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OWEN MATTHEWS
Red Traitor
Weitere Titel des Autors:
Black Sun
Titel auch als Hörbuch erhältlich
OWEN
MATTHEWS
RED
TRAITOR
Dem Verräter auf der Spur,
die Zeit im Nacken
THRILLER
Übersetzung aus dem Englischen von
Michael Krug
Dieser Titel ist auch als Hörbuch und E-Book erschienen
Die Bastei Lübbe AG verfolgt eine nachhaltige Buchproduktion. Wir verwenden
Papiere aus nachhaltiger Forstwirtschaft und verzichten darauf, Bücher einzeln in
Folie zu verpacken. Wir stellen unsere Bücher in Deutschland und Europa (EU)
her und arbeiten mit den Druckereien kontinuierlich an einer positiven Ökobilanz.
Titel der englischen Originalausgabe:
»Red Traitor«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2021 by Owen Matthews
Originalverlag: Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers,
Penguin Random House UK
Published by arrangement with Susanna Lea Associates
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Diana Menschig, Viersen
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde
Umschlagmotiv: © Arcangel/Stephan Mulcahey;
© mikolajn/shutterstock; © shutterstock/Eugene Kuryashov;
© shutterstock/Radomir; © shutterstock/Igor Vitkovskiy;
© ninopavisic/shutterstock; © shutterstock/Megapixeles.es;
© shutterstock/Jens Ackermann
Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen
Gesetzt aus der Adobe Garamond Pro
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-404-18553-5
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Sie finden uns im Internet unter luebbe.de
Bitte beachten Sie auch: lesejury.de
Für Xenia,
Nikita und
Teddy
PROLOG
ARCHIPOW
Marinestützpunkt Seweromorsk,
Hauptquartier der Rotbanner-Nordflotte der UdSSR
Morgengrauen, 4. Juli 1962
Atme. Atme, Wassili. Kapitän Wassili Archipow kämpfte sich aus
seinem Albtraum wie ein Ertrinkender an die Wasseroberfläche.
Er schnappte nach Luft und zwang sich, die Augen zu öffnen.
Fahles arktisches Sommersonnenlicht strömte durch die dünnen
Vorhänge herein. Archipow beugte und streckte die Finger.
Sie waren von der Umklammerung der feuchten, um seinen
Körper gewickelten Laken verkrampft.
Langsam atmete er ein. Kein U-Boot-Gestank. Kein Geruch
von ungewaschenen Männern und starkem Tabak, kein Geschmack
von süßem Marine-Tee in seinem Mund. Kein Mief
von geschmolzenem Lötzinn, Polymer-Dichtmasse, heißem Öl
oder den Dämpfen von Batterien und Reaktorkühlmittel in der
Nase. Kein unsichtbares Gift in der Luft.
Archipow lehnte sich zur Seite, tastete nach seiner Armbanduhr
und betrachtete mit zusammengekniffenen Lidern das
Leuchtzifferblatt. Sein Blick folgte dem Sekundenzeiger, der
05:15 Uhr entgegentickte. Genau ein Jahr und eine Stunde seit
dem Reaktorunfall.
Eine gefühlte Ewigkeit, die seit jenem Grauen vergangen
war, an das er sich nur noch teilweise erinnerte. Nur manchmal
– mehr oder weniger jede Nacht, in der Archipow auf die
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ärztlich verordneten Schlaftabletten verzichtete – wähnte er
sich mittendrin. Die Zeit sprang dann zurück und umklammerte
ihn wie Seetang.
Es fühlte sich nie wie ein Albtraum an. Archipow hatte eher
das Gefühl, in einer völlig realen Parallelwelt irgendwo jenseits
des Schlafs aufzuwachen. An einem von Lärm, Panik und Geschrei
beherrschten Ort. Einem vertrauten Ort voller Chaos,
dampfender Hitze und Angst in Endlosschleife wie eine zerkratzte
Schallplatte. In wachem Zustand konnte Archipow die
Toten nicht sehen. Trotzdem wusste er, dass sie ständig präsent
waren. Seine ruhelosen Toten waren immer da, litten ihre Qualen
und standen bereit, um aufzutauchen und ihre Ansprüche
zu stellen.
Die Uhr im Kontrollraum des U-Boots K-19 der Nordflotte
war elektronisch gewesen. Sie hatte eher gesurrt als getickt,
während die Zeiger sanft über die Minuten und Stunden
glitten, Schicht um Schicht. Archipows Traum begann
immer mit jenem letzten Moment der Ruhe. Mit dem futuristischen
Geruch an Bord von K-19. Metallisch. Nach neuen
Instrumenten in glatten, grün lackierten Stahlgehäusen voller
Skalen, die wie tausend Augen leuchteten. Und mit der Stille
des Boots: Statt des steten Stampfens eines Dieselmotors, das
Kopfschmerzen verursachte, gab der nagelneue Kernreaktor
von K-19 ein tiefes, kraftvolles Dröhnen von sich. Das neueste
Raketen-U-Boot der sowjetischen Marine kreuzte neunzig
Meter unter der Oberfläche des Nordatlantiks, sanft und leise
wie ein Raumschiff.
Archipow versuchte in jedem Traum, den wandernden Sekundenzeiger
mit Gedankenkraft zu bremsen. Er wusste immer,
was kommen würde, konnte jedoch nicht sprechen, konnte
seine Kameraden nicht warnen, die sich zu Beginn der Wache
an jenem schicksalhaften Morgen des 4. Juli 1961 schläfrig auf
ihren Posten niederließen.
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Im Traum breitete sich eine leere Instrumententafel vor der
Kommandostation aus. Archipow hatte gerade seinen Platz auf
dem Kunstledersessel des Kapitäns eingenommen. Als diensthabender
Offizier und Kommandant des Boots, während seine
Vorgesetzten schliefen. Eine unvorstellbare Ehre und Verantwortung,
wie der Politoffizier nicht müde wurde zu betonen.
Vor ihm saß Postew, der für den Antrieb zuständige Leutnant.
Der Mann lümmelte in makelloser Technikermontur auf seinem
Platz und kämpfte gegen den Schlaf an.
Aufgepasst, Postew!, wollte Archipow brüllen. Wachen Sie auf!
Aber sein Ich im Traum blieb unerbittlich stumm.
In wenigen Stunden würde Postews junges Gesicht scharlachrot
sein, und die Haut würde sich schälen, als wäre sie verbrüht.
Der Leutnant würde wie am Spieß schreien, und Archipow
würde sein Bestes geben, um ihn festzuhalten, während
die Sanitäter versuchten, durch die dicke Gummischicht seines
Thermoanzugs zu schneiden, um ihm eine Morphiumspritze zu
injizieren.
Wachen Sie auf!
Der Traum verlief immer in vertrauten Bahnen.
Die Leuchte der Gegensprechanlage zum Reaktorkontrollraum
geht an. Rot. Ein Notfall.
Archipow greift sich das Telefon vom Kommunikationspult
und drückt einen Schalter.
»Genosse? Sie sollten besser kommen. Schnell.« In der
Stimme des Unteroffiziers schwingt Panik mit.
Archipow und Postew rennen in vollem Lauf zum Reaktorkontrollzentrum.
Der Niedergang wird vom Licht der Notleuchten
rot erhellt. Juri Postew beugt sich nach vorn, bis sich
sein Gesicht nur noch Zentimeter von einer Anzeige mit der
Aufschrift Reaktorkühlflüssigkeitsdruck entfernt befindet. Die
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heftig vibrierende Nadel steht fast bei null. Während Archipow
hinsieht, senkt sie sich auf den Anschlag und hält inne.
