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yumpu-insight-en goes to barack

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B A R A C K<br />

O B A M A<br />

LESEPROBE BARACK OBAMA<br />

LESEPROBE BARACK OBAMA<br />

Lese<br />

Probe<br />

LEBEN UND AUFSTIEG<br />

DAVID REMNICK<br />

BERLIN VERLAG


Das Buch<br />

David Remnicks fulminante Biographie Barack Obamas<br />

ist ein einzigartiger Blick hinter die Kuliss<strong>en</strong> des<br />

amerikanisch<strong>en</strong> Politikbetriebs. Remnick seziert eine<br />

Gesellschaft und ein politisches System voller<br />

Widersprüche und Brüche, von d<strong>en</strong> Anfäng<strong>en</strong> der<br />

Bürgerrechtsbewegung und ihrem andauernd<strong>en</strong> Kampf<br />

geg<strong>en</strong> die Rass<strong>en</strong>diskriminierung bis hin zu d<strong>en</strong><br />

inn<strong>en</strong>politisch<strong>en</strong> Verwerfung<strong>en</strong> der Ära Bush nach d<strong>en</strong><br />

Anschläg<strong>en</strong> vom 11. September. Woher kommt und<br />

wofür steht Barack Obama? Wie sieht er sich selbst?<br />

Welche Rolle spielte und spielt seine Hautfarbe für ihn<br />

und für andere? Remnick geling<strong>en</strong> eindringliche<br />

Porträts von Angehörig<strong>en</strong> und Freund<strong>en</strong>, Vorbildern,<br />

Widersachern oder Weggefährt<strong>en</strong> Obamas, ohne die<br />

weder seine Gedank<strong>en</strong>welt noch sein politischer<br />

Werdegang zu versteh<strong>en</strong> sind. Barack Obama, Leb<strong>en</strong><br />

und Aufstieg ist ein Meisterwerk der biographisch<strong>en</strong><br />

Reportage, zugleich aber die scharfsichtige Analyse<br />

einer Gesellschaft, die auch mit einem schwarz<strong>en</strong><br />

Präsid<strong>en</strong>t<strong>en</strong> von einer Lösung der schwel<strong>en</strong>d<strong>en</strong> Rass<strong>en</strong>konflikte<br />

weit <strong>en</strong>tfernt ist.<br />

2


LESEPROBE BARACK OBAMA<br />

Der Au<strong>to</strong>r<br />

David Remnick ist Chefredakteur des New Yorker. Für<br />

sein Buch L<strong>en</strong>in’s Tomb erhielt er 1994 d<strong>en</strong> Pulitzer-<br />

Preis. Im Berlin Verlag erschi<strong>en</strong> von ihm der weltweite<br />

Bestseller King of the World. Der Aufstieg des Cassius<br />

Clay oder die Geburt des Muhammed Ali (2000; BvT<br />

2008). Remnick lebt mit seiner Familie in New York.<br />

3


Auszüge aus dem Prolog<br />

Am 4. März 2007 sollte Barack Obama, der junge S<strong>en</strong>a<strong>to</strong>r<br />

aus Illinois, mittags in der Brown Chapel in Selma,<br />

Alabama, sprech<strong>en</strong>. Sein Kampf um die Präsid<strong>en</strong>tschaft<br />

war gerade erst ein<strong>en</strong> Monat alt, und er war in d<strong>en</strong><br />

Süd<strong>en</strong> gekomm<strong>en</strong>, bereit, der Spitz<strong>en</strong>reiterin der Demokrat<strong>en</strong>,<br />

Hillary Clin<strong>to</strong>n, zum erst<strong>en</strong> Mal die Stirn zu<br />

biet<strong>en</strong>. Er wollte öff<strong>en</strong>tlich über die Dinge diskutier<strong>en</strong>,<br />

an d<strong>en</strong><strong>en</strong> er nach verbreiteter Ansicht letztlich scheitern<br />

würde: seine Rasse, seine Jug<strong>en</strong>d, seine »exotische«<br />

Herkunft. »Wer ist Barack Obama?« Barack Hussein<br />

Obama? Diese Frage würd<strong>en</strong> seine Gegner, Demokrat<strong>en</strong><br />

wie Republikaner, von nun an bis zum Wahltag<br />

immer wieder stell<strong>en</strong>, auf öff<strong>en</strong>tlich<strong>en</strong> Podi<strong>en</strong>, in<br />

