Umständen die Wohnversorgung ungenügend
ist. Die Studie «Wohnversorgung in der Schweiz» im Rahmen des
nationalen Programms zur Prävention und Bekämpfung von
Armut in der Schweiz entwickelt ein Modell für die Beurteilung
der Wohnversorgung. Es basiert auf den fünf Dimensionen Wohnkosten,
Wohnungsgrösse, Wohnungsqualität, Wohnlage und
Wohnsicherheit (Grafik 1). Sind die minimalen Kriterien innerhalb
dieser Dimensionen erfüllt, kann von einer angemessenen
Wohnversorgung gesprochen werden.
Ein Haushalt gilt als arm, wenn das Haushaltseinkommen nach
Abzug der Sozialversicherungsbeiträge und der Steuern unter dem
sozialen Existenzminimum, der sogenannten Armutsgrenze, liegt.
In einer prekären Lebenslage befindet sich ein Haushalt, wenn das
Haushaltseinkommen maximal 20 Prozent über dieser Grenze
liegt. Ein einschneidendes Ereignis wie die Geburt eines Kindes
oder der Verlust einer Arbeitsstelle kann also schnell in die materielle
Armut führen.
Angemessene Wohnversorgung
Als angemessen wohnversorgt gilt ein Haushalt, wenn er in den
vier quantifizierbaren Dimensionen Wohnkosten, Wohnungsgrösse,
Wohnungsqualität und Wohnlage einen Mindestwert erreicht.
Für die Dimension Wohnsicherheit lässt sich mangels statistisch
verwertbarer Indikatoren keine Quantifizierung durchführen. Die
Messung der Wohnversorgung auf der Basis der SILC-Statistik
(Statistics on Income and Living Conditions) der Jahre 2007 und
2012 zeigt nun, dass 84 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte
und 57 Prozent der Haushalte in prekären Lebenslagen keine
angemessene Wohnversorgung aufweisen. Damit sind armutsbetroffene
Haushalte vier Mal häufiger von einer unzureichenden
Wohnversorgung betroffen als die Gesamtbevölkerung (Grafik 2).
Hauptursache der ungenügenden Wohnversorgung ist die zu
hohe Wohnkostenbelastung. 82 Prozent der armutsbetroffenen
Haushalte und 48,9 Prozent der Haushalte von Menschen in
prekären Lebenslagen leben in einer zu teuren Wohnung. Ihre
Wohnkosten übersteigen den aufgrund breiter Recherchen als
sinnvoll erachteten Grenzwert von 30 Prozent von ihrem Brutto-
einkommen. Würde man den Grenzwert bei 25 Prozent des Bruttoeinkommens
festlegen, hätten 90,2 Prozent der armutsbetroffenen
Haushalte eine übermässig starke Wohnkostenbelastung
zu tragen. Würde man hingegen einen Grenzwert von 35 Prozent
als noch tragbar bezeichnen, würde der Anteil der armutsbetroffenen
Haushalte mit einer zu hohen Wohnkostenbelastung auf
67,7 Prozent sinken.
Wohnungsgrösse, Wohnungsqualität und Wohnlage sind in
dieser Reihenfolge im Vergleich zu den Wohnkosten seltenere
Gründe für eine unangemessene Wohnversorgung. 12,6 Prozent
der armutsbetroffenen Haushalte und 8 Prozent der Haushalte
von Menschen in prekären Lebenslagen leben in zu kleinen Wohnungen:
Sie haben weniger als einen Wohnraum pro Haushalt
plus ein Zimmer pro Person respektive 40 m 2 für die erste Person
plus 10 m 2 für jede weitere Person zur Verfügung.
7,5 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte und 7 Prozent der
Haushalte von Menschen in prekären Lebenslagen bewohnen
Wohnraum von schlechter Qualität. Sie sind mit baulichen Mängeln
wie Kälte, Dunkelheit oder Feuchte oder mit Immissionen wie
Lärm oder Staub belastet oder ihre Wohnung verfügt nicht über die
minimale Grundausstattung mit Bad/WC und Küche.
Besteht eine ungenügende Versorgung einzig bei der Dimension
Wohnlage, kann daraus nicht zwingend auf eine ungenügende
Wohnversorgung geschlossen werden. Diese Dimension wurde
in der Studie unter dem Aspekt der Partizipationsmöglichkeiten
(Zugang zu Kindertagessstätten, öffentlichen Verkehrsmitteln,
Einkaufsmöglichkeiten usw.) operationalisiert. Dabei hat sich
gezeigt, dass eine aus dieser Optik «ungünstige» Wohnlage durchaus
auch Privilegien in anderen Bereichen bieten kann. Gerade
wohlsituierte Haushalte entscheiden sich oft bewusst gegen die
Partizipationsmöglichkeit und für mehr Ruhe und Landluft, da
sie grosse Distanzen mit einem Auto und einer guten privaten
Infrastruktur kompensieren können. Für die 12,4 Prozent der
armutsbetroffenen Haushalte und 11,5 Prozent der Haushalte
von Menschen in prekären Lebenslagen, die in dieser Dimension
ungenügend versorgt sind, wird in Anbetracht derer finanzieller
Situation diese Kompensation erschwert.