Eine Sirene ertönt. Archipows Eingeweide ziehen sich zusammen.
Ihm wird übel.
»Scheiße«, entfährt es Postew, als sein Blick zu einer weiteren
Anzeige wandert. Fluchen an Bord ist strengstens untersagt.
Vor allem für Offiziere. Postew schaut über die Schulter und
zischt Archipow zu: »Wir haben den Kühlmitteldruck verloren.
Beide Kühlmittelpumpen sind ausgefallen.«
Bevor Archipow antworten kann, erstrahlen auf dem gesamten
Bedienfeld grellrote Warnleuchten. Eine große Tafel über
den Bedienelementen blinkt auf und zeigt an: Reaktorschnellabschaltung.
Der Reaktor schaltet sich automatisch ab. Nach und
nach werden einige der Anzeigen grün.
»Hat es funktioniert?«, fragt Archipow.
Der Leutnant antwortet nicht sofort, sondern sucht mit
dem Blick fluchend eine Anzeige nach der anderen ab.
»Postew! Ist der Reaktor abgeschaltet?«
Schließlich richtet sich der junge Offizier auf und zeigt mit
totenbleichem Gesicht auf ein großes Skalenblatt mit der Aufschrift
Kerntemperatur. »Steuerstäbe sind runtergefahren. Reaktor
erfolgreich notabgeschaltet. Aber sehen Sie.«
Die Temperatur des Reaktors steigt spürbar an.
»Nachzerfallswärme. Der Kern wird bei geringer Leistung
etwa hundert Stunden lang weitersieden, bis er irgendwann
ausgebrannt ist. Ohne Kühlmittel wird er schmelzen. Und sich
durch den Rumpf brennen.«
»Wie lange?«
In den vier Minuten, seit Archipow im Reaktorkontrollraum
ist, hat sich die Anzeige von 250 auf 325 Grad Celsius
bewegt und steigt weiter rasant an.
»Ich weiß es nicht, Genosse Kommandant. Ein paar Stunden
vielleicht.«
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Archipow hastet nach vorn zum Kommandodeck. Er bemüht
sich, seiner Stimme einen lauten, festen Klang zu verleihen.
In den Augen der Männer, die sich ihm zudrehen, dem
ranghöchsten Offizier auf der Brücke, sieht er die eigene Angst
widergespiegelt.
Jene Augen werden für immer auf ihn gerichtet bleiben.
In seinem unruhigen Schlaf wälzte sich Archipow rastlos auf der
Matratze hin und her. Unter den geschlossenen Lidern zuckten
die Augen. Seine Fäuste krallten sich in die Laken, als versuchte
er verzweifelt, ihnen zu entkommen. Allerdings wickelten sie
sich nur noch enger um ihn wie ein Leichentuch.
MOROSOW
Pionierteiche, Zentrum von Moskau
Morgengrauen, 4. Juli 1962
Unterhalb der Fenster von Oberst Oleg Morosows Wohnung
breiteten sich die Oberflächen der Pionierteiche wie schwarze
Spiegel aus. Ein trübes Grau erhellte allmählich den östlichen
Himmel. Am Wasser jedoch wurde die Dunkelheit nur vom
Scheinwerfer der ersten Straßenbahn des Tages aufgehellt, die
rumpelnd durch die Malaja-Bronnaja-Straße fuhr. In den
Wohnhäusern um den Park herum gingen ein, zwei Lichter an.
Morosows Uniformjacke hing über der Rückenlehne eines
Stuhls. Auf dem Schreibtisch am Fenster stand eine Lampe aus
Metall, geprägt mit Hammer und Sichel. Auf der Tischplatte
lagen ein Exemplar der Zeitschrift Nowy mir sowie ein Stapel
offizieller Berichte mit dem Stempel des sowjetischen Vertei-
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digungsministeriums. Daneben befanden sich eine abgesägte
Artilleriehülse aus Messing voller Zigarettenstummel und ein
Benzinfeuerzeug der Wehrmacht aus Pressstahl. Auf einem Silbertablett
unter der Lampe lag ein Zettel, nicht größer als Zigarettenpapier,
mit winziger, kaum entzifferbarer Blockschrift.
Morosow saß im Licht einer Stehlampe auf dem Sofa und
machte sich aus einem Buch auf seinem Schoß Notizen. Er
arbeitete hochkonzentriert. Gelegentlich unterbrach ihn das
Brummen des Fahrstuhls im Gebäude oder eine leise Regung
aus dem Schlafzimmer. Die Geräusche ließen ihn jedes Mal innehalten
und lauschen. Schließlich klappte er das Buch zu und
las die angefertigten Notizen noch einmal durch.
Mit einem leisen Fluch durchquerte Morosow das Zimmer,
knüllte das Papier zusammen und legte es in den Aschenbecher.
Er entzündete das deutsche Feuerzeug und setzte sowohl seine
Notizen als auch den winzigen Papierstreifen in Brand.
Nachdem beides zu Asche verbrannt war, beugte er sich über
den Schreibtisch, öffnete das Fenster und flutete den Raum mit
Morgenluft. Morosow trug nur ein Hemd zu einer Uniformhose.
Mit der hereinwehenden Brise breitete sich Kälte im verrauchten
Arbeitszimmer aus. Trotzdem setzte er sich, ohne auf
den Luftzug zu achten, der durch die Unterlagen auf seinem
Schreibtisch fuhr, hielt eine brennende Zigarette in der Hand
und beobachtete, wie der Rauch in den anbrechenden Tag hinausströmte.
Nach einer langen Weile zog er seine Uniformjacke
an. Um die muskulösen Schultern saß sie noch gut, allerdings
musste Morosow den Bauch einziehen, um sie zuzuknöpfen. Er
ging in den Flur, wo er in ein Paar Stiefel schlüpfte und einen
Regenmantel überstreifte. Leise, um seine schlafende Familie
nicht zu wecken, schloss er die Eingangstür hinter sich.
Als Morosow das Gelände der Teiche überquerte, war er allein.
Zumindest fast. Ein Straßenkehrer mit einem fadenscheinigen
Reisigbesen arbeitete sich den Bürgersteig entlang. Auf
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der Jermolajewski-Straße führte ein älterer Mann einen drahtigen
Terrier aus. Beim Münztelefon an der Ecke befand sich weit
und breit niemand.
Der Oberst ergriff den schweren Bakelit-Hörer, steckte eine
Zwei-Kopeken-Münze in den Schlitz und wählte. Er wartete,
während es am anderen Ende der Leitung klingelte.
»Ja?« Eine schlaftrunkene Frauenstimme. »Ich höre.« Morosow
zögerte und lauschte den leisen Atemgeräuschen seiner
Gesprächspartnerin, bevor er das Wort ergriff. »Daria Wladimirowna?
Entschuldigen Sie, dass ich so früh anrufe. Ich wollte
Sie erwischen, bevor Sie zur Arbeit gehen.«
»Hier gibt es keine Daria Wladimirowna. Sie sind falsch verbunden.«
»Entschuldigung, Bürgerin.« Damit legte Morosow auf und
eilte zurück nach Hause, bevor seine Frau und seine Tochter
aufwachten.
Der Mann mit dem Hund spazierte gemächlich weiter. Aber
statt noch eine Runde um die Teiche zu drehen, ging er direkt
auf den Gartenring zu. Als er sich einer parkenden Wolga Limousine
näherte, stieg ein vierschrötiger Mann auf der Beifahrerseite
aus und gab den Platz frei. Er nahm die Hundeleine
entgegen, während sich der ältere Mann ins Auto setzte.