Fernseh- und Radio-Werbespots, um anzudeut<strong>en</strong>, dass<br />

seine Andersartigkeit dies<strong>en</strong> Mann disqualifizierte: seine<br />

Kindheit auf Hawaii und in Indonesi<strong>en</strong>, sein k<strong>en</strong>ianischer<br />

Vater, seine in Kansas gebor<strong>en</strong>e und doch<br />

wel<strong>to</strong>ff<strong>en</strong>e Mutter.<br />

Obamas Antwort auf diese Frage prägte maßgeb<strong>en</strong>d<br />

sein<strong>en</strong> Wahlkampf. Nachdem er zwei Jahre zuvor sein<strong>en</strong><br />

Sitz im S<strong>en</strong>at des Staates Illinois niedergelegt und gerade<br />

erst sein<strong>en</strong> Studi<strong>en</strong>kredit abgezahlt hatte, zog Obama<br />

mit einer Reihe ernsthafter, aber nicht ungewöhnlicher<br />

politischer Position<strong>en</strong> der link<strong>en</strong> Mitte in d<strong>en</strong> Kampf<br />

um die Präsid<strong>en</strong>tschaft. Er wich darin nicht wes<strong>en</strong>tlich<br />

4


LESEPROBE BARACK OBAMA<br />

von der Haltung Hillary Clin<strong>to</strong>ns ab, außer in der<br />

<strong>en</strong>tscheid<strong>en</strong>d<strong>en</strong> Frage des Irakkrieges. Ob<strong>en</strong>drein<br />

konnte er weder beeindruck<strong>en</strong>de Erfahrung<strong>en</strong> in der<br />

Regierung noch gesetzgeberische Leistung<strong>en</strong> vorweis<strong>en</strong>.<br />

D<strong>en</strong> Mittelpunkt seiner Rhe<strong>to</strong>rik und seiner Wirkung<br />

sollte die Frage bild<strong>en</strong>, wer er war, woher er kam, wie<br />

er sich selbst definierte und wie es ihm letztlich gelang,<br />

sein Wes<strong>en</strong> und seine Persönlichkeit als Ausdruck<br />

amerikanischer Ambition<strong>en</strong> und Hoffnung<strong>en</strong> darzustell<strong>en</strong>.<br />

Was Obama als eig<strong>en</strong>tlich<strong>en</strong> Inhalt seiner<br />

Kandidatur anbot, war eine Persönlichkeit – ein<br />

vielschichtiger, intellig<strong>en</strong>ter, gewiefter, ansprech<strong>en</strong>der,<br />

junger Afroamerikaner. Ein großer Mann war er gewiss<br />

noch nicht, aber er verkörperte das Versprech<strong>en</strong> von<br />

Größe. Das war einer der stärkst<strong>en</strong> Antriebe für seine<br />

Kandidatur, der<strong>en</strong> Unverfror<strong>en</strong>heit nicht zu überseh<strong>en</strong><br />

war. Obama selbst b<strong>en</strong>utzte Wörter wie »anmaß<strong>en</strong>d«<br />

und »verweg<strong>en</strong>«.<br />

In Selma wollte Obama sich zum Erb<strong>en</strong> des<br />

schmerz lichst<strong>en</strong> aller amerikanisch<strong>en</strong> Kämpfe erklär<strong>en</strong>,<br />

des Rass<strong>en</strong>kampfes – doch im Unterschied zu sein<strong>en</strong><br />

Vorgängern berief er sich auf die Rasse nicht im Sinne<br />

der Wahlpolitik oder der Bürgerrechtsbewegung, nicht<br />

im Sinne eines Beharr<strong>en</strong>s auf Ethnizität oder Wiedergutmachung;<br />

Obama wollte seine gemischtrassige Herkunft<br />

vielmehr zum Sinnbild seines Bestreb<strong>en</strong>s mach<strong>en</strong>,<br />

eine breite Koalition von Unterstützern zu schaff<strong>en</strong>, die<br />

5


Amerikaner hinter einer Erzählung von moralischem<br />

und politischem Fortschritt zu ein<strong>en</strong>. Er musste dabei<br />

nicht unbedingt der Held dieser Erzählung sein,<br />

sondern konnte einfach als ihr krön<strong>en</strong>der Abschluss<br />

erschein<strong>en</strong>. In d<strong>en</strong> folg<strong>en</strong>d<strong>en</strong> Monat<strong>en</strong> machte Obama<br />

schamlose Anleih<strong>en</strong> bei der Sprache und der Symbolik<br />

einer epochal<strong>en</strong> amerikanisch<strong>en</strong> Bewegung und übertrug<br />

sie auf d<strong>en</strong> Kampf um die Präsid<strong>en</strong>tschaft.<br />