Überwiegend ein urbanes Phänomen
Insgesamt weist ein knappes Viertel der armutsbetroffenen
Haushalte in zwei oder drei Wohndimensionen gleichzeitig eine
unzureichende Wohnversorgung auf. Eine ungenügende Wohnversorgung
ist in der Tendenz ein urbanes Phänomen. Die Versorgungswerte
sind für armutsbetroffene Haushalte in städtischen
Gebieten in den Dimensionen Wohnkosten, Wohnungsgrösse,
16 ZeSo 4/15 SCHWERPUNKT
armut UND wohnen
Wohnungsqualität und Wohnsicherheit schlechter als die entsprechenden
Werte in weniger dicht besiedelten Gebieten. Im Vergleich
der Daten aus den Jahren 2007 und 2012 zeigt sich keine
Zunahme der ungenügenden Wohnversorgung bei armutsbetroffenen
Haushalten und Haushalten von Menschen in prekären
Lebenslagen. Veränderungen zeigen sich hingegen innerhalb
dieser Dimensionen: Tendenziell verfügten 2012 etwas mehr
Haushalte über genügend Wohnraum als 2007, dafür lebten
mehr an einer ungünstigen Wohnlage.
Zentrale Schwierigkeit: Wohnsicherheit
Die Resultate und Erkenntnisse der quantitativen Analyse wurden
von Expertinnen und Experten aus der Sozialhilfe und von Fachstellen
für Wohnungswesen im Rahmen der Studie bestätigt. Die
Fachleute weisen allerdings darauf hin, dass sich die Situation zwischen
2007 und 2014 zugespitzt hat. Es stehe noch weniger
Dimension Indikatoren Kriterien / Operationalisierung
Wohnkosten
Wohnungsgrösse
Wohnungsqualität
Wohnkostenbelastung im
Vergleich zum Einkommen
Wohnfläche und Anzahl
Zimmer pro Person
Wohnungsausstattung
Baulicher Zustand
Wohnimmissionen
30% des Bruttoeinkommens
Mindestquadratmeter nach Haushaltsgrösse,
Zimmerzahl nach Alter und Geschlecht
Minimale Grundausstattung
Dunkelheit, Kälte, Feuchtigkeit
Lärm- und Staubbelastung
günstiger Wohnraum für Armutsbetroffene zu Verfügung, da diskriminierende
Marktmechanismen in angespannten Wohnungsmärkten
stärker wirken. Die Experteninterviews zeigen zudem,
dass die im Modell berücksichtigte, quantitativ aber nicht messbare
Dimension Wohnsicherheit für armutsbetroffene Menschen und
Menschen in prekären Lebenslagen noch kritischer ist als jene der
Wohnkostenbelastung: Oft sind bereits der Zugang zu Wohnraum
und das anschliessende Halten des Wohnraums erheblich erschwert.
Dieser Befund bildet sich in der Arbeit dieser Fachstellen
und der Sozialdienste klar ab (mehr zu diesem Thema auf Seiten
22ff. - Red.).
Enge Wohnverhältnisse bei Migrantinnen und Migranten
Das Risiko, arm zu sein, ist nicht für alle Bevölkerungsgruppen
gleich hoch. Aus der Armutsforschung ist bekannt, dass Einelternfamilien,
Paarhaushalte mit drei und mehr Kindern, aber auch
alleinlebende Menschen oder Menschen
ohne nachobligatorische Ausbildung
besonders häufig zur Armutspopulation
gehören. Das Gleiche gilt
für Menschen mit Migrationshintergrund
und für viele Rentnerinnen und
Rentner. Für die Beantwortung der
Frage, ob diese Gruppen auch besonders
häufig ungenügend wohnversorgt
sind, wurden Daten der Gesamtbevölkerung
analysiert. Besonders häufig
befinden sich Alleinstehende unter
65 Jahren (mit einem Anteil von 31 Prozent)
und Alleinerziehende (37 Prozent)
in einer ungünstigen Wohnsituation.
Wohnlage
Soziale Infrastruktur
Öffentl. Verkehrsmittel
Vandalismus
Schulweg*
Naherholungsgebiet*
Kita*
* nur bei Familien
Zugang zu Lebensmittelläden und zu
medizinischer Versorgung
Anschluss an öffentliches Verkehrsnetz
Verbrechen oder Vandalismus in der
Wohnumgebung
Schwierigkeit beim Zugang zu Pflichtschulen
Zugang zu Spielplätzen
Zugang zu einer Kita
Wohnsicherheit
Wohnstatus
Wohnkompetenzen
Schulden, Betreibungen
Keine Operationalisierung möglich
Grafik 1: Modell für die Beurteilung der
Wohnversorgung: Dimensionen, Indikatoren
und Operationalisierungskriterien.
