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OWEN MATTHEWS<br />
<strong>Red</strong> <strong>Traitor</strong>
Weitere Titel des Autors:<br />
Black Sun<br />
Titel auch als Hörbuch erhältlich
OWEN<br />
MATTHEWS<br />
RED<br />
TRAITOR<br />
Dem Verräter auf der Spur,<br />
die Zeit im Nacken<br />
THRILLER<br />
Übersetzung aus dem Englischen von<br />
Michael Krug
Dieser Titel ist auch als Hörbuch und E-Book erschienen<br />
Die Bastei Lübbe AG verfolgt eine nachhaltige Buchproduktion. Wir verwenden<br />
Papiere aus nachhaltiger Forstwirtschaft und verzichten darauf, Bücher einzeln in<br />
Folie zu verpacken. Wir stellen unsere Bücher in Deutschland und Europa (EU)<br />
her und arbeiten mit den Druckereien kontinuierlich an einer positiven Ökobilanz.<br />
Titel der englischen Originalausgabe:<br />
»<strong>Red</strong> <strong>Traitor</strong>«<br />
Für die Originalausgabe:<br />
Copyright © 2021 by Owen <strong>Matthews</strong><br />
Originalverlag: Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers,<br />
Penguin Random House UK<br />
Published by arrangement with Susanna Lea Associates<br />
Für die deutschsprachige Ausgabe:<br />
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln<br />
Textredaktion: Diana Menschig, Viersen<br />
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde<br />
Umschlagmotiv: © Arcangel/Stephan Mulcahey;<br />
© mikolajn/shutterstock; © shutterstock/Eugene Kuryashov;<br />
© shutterstock/Radomir; © shutterstock/Igor Vitkovskiy;<br />
© ninopavisic/shutterstock; © shutterstock/Megapixeles.es;<br />
© shutterstock/Jens Ackermann<br />
Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen<br />
Gesetzt aus der Adobe Garamond Pro<br />
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck<br />
Printed in Germany<br />
ISBN 978-3-404-18553-5<br />
2 4 5 3 1<br />
Sie finden uns im Internet unter luebbe.de<br />
Bitte beachten Sie auch: lesejury.de
Für Xenia,<br />
Nikita und<br />
Teddy
PROLOG<br />
ARCHIPOW<br />
Marinestützpunkt Seweromorsk,<br />
Hauptquartier der Rotbanner-Nordflotte der UdSSR<br />
Morgengrauen, 4. Juli 1962<br />
Atme. Atme, Wassili. Kapitän Wassili Archipow kämpfte sich aus<br />
seinem Albtraum wie ein Ertrinkender an die Wasseroberfläche.<br />
Er schnappte nach Luft und zwang sich, die Augen zu öffnen.<br />
Fahles arktisches Sommersonnenlicht strömte durch die dünnen<br />
Vorhänge herein. Archipow beugte und streckte die Finger.<br />
Sie waren von der Umklammerung der feuchten, um seinen<br />
Körper gewickelten Laken verkrampft.<br />
Langsam atmete er ein. Kein U-Boot-Gestank. Kein Geruch<br />
von ungewaschenen Männern und starkem Tabak, kein Geschmack<br />
von süßem Marine-Tee in seinem Mund. Kein Mief<br />
von geschmolzenem Lötzinn, Polymer-Dichtmasse, heißem Öl<br />
oder den Dämpfen von Batterien und Reaktorkühlmittel in der<br />
Nase. Kein unsichtbares Gift in der Luft.<br />
Archipow lehnte sich zur Seite, tastete nach seiner Armbanduhr<br />
und betrachtete mit zusammengekniffenen Lidern das<br />
Leuchtzifferblatt. Sein Blick folgte dem Sekundenzeiger, der<br />
05:15 Uhr entgegentickte. Genau ein Jahr und eine Stunde seit<br />
dem Reaktorunfall.<br />
Eine gefühlte Ewigkeit, die seit jenem Grauen vergangen<br />
war, an das er sich nur noch teilweise erinnerte. Nur manchmal<br />
– mehr oder weniger jede Nacht, in der Archipow auf die<br />
7
ärztlich verordneten Schlaftabletten verzichtete – wähnte er<br />
sich mittendrin. Die Zeit sprang dann zurück und umklammerte<br />
ihn wie Seetang.<br />
Es fühlte sich nie wie ein Albtraum an. Archipow hatte eher<br />
das Gefühl, in einer völlig realen Parallelwelt irgendwo jenseits<br />
des Schlafs aufzuwachen. An einem von Lärm, Panik und Geschrei<br />
beherrschten Ort. Einem vertrauten Ort voller Chaos,<br />
dampfender Hitze und Angst in Endlosschleife wie eine zerkratzte<br />
Schallplatte. In wachem Zustand konnte Archipow die<br />
Toten nicht sehen. Trotzdem wusste er, dass sie ständig präsent<br />
waren. Seine ruhelosen Toten waren immer da, litten ihre Qualen<br />