Barack Obama war von seinem Freund John Lewis nach<br />

Selma eingelad<strong>en</strong> word<strong>en</strong>, einem altgedi<strong>en</strong>t<strong>en</strong> Kongressabgeordnet<strong>en</strong><br />

aus Atlanta. Lewis, Ende sechzig, beleibt<br />

und kahlköpfig, war auf dem Kapi<strong>to</strong>l und unter d<strong>en</strong><br />

Afroamerikanern nicht so sehr als Abgeordneter<br />

bekannt wie als ein allseits anerkannter Griot, ein<br />

moralisches Vorbild und ein runzlig geword<strong>en</strong>er Wahrheitskünder<br />

der Bürgerrechtsbewegung. Als King für<br />

die SCLC in Alabama organisierte, war Lewis Vorsitz<strong>en</strong>der<br />

des SNCC gewes<strong>en</strong>. Lewis war bei fast jedem<br />

wichtig<strong>en</strong> Marsch dabei. Er war an der Spitze unzähliger<br />

Demonstration<strong>en</strong> und bei Begegnung<strong>en</strong> mit John<br />

K<strong>en</strong>nedy und Lyndon Johnson im Oval Office an Kings<br />

Seite. Er war der jüngste – und militanteste – der viel<strong>en</strong><br />

Sprecher auf dem Marsch auf Washing<strong>to</strong>n im Jahr 1963<br />

gewes<strong>en</strong>; nun war er der einzige von ihn<strong>en</strong>, der noch<br />

lebte. John Lewis sei jed<strong>en</strong> Tag seines Leb<strong>en</strong>s ein Held<br />

gewes<strong>en</strong>, sagt<strong>en</strong> die Leute, aber jetzt fühlte er sich ganz<br />

6


unheroisch, unsicher, w<strong>en</strong> er unterstütz<strong>en</strong> sollte: die<br />

Clin<strong>to</strong>ns, die ihn in all d<strong>en</strong> Jahr<strong>en</strong> »nie <strong>en</strong>ttäuscht«<br />

hatt<strong>en</strong>, oder ein<strong>en</strong> tal<strong>en</strong>tiert<strong>en</strong> jung<strong>en</strong> Mann, der sich<br />

dem Land im Jahr 2004 mit einer mitreiß<strong>en</strong>d<strong>en</strong> Rede<br />

auf dem Bos<strong>to</strong>ner Nominierungsparteitag der Demokrat<strong>en</strong><br />

vorgestellt hatte. Anfangs gab Lewis Obama zu<br />

versteh<strong>en</strong>, er werde ihn unterstütz<strong>en</strong>, aber andererseits<br />

appelliert<strong>en</strong> die Clin<strong>to</strong>ns und ihr Kreis an sein<strong>en</strong> Sinn<br />

für Freundschaft und Loyalität – und ihn<strong>en</strong> war fast<br />

eb<strong>en</strong>so schwer zu widersteh<strong>en</strong> wie der Verlockung der<br />

Geschichte. Zu einer Wahl gedrängt, versprach Lewis<br />

sowohl d<strong>en</strong> Clin<strong>to</strong>ns als auch Obama, in Kürze »eine<br />

Vorstandssitzung mit mir selbst« abzuhalt<strong>en</strong> und dann<br />

zu <strong>en</strong>tscheid<strong>en</strong>.<br />

***<br />

LESEPROBE BARACK OBAMA<br />

Im Laufe der Jahre hat Lewis die Geschichte von dem<br />

Nachmittag des 7. März 1965, des »Blutig<strong>en</strong> Sonntags«,<br />

Hunderte von Mal<strong>en</strong> erzählt. An j<strong>en</strong>em Ab<strong>en</strong>d geg<strong>en</strong><br />

neun Uhr Ostküst<strong>en</strong>zeit unterbrach der S<strong>en</strong>der ABC<br />

die Ausstrahlung des Films Judgm<strong>en</strong>t at Nuremberg für<br />

ein<strong>en</strong>, wie es in der Ansage hieß, »lang<strong>en</strong> Filmbericht<br />