Quelle: Studie «Wohnversorgung in der Schweiz»
SCHWERPUNKT 4/15 ZeSo
17
Studie
Die Studie «Wohnversorgung in der Schweiz – Bestandsaufnahme
über Haushalte von Menschen in Armut und
in prekären Lebenslagen» wurde von der SKOS und der
Fachhochschule Nordwestschweiz unter Mithilfe der Berner
Fachhochschule im Rahmen des «Nationalen Programms
zur Prävention und Bekämpfung von Armut in der Schweiz»
realisiert, vom Bundesamt für Sozialversicherungen BSV
und vom Bundesamt für Wohnungswesen BWO finanziert.
Sie wird voraussichtlich im Januar 2016 publiziert. Die
Studie wird im Internet auf der Website www.gegenarmut.ch
und auf der Website der SKOS verfügbar sein.
Ungenügende Wohnversorgung
2012
Gesamt
Arm
Nicht arm
Prekär
Weder arm noch prekär
15,5%
82,0%
8,0%
48,9%
5,3%
6,2%
12,6%
5,6%
8,0%
5,5%
4,2%
7,5%
3,8%
7,0%
3,7%
9,6%
12,4%
9,3%
11,5%
9,1%
Wohnkosten
Wohnqualität
Wohnlage
Wohnungsgrösse
Gesamtwohnversorgung
20,8%
83,5%
15,5%
57,1%
12,9%
Anteil der
Haushalte
100,0%
10,0%
90,0%
6,4%
83,7%
Grafik 2: Ungenügende Gesamtwohnversorgung für armutsbetroffene Haushalte und Haushalte
in prekären Lebenslagen und deren Begründung durch die vier Dimensionen Kosten,
Grösse, Qualität und Lage im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Quelle: BFS/SILC 2012
Haushalte mit Menschen ausländischer Herkunft sind mit 43 Prozent
mehr als doppelt so häufig ungenügend wohnversorgt als
Schweizer Haushalte (18 Prozent). Dabei fällt insbesondere der
hohe Anteil von Haushalten in engen Wohnverhältnissen (23 Prozent)
auf.
Auch Altersrentnerinnen und -rentner sind in der Gesamtbevölkerung
mit 39 Prozent überdurchschnittlich oft ungenügend
wohnversorgt. In den meisten Fällen ist diese Situation auf
eine zu hohe Wohnkostenbelastung zurückzuführen. Rentnerhaushalte
können trotz tiefer Einkommen über Vermögen verfügen.
Allerdings kann nur ein geringer Teil der Altersrentnerinnen
und -rentner eine zu hohe Wohnkostenbelastung im Vergleich
zum Einkommen durch einen Vermögensverzehr auffangen.
Fazit
Vier von fünf armutsbetroffenen Haushalten haben eine zu hohe
Wohnkostenbelastung. Armutsbetroffene finden zudem oft nur
schwer eine bezahlbare Wohnung oder sie müssen enge Wohnverhältnisse,
mangelhafte Wohnungsqualität oder eine ungünstige
Wohnlage in Kauf nehmen, um Wohnraum zu erhalten. Eine
ungünstige Wohnversorgung ist somit eine wichtige Facette der
Lebenslage von Armutsbetroffenen.
•
Wohnversorgung aus Sicht der Sozialhilfe
Die im Rahmen der Untersuchung geführten Gespräche mit zehn
Expertinnen und Experten aus der Sozialhilfe sowie mit zehn Fachstellen
im Wohnungswesen aus der ganzen Schweiz geben auch
wertvolle Hinweise, wo angesetzt werden könnte, um die Situation
für Benachteiligte auf dem Wohnungsmarkt zu verbessern. Sozialhilfebeziehende
gehören oft zur Gruppe der Personen, die faktisch
vom freien Wohnungsmarkt ausgeschlossen sind. Es gibt jedoch
auch Gemeinden, in denen einzelne Vermieter Sozialhilfebeziehende
als risikoarme Gruppe identifizieren, da die involvierten Sozialdienste
einen grossen Teil der Risiken der Vermietung abdecken
respektive kompensieren. Generell haben Wohnungssuchende ausländischer
Herkunft, unabhängig vom Aufenthaltsstatus und der
Nationalität, aber insbesondere solche mit dunkler Hautfarbe, bei
einem angespannten Wohnungsmarkt einen sehr schwierigen
Stand. Auch Familien werden, zumindest in den Kernstädten, häufig
als Risikogruppen genannt. Oft finden sie bei Zuwachs keine
grössere Wohnung und leben dann in überbelegten Wohnungen.
Für Personen, die in ein Betreibungsverfahren verwickelt sind, ist
der selbständige Zugang zum Wohnungsmarkt faktisch unmöglich.
Neben der Wohnungsgrösse wird von den Sozialdiensten und
Fachstellen auch die Wohnungsqualität als häufiges Problem genannt.
Dabei ist Schimmel der am häufigsten genannte Mangel
bei der Wohnqualität. Diese Problematik lässt sich allerdings zum
Teil auch auf fehlende Wohnkompetenzen der Mieter zurückführen.