und standen bereit, um aufzutauchen und ihre Ansprüche<br />
zu stellen.<br />
Die Uhr im Kontrollraum des U-Boots K-19 der Nordflotte<br />
war elektronisch gewesen. Sie hatte eher gesurrt als getickt,<br />
während die Zeiger sanft über die Minuten und Stunden<br />
glitten, Schicht um Schicht. Archipows Traum begann<br />
immer mit jenem letzten Moment der Ruhe. Mit dem futuristischen<br />
Geruch an Bord von K-19. Metallisch. Nach neuen<br />
Instrumenten in glatten, grün lackierten Stahlgehäusen voller<br />
Skalen, die wie tausend Augen leuchteten. Und mit der Stille<br />
des Boots: Statt des steten Stampfens eines Dieselmotors, das<br />
Kopfschmerzen verursachte, gab der nagelneue Kernreaktor<br />
von K-19 ein tiefes, kraftvolles Dröhnen von sich. Das neueste<br />
Raketen-U-Boot der sowjetischen Marine kreuzte neunzig<br />
Meter unter der Oberfläche des Nordatlantiks, sanft und leise<br />
wie ein Raumschiff.<br />
Archipow versuchte in jedem Traum, den wandernden Sekundenzeiger<br />
mit Gedankenkraft zu bremsen. Er wusste immer,<br />
was kommen würde, konnte jedoch nicht sprechen, konnte<br />
seine Kameraden nicht warnen, die sich zu Beginn der Wache<br />
an jenem schicksalhaften Morgen des 4. Juli 1961 schläfrig auf<br />
ihren Posten niederließen.<br />
8
Im Traum breitete sich eine leere Instrumententafel vor der<br />
Kommandostation aus. Archipow hatte gerade seinen Platz auf<br />
dem Kunstledersessel des Kapitäns eingenommen. Als diensthabender<br />
Offizier und Kommandant des Boots, während seine<br />
Vorgesetzten schliefen. Eine unvorstellbare Ehre und Verantwortung,<br />
wie der Politoffizier nicht müde wurde zu betonen.<br />
Vor ihm saß Postew, der für den Antrieb zuständige Leutnant.<br />
Der Mann lümmelte in makelloser Technikermontur auf seinem<br />
Platz und kämpfte gegen den Schlaf an.<br />
Aufgepasst, Postew!, wollte Archipow brüllen. Wachen Sie auf!<br />
Aber sein Ich im Traum blieb unerbittlich stumm.<br />
In wenigen Stunden würde Postews junges Gesicht scharlachrot<br />
sein, und die Haut würde sich schälen, als wäre sie verbrüht.<br />
Der Leutnant würde wie am Spieß schreien, und Archipow<br />
würde sein Bestes geben, um ihn festzuhalten, während<br />
die Sanitäter versuchten, durch die dicke Gummischicht seines<br />
Thermoanzugs zu schneiden, um ihm eine Morphiumspritze zu<br />
injizieren.<br />
Wachen Sie auf!<br />
Der Traum verlief immer in vertrauten Bahnen.<br />
Die Leuchte der Gegensprechanlage zum Reaktorkontrollraum<br />
geht an. Rot. Ein Notfall.<br />
Archipow greift sich das Telefon vom Kommunikationspult<br />
und drückt einen Schalter.<br />
»Genosse? Sie sollten besser kommen. Schnell.« In der<br />
Stimme des Unteroffiziers schwingt Panik mit.<br />
Archipow und Postew rennen in vollem Lauf zum Reaktorkontrollzentrum.<br />
Der Niedergang wird vom Licht der Notleuchten<br />
rot erhellt. Juri Postew beugt sich nach vorn, bis sich<br />
sein Gesicht nur noch Zentimeter von einer Anzeige mit der<br />
Aufschrift Reaktorkühlflüssigkeitsdruck entfernt befindet. Die<br />
9
heftig vibrierende Nadel steht fast bei null. Während Archipow<br />
hinsieht, senkt sie sich auf den Anschlag und hält inne.<br />
Eine Sirene ertönt. Archipows Eingeweide ziehen sich zusammen.<br />
Ihm wird übel.<br />
»Scheiße«, entfährt es Postew, als sein Blick zu einer weiteren<br />
Anzeige wandert. Fluchen an Bord ist strengstens untersagt.<br />
Vor allem für Offiziere. Postew schaut über die Schulter und<br />
zischt Archipow zu: »Wir haben den Kühlmitteldruck verloren.<br />
Beide Kühlmittelpumpen sind ausgefallen.«<br />
Bevor Archipow antworten kann, erstrahlen auf dem gesamten<br />
Bedienfeld grellrote Warnleuchten. Eine große Tafel über<br />
den Bedienelementen blinkt auf und zeigt an: Reaktorschnellabschaltung.<br />
Der Reaktor schaltet sich automatisch ab. Nach und<br />
nach werden einige der Anzeigen grün.<br />
»Hat es funktioniert?«, fragt Archipow.<br />
Der Leutnant antwortet nicht sofort, sondern sucht mit<br />