über d<strong>en</strong> Angriff auf dem Highway 80«. ABC hatte an<br />

j<strong>en</strong>em Ab<strong>en</strong>d eine riesige Zuschauerbeteiligung – rund<br />

48 Million<strong>en</strong> –, und die Nachricht<strong>en</strong>s<strong>en</strong>dung dauerte<br />

fünfzehn Minut<strong>en</strong>, bis der Film fortgesetzt wurde.<br />

7


Der »Bloody Sunday« war wohl der wichtigste<br />

Akt gewaltlos<strong>en</strong> Widerstandes seit 1930, als Mahatma<br />

Gandhi 78 weitere seiner Satyagrahi (»Kämpfer für die<br />

Kraft der Wahrheit«) in einem 23 Tage dauernd<strong>en</strong><br />

Marsch von seinem Ashram in die Küst<strong>en</strong>stadt Dandi<br />

führte, um geg<strong>en</strong> die britische Herrschaft und die<br />

koloniale Salzsteuer zu protestier<strong>en</strong>. Million<strong>en</strong> von<br />

Amerikanern wurd<strong>en</strong> durch das Bild von friedlich<strong>en</strong><br />

Protestierern, die in Selma mit Knüppeln geschlag<strong>en</strong><br />

und mit Gas bekämpft wurd<strong>en</strong>, aus ihrer Gleichgültigkeit<br />

aufgeschreckt, so wie Gandhi mit seiner Aktion die<br />

Inder beflügelt und die Brit<strong>en</strong> <strong>en</strong>tnervt hatte.<br />

Am 15. März hielt Präsid<strong>en</strong>t Johnson in einer<br />

gemeinsam<strong>en</strong> Sitzung des Kongresses eine Rede, in der<br />

er so eindringlich wie kein amtier<strong>en</strong>der Präsid<strong>en</strong>t zuvor<br />

die Bürgerrechte bekräftigte: »Geleg<strong>en</strong>tlich treff<strong>en</strong><br />

Geschichte und Schicksal an einem bestimmt<strong>en</strong> Zeitpunkt<br />

und einem bestimmt<strong>en</strong> Ort zusamm<strong>en</strong> und<br />

bild<strong>en</strong> ein<strong>en</strong> W<strong>en</strong>depunkt in dem nicht <strong>en</strong>d<strong>en</strong>d<strong>en</strong><br />

Streb<strong>en</strong> des M<strong>en</strong>sch<strong>en</strong> nach Freiheit. So war es in<br />

Lexing<strong>to</strong>n und Concord. So war es vor einem Jahrhundert<br />

in Appomat<strong>to</strong>x. So war es letzte Woche in<br />

Selma, Alabama.« Er sagte, selbst w<strong>en</strong>n es dem Land<br />

geling<strong>en</strong> sollte, sein<strong>en</strong> Reichtum zu verdoppeln und<br />

»die Sterne zu erobern«, würd<strong>en</strong> wir, »w<strong>en</strong>n es sich<br />

diesem Problem nicht gewachs<strong>en</strong> zeigt, als Volk und<br />

als Nation versagt hab<strong>en</strong>«. Das von ihm eingebrachte<br />

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LESEPROBE BARACK OBAMA<br />

Wahlrechtsgesetz werde sich als unzureich<strong>en</strong>d erweis<strong>en</strong>,<br />

w<strong>en</strong>n es dem Land erlaube, nachzulass<strong>en</strong> in seinem<br />

Streb<strong>en</strong> nach Gerechtigkeit für die Männer und Frau<strong>en</strong>,<br />

der<strong>en</strong> Vorfahr<strong>en</strong> auf Sklav<strong>en</strong>schiff<strong>en</strong> nach Amerika<br />

gekomm<strong>en</strong> war<strong>en</strong>.<br />

Was in Selma geschah, ist Bestandteil einer weit<br />

größer<strong>en</strong> Bewegung, die in jed<strong>en</strong> Teilbereich und<br />

jed<strong>en</strong> Staat Amerikas hineinreicht. Es ist das Bestreb<strong>en</strong><br />

amerikanischer Neger, sich der uneingeschränkt<strong>en</strong><br />

Wohltat<strong>en</strong> des amerikanisch<strong>en</strong> Leb<strong>en</strong>s<br />