Wer beispielsweise richtig lüftet, kann das Risiko eines
Schimmelbefalls verkleinern. Derartige Situationen führen auch
zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
Mieterseitig kommt es immer wieder vor, dass diese beispielsweise
nicht wissen, wie sie eine Waschmaschine benutzen müssen
oder welche Usanzen allgemein in der Nachbarschaft gelten, was
die Ausschlusstendenz verstärkt. Neben Migrantinnen und Migranten
sind Personen mit psychischen Erkrankungen oder auch
ganz junge Menschen vergleichsweise häufig nicht in der Lage,
sich den Anforderungen entsprechend zu verhalten.
Dilemma bei den Mietzinsrichtlinien
Die Sozialhilfe hat über ihre Mietzinsrichtlinien einen grossen
Einfluss auf den Wohnungsmarkt. Werden die Mietzinsobergrenzen
zu tief angesetzt, ist es für sozialhilfebeziehende Menschen
noch schwieriger, eine Wohnung zu finden, und sie sehen sich
möglicherweise gezwungen, in eine andere, «günstigere» Gemeinde
umzuziehen. Werden die Mietzinsobergrenzen zu hoch angesetzt,
reagieren gewinnmaximierende Vermieter, indem sie die
Mietzinsen für ihre günstigsten Wohnungen erhöhen. In der
Folge steigt das Mietpreisniveau weiter an.
Nochmals eine andere Problematik aus der Sicht der Sozialhilfe
ist die Praxis, dass manche Sozialhilfebeziehende einen Teil
der Mietkosten aus ihrem Grundbedarf decken müssen. Wenn
dies einem expliziten Wunsch der Unterstützten entspricht, da
diese dem Wohnen mehr Bedeutung beimessen als einem anderen
Bedürfnis, mag dies im Rahmen der individuellen Freiheiten
zulässig sein. Unzulässig ist hingegen, wenn dies von Sozialhilfebeziehenden
verlangt wird, weil für sie keine günstigere Wohnung
gefunden werden kann.
18 ZeSo 4/15 SCHWERPUNKT
armut UND wohnen
Sozialhilfebeziehende sind faktisch oft vom freien Wohnungsmarkt
ausgeschlossen sind.
Bild: Keystone
Um Wohnungen für Sozialhilfebeziehende zu erhalten, müssen
Sozialdienste die Forderungen der Vermieter erfüllen. Das kann
bedeuten, dass sie den Mietzins direkt dem Vermieter überweisen,
anstatt den Beitrag an die Wohnkosten der Soziahilfe beziehenden
Person zur eigenständigen Begleichung zu überlassen. Damit fällt
ein wichtiges Instrument weg, mit dem die unterstützten Personen
durch eigenständiges Managen des Zahlungsverkehrs auf das
Leben ohne Sozialhilfe vorbereitet werden sollen. Unter diesem
Aspekt ist es auch problematisch, dass immer mehr Vermieter
verlangen, dass Sozialdienste oder private Fachstellen für Wohnungsfragen
gemeinsam mit den Mietern Solidarmietverträge unterzeichnen
und Mietkautionen hinterlegen. Neben dem grossen
administrativen Aufwand ist dies unter rechtlichen Aspekten heikel.
Spätestens bei der Ablösung der unterstützten Person entstehen
Probleme, da die Sozialhilfe ab diesem Zeitpunkt nicht mehr
zuständig ist und die Vermieter möglicherweise nicht Hand bieten,
den Mietvertrag auf die bisher unterstützte Person umzuschreiben.
Was die Sozialhilfe tun kann
Sozialarbeitende verfügen oft über beschränkte Kenntnisse über das
Funktionieren des Wohnungsmarkts und des Mietrechts. Und für
den Aufbau und die Pflege von Beziehungen zu Vermietenden und
Immobiliengesellschaften fehlt ihnen die Zeit. Damit beispielsweise
drohende Kündigungen abgewendet werden können, muss in den
Sozialdiensten das Wissen über die Mechanismen der Wohnungsvermittlung
verbessert werden. Die in der Westschweiz (Lausanne,
Genf) gewählte Lösung mit der Schaffung spezialisierter Abteilun-
gen («Unité Logement») innerhalb der Sozialdienste kann insbesondere
für grössere Sozialdienste als Vorbild dienen. Diese Abteilungen
begleiten Sozialhilfebeziehende nicht nur bei der Wohnungssuche,
sie knüpfen und pflegen auch Beziehungen zu Immobilienfirmen.
Die Erfahrungen zeigen, dass die Beziehungspflege ein wichtiger
Erfolgsfaktor für stabile Wohnsituationen ist. Aber auch allgemein
müssen bei den fallführenden Sozialarbeitenden die Sensibilität
und das konkrete Fachwissen verbessert werden. Nur so können
Probleme frühzeitig erfasst und abgefedert werden.