Der Fahrer hielt ihm respektvoll den Hörer eines Funktelefons
hin. »Genosse – die Leute von der Abhörzentrale. Sie sind
in Bereitschaft.«
Der ältere Mann brummte bestätigend und sprach in den
Hörer. »Hören Sie mich, mein Junge? Ich brauche eine Aufnahme
vom Münztelefon an der Ecke Malaja-Bronnaja und
Jermolajewski. Von einem Anruf heute um 05:48 Uhr. Bringen
Sie das Band in mein Büro. In einer halben Stunde.«
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Einen knappen Kilometer entfernt riss ein junger KGB-Leutnant
im Keller des Telegrafenamts in der Gorki-Straße ein Blatt
von einem Notizblock und lief einen unterirdischen Korridor
entlang. Er eilte in einen niedrigen Raum, gefüllt mit mehreren
Reihen signalgesteuerter Tonbandgeräte. Einige waren in
Betrieb, die meisten nicht. Als er das richtige Gerät gefunden
hatte, betätigte er den Stoppschalter und markierte die Stelle
mit einem weißen Wachsstift. Dann drückte er die Rückspultaste
und wartete, bis die Magnetbandrolle ganz zurückgelaufen
war und das Ende durch die Luft flatterte. Der Offizier presste
die Spule gegen die Brust und rannte aus dem Raum.
KUSNEZOW
Luftwaffenstützpunkt Sagua la Grande, Kuba
Morgengrauen, 4. Juli 1962
Eine frühmorgendliche Brise vom Meer weckte KGB-Major Vadim
Kusnezow. Der süßliche Fäulnisgeruch von gerodetem Unterholz
trieb darin. Das Rauschen des Winds durch die Bäume
des Dschungels hörte sich wie eine Brandung an. Vögel und
Insekten stimmten einen misstönenden Morgenchor an. Kusnezow
strampelte das schweißgetränkte Baumwolllaken weg,
tastete unter dem Bett nach seiner Thermoskanne und trank
durstig einen Schluck kalten Zitronentee.
Auch nach fast neun Monaten in Kuba konnte er sich nicht
an die brütende Hitze und die geradezu unanständige Fruchtbarkeit
der Umgebung gewöhnen. Genauso wenig an den Rum.
Im Gegensatz zu Wodka schmeckte er nicht, als würde er einem
schlecht bekommen. Warm und süß rann er die Kehle hinunter
und warnte nicht davor, wie brutal er sich am nächsten Mor-
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gen rächen würde. Süß, aber gefährlich. Genau wie Kuba selbst,
meinte er oft im Scherz. Mehr oder weniger jede Nacht.
Kusnezow streckte sich nach oben, um den quietschenden
Deckenventilator einzuschalten. Dann ließ er sich zurück auf
seine Pritsche plumpsen. Das Wohnhaus der Staatssicherheit
hatte man aus vorgefertigten Betonteilen neu gebaut, so planlos
zusammengefügt wie jedes Gebäude in den Moskauer Vororten.
Die Möbel stammten aus Rumänien, offenbar ein Geschenk der
Geheimpolizei Securitate an ihre sozialistischen Brüder in der
Karibik. Das Rotkiefernholz verzog sich bereits von der ständig
feuchten Luft. Auf dem gesamten Militärstützpunkt gab es nur
eine einzige Klimaanlage, ein klobiges Gerät von Carrier in der
Villa des Plantagenbesitzers aus der Ära des Batista-Regimes,
die mittlerweile als Offiziersmesse und Bar diente.
Die Bar. Kusnezow fuhr sich mit der verschwitzten Hand
über das Gesicht und den Bart. Vergangene Nacht. Wessen Idee
war die Abschiedsfeier gewesen? Nicht seine. Bestimmt die irgendeines
Obersts der örtlichen Luftwaffe. Kusnezow erinnerte
sich an Gitarren, an kubanische Revolutionslieder, die kratzig
von einem Plattenspieler dudelten, an nebeldichten Zigarrenrauch,
an eine neue Gruppe verdächtig hübscher Kellnerinnen.
Hatte er sogar … getanzt? Einheimische Frauen galten als tabu
für Kusnezow und seine Kollegen vom KGB. Also hatte er stattdessen
zu viel getrunken. Wie üblich. Und vielleicht getanzt.
Ein bisschen. Aber nur, um brüderliche Solidarität zu zeigen.
Kusnezows Koffer stand gepackt an der Tür. Nach einer Tagesfahrt
in einer holpernden Wolga Limousine würde er rechtzeitig
für den Abendflug in Havanna eintreffen. Morgen um
diese Zeit würde er nach Zwischenstopps in Madrid und vielleicht
Frankfurt in Moskau sein. Nach seiner Ankunft in Kuba
war Kusnezow davon überrascht, wie sehr er seine Heimatstadt
vermisste. Ihm fehlten die Solidität Moskaus, das gemächliche,
stete Tempo der Stadt, der hartnäckige Mangel an Farben und
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Theatralik. Mittlerweile wunderte ihn vielmehr, wie sehr er nicht
dorthin zurückkehren wollte, nicht mal für ein paar Wochen zu
Unterredungen mit seinen Vorgesetzten in der Lubjanka. Kusnezow
erinnerte sich an ein albernes Lied, das er die Männer der
sowjetischen Luftwaffe hatte singen hören: »Es ist gut dort, wo
wir nicht sind.« Er griff nach seiner Armbanduhr, ein sperriges
Modell von Raketa, das er bei einer Wette von einem betrunkenen
MiG-Piloten gewonnen hatte. Das Büro des Kommandeurs
würde bald öffnen. Es wurde Zeit, die Fortschrittsberichte, die er
in der vergangenen Woche fleißig für seine Vorgesetzten in Moskau
getippt hatte, aus dem feuerfesten Safe zu holen.
Kusnezow gab die Hoffnung auf, noch einmal einzuschlafen,
stand auf und zog sich an. Besonders stolz war er auf den beigen
Tropenanzug aus Baumwolle, den er in einem Kommissionsgeschäft
in Havanna erstanden hatte und der von Haspel in New
Orleans stammte. Er sähe darin wie ein kapitalistischer Ausbeuter
aus, hatten seine KGB-Kollegen scherzhaft gemeint. Denkbar
ungeeignet für die Räumlichkeiten des Ausschusses für Staatssicherheit
in Moskau. Und wenn schon. Kusnezow gefiel sein Anblick
in dem Anzug. Er genoss es, wie ein Ausländer auszusehen.
Während er das Hemd zuknöpfte, ließ er den Blick über den
neu errichteten Stützpunkt wandern. Als er im vorangegangenen
Winter angekommen war, hatten den Ort noch entwurzelte
Baumstämme, Schlamm und Spurrillen voller zorniger, heimatloser
Schlangen beherrscht. Mittlerweile wies das planierte Areal
kreuz und quer verlaufende asphaltierte Straßen sowie Reihen
von Hütten und Hangars in Fertigbauweise auf.
In der Ferne ragten in Tarnfarbe lackierte Umrisse einer Radarstation
über den Baumwipfeln empor. Die Antenne wies
wie ein lauschendes Ohr in Richtung der nördlichen Karibik –
und zu den nur hundertvierzig Kilometer weit entfernten Vereinigten
Staaten von Amerika.
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WASSIN
Frunse-Uferstraße, Moskau
Morgengrauen, 4. Juli 1962
Wassin erwachte verkatert. Sein Nacken schmerzte von einem
Sonnenbrand, und er hatte sein Gesicht an der Sofapolsterung
wund gerieben. Seine Frau Vera hatte das knallige Schlafsofa
aus Ostdeutschland ausgesucht, das neueste und teuerste, das es
gab. Aber der borstige Nylonplüsch quälte Wassin jede Nacht.