zu versichern.<br />

Ihre Sache muss auch unsere Sache sein. D<strong>en</strong>n es<br />

sind nicht nur die Neger, sondern im Grunde wir<br />

alle, die die lähm<strong>en</strong>de Hinterlass<strong>en</strong>schaft von Fanatismus<br />

und Ungerechtigkeit überwind<strong>en</strong> müss<strong>en</strong>.<br />

Und wir werd<strong>en</strong> sie überwind<strong>en</strong>.<br />

King weinte, als er an j<strong>en</strong>em Ab<strong>en</strong>d in Selma Johnson<br />

im Fernseh<strong>en</strong> sah. Sechs Tage später, am 21. März,<br />

brach<strong>en</strong> King und Lewis mit Taus<strong>en</strong>d<strong>en</strong> von Teilnehmern<br />

von der Brown Chapel zu einem friedlich<strong>en</strong><br />

Marsch nach Montgomery auf, der »Wiege der<br />

Konföderation«. Fünf Tage später erreicht<strong>en</strong> sie die<br />

Hauptstadt, und als King auf dem Platz vor dem<br />

Regierungssitz zu der M<strong>en</strong>ge sprach, spähte Gouv<strong>en</strong>eur<br />

Wallace durch die Jalousi<strong>en</strong> seines Amtszimmers. Die<br />

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Rass<strong>en</strong>tr<strong>en</strong>nung, erklärte King, liege »im Sterb<strong>en</strong>«.<br />

Bomb<strong>en</strong>- und Brandanschläge auf Kirch<strong>en</strong> oder das<br />

Verprügeln von Geistlich<strong>en</strong> werde sie nicht abschreck<strong>en</strong>.<br />

»Wir sind jetzt auf dem Weg!«, sagte King.<br />

Und sein Ziel, »unser Ziel«, sei nicht, d<strong>en</strong> weiß<strong>en</strong> Mann<br />

zu besieg<strong>en</strong> oder zu erniedrig<strong>en</strong>, sondern vielmehr<br />

»seine Freundschaft und sein Verständnis zu gewinn<strong>en</strong>«<br />

und eine Gesellschaft zu erreich<strong>en</strong>, »die mit ihrem<br />

Gewiss<strong>en</strong> im Rein<strong>en</strong> ist«:<br />

Ich weiß, dass ihr heute fragt: »Wie lange wird es<br />

dauern?« ... Ich sage euch an diesem Nachmittag:<br />

So schwierig der Mom<strong>en</strong>t auch ist und so<br />

frustrier<strong>en</strong>d die Stunde, wird es doch nicht mehr<br />

lange dauern, bis die niedergedrückte Wahrheit<br />

sich wieder erheb<strong>en</strong> wird.<br />

Wie lange? Nicht lang, weil keine Lüge ewig<br />

leb<strong>en</strong> kann.<br />

Wie lange? Nicht lang, weil ihr ernt<strong>en</strong> werdet,<br />

was ihr gesät habt ...<br />

Wie lange? Nicht lang, weil der Bog<strong>en</strong> des moralisch<strong>en</strong><br />

Universums zwar lang ist, sich aber doch<br />

zur Gerechtigkeit neigt.<br />

***<br />

10


Dieser letzte Refrain wurde zu Barack Obamas<br />

Lieblingszitat. Die Rass<strong>en</strong>id<strong>en</strong>tität war für Obama<br />

sowohl vorgegeb<strong>en</strong> als auch selbsterwählt; er strebte<br />

nach ihr, er erlernte sie. Umgeb<strong>en</strong> von einer liebevoll<strong>en</strong><br />

weiß<strong>en</strong> Mutter und verständnisvoll<strong>en</strong> weiß<strong>en</strong> Großeltern,<br />

großteils aufgewachs<strong>en</strong> auf einer multikulturell<strong>en</strong><br />

Insel, wo der einzige fehl<strong>en</strong>de Farb<strong>to</strong>n sein eig<strong>en</strong>er war,<br />

musste Obama nach einem selbstgewählt<strong>en</strong> Studium,<br />

nach eig<strong>en</strong><strong>en</strong> Beobachtung<strong>en</strong> und sogar mit einer<br />

gewiss<strong>en</strong> Anmaßung auf diese Id<strong>en</strong>tität poch<strong>en</strong>.<br />