dem Blick fluchend eine Anzeige nach der anderen ab.<br />
»Postew! Ist der Reaktor abgeschaltet?«<br />
Schließlich richtet sich der junge Offizier auf und zeigt mit<br />
totenbleichem Gesicht auf ein großes Skalenblatt mit der Aufschrift<br />
Kerntemperatur. »Steuerstäbe sind runtergefahren. Reaktor<br />
erfolgreich notabgeschaltet. Aber sehen Sie.«<br />
Die Temperatur des Reaktors steigt spürbar an.<br />
»Nachzerfallswärme. Der Kern wird bei geringer Leistung<br />
etwa hundert Stunden lang weitersieden, bis er irgendwann<br />
ausgebrannt ist. Ohne Kühlmittel wird er schmelzen. Und sich<br />
durch den Rumpf brennen.«<br />
»Wie lange?«<br />
In den vier Minuten, seit Archipow im Reaktorkontrollraum<br />
ist, hat sich die Anzeige von 250 auf 325 Grad Celsius<br />
bewegt und steigt weiter rasant an.<br />
»Ich weiß es nicht, Genosse Kommandant. Ein paar Stunden<br />
vielleicht.«<br />
10
Archipow hastet nach vorn zum Kommandodeck. Er bemüht<br />
sich, seiner Stimme einen lauten, festen Klang zu verleihen.<br />
In den Augen der Männer, die sich ihm zudrehen, dem<br />
ranghöchsten Offizier auf der Brücke, sieht er die eigene Angst<br />
widergespiegelt.<br />
Jene Augen werden für immer auf ihn gerichtet bleiben.<br />
In seinem unruhigen Schlaf wälzte sich Archipow rastlos auf der<br />
Matratze hin und her. Unter den geschlossenen Lidern zuckten<br />
die Augen. Seine Fäuste krallten sich in die Laken, als versuchte<br />
er verzweifelt, ihnen zu entkommen. Allerdings wickelten sie<br />
sich nur noch enger um ihn wie ein Leichentuch.<br />
MOROSOW<br />
Pionierteiche, Zentrum von Moskau<br />
Morgengrauen, 4. Juli 1962<br />
Unterhalb der Fenster von Oberst Oleg Morosows Wohnung<br />
breiteten sich die Oberflächen der Pionierteiche wie schwarze<br />
Spiegel aus. Ein trübes Grau erhellte allmählich den östlichen<br />
Himmel. Am Wasser jedoch wurde die Dunkelheit nur vom<br />
Scheinwerfer der ersten Straßenbahn des Tages aufgehellt, die<br />
rumpelnd durch die Malaja-Bronnaja-Straße fuhr. In den<br />
Wohnhäusern um den Park herum gingen ein, zwei Lichter an.<br />
Morosows Uniformjacke hing über der Rückenlehne eines<br />
Stuhls. Auf dem Schreibtisch am Fenster stand eine Lampe aus<br />
Metall, geprägt mit Hammer und Sichel. Auf der Tischplatte<br />
lagen ein Exemplar der Zeitschrift Nowy mir sowie ein Stapel<br />
offizieller Berichte mit dem Stempel des sowjetischen Vertei-<br />
11
digungsministeriums. Daneben befanden sich eine abgesägte<br />
Artilleriehülse aus Messing voller Zigarettenstummel und ein<br />
Benzinfeuerzeug der Wehrmacht aus Pressstahl. Auf einem Silbertablett<br />
unter der Lampe lag ein Zettel, nicht größer als Zigarettenpapier,<br />
mit winziger, kaum entzifferbarer Blockschrift.<br />
Morosow saß im Licht einer Stehlampe auf dem Sofa und<br />
machte sich aus einem Buch auf seinem Schoß Notizen. Er<br />
arbeitete hochkonzentriert. Gelegentlich unterbrach ihn das<br />
Brummen des Fahrstuhls im Gebäude oder eine leise Regung<br />
aus dem Schlafzimmer. Die Geräusche ließen ihn jedes Mal innehalten<br />
und lauschen. Schließlich klappte er das Buch zu und<br />
las die angefertigten Notizen noch einmal durch.<br />
Mit einem leisen Fluch durchquerte Morosow das Zimmer,<br />
knüllte das Papier zusammen und legte es in den Aschenbecher.<br />
Er entzündete das deutsche Feuerzeug und setzte sowohl seine<br />
Notizen als auch den winzigen Papierstreifen in Brand.<br />
Nachdem beides zu Asche verbrannt war, beugte er sich über<br />
den Schreibtisch, öffnete das Fenster und flutete den Raum mit<br />
Morgenluft. Morosow trug nur ein Hemd zu einer Uniformhose.<br />
Mit der hereinwehenden Brise breitete sich Kälte im verrauchten<br />
Arbeitszimmer aus. Trotzdem setzte er sich, ohne auf<br />
den Luftzug zu achten, der durch die Unterlagen auf seinem<br />
Schreibtisch fuhr, hielt eine brennende Zigarette in der Hand<br />
und beobachtete, wie der Rauch in den anbrechenden Tag hinausströmte.<br />
Nach einer langen Weile zog er seine Uniformjacke<br />