Auch dem Thema Wohnkompetenzen wird heute noch zu
wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn Sozialdienste die Klientinnen
und Klienten mit Defiziten bei den Wohnkompetenzen
besser aufklären und wenn nötig schulen und sie solange begleiten,
bis sie sich als eigenständige, verlässliche Mieterinnen und
Mieter qualifizieren, dann verbessert sich auch deren Wohnsicherheit.
Mehr Einheitlichkeit und Transparenz bei der Festlegung
der Mietzinsobergrenzen würden dazu beitragen, die Rolle
der Sozialhilfe als Akteurin auf dem Wohnungsmarkt zu klären.
Mietzinsobergrenzen für Sozialhilfebeziehende, die nach klaren
und einheitlichen Kriterien festgelegt werden, wirken dem Problem
der Wohnortswahl respektive der Abschiebungsproblematik
entgegen. Im Zusammenhang mit den Mietzinsobergrenzen sollte
zudem geklärt werden, unter welchen Umständen und für welche
Dauer ein Haushalt einen Teil seiner Mietkosten über den Grundbedarf
bezahlen muss oder darf. Sozialdienste sollten grundsätzlich
nur als Akteure auftreten, wenn sie beispielsweise selbst Liegenschaften
zwecks Untervermietung anmieten oder diese käuflich
erwerben. In der Praxis hat sich als sinnvoll erwiesen, dass Sozialdienste
respektive Gemeinden über eigene Wohnungen verfügen
und damit helfen können, Notfälle zu überbrücken.
Schlussbemerkungen
Hohe Wohnkosten und kritische Wohnsicherheit sind die beiden
grössten Probleme, die einer adäquaten Wohnversorgung von armutsbetroffenen
Menschen entgegenstehen. Beide Problematiken sind auf
die Tatsache zurückzuführen, dass es zu wenig sehr günstigen Wohnraum
gibt. Die hohen Wohnkosten wiederum sind ein treibender Faktor
für den Anstieg der Sozialhilfekosten, auf den die Sozialhilfe kaum
Einfluss hat. Die Sozialhilfe kann ihren Teil zur Verbesserung der Situation
der Wohnversorgung Armutsbetroffener im Bereich der Wohnsicherheit
beitragen, indem sie auf das Vorhandensein von Wohnkompetenzen
achtet und mit einer näheren Begleitung und besserer
Schulung der Klientinnen und Klienten dazu beiträgt, die Risiken für
die Vermietenden klein zu halten. Für die Verbesserung des Zugangs
zum Wohnungsmarkt für Armutsbetroffene und für Haushalte mit
Risikofaktoren wie Schulden oder «Herkunft» müssen aber insbesondere
auch die Vermieter motiviert werden, mitzuhelfen, für alle Seiten
tragbare Lösungen zu finden. Solidarmietverträge sind eine Notlösung,
sie dürfen aber nicht die einzige Option bleiben. Dies auch deswegen,
weil bei einer Ablösung von der Sozialhilfe jeweils geklärt werden
muss, ob der Vermieter bereit ist, das neue Mietverhältnis zu akzeptieren.
Das Hauptproblem – fehlender günstiger Wohnraum – muss die
Politik lösen, beispielsweise indem sie Anreize schafft und gesetzliche
Rahmenbedingungen so anpasst, dass auch private Investoren im
Segment günstiger Wohnraum vermehrt aktiv werden. •
Christin Kehrli
Leiterin Fachbereich Grundlagen SKOS
SCHWERPUNKT 4/15 ZeSo
«Potenzial bedeutet zuallererst
einmal Möglichkeiten»
Roland A. Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands (SAV), beobachtet die Entwicklungen
auf dem Arbeitsmarkt aus unternehmerischem Blickwinkel. Im ZESO-Interview spricht er über
Einstellungskriterien und Intergrationschancen für inländische Arbeitskräfte.
Herr Müller, welche drei Themen
stehen aktuell zuoberst auf der
Agenda des Schweizerischen Arbeitgeberverbands?
Als erstes nenne ich die Frankenstärke
und Fragen zu deren Folgen für die Arbeitgeber.
Dann folgen die Masseneinwanderungsinitiative
und deren Umsetzung. Das
betrifft die Beziehung Schweiz-Europa
und die Zukunft der bilateralen Verträge
sowie Arbeitsmarktthemen wie Zuwanderung,
Inländervorrang und Inländerpotenzial.
Das dritte grosse Thema ist die Altersvorsorge.
Sie ist über die demografische
Entwicklung – Stichwort alternde Gesellschaft
– ebenfalls mit dem Thema Arbeitsmarkt
verbunden.
Glauben Sie, dass es der Schweiz in
absehbarer Zeit gelingen wird, das im
Inland brachliegende Arbeitskräftepotenzial
zu rekrutieren?
Es wird uns gelingen, einen Teil dessen,
was man als Potenzial identifizieren
kann, zu rekrutieren. Potenzial bedeutet
zuallererst einmal Möglichkeiten. Das Potenzial
muss sich am einzelnen Menschen
herauskristallisieren: Ist er bereit, stimmen
die Rahmenbedingungen für ihn?