Veras Stimme drang mit dem sarkastischen hohen Ton, mit
dem sie ihn immer weckte, aus der Küche. »Saschaaaaa? Telefon
für dich. Die Kontora.«
Die Kontora – wörtlich das Büro. Außerdem ein nicht allzu
respektvoller Spitzname für den KGB. Veras Blick folgte ihrem
Ehemann, als er den Korridor entlangtaumelte und dabei gegen
die Wände stolperte.
»Einen Moment«, sagte sie in den Hörer. »Der Genosse
Oberst ist unterwegs. Er ist heute Morgen sehr beschäftigt.« Anstatt
Wassin den Hörer zu reichen, legte sie ihn auf die Arbeitsplatte,
als er die Hand danach ausstreckte. Dann drängte sie
sich an ihm vorbei zum Badezimmer. Unterwegs zog sie sittsam
den chinesischen Morgenmantel aus Seide zu.
»Wassin am Apparat.«
Es war die bissigste Sekretärin seines Vorgesetzten, General
Orlow. Mit frostiger Förmlichkeit berief sie Wassin zu einer
ungeplanten Besprechung in die Lubjanka. Er stammelte eine
Zusage, spähte zur Küchenuhr und stieß einen leisen Fluch aus.
Vierzig Minuten. Auf dem schicken neuen Herd köchelte ein
unappetitliches Frühstück aus verbranntem Buchweizenbrei in
der Pfanne. Keine Zeit. Er brauchte dringend eine Rasur und
eine Dusche. Kaum war ihm der Gedanke in den Sinn gekom-
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men, hörte er, wie Vera geräuschvoll die Badezimmertür verriegelte
und das Wasser aufdrehte, als hätten es ihr seine Gehirnwellen
befohlen.
»Vera? Kann ich kurz rein?« Stille. Irritiert klopfte Wassin an
die Tür. »Ich muss mich für die Arbeit fertig machen.«
Das Wasser verstummte, und Vera schob den Riegel zurück.
Sie bedachte ihren Ehemann mit einem entrüsteten Blick, bevor
sie an ihm vorbei ins Schlafzimmer stakste und die Tür zuschlug.
Die schicke neue Wohnung der Wassins, die ganze drei Zimmer
umfasste, lag an der Frunse-Uferstraße und bot eine Aussicht
auf die von Apfelbäumen gesäumte Allee und die Moskwa.
Sie lieferte die Bühne für die Tragikomödie von Wassins Familienleben,
die sich jeden Morgen und Abend in trostlosen Variationen
wiederholte. Vor neun Monaten war er ruhmreich von
einem früheren Einsatz zurückgekehrt. Die Kontora hatte sein
Leben so umgestaltet, dass es Wassins neuen Status als General
Orlows bevorzugte Marionette widerspiegelte. Neue Wohnung,
neues Auto, Beförderung – und wie durch Zauberei eine
neue Ehefrau. Gewissermaßen. Denn irgendwie war Vera seit
seiner Rückkehr wie ausgewechselt. Oder, um genauer zu sein,
sie behandelte ihren Mann, als wäre er ein anderer geworden.
Jemand, der wichtig war. Jemand, der gefährlich für sie sein
konnte. Oberstleutnant Alexander Iljitsch Wassin vom Ausschuss
für Staatssicherheit – ein Mann, den man besser respektierte.
Und auf Abstand hielt.
Wassin und Vera hatten sich rasch in eine gestelzte häusliche
Theatralik gefügt. Sie sprachen miteinander, als befänden
sie sich vor einem unsichtbaren Publikum. Wenn sie überhaupt
redeten. Veras respektvolle Zurückhaltung hatte sich bald abgenutzt
und wurde von mürrischer, gekränkter Aufsässigkeit
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abgelöst. Ihr Leben war zu einer Schmierenkomödie unausgesprochener
Vorwürfe geworden.
Auch Wassins vierzehnjähriger Sohn Nikita war in den Sog
des geheimnisvollen neuen Ansehens seines Vaters geraten. Er
wurde für das Elitelager der Jungen Pioniere in Artek angemeldet.
Nikita verhielt sich seinem Vater gegenüber ebenfalls anders.
Die gewohnte Zurückhaltung des Jungen wandelte sich in
nervöse Ehrfurcht. Und der neue Respekt, dem ihm seine Mitschüler
und Lehrer entgegenbrachten, hatte die Schüchternheit
des armen Burschen nur noch verstärkt.
Weder zu Hause noch in dem klobigen kleinen Auto, ein
Moskwitsch, den er zu seiner Beförderung erhalten hatte, oder
in der neuen Holzdatscha im Dorf Wnukowo konnte Wassin
die Macht von Generalleutnant Juri Orlow auch nur einen Moment
vergessen. Er fühlte sich gefangen wie eine Libelle in einem
Glas.
19
TEIL EINS
DIE RASTLOSEN TOTEN
Ob es einem gefällt oder nicht,
die Geschichte ist auf unserer Seite.
NIKITA CHRUSCHTSCHOW,
VORSITZENDER DES MINISTERRATS
DER SOWJETUNION, 1956
1
KGB-Zentrale, Moskau
4. Juli 1962
Der sommerliche Sonnenschein fiel schräg durch die schweren
Gardinen des Büros von General Orlow. Unangenehme Hitze
und der penetrante Geruch von Bohnerwachs beherrschten
den Raum. Wassin ließ den Blick über die am Tisch versammelten
Kollegen wandern, die wie er spontan herbefohlen
worden waren. Puschkow, der altgediente Resident des KGB,
hatte im Dienst zweifelhafte Berühmtheit erlangt, indem er
die Vergiftung ukrainischer Nationalisten und anderer Kollaborateure
nach dem Krieg in Paris und Berlin organisiert hatte.
Ignatenko, der pummelige Kommunikationsspezialist mit den
permanenten Druckstellen an den schwabbeligen Schläfen, da
er unzählige Stunden Kopfhörer trug. Wassins Elitetruppe von
Spionjägern. Alle schienen auf ihren Stühlen zu schmelzen wie
Eis auf einem heißen Bürgersteig.
Niemand sprach ein Wort.
Puschkow ergriff eine schmale Mappe mit der Aufschrift
»STRENG GEHEIM« von einem ordentlichen Stapel und fächelte
sich damit respektlos Luft zu. Laut polternd pflügte der
Leiter ihrer Abteilung mit gerötetem Gesicht herein. Er wirkte
gereizt, als hätten sie ihn warten lassen statt umgekehrt. Orlow
nahm seinen Platz am Kopf des Tischs ein.
23
»Schultz hat etwas für uns«, brummte Orlow ohne jede Einleitung.
Er ignorierte die Anwesenden und richtete die Aufmerksamkeit
vielmehr auf die mitgebrachten Unterlagen, in
denen er konzentriert zu lesen begann.
Wassin hätte es sich denken können. Boris Ignatjewitsch
Schultz, leitender Beobachter von Wassins Überwachungsmannschaft.
Außerdem: Wassins Ausbilder an der KGB-Schule.
Außerdem: bester Observierungsfachmann der Branche. Typisch
für Schultz, dass er nach all den fruchtlosen Monaten
einen Durchbruch in seiner Nachtschicht erzielte. Und noch
typischer für Schultz, dass er den Leiter der Abteilung für Sonderfälle
– Orlow – angerufen hatte statt seinen direkten Vorgesetzten,
nämlich Wassin.