an. Um die muskulösen Schultern saß sie noch gut, allerdings<br />
musste Morosow den Bauch einziehen, um sie zuzuknöpfen. Er<br />
ging in den Flur, wo er in ein Paar Stiefel schlüpfte und einen<br />
Regenmantel überstreifte. Leise, um seine schlafende Familie<br />
nicht zu wecken, schloss er die Eingangstür hinter sich.<br />
Als Morosow das Gelände der Teiche überquerte, war er allein.<br />
Zumindest fast. Ein Straßenkehrer mit einem fadenscheinigen<br />
Reisigbesen arbeitete sich den Bürgersteig entlang. Auf<br />
12
der Jermolajewski-Straße führte ein älterer Mann einen drahtigen<br />
Terrier aus. Beim Münztelefon an der Ecke befand sich weit<br />
und breit niemand.<br />
Der Oberst ergriff den schweren Bakelit-Hörer, steckte eine<br />
Zwei-Kopeken-Münze in den Schlitz und wählte. Er wartete,<br />
während es am anderen Ende der Leitung klingelte.<br />
»Ja?« Eine schlaftrunkene Frauenstimme. »Ich höre.« Morosow<br />
zögerte und lauschte den leisen Atemgeräuschen seiner<br />
Gesprächspartnerin, bevor er das Wort ergriff. »Daria Wladimirowna?<br />
Entschuldigen Sie, dass ich so früh anrufe. Ich wollte<br />
Sie erwischen, bevor Sie zur Arbeit gehen.«<br />
»Hier gibt es keine Daria Wladimirowna. Sie sind falsch verbunden.«<br />
»Entschuldigung, Bürgerin.« Damit legte Morosow auf und<br />
eilte zurück nach Hause, bevor seine Frau und seine Tochter<br />
aufwachten.<br />
Der Mann mit dem Hund spazierte gemächlich weiter. Aber<br />
statt noch eine Runde um die Teiche zu drehen, ging er direkt<br />
auf den Gartenring zu. Als er sich einer parkenden Wolga Limousine<br />
näherte, stieg ein vierschrötiger Mann auf der Beifahrerseite<br />
aus und gab den Platz frei. Er nahm die Hundeleine<br />
entgegen, während sich der ältere Mann ins Auto setzte.<br />
Der Fahrer hielt ihm respektvoll den Hörer eines Funktelefons<br />
hin. »Genosse – die Leute von der Abhörzentrale. Sie sind<br />
in Bereitschaft.«<br />
Der ältere Mann brummte bestätigend und sprach in den<br />
Hörer. »Hören Sie mich, mein Junge? Ich brauche eine Aufnahme<br />
vom Münztelefon an der Ecke Malaja-Bronnaja und<br />
Jermolajewski. Von einem Anruf heute um 05:48 Uhr. Bringen<br />
Sie das Band in mein Büro. In einer halben Stunde.«<br />
13
Einen knappen Kilometer entfernt riss ein junger KGB-Leutnant<br />
im Keller des Telegrafenamts in der Gorki-Straße ein Blatt<br />
von einem Notizblock und lief einen unterirdischen Korridor<br />
entlang. Er eilte in einen niedrigen Raum, gefüllt mit mehreren<br />
Reihen signalgesteuerter Tonbandgeräte. Einige waren in<br />
Betrieb, die meisten nicht. Als er das richtige Gerät gefunden<br />
hatte, betätigte er den Stoppschalter und markierte die Stelle<br />
mit einem weißen Wachsstift. Dann drückte er die Rückspultaste<br />
und wartete, bis die Magnetbandrolle ganz zurückgelaufen<br />
war und das Ende durch die Luft flatterte. Der Offizier presste<br />
die Spule gegen die Brust und rannte aus dem Raum.<br />
KUSNEZOW<br />
Luftwaffenstützpunkt Sagua la Grande, Kuba<br />
Morgengrauen, 4. Juli 1962<br />
Eine frühmorgendliche Brise vom Meer weckte KGB-Major Vadim<br />
Kusnezow. Der süßliche Fäulnisgeruch von gerodetem Unterholz<br />
trieb darin. Das Rauschen des Winds durch die Bäume<br />
des Dschungels hörte sich wie eine Brandung an. Vögel und<br />
Insekten stimmten einen misstönenden Morgenchor an. Kusnezow<br />
strampelte das schweißgetränkte Baumwolllaken weg,<br />
tastete unter dem Bett nach seiner Thermoskanne und trank<br />
durstig einen Schluck kalten Zitronentee.<br />
Auch nach fast neun Monaten in Kuba konnte er sich nicht<br />
an die brütende Hitze und die geradezu unanständige Fruchtbarkeit<br />
der Umgebung gewöhnen. Genauso wenig an den Rum.<br />
Im Gegensatz zu Wodka schmeckte er nicht, als würde er einem<br />
schlecht bekommen. Warm und süß rann er die Kehle hinunter<br />
und warnte nicht davor, wie brutal er sich am nächsten Mor-<br />
14
gen rächen würde. Süß, aber gefährlich. Genau wie Kuba selbst,<br />