Gibt es ein bedarfsgerechtes Angebot an
Aus- oder Weiterbildungen für ältere Arbeitnehmende
oder für Frauen, die wieder
ins Berufsleben einsteigen möchten? Bei
den Betreuungsangeboten etwa sind wir
noch lange nicht dort, wo wir es uns wünschen
würden. Ich vermute, dass man sich
teilweise falsche Vorstellungen macht von
dem, was möglich ist.
Was muss aus Sicht der Arbeitgeber
erfüllt sein, damit es in der Praxis
möglichst gut funktioniert?
Wenn der Arbeitgeber eine Stelle ausschreibt,
sucht er ein bestimmtes Profil.
Im Rekrutierungsprozess geht es darum,
die am besten qualifizierten Leute zu finden.
Das ist die Ausgangslage. Wir haben
aber festgestellt, dass die Arbeitgeber aufgrund
der laufenden Diskussionen aufmerksamer
geworden sind und nicht mehr
unreflektiert die jüngsten und günstigsten
Bewerber rekrutieren. Man entscheidet
sich bewusst für mehr Frauen und Ältere,
weil sie andere Sozialkompetenzen und
Erfahrungen mitbringen. Aber das Profil
muss gleichwohl passen. Wenn ein älterer
Stellensuchender falsche Vorstellungen
hat, beispielsweise den gleichen Job ausüben
möchte, den er einmal hatte, dann
wird es schwierig. Generell suchen Arbeitslose
zu lange auf dem bisherigen Level.
Es braucht Gespräche und Offenheit auf
beiden Seiten.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang
die Arbeitsvermittlung?
Die regionalen Arbeitsvermittlungszentren
müssen wegkommen von den
Kollektivkursen und stattdessen mehr
persönliche Betreuung anbieten. Mit einer
persönlichen Analyse kann detailliert
abgeklärt werden, was jemand bereit und
fähig ist zu leisten. Solche Ansätze existieren,
aber sie stecken noch in den Kinderschuhen
und sind von RAV zu RAV unterschiedlich.
Heute besteht die Arbeit der
RAV primär darin, die Menge – derzeit
sind es rund 135 000 Arbeitslose – zu
bewältigen. Um jene Fälle, die nicht so einfach
wieder in den Arbeitsmarkt zurückfinden,
kümmert man sich viel zu wenig.
Inwiefern ist die Kommunikation
zwischen Arbeitgebern und RAV ein
Teil des Problems?
Wir haben es mit gewachsenen Strukturen
zu tun, die sich nur langsam verändern
lassen. Im Rahmen der Diskussionen
über die Fachkräfteinitiative wurde festgestellt,
dass die Schnittstelle zu den RAV
verbessert werden muss.
Wie lautet Ihr Vorschlag?
Für die Fälle, die ein Mehr an Betreuung
benötigen, kann man die Invalidenversicherung
als Vorbild nehmen. Sie hat ihr
System grundlegend umgestellt und eine
Art Case Management eingeführt. Auch
bei anderen arbeitsmarktlichen Massnahmen
gibt es Anpassungsbedarf. Das Instrument
der Einarbeitungszuschüsse beispielsweise
sollte stärker gefördert werden.
Was könnten die Arbeitgeber selbst
zur besseren Erschliessung des
Inlandpotenzials beitragen?
Im Rahmen des Programms «Zukunft
Arbeitsmarkt Schweiz» haben wir zahlreiche
Beispiele von Unternehmungen
26 ZeSo 4/15 Interview
«Die durchgehende
Betreuung muss
zum normalen
Schulangebot
werden.»
Was tut der Arbeitgeberverband für die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf?
Die Arbeitgeber wenden in ihren Betrieben
ja bereits flexible Arbeitsmodelle
an: Teilzeitarbeit ist in der Schweiz weit
verbreitet. Für die Arbeitgeber ist das Anheben
von existierenden Teilzeitpensen
attraktiv, beispielsweise von 40 auf 60 Prozent
oder von 60 auf 80 Prozent. Eine Ausweitung
des Pensums scheitert aber oft an
fehlenden Betreuungsangeboten und an
deren Tarifierung. Letztere ist meistens
so progressiv, dass der finanzielle Anreiz,
mehr zu arbeiten, wegfällt. Ebenfalls demotivierend
wirkt, dass man die Gestehungsgesammelt.
Sie legen den Schluss nahe,
dass das Lebensalter in der Personalrekrutierung
und -förderung weder im Vordergrund
steht noch ein Problem ist. Viele
Unternehmen führen regelmässige, altersunabhängige
Standortgespräche durch.
Diese Kultur ist aber noch nicht überall
verankert, und Standortgespräche können
insbesondere bei den älteren Arbeitnehmenden
auch Ängste hervorrufen. Andere
Unternehmen stellen das zur Verfügung
stehende Geld für Weiterbildungen gezielt
auch älteren Arbeitnehmenden zur Verfügung.