Schultz war ein dürrer, krummer Mann mit leichenblassem
Gesicht und einem gepflegt gestutzten Schnurrbart. Als er den
Besprechungsraum betrat, zuckte er beim Anblick seiner Kollegen
zusammen. Ganz so, als hätte er ein Klassenzimmer voller
hoffnungsloser Anwärter vor sich, die er zu Spionen schmieden
sollte. Ein junger Unteroffizier folgte ihm und trug ein sperriges
Tonbandgerät. Während der Bursche den Apparat anschloss,
pflanzte Schultz den schlaksigen Körper auf einen Stuhl neben
Orlow. Dabei faltete er sich regelrecht zusammen wie ein Teleskop.
»Telefonzelle an der Straßenecke zur Malaja-Bronnaja.«
Schultz’ Stimme klang näselnd und doch gebieterisch. »Heute
Morgen. Kurz vor sechs. Hören wir es uns an.«
Er drehte den Regler, der das Gerät startete. Auf ein elektronisches
Surren folgten die Laute der gewählten Nummer, bevor
die Verbindung hergestellt wurde.
»Ja? … Ich höre.«
»Daria Wladimirowna? Entschuldigen Sie, dass ich so früh
anrufe. Ich wollte Sie erwischen, bevor Sie zur Arbeit gehen.«
Oberst Oleg Morosows Stimme war unverkennbar.
24
»Hier gibt es keine Daria Wladimirowna. Sie sind falsch verbunden.«
»Entschuldigung, Bürgerin.«
Schultz schaltete das Gerät aus und verzog das Gesicht zu
etwas, das vermutlich ein Lächeln sein sollte.
Wassins Herzschlag beschleunigte sich. »Kein Folgeanruf von
Morosow, Boris Ignatjewitsch? Bei einer anderen Nummer?«
»Kein Folgeanruf, Oberst Wassin.« Schultz beäugte seinen
ehemaligen Schüler über den Tisch hinweg mit einem kaum
merklichen, anerkennenden Nicken. Wassin, vielleicht bist du
kein völliger Idiot, besagte der Blick des alten Mannes.
Wassin machte weiter. »Unsere Zielperson steht im Morgengrauen
auf, um von einer Telefonzelle aus einen einzigen Anruf
an eine falsche Nummer zu tätigen. Eine Nummer, die er vermutlich
noch nie von zu Hause aus angerufen hat. Eine Nummer
…«
»Wer hat abgehoben?«, fiel Orlow ihm ins Wort. »Haben wir
eine Adresse? Haben wir sie schon in Gewahrsam?«
Schultz verzog leicht das Gesicht, bevor er antwortete. »Genosse
General. Unter der Nummer ist die Dmitri-Uljanow-
Straße zweiundvierzig registriert. Hotel Ulaanbataar. Diese Leitung
ist an der Laderampe der Küchen installiert. Aber …« Mit
dem unbeugsamen Selbstbewusstsein älterer Menschen hob
Schultz die Hand, bevor Orlow ihn unterbrechen konnte. »Um
sechs Uhr morgens wimmelt es dort von Lieferanten. Laut dem
Wachmann sind zwischen halb sechs und halb sieben mindestens
acht Wagen angekommen, jeweils mit einem Fahrer und
einem oder mehreren Ladehelfern. Viele Mitarbeiter der Küche
und der Hotelverwaltung haben den Bereich passiert. Wir
haben keine Zeugen gefunden, die jemanden an dem Telefon
gesehen haben.«
»Ein unauffindbarer Kontakt. Eine Vertrauensperson.« Orlow
faltete die Hände zusammen und spannte die Schultern
25
an, als wappne er sich für einen Boxkampf. »Was bedeutet das,
Schultz? Bitte sagen Sie es uns.«
»Wir haben ihn, General. Morosow hat seine Betreuer bei
der CIA kontaktiert. Er hat sich aktiviert. Oder einen Kontakt
bestätigt. In den vergangenen neun Monaten seiner Überwachung
in Moskau ist ihm kein einziger Fehltritt unterlaufen.
Wir vermuten, dass Morosow die Anweisung hatte, sich nicht
aus seiner Tarnung zu wagen, bis er etwas Wichtiges zu berichten
hat. Und jetzt …«
»Jetzt tun wir was? Oberst?« Orlows Kopf drehte sich Wassin
zu. Die anderen Anwesenden folgten dem Beispiel des Generals,
sahen Wassin gehorsam an und harrten seiner Antwort.
»Jetzt verhaften wir ihn, Genosse General.« Wassin setzte
sich aufrechter hin.
»Nein, Wassin.«
Natürlich. Wassin hätte es besser wissen müssen. Es gab nie
eine richtige Antwort auf die rhetorischen Fragen seines Vorgesetzten.
»Entschuldigung, Genosse General. Zuerst müssen wir
herausfinden, mit wem er zusammenarbeitet.«
»Richtig, Oberst Wassin. Wenn man Unkraut ausreißt, dann
mit Stumpf und Stiel.«
Bei den Sicherheitskräften des ruhmreichen sowjetischen
Vaterlands musste alles mit etwas anderem verbunden sein. Von
einem Spion ausgehend verbarg sich eine Verbindung zum
nächsten und von diesem aus die zu einem weiteren. Wie bei
einer endlosen Abfolge von Matrjoschkas.
Nachdem die Kollegen gegangen waren, blieb Orlow bei Wassin
zurück und machte keine Anstalten aufzustehen. Stattdessen
kauerte der General wie ein Giftpilz auf seinem Platz und
starrte seinen Schützling über den Tisch hinweg an. In seinen
Knopfaugen tänzelte kaum verhohlene Schadenfreude.
26
»Danket dem Herrn, unserem allmächtigen Gott, und preiset
ihn.« Orlows Stimme ertönte als tiefes, eindringliches Zischen.
Der General hatte einst für das Priesteramt studiert, wie
sich Wassin erinnerte. Er achtete darauf, keine Miene zu verziehen.
»Der Direktor hat sich nach PLUTO erkundigt.«
PLUTO – der mutmaßliche Verräter im Herzen der sowjetischen
Sicherheitsgemeinschaft. Orlows Besessenheit und Wassins
täglicher Albtraum. Am Ende seines letzten Einsatzes in
der geheimen Atomversuchsanlage Arsamas-16 hatte Wassin
einen amerikanischen Spion erfunden. Der Fall war ein heilloses
Chaos gewesen, und Wassin musste etliche Regeln beugen
– und teilweise brechen –, um einen fehlgeleiteten Fanatiker
davon abzuhalten, eine nukleare Vernichtung auszulösen.
Er bereute nichts. Aber um mit heiler Haut davonzukommen,
hatte Wassin aus dem Wahnsinnigen einen amerikanischen
Spion gemacht. Damals hatte er es als geradezu elegant empfunden,
einem Toten ein erfundenes Vergehen anzuhängen.
Mehr noch, Wassin war ruhmreich daraus hervorgegangen. Als
neuer führender Spionjäger der Abteilung für Sonderfälle.
Inzwischen war Wassins Bericht über den Spion ordnungsgemäß
protokolliert worden. Was seine Fantasie zur offiziellen
Tatsache erhoben hatte. Und Spione, ob real oder nicht,
brauchten einen Betreuer. Deshalb war Wassin von General
Orlow dazu auserkoren worden, PLUTO aufzuspüren. Er sollte
den imaginären Spion mit einem realen in Verbindung bringen.
Mit diesem unlösbaren Rätsel hatte Orlow seinen neuen
Günstling beauftragt. Los, Wassin, stellen Sie die verdammten
Zusammenhänge her. Viel Glück. Und so hatte Wassin in den
letzten neun Monaten dieses Phantom gejagt, war Gerüchten
nachgegangen und hatte nach dem kleinsten Hinweis darauf
gesucht, dass Oberst Oleg Morosow tatsächlich der sagenumwobene
PLUTO war.