meinte er oft im Scherz. Mehr oder weniger jede Nacht.<br />
Kusnezow streckte sich nach oben, um den quietschenden<br />
Deckenventilator einzuschalten. Dann ließ er sich zurück auf<br />
seine Pritsche plumpsen. Das Wohnhaus der Staatssicherheit<br />
hatte man aus vorgefertigten Betonteilen neu gebaut, so planlos<br />
zusammengefügt wie jedes Gebäude in den Moskauer Vororten.<br />
Die Möbel stammten aus Rumänien, offenbar ein Geschenk der<br />
Geheimpolizei Securitate an ihre sozialistischen Brüder in der<br />
Karibik. Das Rotkiefernholz verzog sich bereits von der ständig<br />
feuchten Luft. Auf dem gesamten Militärstützpunkt gab es nur<br />
eine einzige Klimaanlage, ein klobiges Gerät von Carrier in der<br />
Villa des Plantagenbesitzers aus der Ära des Batista-Regimes,<br />
die mittlerweile als Offiziersmesse und Bar diente.<br />
Die Bar. Kusnezow fuhr sich mit der verschwitzten Hand<br />
über das Gesicht und den Bart. Vergangene Nacht. Wessen Idee<br />
war die Abschiedsfeier gewesen? Nicht seine. Bestimmt die irgendeines<br />
Obersts der örtlichen Luftwaffe. Kusnezow erinnerte<br />
sich an Gitarren, an kubanische Revolutionslieder, die kratzig<br />
von einem Plattenspieler dudelten, an nebeldichten Zigarrenrauch,<br />
an eine neue Gruppe verdächtig hübscher Kellnerinnen.<br />
Hatte er sogar … getanzt? Einheimische Frauen galten als tabu<br />
für Kusnezow und seine Kollegen vom KGB. Also hatte er stattdessen<br />
zu viel getrunken. Wie üblich. Und vielleicht getanzt.<br />
Ein bisschen. Aber nur, um brüderliche Solidarität zu zeigen.<br />
Kusnezows Koffer stand gepackt an der Tür. Nach einer Tagesfahrt<br />
in einer holpernden Wolga Limousine würde er rechtzeitig<br />
für den Abendflug in Havanna eintreffen. Morgen um<br />
diese Zeit würde er nach Zwischenstopps in Madrid und vielleicht<br />
Frankfurt in Moskau sein. Nach seiner Ankunft in Kuba<br />
war Kusnezow davon überrascht, wie sehr er seine Heimatstadt<br />
vermisste. Ihm fehlten die Solidität Moskaus, das gemächliche,<br />
stete Tempo der Stadt, der hartnäckige Mangel an Farben und<br />
15
Theatralik. Mittlerweile wunderte ihn vielmehr, wie sehr er nicht<br />
dorthin zurückkehren wollte, nicht mal für ein paar Wochen zu<br />
Unterredungen mit seinen Vorgesetzten in der Lubjanka. Kusnezow<br />
erinnerte sich an ein albernes Lied, das er die Männer der<br />
sowjetischen Luftwaffe hatte singen hören: »Es ist gut dort, wo<br />
wir nicht sind.« Er griff nach seiner Armbanduhr, ein sperriges<br />
Modell von Raketa, das er bei einer Wette von einem betrunkenen<br />
MiG-Piloten gewonnen hatte. Das Büro des Kommandeurs<br />
würde bald öffnen. Es wurde Zeit, die Fortschrittsberichte, die er<br />
in der vergangenen Woche fleißig für seine Vorgesetzten in Moskau<br />
getippt hatte, aus dem feuerfesten Safe zu holen.<br />
Kusnezow gab die Hoffnung auf, noch einmal einzuschlafen,<br />
stand auf und zog sich an. Besonders stolz war er auf den beigen<br />
Tropenanzug aus Baumwolle, den er in einem Kommissionsgeschäft<br />
in Havanna erstanden hatte und der von Haspel in New<br />
Orleans stammte. Er sähe darin wie ein kapitalistischer Ausbeuter<br />
aus, hatten seine KGB-Kollegen scherzhaft gemeint. Denkbar<br />
ungeeignet für die Räumlichkeiten des Ausschusses für Staatssicherheit<br />
in Moskau. Und wenn schon. Kusnezow gefiel sein Anblick<br />
in dem Anzug. Er genoss es, wie ein Ausländer auszusehen.<br />
Während er das Hemd zuknöpfte, ließ er den Blick über den<br />
neu errichteten Stützpunkt wandern. Als er im vorangegangenen<br />
Winter angekommen war, hatten den Ort noch entwurzelte<br />
Baumstämme, Schlamm und Spurrillen voller zorniger, heimatloser<br />
Schlangen beherrscht. Mittlerweile wies das planierte Areal<br />
kreuz und quer verlaufende asphaltierte Straßen sowie Reihen<br />
von Hütten und Hangars in Fertigbauweise auf.<br />
In der Ferne ragten in Tarnfarbe lackierte Umrisse einer Radarstation<br />
über den Baumwipfeln empor. Die Antenne wies<br />
wie ein lauschendes Ohr in Richtung der nördlichen Karibik –<br />