***<br />

LESEPROBE BARACK OBAMA<br />

Auf d<strong>en</strong> Bänk<strong>en</strong> der Brown Chapel saß<strong>en</strong> dichtgedrängt<br />

Männer und Frau<strong>en</strong>, die <strong>en</strong>tweder beim Blutig<strong>en</strong><br />

Sonntag dabei gewes<strong>en</strong> war<strong>en</strong> oder später eingetroff<strong>en</strong><br />

war<strong>en</strong>, um mit Dr. King nach Montgomery zu<br />

marschier<strong>en</strong>. Drei führ<strong>en</strong>de Mitarbeiter von King –<br />

John Lewis, C. T. Vivian und Joseph Lowery – war<strong>en</strong><br />

da und hatt<strong>en</strong> hinter Obama Platz g<strong>en</strong>omm<strong>en</strong>.<br />

Rever<strong>en</strong>d Lowery, mittlerweile fünfundachtzig und eine<br />

beherrsch<strong>en</strong>de Figur in d<strong>en</strong> schwarz<strong>en</strong> Kirch<strong>en</strong> von<br />

Atlanta, sah in Obama so etwas wie ein Wunder. Es<br />

konnte nur ein Wunder sein, w<strong>en</strong>n weiße Amerikaner,<br />

ja sogar weiße Südstaatler bereit war<strong>en</strong>, <strong>en</strong>dlich für<br />

ein<strong>en</strong> Schwarz<strong>en</strong> zu stimm<strong>en</strong>. Wie konnte er ihn<br />

da abweis<strong>en</strong>? Lowery war in d<strong>en</strong> neunziger Jahr<strong>en</strong><br />

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eb<strong>en</strong>falls ein glüh<strong>en</strong>der Anhänger von Bill Clin<strong>to</strong>n<br />

gewes<strong>en</strong>, aber die politische Lage war nun eine andere.<br />

Lowery hatte zu viel durchgemacht, um zu zögern,<br />

w<strong>en</strong>n es um Obama ging. 1963 war er mit knapper Not<br />

einem Bomb<strong>en</strong>anschlag auf sein Hotelzimmer in<br />

Birmingham <strong>en</strong>tronn<strong>en</strong>. 1979 hatt<strong>en</strong> Klansmänner in<br />

weiß<strong>en</strong> Lak<strong>en</strong> in Decatur, Alabama, das Feuer auf ihn<br />

eröffnet, als er geg<strong>en</strong> die Inhaftierung eines geistig<br />

behindert<strong>en</strong> Schwarz<strong>en</strong> protestierte, dem man vorwarf,<br />

eine weiße Frau vergewaltigt zu hab<strong>en</strong>. In Selma<br />

<strong>en</strong>tschied er: »Ich hatte ein<strong>en</strong> Kandidat<strong>en</strong>.«<br />

***<br />

Es war eine faszinier<strong>en</strong>de rhe<strong>to</strong>rische Leistung. Bei<br />

seiner Ankündigungsrede in Springfield hatte Obama<br />

seine persönliche Geschichte erzählt und sie dann mit<br />

einem größer<strong>en</strong> gemeinsam<strong>en</strong> Ziel verknüpft, indem er<br />

die W<strong>en</strong>dung b<strong>en</strong>utzte: »Lasst uns die G<strong>en</strong>eration sein<br />

…«; »Lasst uns die G<strong>en</strong>eration sein, die der Armut in<br />

Amerika ein Ende macht«; »Lasst uns die G<strong>en</strong>eration<br />

sein, die nach all dies<strong>en</strong> Jahr<strong>en</strong> <strong>en</strong>dlich die Krise des<br />

Gesundheitssystems anpackt«. Die Metapher, auf die er<br />

an j<strong>en</strong>em Tag zielte, war Lincoln, der Mann mit geringer<br />

Erfahrung und pot<strong>en</strong>zieller Größe, der das Land am<br />

Abgrund sah. Die Rede Obamas in Springfield richtete<br />

sich an alle, nicht speziell an die Afroamerikaner. In<br />

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LESEPROBE BARACK OBAMA<br />

Selma sprach er die Afroamerikaner direkt an, indem<br />

er die Älter<strong>en</strong> lobte und die jüngere G<strong>en</strong>eration, die<br />