27
»Jetzt kann ich dem Direktor endlich mitteilen, dass wir einen
Durchbruch erzielt haben. Die Enttarnung von PLUTO
wird uns zum nächsten Bindeglied führen. Wir finden heraus,
welche Informationen er an die Amerikaner weitergibt. Wir
finden heraus, wer ihm diese Informationen liefert. Aber am
wichtigsten ist, dass wir herausfinden, wer Morosows Krysha ist.
Haben Sie mich verstanden, Wassin?«
Krysha bedeutete wörtlich: Dach. Im Verbrecherjargon stand
es für einen Beschützer. Wassin spürte, wie die Welt vor seinen
Augen verschwamm. Ja. Er verstand haargenau, was Orlow
meinte. Oder besser gesagt, wen. In Orlows Vorstellung führten
die nächsten Glieder der Kette des Verrats immer weiter nach
oben bis hinein in die höchsten Machtgefilde der Sowjetunion.
»Morosows Beschützer, Genosse General?« Wassins Mund
war trocken geworden. »Ein ranghoher Offizier, mit dem er
vielleicht privaten Umgang pflegt?«
»Ganz genau, Wassin. Vielleicht ist Morosow der Freund
einer Familie. Vielleicht besucht er Grillfeiern in der Datscha
irgendeines Bonzen. Oder nimmt an Jagdgesellschaften mit hohen
Tieren teil. Ist Ihnen so jemand untergekommen, Wassin?
Immerhin hat Ihr fachkundiges Auge Morosow seit geraumer
Zeit unter Beobachtung.«
Er spürte, wie sich Orlows Blick in ihn bohrte. Oh ja – beide
Männer wussten genau, wen Orlow im Sinn hatte. Oberst
Morosows alten Kumpel, seinen Gastgeber bei Feiern in dessen
Datscha und bei Jagdgesellschaften. Seinen persönlichen
Freund und Mentor, seinen Vorgesetzten und Beschützer. Niemand
Geringeren als General Iwan Serow, Leiter der Hauptnachrichtendirektion
des Generalstabs der Roten Arbeiter- und
Bauernarmee. Besser bekannt als Glawnoje Raswedywatelnoje
Uprawlenije, Hauptverwaltung für Aufklärung, kurz GRU. Der
militärische Geheimdienst und als Institution der Hauptrivale
des KGB. Serow – Orlows großer bürokratischer Widersacher.
28
Und aus Gründen, die Wassin nicht ansatzweise verstand, Orlows
Erzfeind.
Wassin konnte die Logik seines Vorgesetzten deutlich nachvollziehen.
Er wollte Morosow benutzen, um seinen Beschützer
Serow dranzukriegen. Ihm vielleicht sogar einen Todesstoß zu
versetzen. Was wäre es für ein Triumph für Orlow, den Leiter
des Konkurrenzdienstes am Haken zu haben?
Vor einigen Monaten hatte Wassin einen neuen amerikanischen
Film gesehen – im Rahmen einer geschlossenen Vorführung
ausschließlich für Offiziere der Kontora, nicht für die
Öffentlichkeit. Darin ging es um einen verrückten Kapitän zur
See aus dem neunzehnten Jahrhundert, der ein Phantom in Gestalt
eines weißen Wals durch die Weltmeere jagte. Orlow glich
diesem Kapitän, die Abteilung für Sonderfälle seinem Schiff –
und Wassin war sein glückloser Erster Offizier, dazu verdammt,
seinem Kapitän und seiner Besessenheit bis ans Ende der Welt
zu folgen.
»Wir haben eine solche Bekanntschaft beobachtet, Genosse.
Wie Sie bereits wissen.« Wassins Stimme hatte sich zu einem
Flüstern gesenkt. »Sie glauben, dass Genosse General Serow
in die Machenschaften des Verräters Morosow verwickelt sein
könnte?«
»Und wenn nicht verwickelt, dann deckt Serow seinen
Freund vielleicht. Beides könnte plausibel sein. Lose Enden
sind in unserer Branche nicht zulässig. Finden Sie einen Schuldigen,
Wassin.«
Wassin nahm allen Mut zusammen und ergriff unter Orlows
loderndem Blick das Wort. »Sie meinen, ich soll herausfinden,
dass Serow schuldig ist, Genosse General?«
Einen Moment lang fürchtete Wassin, sein Vorgesetzter
würde anschwellen und platzen wie ein überreifer Bovist. Aber
nein. Stattdessen lehnte sich der stets unberechenbare Orlow
zurück und hob schmunzelnd die Hände.
29
»Wir halten uns natürlich an die Beweise. Die Beweise unserer
Augen und Ohren. Die Beweise in Morosows letztendlichem
Geständnis. Wassin, Sie haben zwei lose Fäden, die es
zu verknüpfen gilt. Einen am Anfang der Morosow-Geschichte,
einen am Ende. Begonnen hat es mit Ihrer Geschichte über den
Verräter in Arsamas …«
Etwas in Wassin krampfte sich jedes Mal zusammen, wenn
Orlow davon sprach, dass der Spion von Arsamas »seine« Geschichte,
»sein« Fall wäre. Es gab Augenblicke, da fragte sich
Wassin, ob das alte Reptil vermutete, der Spionagevorwurf
könnte nur ein Hirngespinst gewesen sein.
Aber sein Vorgesetzter fuhr seelenruhig fort und zählte die
Punkte an der Hand ab. »Das wiederum hat zur Suche nach
dem Betreuer Ihres Spions geführt. Sobald wir Morosow festgenagelt
und bewiesen haben, dass er PLUTO ist, finden wir
heraus, wer der Nächste ist. Mit wem er in Verbindung steht.
Nach oben, nach unten, auf gleicher Ebene.«
Orlow stand auf, ging seitlich am Tisch entlang und legte
Wassin vertrauensvoll die Hand auf die Schulter. Die Stimme
des Generals ertönte tief und leise in Wassins Ohr. »Sascha.
Zwei lose Enden, ein Mann. Um Himmels willen, Wassin. Ich
habe Ihnen gute Leute gegeben. Es ist an der Zeit, den verdammten
Fall in trockene Tücher zu packen. Und zwar rasch.«
30
2
Verteidigungsministerium, Moskau
12. Juli 1962
Hauptmann Wassili Archipow saß allein an einem leeren Tisch
in der Ecke der Cafeteria des Verteidigungsministeriums. Seine
Aktentasche lag flach vor ihm neben einer Tasse mit kubanischem
Kaffee, die allmählich kalt wurde. Seine Hände ruhten
auf der Tasche. Sie zitterten kaum. Er atmete tief durch.
Am anderen Ende des Raums erblickte er den alten Kameraden,
auf den er gewartet hatte. Wie Archipow trug er die Uniform
eines Marinekapitäns Ersten Ranges. Aber im Gegensatz
zu Archipows Sonnenbrand hatte Timofei Swiagin leichenblasse
Züge, und sowohl sein Kopf als auch sein Gesicht waren
vollkommen unbehaart. Archipow stand auf. Die beiden Männer
umarmten sich innig.
»Bruder! Wie zum Teufel geht’s dir, Tima?«
»Ging schon mal besser.«
»Was sagen die Ärzte?«
Swiagin zuckte mit den Schultern und sah seinem Freund
einen ausgedehnten Moment lang in die Augen. »In Remission,
verspricht man mir. Sicherheitshalber pumpt man mich trotzdem
weiter mit Gift voll.«
In seinen Träumen sah Archipow seinen Freund jede Nacht.