und zu den nur hundertvierzig Kilometer weit entfernten Vereinigten<br />
Staaten von Amerika.<br />
16
WASSIN<br />
Frunse-Uferstraße, Moskau<br />
Morgengrauen, 4. Juli 1962<br />
Wassin erwachte verkatert. Sein Nacken schmerzte von einem<br />
Sonnenbrand, und er hatte sein Gesicht an der Sofapolsterung<br />
wund gerieben. Seine Frau Vera hatte das knallige Schlafsofa<br />
aus Ostdeutschland ausgesucht, das neueste und teuerste, das es<br />
gab. Aber der borstige Nylonplüsch quälte Wassin jede Nacht.<br />
Veras Stimme drang mit dem sarkastischen hohen Ton, mit<br />
dem sie ihn immer weckte, aus der Küche. »Saschaaaaa? Telefon<br />
für dich. Die Kontora.«<br />
Die Kontora – wörtlich das Büro. Außerdem ein nicht allzu<br />
respektvoller Spitzname für den KGB. Veras Blick folgte ihrem<br />
Ehemann, als er den Korridor entlangtaumelte und dabei gegen<br />
die Wände stolperte.<br />
»Einen Moment«, sagte sie in den Hörer. »Der Genosse<br />
Oberst ist unterwegs. Er ist heute Morgen sehr beschäftigt.« Anstatt<br />
Wassin den Hörer zu reichen, legte sie ihn auf die Arbeitsplatte,<br />
als er die Hand danach ausstreckte. Dann drängte sie<br />
sich an ihm vorbei zum Badezimmer. Unterwegs zog sie sittsam<br />
den chinesischen Morgenmantel aus Seide zu.<br />
»Wassin am Apparat.«<br />
Es war die bissigste Sekretärin seines Vorgesetzten, General<br />
Orlow. Mit frostiger Förmlichkeit berief sie Wassin zu einer<br />
ungeplanten Besprechung in die Lubjanka. Er stammelte eine<br />
Zusage, spähte zur Küchenuhr und stieß einen leisen Fluch aus.<br />
Vierzig Minuten. Auf dem schicken neuen Herd köchelte ein<br />
unappetitliches Frühstück aus verbranntem Buchweizenbrei in<br />
der Pfanne. Keine Zeit. Er brauchte dringend eine Rasur und<br />
eine Dusche. Kaum war ihm der Gedanke in den Sinn gekom-<br />
17
men, hörte er, wie Vera geräuschvoll die Badezimmertür verriegelte<br />
und das Wasser aufdrehte, als hätten es ihr seine Gehirnwellen<br />
befohlen.<br />
»Vera? Kann ich kurz rein?« Stille. Irritiert klopfte Wassin an<br />
die Tür. »Ich muss mich für die Arbeit fertig machen.«<br />
Das Wasser verstummte, und Vera schob den Riegel zurück.<br />
Sie bedachte ihren Ehemann mit einem entrüsteten Blick, bevor<br />
sie an ihm vorbei ins Schlafzimmer stakste und die Tür zuschlug.<br />
Die schicke neue Wohnung der Wassins, die ganze drei Zimmer<br />
umfasste, lag an der Frunse-Uferstraße und bot eine Aussicht<br />
auf die von Apfelbäumen gesäumte Allee und die Moskwa.<br />
Sie lieferte die Bühne für die Tragikomödie von Wassins Familienleben,<br />
die sich jeden Morgen und Abend in trostlosen Variationen<br />
wiederholte. Vor neun Monaten war er ruhmreich von<br />
einem früheren Einsatz zurückgekehrt. Die Kontora hatte sein<br />
Leben so umgestaltet, dass es Wassins neuen Status als General<br />
Orlows bevorzugte Marionette widerspiegelte. Neue Wohnung,<br />
neues Auto, Beförderung – und wie durch Zauberei eine<br />
neue Ehefrau. Gewissermaßen. Denn irgendwie war Vera seit<br />
seiner Rückkehr wie ausgewechselt. Oder, um genauer zu sein,<br />
sie behandelte ihren Mann, als wäre er ein anderer geworden.<br />
Jemand, der wichtig war. Jemand, der gefährlich für sie sein<br />
konnte. Oberstleutnant Alexander Iljitsch Wassin vom Ausschuss<br />
für Staatssicherheit – ein Mann, den man besser respektierte.<br />
Und auf Abstand hielt.<br />
Wassin und Vera hatten sich rasch in eine gestelzte häusliche<br />
Theatralik gefügt. Sie sprachen miteinander, als befänden<br />
sie sich vor einem unsichtbaren Publikum. Wenn sie überhaupt<br />
redeten. Veras respektvolle Zurückhaltung hatte sich bald abgenutzt<br />
und wurde von mürrischer, gekränkter Aufsässigkeit<br />
18
abgelöst. Ihr Leben war zu einer Schmierenkomödie unausgesprochener<br />
Vorwürfe geworden.<br />
Auch Wassins vierzehnjähriger Sohn Nikita war in den Sog<br />
des geheimnisvollen neuen Ansehens seines Vaters geraten. Er<br />
wurde für das Elitelager der Jungen Pioniere in Artek angemeldet.<br />