Josua-G<strong>en</strong>eration, sowohl mobilisierte als auch mit<br />

Forderung<strong>en</strong> konfrontierte. Er stellte eine Parallele zwisch<strong>en</strong><br />

d<strong>en</strong> Besonderheit<strong>en</strong> des Leb<strong>en</strong>s eines Kandidat<strong>en</strong><br />

und dem politisch<strong>en</strong> Kampf her; er stellte sich vor als<br />

ein junger Mann, der eine nationale Bewegung fortsetzt<br />

und weiter<strong>en</strong>twickelt; und er packte das alles in die<br />

Rhe<strong>to</strong>rik der traditionell<strong>en</strong> schwarz<strong>en</strong> Kirche, des erst<strong>en</strong><br />

befreit<strong>en</strong> Raumes unter d<strong>en</strong> Sklav<strong>en</strong> und der grundleg<strong>en</strong>d<strong>en</strong><br />

schwarz<strong>en</strong> Institution. In Selma beschwor<br />

Obama nicht nur Lincoln, sondern auch King; er übernahm<br />

die Gest<strong>en</strong>, die Rhythm<strong>en</strong> und die Symbole der<br />

prophetisch<strong>en</strong> Stimme für die Zwecke der Wahlpolitik.<br />

Seit im April 1968 Martin Luther King und zwei<br />

Monate darauf Robert K<strong>en</strong>nedy ermordet word<strong>en</strong><br />

war<strong>en</strong>, hofft<strong>en</strong> die liberal<strong>en</strong> Wähler Amerikas auf eine<br />

Erlösergestalt. Barack Obama bot sich an. In d<strong>en</strong> Aug<strong>en</strong><br />

seiner Unterstützer war er eine Verheißung in einer<br />

trostlos<strong>en</strong> Landschaft; er brachte eine inspirier<strong>en</strong>de<br />

Intellig<strong>en</strong>z und eine off<strong>en</strong>kundige Kompet<strong>en</strong>z mit,<br />

als das Land an einem Präsid<strong>en</strong>t<strong>en</strong> verzweifelte, der<br />

dilettantisch und auf eine geradezu aggressive Art<br />

gleichgültig war; er verfügte über Weltläufigkeit zu einer<br />

Zeit, da die Amerikaner spürt<strong>en</strong>, dass sie im Ausland<br />

von viel<strong>en</strong> abgelehnt und sogar gehasst wurd<strong>en</strong>; er<br />

verkörperte die multiethnische Gesellschaft, als die<br />

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Mehrheit der Weiß<strong>en</strong> zuseh<strong>en</strong>ds im Schwind<strong>en</strong> war.<br />

Darin lag die Verheißung seiner Kampagne, die man<br />

je nach Standpunkt als Romantik oder als Realität<br />

versteh<strong>en</strong> konnte.<br />

Was Obama außerdem verkörperte, war das<br />

Sz<strong>en</strong>ario eines unwahrscheinlich<strong>en</strong> Sieges. Er hatte sich<br />

vor der Invasion geg<strong>en</strong> d<strong>en</strong> Irakkrieg ausgesproch<strong>en</strong> – für<br />

d<strong>en</strong> S<strong>en</strong>a<strong>to</strong>r eines Bundesstaates aus Hyde Park nicht<br />

gerade ein Beweis umwerf<strong>en</strong>d<strong>en</strong> Mutes, aber auch nicht<br />

ganz risikolos und hinreich<strong>en</strong>d, um ihn von sein<strong>en</strong><br />

demokratisch<strong>en</strong> Geg<strong>en</strong>spielern zu unterscheid<strong>en</strong>. Das<br />

sollte jüngere Wähler und d<strong>en</strong> link<strong>en</strong> Flügel der Partei<br />

ansprech<strong>en</strong>. Und es war gut möglich, dass die Rasse –<br />

besonders in seiner Deutung – ihm weit mehr helf<strong>en</strong> als<br />

schad<strong>en</strong> würde.<br />

***<br />

Das abschließ<strong>en</strong>de Ereignis des Tages in Selma war die<br />

rituelle Überquerung der Brücke, der Edmund Pettus<br />

Bridge. Am ander<strong>en</strong> Ende wurde d<strong>en</strong> Besuchern auf<br />

einer Werbetafel dafür gedankt, dass sie die örtlich<strong>en</strong><br />

Seh<strong>en</strong>swürdigkeit<strong>en</strong> aus der Zeit des Bürgerkrieges<br />

unterstützt hatt<strong>en</strong>; sie zeigte ein riesiges Porträt von<br />

G<strong>en</strong>eral Forrest. »Wer heute nach Selma kommt, wird<br />

daran erinnert, dass Amerika seine Versprechung<strong>en</strong><br />

noch nicht erfüllt hat«, sagte C. T. Vivian. »Aber die<br />

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LESEPROBE BARACK OBAMA<br />