Timofei an seiner Station außerhalb des siedend heißen Dampfs
aus dem schmelzenden Reaktorraum von K-19, sein Overall
fettverschmiert, das Gesicht von der roten Notbeleuchtung
schaurig erhellt. Der Gestank, eine Mischung von Schweißarbeiten
und dem erstickenden Mief von ausgetretener Reaktorkühlflüssigkeit.
Swiagins Stimme, zum Befehlston erhoben, um
das panische Geplapper der Männer zum Schweigen zu brin-
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gen, die sich dabei abwechselten, die Schweißnähte des Notkühlsystems
zu versiegeln. Ruhig, Kameraden, ruhig.
»Du siehst gut aus, Tima.«
»Wassili, du warst noch nie ein guter Lügner. Ich sehe beschissen
aus. Was führt dich in unser Bürokratenbordell?«
»Bewertungsausschuss.«
»Hier in Moskau statt im Hauptquartier der Nordflotte?
Dann muss er hochrangig besetzt gewesen sein. Wie ist es gelaufen?«
»Admirale. Glotow. Komarow. Hohe Tiere vom Verteidigungsministerium.
Ein General der strategischen Raketentruppen.«
»Klingt, als wärst du für ein großes Kommando vorgesehen,
mein Freund. Etwas Geheimes. Glückwunsch.«
»Drauf gespuckt.«
Swiagin drehte den Kopf zur linken Schulter und gab
dreifach Spucklaute von sich. Schutz gegen Unglück. Selbst
hochrangige sowjetische Marineoffiziere blieben im Herzen
Seeleute – und damit so abergläubisch wie Bäuerinnen. »Darüber
musst du doch glücklich sein, Wassili, oder? Ein schickes
neues Kommando könnte ein Neustart sein. Und nichts Geringeres
verdient ein Held und Veteran der K-19-Katastrophe,
richtig?«
»Du bist der Held von K-19, Tima. Du hättest das neue
Kommando bekommen sollen.«
»Mach dich nicht über einen Invaliden lustig. Du willst
doch unbedingt zurück aufs Meer, oder?«
Archipow zuckte mit den Schultern und betrachtete schweigend
seine Hände, während sein alter Bootskamerad ihn prüfend
musterte.
»Wassili – mir kommen oben an meinem Schreibtisch Dinge
zu Ohren. Ich lese Dinge. Du wirst nicht mit einem Atomantrieb
unterwegs sein, falls dir das Kopfzerbrechen bereitet. Das
32
kann ich dir versprechen. Nach dem Unfall … nach K-19 wird
jedes Atom-U-Boot der Flotte überholt. Alle sind in die Stützpunkte
zurückbeordert worden und bleiben dort. Sogar die
neuesten Boote der Projekt-658-Klasse bekommen umgebaute
Reaktoren. Ich habe gehört, sogar unser altes K-19 soll eines
Tages wieder seetauglich sein. Aber nicht so bald. Also entspann
dich. Bis mindestens nächstes Jahr dürfen nur die alten dieselelektrischen
U-Boote hinaus auf Langstreckenpatrouillen. Lass
dir das von jemandem gesagt sein, der es weiß. Darüber musst
du dir also keine Sorgen machen … Weißt du noch, wie der
verrückte usbekische Smutje den Reaktor genannt hat? ›Satan
in der Blechdose‹.«
Archipow lächelte verschmitzt. Natürlich erinnerte er sich
an den Smutje. Der Arzt an Bord von K-19 hatte ihm eine kräftige
Dosis Diazepam in den Arm gejagt, um den Mann ruhigzustellen,
weil er während des Unfalls einfach nicht zu schreien
aufgehört hatte. Panik an Bord eines sinkenden U-Boots tausend
Kilometer weit draußen im Nordatlantik konnte genauso
tödlich sein wie der vernichtende Druck in den Tiefen.
»Wäre mir so oder so egal. Satan hin, Satan her, ein Boot
bleibt ein Boot.«
Archipows Freund nickte sarkastisch. »Wie ich schon sagte,
bist du ein schlechter Lügner, Wassili. Du hast gesagt, ein General
der strategischen Raketentruppen war in deinem Ausschuss?«
»Ja. Was hatte es damit auf sich?«
»Wurde etwas über eine spezielle Waffe gesagt, die bei deiner
neuen Mission eingesetzt werden soll?«
»Eine spezielle Waffe?«
Timofei stieß den Atem aus. »Vielleicht nur ein Gerücht.
Noch kann ich dir nichts darüber sagen. Wie wär’s mit einem
Cognac? Der Arzt sagt zwar, das sollte ich nicht – aber pfeif
drauf, oder?«
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Archipow beobachtete Swiagins kahlen Kopf, während sich
der Mann den Weg zur Theke der Cafeteria bahnte. Er blickte
wieder auf seine Hände hinab. Ruhiger.
3
Pionierteiche, Moskau
12. Juli 1962
Um halb elf verließ Morosow sein Wohnhaus und trat hinaus
in die zunehmende Hitze des Moskauer Sommervormittags.
Die Jacke trug er über eine Schulter geschlungen, in der anderen
Hand hielt er eine Einkaufstasche aus Segeltuch. Ohne
auf einen älteren Mann zu achten, der am Teich Enten fütterte,
eilte Morosow in Richtung der U-Bahn-Station Majakowskaja.
Eine junge Frau, die im Schaufenster einer Bäckerei ihr Makeup
überprüfte, bemerkte ihn, rückte ihren Hut zurecht und
setzte sich vor Morosow in Bewegung. Dreißig Meter dahinter
marschierte ein schlaksiger Student im selben Tempo.
An der Station Belorusskaja trabte Morosow die Stufen zu
dem breiten Korridor hinauf, der zu den Bahnsteigen der Kolzewaja-Linie
führte. In bewährter Kontora-Manier nahmen die
beiden Beschatter ihr Ziel unterwegs in die Zange. Morosow
stieg in einen Zug nach Westen und verließ ihn an der Station
Kiewskaja, wo er zur Linie Arbatsko-Pokrowskaja wechselte.
Der junge KGB-Leutnant Michail Ljubimow, frisch von der
Höheren Lehranstalt Dzierżyński des KGB, wo er Boris Schultz’
Ausbildung genossen hatte, wurde allmählich nervös. Durch
den zweiten Umstieg wurde die nahe Observierung riskant –
weil die Wahrscheinlichkeit stieg, dass die Zielperson vertraute
Gesichter in zwei aufeinanderfolgenden Zügen bemerken
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würde. Ljubimow wagte einen Blick durch den Wagen zu seiner
Partnerin Tanja Dulatowa, die im hintersten Winkel in Position
gegangen war. Er befand sich zu weit weg, um Augenkontakt
mit ihr herzustellen. Ein Fehler, einer hübschen jungen Frau
die Verantwortung zu überlassen. Zu auffällig. Mittlerweile
wusste die gesamte Mannschaft, dass der alte Bock Morosow
ein aufmerksames Auge für die Damenwelt hatte.
Als sich an der Station Arbatskaja die Türen öffneten, stieg
Morosow vor ihnen beiden aus. Tanja wollte unbedingt wieder
vor die Zielperson gelangen, verfiel in Laufschritt und drängte
sich mit einer Reihe gemurmelter Entschuldigungen zwischen
den Pendlern hindurch. Ein weiterer Patzer. Ljubimow verwünschte
seine Partnerin. Angestrengt versuchte er, Morosows
kahlen Schädel dreißig Meter vor ihm nicht aus den Augen zu
verlieren, als sich die Menge vor den Rolltreppen staute und
verlangsamte.