Was aus unserer Sicht nicht funktioniert,
sind Quoten.
kosten bei der Steuererklärung nicht den
Berufsauslagen anrechnen kann. – Bei
fehlenden Betreuungsangeboten denke
ich übrigens weniger an Krippenplätze,
sondern an Ganztagesstrukturen für Kinder
im Schulalter. Hierzu bringen wir uns
im Rahmen der Fachkräfteinitiative und
dem Programm «Zukunft Arbeitsmarkt
Schweiz» ein.
Sie setzen sich für Ganztagesstrukturen
an Schulen ein. Das würde eine
Schulreform bedingen?
Die durchgehende Betreuung, die um
sieben Uhr morgens beginnt, muss zum
normalen Schulangebot werden. Dass
es so lange dauert, hat mit den föderalen
Strukturen bei den Steuer- und den Schulsystemen
zu tun. Es fehlt der Druck, damit
alle Stakeholder gemeinsam etwas
bewegen würden. Man könnte von einer
Mehrfachproblematik sprechen. Andere
Faktoren, die sich negativ auf das Arbeitskräftepotenzial
auswirken, sind fehlende
Bildung und mangelhafte Ausbildung.
Wir Arbeitgeber können diese Probleme
nicht von uns aus lösen oder für die Kosten
aufkommen. Aber wir sind bereit, über diese
Problematik zu sprechen.
Welche Verantwortung haben die
Wirtschaft und die Unternehmen
gegenüber der Gesellschaft?
Interview 4/15 ZeSo
27
«Heute sagen wir: Es ist wichtig, dass
es Sozialfirmen gibt und dass wir
miteinander den Dialog suchen.»
Sie ist im Vergleich mit anderen Ländern
hoch, sie ist ein fester gesellschaftlicher
Wert. Das zeigt sich auch darin, dass
es in der Schweiz wenig sozialen Unfrieden
gibt und wir wenig Streiks und Demonstrationen
haben. Die Zufriedenheit der Bevölkerung
ist relativ hoch. Das wiederum
ist durch unser Staatssystem bedingt, das
es dem Volk ermöglicht, seine Befindlichkeit
genügend zum Ausdruck zu bringen.
Welche Rolle spielen die Unternehmen?
Sie tragen ihren Teil der Verantwortung.
Unsere Unternehmen sind sich bewusst,
dass es nicht tolerierbar ist, gezielt
Arbeitnehmerkategorien abzubauen oder
unfaire Löhne zu zahlen oder Standards
bei den Arbeitsbedingungen zu verletzen.
Sie haben vorhin die Arbeitsintegration
der IV gelobt. Ein Problem ist hier
aber, dass sich die RAV, die IV, die
Sozialhilfe und die Asylbehörden
bei der Suche nach Plätzen für die
Arbeitsintegration gegenseitig im Weg
roland a. müller
Roland A. Müller (Jg. 1963) ist Rechtsanwalt
und Titularprofessor für Arbeits- und
Sozialversicherungsrecht an der Universität
Zürich. Von 2007 bis zu seiner Wahl zum
Direktor im Jahr 2013 leitete er das Ressort
Sozialpolitik und Sozialversicherungen des
Schweizerischen Arbeitgeberverbands.
Roland A. Müller ist auch nebenamtlicher
Arbeitsrichter am Arbeitsgericht Zürich. Er
ist verheiratet und Vater von vier schulpflichtigen
Kindern.
stehen. Müssten sich die Arbeitgeber
nicht stärker engagieren, indem sie
wieder mehr niederschwellige Arbeitsplätze
schaffen?
Der primäre Zweck eines Unternehmens
ist es nun einmal, dafür zu sorgen,
dass das Geschäft läuft. Im Konkurrenzkampf
zu bestehen, ist im Hochlohn- und
Hochpreisland Schweiz eine herausfordernde
Aufgabe. Entsprechend mussten
aus Wettbewerbsgründen niederschwellige
Arbeitsplätze zum Teil abgebaut oder
ins Ausland ausgelagert werden. Aber
natürlich haben die Unternehmer auch
eine soziale Verantwortung. Oftmals übernehmen
die Medien eine soziale Kontrolle.
Als Beispiel, dass der öffentliche Diskurs
Schranken setzen kann, sei auf die Abzockerdebatte
hingewiesen.
Der Abbau von Arbeitsplätzen für wenig
Qualifizierte lässt sich kaum rückgängig
machen. Wo lassen sich neue
niederschwellige Stellen schaffen?
Gewisse Arbeiten gibt es nicht mehr.
In einer sich entwickelnden Gesellschaft
Bilder: Daniel Desborough
ist das der Lauf der Dinge. Neue Möglichkeiten
dürften sich beispielsweise im Gesundheitswesen,
im Schulwesen und im
Bereich Betreuung anbieten – eigentlich
überall, wo soziale Kompetenzen gefragt
sind. Das sind gerade auch Jobs für Leute,
die den Anschluss verloren haben, die aber
bereit sind, zu unterstützen. Das hat nichts
mit Ausnützen zu tun, sondern damit, dass
jemand seinen Platz in der Gesellschaft
finden kann.