Nikita verhielt sich seinem Vater gegenüber ebenfalls anders.<br />
Die gewohnte Zurückhaltung des Jungen wandelte sich in<br />
nervöse Ehrfurcht. Und der neue Respekt, dem ihm seine Mitschüler<br />
und Lehrer entgegenbrachten, hatte die Schüchternheit<br />
des armen Burschen nur noch verstärkt.<br />
Weder zu Hause noch in dem klobigen kleinen Auto, ein<br />
Moskwitsch, den er zu seiner Beförderung erhalten hatte, oder<br />
in der neuen Holzdatscha im Dorf Wnukowo konnte Wassin<br />
die Macht von Generalleutnant Juri Orlow auch nur einen Moment<br />
vergessen. Er fühlte sich gefangen wie eine Libelle in einem<br />
Glas.<br />
19
TEIL EINS<br />
DIE RASTLOSEN TOTEN<br />
Ob es einem gefällt oder nicht,<br />
die Geschichte ist auf unserer Seite.<br />
NIKITA CHRUSCHTSCHOW,<br />
VORSITZENDER DES MINISTERRATS<br />
DER SOWJETUNION, 1956
1<br />
KGB-Zentrale, Moskau<br />
4. Juli 1962<br />
Der sommerliche Sonnenschein fiel schräg durch die schweren<br />
Gardinen des Büros von General Orlow. Unangenehme Hitze<br />
und der penetrante Geruch von Bohnerwachs beherrschten<br />
den Raum. Wassin ließ den Blick über die am Tisch versammelten<br />
Kollegen wandern, die wie er spontan herbefohlen<br />
worden waren. Puschkow, der altgediente Resident des KGB,<br />
hatte im Dienst zweifelhafte Berühmtheit erlangt, indem er<br />
die Vergiftung ukrainischer Nationalisten und anderer Kollaborateure<br />
nach dem Krieg in Paris und Berlin organisiert hatte.<br />
Ignatenko, der pummelige Kommunikationsspezialist mit den<br />
permanenten Druckstellen an den schwabbeligen Schläfen, da<br />
er unzählige Stunden Kopfhörer trug. Wassins Elitetruppe von<br />
Spionjägern. Alle schienen auf ihren Stühlen zu schmelzen wie<br />
Eis auf einem heißen Bürgersteig.<br />
Niemand sprach ein Wort.<br />
Puschkow ergriff eine schmale Mappe mit der Aufschrift<br />
»STRENG GEHEIM« von einem ordentlichen Stapel und fächelte<br />
sich damit respektlos Luft zu. Laut polternd pflügte der<br />
Leiter ihrer Abteilung mit gerötetem Gesicht herein. Er wirkte<br />
gereizt, als hätten sie ihn warten lassen statt umgekehrt. Orlow<br />
nahm seinen Platz am Kopf des Tischs ein.<br />
23
»Schultz hat etwas für uns«, brummte Orlow ohne jede Einleitung.<br />
Er ignorierte die Anwesenden und richtete die Aufmerksamkeit<br />
vielmehr auf die mitgebrachten Unterlagen, in<br />
denen er konzentriert zu lesen begann.<br />
Wassin hätte es sich denken können. Boris Ignatjewitsch<br />
Schultz, leitender Beobachter von Wassins Überwachungsmannschaft.<br />
Außerdem: Wassins Ausbilder an der KGB-Schule.<br />
Außerdem: bester Observierungsfachmann der Branche. Typisch<br />
für Schultz, dass er nach all den fruchtlosen Monaten<br />
einen Durchbruch in seiner Nachtschicht erzielte. Und noch<br />
typischer für Schultz, dass er den Leiter der Abteilung für Sonderfälle<br />
– Orlow – angerufen hatte statt seinen direkten Vorgesetzten,<br />
nämlich Wassin.<br />
Schultz war ein dürrer, krummer Mann mit leichenblassem<br />
Gesicht und einem gepflegt gestutzten Schnurrbart. Als er den<br />
Besprechungsraum betrat, zuckte er beim Anblick seiner Kollegen<br />
zusammen. Ganz so, als hätte er ein Klassenzimmer voller<br />
hoffnungsloser Anwärter vor sich, die er zu Spionen schmieden<br />
sollte. Ein junger Unteroffizier folgte ihm und trug ein sperriges<br />
Tonbandgerät. Während der Bursche den Apparat anschloss,<br />
pflanzte Schultz den schlaksigen Körper auf einen Stuhl neben<br />
Orlow. Dabei faltete er sich regelrecht zusammen wie ein Teleskop.<br />
»Telefonzelle an der Straßenecke zur Malaja-Bronnaja.«<br />
Schultz’ Stimme klang näselnd und doch gebieterisch. »Heute<br />
Morgen. Kurz vor sechs. Hören wir es uns an.«<br />
Er drehte den Regler, der das Gerät startete. Auf ein elektronisches<br />
Surren folgten die Laute der gewählten Nummer, bevor<br />
die Verbindung hergestellt wurde.<br />
»Ja? … Ich höre.«<br />
»Daria Wladimirowna? Entschuldigen Sie, dass ich so früh<br />
anrufe. Ich wollte Sie erwischen, bevor Sie zur Arbeit gehen.«<br />