»Lasst die Augen auf die Leute auf der Rolltreppe gerichtet,
wenn sie in euer Sichtfeld geraten«, hatte der alte Schultz ihnen
beigebracht. »Ihr könnt nicht durch die Hinterköpfe der Leute
vor euch sehen, und wenn ihr noch so intensiv starrt. Die Augen
nur auf die …«
»Auf die Rolltreppe, Genosse Oberst«, hatte die Klasse wiederholt.
Aber Ljubimows Blick war nicht auf die Rolltreppe gerichtet.
Sein Augenmerk galt dem Stahlgeländer, das die Passagierströme
voneinander trennte. Er suchte nach einer Stelle, an
der er sich darunter hindurchducken und vordrängeln könnte.
Und so fand er sich von Angesicht zu Angesicht mit seiner Zielperson
wieder, die zurück zu den Bahnsteigen wollte. Morosow
hatte sich selbst unter dem Begrenzer hindurchgeduckt, seine
Uniformmütze aufgesetzt, die Jacke angezogen und die Richtung
gewechselt. Ein simpler, aber wirkungsvoller Trick, um
Verfolger abzuschütteln.
Tanja musste mittlerweile fast oben an der Rolltreppe an-
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gekommen sein. Ljubimow war auf sich allein gestellt. Die
Zielperson verlieren oder entdeckt werden? Ein kalkuliertes
Risiko – und gefährlich. Er musste warten, bis sich Morosow
außer Sichtweite befand, bevor er sich athletisch über das Stahlgeländer
schwang und hinter dem Mann hereilte. Er hatte
Glück. Morosow hatte gerade einen Zug verpasst. Sein junger
Beschatter zwängte sich beinah neben ihm in den nächsten.
Ljubimow blieb seinem Ziel auf den Fersen, erst zurück zur Station
Kiewskaja, dann weiter zur Station Oktjabrskaja. Damit
war der Mann viermal umgestiegen. Mittlerweile hatte Ljubimow
die eigene Jacke ausgezogen und sich eine Sommermütze
tief ins Gesicht gezogen. Er betete, dass der Oberst ihn noch
nicht bemerkt hatte. Der junge Agent verspürte einen berauschenden,
beinah Übelkeit erregenden Kick. Seine erste echte
Verfolgungsjagd.
»Zeitungsstände sind unsere Freunde«, hatte Schultz mit seiner
dünnen, näselnden Stimme erklärt. Wenn man nach Verfolgern
Ausschau hielt, hatte er damit gemeint. Die allgegenwärtigen
Kioske standen oft direkt gegenüber den Eingängen zu
U-Bahn-Stationen, und ihre schrägen Fensterfronten boten ein
hilfreiches Spiegelbild aller, die hinter einem auftauchten. Und
tatsächlich, beim Verlassen der Station Oktjabrskaja verharrte
Morosow am Kiosk. Geschlagene fünf Minuten lang tat er so,
als würde er in einer Auswahl von Zeitschriften blättern. Damit
zwang er Ljubimow, ungeschützt in Sichtweite eine riskante
Position an einer nahen Haltestelle für Oberleitungsbusse einzunehmen.
Der gerissene Mistkerl Morosow kannte jeden Trick
im Gegenüberwachungshandbuch des KGB. Aber Ljubimow
hielt sich vor Augen, dass sein eigener Lehrer – Schultz – das
Buch praktisch geschrieben hatte.
Der junge Beschatter folgte Morosow in vorsichtigem Abstand,
als der Mann den Weg zum Café Schokoladniza an der
Ecke des Kaluschskaja-Platzes antrat. Wie immer war das Lokal
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erstend voll. Eine Schlange erwartungsvoller Gäste erstreckte
sich durch die Tür bis nach draußen. Morosow ging unbekümmert
daran vorbei, suchte den großen, mit Tischen gefüllten
Raum ab und zwängte sich zwischen den Gästen hindurch zu
einer jungen auffallend schönen Frau mit dunklen Haaren an
einem Ecktisch. Sie trug die olivgrüne Uniform eines Leutnants
der Armee und stand auf, als sich Morosow näherte. Sie
salutierten nicht, umarmten sich nicht, schüttelten sich nicht
die Hand. Ihre Körpersprache wirkte förmlich. Während Morosow
mit dem langwierigen Unterfangen begann, einen Kellner
zu ihrem Tisch zu winken, schlich sich Ljubimow draußen
zu einer öffentlichen Telefonzelle. Ein kurzer Wink mit seinem
roten KGB-Ausweis genügte, um den Mann darin sein Gespräch
abrupt beenden und eingeschüchtert die Flucht antreten
zu lassen. Ljubimows Anruf bei der Notrufnummer der Abteilung
für Sonderfälle wurde beim ersten Klingeln durchgestellt.
»PLUTO hat Kontakt aufgenommen. Ersuche um Verstärkung
für die Beschattung. Mit Fotograf. Zwei Autos. Höchste
Dringlichkeit. Ich wiederhole, höchste Dringlichkeit.«
4
KGB-Zentrale, Moskau
12. Juli 1962
Der Überwachungsbericht lag innerhalb von zwei Stunden
auf Wassins Schreibtisch. Schultz hatte den jungen Ljubimow
gut ausgebildet, das musste Wassin zugeben. Und der Alte war
innerhalb von acht Minuten nach dem Anruf seines Schülers
persönlich mit einem Funkwagen vor Ort eingetroffen. Als
Morosow und seine Kaffeebegleitung – getrennt, wie Wassin
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feststellte – in die verschmutzte Luft der belebten Kreuzung heraustraten,
stand eine Kontora-Mannschaft in der Größe eines
Opernchors für sie bereit.
Wassin zog eine körnige, vergrößerte Aufnahme des Kopfs
der Frau heraus, blätterte in Ljubimows Notizen und forderte
den Jungen mit einem Blick zu einer Erklärung auf. »Sie arbeitet
in der Gogolewski-Allee dreizehn, Gebäude drei? Was ist
dort?«
»Gebäude des Verteidigungsministeriums, Genosse Oberstleutnant.
Ein Teil des Hauptquartiers des Generalstabs. Unlängst
umfunktioniert, vermuten wir. War früher eine Abteilung
des Beschaffungsamts der Armee. Aber man hat das alte
Bezeichnungsschild an der Tür entfernt, Genosse Oberstleutnant.«
»Ein Büro des Aquariums?« Wassin benutzte den neuesten
Jargon für die GRU. Der Begriff ging auf die unlängst gebaute
Zentrale des sowjetischen Militärgeheimdiensts in Jassenewo
zurück, einem Vorort von Moskau. Mit seiner Glasfassade erinnerte
das Gebäude an ein riesiges Fischbecken.
»Ich bin mir nicht sicher, Genosse Oberstleutnant.«
Ȇberlassen Sie das mir. Wir lassen das von einer internen
Quelle überprüfen. In der Zwischenzeit …« Wassin sah auf die
Armbanduhr. »Wird diese Frau nach Hause verfolgt?«
Ljubimow nickte. Sie wussten beide, dass die Kontora keine
Schwierigkeiten dabei haben würde, Morosows Kontaktfrau in
dem Moment zu identifizieren, in dem sie ihren Schlüssel ins
Schloss einer beliebigen Haustür in Moskau steckte.
Wassin entließ den jungen Offizier und griff zum Hörer,
um einen dringenden Termin mit Orlow zu vereinbaren. Ausnahmsweise
mal ein Glücksfall. Nachdem sich Morosow monatbelang
wie ein sowjetischer Musterbürger verhalten hatte,
handelte er endlich wie ein Spion.
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