Eine Anstellung im Gesundheitswesen
oder in einer Schule ist heute ohne
Diplom kaum mehr möglich.
Vielleicht müsste man mehr Ausbildungen
vom Typ Anlehre schaffen. Warum
sollen wir fähige Leute nicht beispielsweise
im Rahmen von Ganztagesstrukturen in
Schulen arbeiten lassen, wo sie Kinder betreuen,
oder in Altersheimen, wo sie ältere
Menschen unterstützen? Der gesellschaftliche
und technologische Wandel erfordert
die Bereitschaft von allen, sich auf Neues
einzulassen.
Wie soll die Gesellschaft mit «nichtintegrierbaren»
Menschen umgehen?
Wenn Systeme wie die IV oder die ALV
optimiert werden, müssen wir uns im
Arbeitgeberverband auch damit auseinan-
28 ZeSo 4/15 Interview
dersetzen, was diese Reformen sonst noch
bewirken. Arbeitgeberpolitik muss immer
auch eine nachhaltige Gesellschaftspolitik
sein.
Das hat aus Ihrer Ecke nicht immer so
getönt.
Effektiv wurde das in unseren Kreisen
nicht immer so verstanden. Aber es ist eine
Tatsache, dass es Leute gibt, denen der
Wiedereinstieg nicht mehr gelingt. Der
Meinungswandel innerhalb des Verbands
zeigt sich auch darin, dass wir uns früher
gegen Sozialfirmen gestellt haben. Heute
sagen wir: Es ist wichtig, dass es Sozialfirmen
gibt und dass wir miteinander regional
den Dialog suchen, um das Konkurrenzthema
zum Kleingewerbe gemeinsam
zu diskutieren. Besser, wir ergänzen uns,
anstatt dass niederschwellige Arbeiten ins
Ausland ausgelagert werden. Wenn Sozialfirmen
allerdings so aufgestellt sind, dass
sie Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt
gefährden, wird es natürlich problematisch.
Wie definieren Sie die Funktion der
Sozialhilfe?
Sie hat zwei Aufgaben: Die Sicherung
der existenziellen Grundbedürfnisse für
Personen mit Problemen, finanziell über
die Runden zu kommen. Die zweite Aufgabe
ist die persönliche Unterstützung im
Sinne eines Coachings. Dieser Aspekt ist
ebenso wichtig.
Viele Sozialarbeitende betreuen derart
viele Fälle, dass sie keine Zeit haben,
beratend auf nachhaltige Lösungen
hin zu wirken. Wer soll diesen von
Ihnen monierten Ausbau in Richtung
mehr Coaching bezahlen?
An diese Frage muss man unverkrampft
herangehen. Jede Investition verursacht
Kosten, bevor ein Nutzen resultiert. Wenn
mit einer engeren und persönlichen Begleitung
die Sozialhilfequote und die Ausgaben
langfristig reduziert werden können,
müssen die Mittel dafür zur Verfügung gestellt
werden. Es ist also durchaus denkbar,
dass auf diesem Weg die Gesamtkosten für
die Sozialhilfe reduziert werden könnten.
Der Umbau der IV hat zuerst durch den
Ausbau der IV-Stellen auch zusätzliche
Kosten verursacht und wird erst später
durch die Reduktion der Rentenfälle zu
weniger Auslagen führen.
Sie verfolgen damit eine andere Stossrichtung
als die laufende Revision der
SKOS-Richtlinien, bei der es unter anderem
um die Höhe des Grundbedarfs
und um strengere Sanktionsmöglichkeiten
geht. Mit Ihrem Ansatz, der
Mehrkosten verursacht, lassen sich
politisch kaum Lorbeeren verdienen.
Es geht nicht darum, per Saldo Mehrkosten
zu generieren. Wie erwähnt, kann
es sein, dass zu Beginn höhere Investitionen
anfallen. Mittel- und langfristig
sollten jedoch durch individuelles Coaching
die Betroffenen wieder auf eigenen
Beinen stehen können. Langfristig spart
man daher Geld. Es ist eine Tatsache, ob
in der Sozialhilfe oder im Umfeld von
Arbeitslosen, dass die persönliche Betreuung
das A und O ist. Als Arbeitgeberverband
sind wir bereit, über diese Fragen
mitzudiskutieren und nach Lösungen zu
suchen.
Wo würden Sie sonst noch ansetzen?
Ein wichtiges Thema ist das Ausmerzen
der Schwelleneffekte. Arbeit muss sich lohnen.
Es ist daher zu verhindern, dass beispielsweise
durch Teilerwerb per Saldo ein
tieferes verfügbares Einkommen resultiert
als ohne. Dabei sind auch steuerliche Einflüsse
zu berücksichtigen.
•
Das Gespräch führte
Michael Fritschi
Interview 4/15 ZeSo
29