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Das Erbe

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<strong>Das</strong> <strong>Erbe</strong> – Aktionsforschung im lokalen Aushandlungsfeld von Wertschätzung, Sinn und Bedeutung<br />

Wirkungen des Gravitationsfeldes der moralischen Regeln von Peter Kramers Heimatmilieu<br />

auf dessen Wertschätzung lassen sich auch in den Erfahrungen seiner Tochter nachzeichnen:<br />

Sie habe sich früher immer wieder geschämt, erzählte sie, wenn der Vater öffentlich Späße<br />

trieb, wenn er beispielsweise zu Theatervorstellungen als Zuschauer ging und dann dort selbst<br />

verkleidet und laut die Aufmerksamkeit auf sich zog.<br />

Peter Kramer verstieß bei solchen Anlässen regelmäßig gegen Konventionen seiner Wertegemeinschaft<br />

und seine Tochter schämte sich offenbar stellvertretend für ihren Vater. Scham<br />

und Schamangst regulieren in Gemeinschaften mit enger Verbundenheit und hoher Konformität<br />

das Zusammenleben (vgl. List 2009: 120). Sie sind Ausdruck „drohender Differenz zu den<br />

anderen“ (ebd.).<br />

Die Tochter ist in Pfullingen in einem Milieu mit relativ hohen Konformitätserwartungen aufgewachsen.<br />

Dieses Milieu hat sie zwar mit dem Erwachsenwerden verlassen. In anderen Bezügen<br />

veränderte sich der Maßstab ihrer Werte. Der Wert der Entfaltung eigener Fähigkeiten<br />

beispielsweise bekam gegenüber dem Wert der Arbeit als Verpflichtung im Laufe ihres Lebens<br />

offenbar mehr Gewicht.<br />

Gleichwohl wirken auch in der Gegenwart die moralischen Regeln ihres Pfullinger Herkunftsmilieus<br />

offenbar weiter. Sie fühle sich den Leuten in Pfullingen verpflichtet, sagte sie.<br />

Auch empfinde sie die Pflicht, ihren Vater öffentlich wert zu schätzen.<br />

Ob sie dabei eher dessen indirekten Beitrag als Künstler zum Wohl der Gemeinschaft oder<br />

eher den direkten Nutzen als Spaßmacher in den Vordergrund stellen kann, hängt auch von<br />

der inneren Nähe oder Distanz zu ihrem Herkunftsmilieu ab. Dieser Abstand und damit der<br />

Maßstab für Wertschätzung ändern sich mit Entwicklungsprozessen. − Aber das gilt nicht nur<br />

für sie, das galt wohl auch für ihren Vater.<br />

.<br />

5.3 Bindung und Lösung – Aushandlung von Wertschätzung im Lauf der<br />

Zeit<br />

Die moralischen Regeln des Pfullinger Heimatmilieus bilden ein „Korsett“, das je nachdem,<br />

welche subjektiven und gesellschaftlichen Bedürfnisse bzw. Bedarfe gerade vorherrschend<br />

sind, eher Sicherheitsgefühle und Stabilität oder eher Enge-Gefühle und Erstarrung bewirken.<br />

Wenn sich im Laufe persönlicher Biografien bzw. gesellschaftlicher Entwicklungen solche<br />

Bedürfnisse und Bedarfe grundlegend verändern, kann es notwendig werden, das traditionelle<br />

Wertesystem und die daraus folgenden moralischen Regeln zu überdenken, gegebenenfalls<br />

auch zu verändern. In diesem Sinne lässt sich das Pfullinger „Schaffwerk“ nach meiner Einschätzung<br />

im Kontext einer Situation verstehen, in welcher tradierte Werte und Wertgemeinschaften<br />

sich zu verflüssigen begonnen haben, neue Orientierungen und Zugehörigkeiten aber<br />

noch nicht stabil „herauskristallisiert“ werden konnten. Sowohl für den Schaffer Peter Kramer<br />

als auch für die ihn und sein „Schaffwerk“ umgebende Gemeinschaft ging es darum, Wertschätzung<br />

im Lauf der Zeit unter sich verändernden Bedingungen immer wieder neu auszuhandeln.<br />

Hierfür machte das „Schaffwerk“ Sinn für Peter Kramer und in diesem Zusammenhang<br />

hatte sein Schaffen Bedeutung für die Gemeinschaft.<br />

Die Person im Zentrum unserer Betrachtungen und die Menschen um ihn herum stellten in<br />

diesem Prozess im Lauf der Zeit wertschätzende Bindungen her. Manche sozialen und kulturellen<br />

Bindungen dagegen wurden gelöst bzw. gelockert. Wertschätzung wurde bzw. wird im<br />

Spannungsfeld von Bindung und Lösung ausgehandelt – das zeigen die folgenden Geschichten<br />

vom persönlichen Sinn und der kollektiven Bedeutung des „Schaffwerks“.<br />

5.3.1 Aushandlung I − Eine Geschichte vom Sinn für sich selbst<br />

„Als er einmal seinen Sinn gefunden hatte, war ihm das egal“ – Sinn und Zugehörigkeit<br />

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