Schwarz<strong>en</strong> wiss<strong>en</strong>, dass wir Schritt um Schritt vorankomm<strong>en</strong>.<br />

Die Kräfte des Bös<strong>en</strong> werd<strong>en</strong> unterlieg<strong>en</strong>.«<br />

Anders als bei der rituell<strong>en</strong> Wiederaufführung der<br />

Schlacht von Selma brauchte man zur Wiederaufführung<br />

der Überquerung der Pettus Bridge keine<br />

Gewalt vorzutäusch<strong>en</strong>. Rempelei<strong>en</strong> gab es nur unter d<strong>en</strong><br />

Fo<strong>to</strong>graf<strong>en</strong>, die eine Aufnahme von d<strong>en</strong> Clin<strong>to</strong>ns und<br />

Obama mach<strong>en</strong> wollt<strong>en</strong>. Würd<strong>en</strong> sie zusamm<strong>en</strong>steh<strong>en</strong><br />

und sich die Hände reich<strong>en</strong>? Das nicht. Aber sie<br />

marschiert<strong>en</strong> in der erst<strong>en</strong> Reihe zusamm<strong>en</strong> mit Lewis,<br />

Lowery und jünger<strong>en</strong> Politikern wie Artur Davis.<br />

Unterwegs traf Obama auf Rever<strong>en</strong>d Fred Shuttlesworth,<br />

ein<strong>en</strong> Mann von Mitte achtzig und eine Ikone<br />

der Bürgerrechtsbewegung, der geg<strong>en</strong> Bull Connor in<br />

Birmingham gekämpft und Prügel, Bomb<strong>en</strong>anschläge<br />

und jahrelange Verleumdung<strong>en</strong> überstand<strong>en</strong> hatte. Erst<br />

kurz zuvor hatte man ein<strong>en</strong> Hirntumor bei ihm <strong>en</strong>tfernt,<br />

doch die Ged<strong>en</strong>kfeier wollte er nicht versäum<strong>en</strong>. Auf<br />

der Brücke plauderte er ein Weilch<strong>en</strong> mit Obama. Und<br />

dann zog Obama, der so viel über die Bewegung geles<strong>en</strong><br />

und von ihr geträumt hatte, das Jackett aus, krempelte<br />

die Ärmel hoch, steckte sich rasch ein Stück Nicorette<br />

Gum in d<strong>en</strong> Mund und schob d<strong>en</strong> Rollstuhl von Fred<br />

Shuttlesworth, einem Führer der Moses-G<strong>en</strong>eration,<br />

über die Brücke und auf die andere Seite.<br />

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»Ein Epos, so nahe am oft ersehnt<strong>en</strong><br />

groß<strong>en</strong> amerikanisch<strong>en</strong> Geg<strong>en</strong>wartsroman,<br />

wie man es sich nur wünsch<strong>en</strong> kann.«<br />

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung<br />

Pulitzer-Preisträger David Remnick<br />

schreibt die Biographie Barack<br />

Obamas, des wohl charismatischst<strong>en</strong><br />

Politikers unserer Zeit. Sein Buch ist<br />

ein einzig artiger Blick hinter die<br />

Kuliss<strong>en</strong> des amerikanisch<strong>en</strong> Politikbetriebs<br />

und das ges<strong>to</strong>ch<strong>en</strong> scharfe<br />

Porträt einer Gesellschaft, in der die<br />

Hautfarbe noch immer eine <strong>en</strong>orme<br />

Rolle spielt.<br />

David Remnick, Barack Obama. Leb<strong>en</strong> und Aufstieg<br />

Aus dem Englisch<strong>en</strong> von Friedrich Griese, Christina Knüllig und Bernd Rullkötter.<br />

976 Seit<strong>en</strong>. 37 Abbildung<strong>en</strong>. Gebund<strong>en</strong>. Euro 34,– [D] ISBN 978-3-8270-0893-0<br />

Erscheint am 2. Ok<strong>to</strong>ber 2010<br />

BERLIN VERLAG<br />

www.berlinverlage.de

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