Oberst Oleg Morosows Stimme war unverkennbar.<br />
24
»Hier gibt es keine Daria Wladimirowna. Sie sind falsch verbunden.«<br />
»Entschuldigung, Bürgerin.«<br />
Schultz schaltete das Gerät aus und verzog das Gesicht zu<br />
etwas, das vermutlich ein Lächeln sein sollte.<br />
Wassins Herzschlag beschleunigte sich. »Kein Folgeanruf von<br />
Morosow, Boris Ignatjewitsch? Bei einer anderen Nummer?«<br />
»Kein Folgeanruf, Oberst Wassin.« Schultz beäugte seinen<br />
ehemaligen Schüler über den Tisch hinweg mit einem kaum<br />
merklichen, anerkennenden Nicken. Wassin, vielleicht bist du<br />
kein völliger Idiot, besagte der Blick des alten Mannes.<br />
Wassin machte weiter. »Unsere Zielperson steht im Morgengrauen<br />
auf, um von einer Telefonzelle aus einen einzigen Anruf<br />
an eine falsche Nummer zu tätigen. Eine Nummer, die er vermutlich<br />
noch nie von zu Hause aus angerufen hat. Eine Nummer<br />
…«<br />
»Wer hat abgehoben?«, fiel Orlow ihm ins Wort. »Haben wir<br />
eine Adresse? Haben wir sie schon in Gewahrsam?«<br />
Schultz verzog leicht das Gesicht, bevor er antwortete. »Genosse<br />
General. Unter der Nummer ist die Dmitri-Uljanow-<br />
Straße zweiundvierzig registriert. Hotel Ulaanbataar. Diese Leitung<br />
ist an der Laderampe der Küchen installiert. Aber …« Mit<br />
dem unbeugsamen Selbstbewusstsein älterer Menschen hob<br />
Schultz die Hand, bevor Orlow ihn unterbrechen konnte. »Um<br />
sechs Uhr morgens wimmelt es dort von Lieferanten. Laut dem<br />
Wachmann sind zwischen halb sechs und halb sieben mindestens<br />
acht Wagen angekommen, jeweils mit einem Fahrer und<br />
einem oder mehreren Ladehelfern. Viele Mitarbeiter der Küche<br />
und der Hotelverwaltung haben den Bereich passiert. Wir<br />
haben keine Zeugen gefunden, die jemanden an dem Telefon<br />
gesehen haben.«<br />
»Ein unauffindbarer Kontakt. Eine Vertrauensperson.« Orlow<br />
faltete die Hände zusammen und spannte die Schultern<br />
25
an, als wappne er sich für einen Boxkampf. »Was bedeutet das,<br />
Schultz? Bitte sagen Sie es uns.«<br />
»Wir haben ihn, General. Morosow hat seine Betreuer bei<br />
der CIA kontaktiert. Er hat sich aktiviert. Oder einen Kontakt<br />
bestätigt. In den vergangenen neun Monaten seiner Überwachung<br />
in Moskau ist ihm kein einziger Fehltritt unterlaufen.<br />
Wir vermuten, dass Morosow die Anweisung hatte, sich nicht<br />
aus seiner Tarnung zu wagen, bis er etwas Wichtiges zu berichten<br />
hat. Und jetzt …«<br />
»Jetzt tun wir was? Oberst?« Orlows Kopf drehte sich Wassin<br />
zu. Die anderen Anwesenden folgten dem Beispiel des Generals,<br />
sahen Wassin gehorsam an und harrten seiner Antwort.<br />
»Jetzt verhaften wir ihn, Genosse General.« Wassin setzte<br />
sich aufrechter hin.<br />
»Nein, Wassin.«<br />
Natürlich. Wassin hätte es besser wissen müssen. Es gab nie<br />
eine richtige Antwort auf die rhetorischen Fragen seines Vorgesetzten.<br />
»Entschuldigung, Genosse General. Zuerst müssen wir<br />
herausfinden, mit wem er zusammenarbeitet.«<br />
»Richtig, Oberst Wassin. Wenn man Unkraut ausreißt, dann<br />
mit Stumpf und Stiel.«<br />
Bei den Sicherheitskräften des ruhmreichen sowjetischen<br />
Vaterlands musste alles mit etwas anderem verbunden sein. Von<br />
einem Spion ausgehend verbarg sich eine Verbindung zum<br />
nächsten und von diesem aus die zu einem weiteren. Wie bei<br />
einer endlosen Abfolge von Matrjoschkas.<br />
Nachdem die Kollegen gegangen waren, blieb Orlow bei Wassin<br />
zurück und machte keine Anstalten aufzustehen. Stattdessen<br />
kauerte der General wie ein Giftpilz auf seinem Platz und<br />
starrte seinen Schützling über den Tisch hinweg an. In seinen<br />
Knopfaugen tänzelte kaum verhohlene Schadenfreude.<br />
26
»Danket dem Herrn, unserem allmächtigen Gott, und preiset<br />
ihn.« Orlows Stimme ertönte als tiefes, eindringliches Zischen.<br />
Der General hatte einst für das Priesteramt studiert, wie<br />
sich Wassin erinnerte. Er achtete darauf, keine Miene zu verziehen.<br />
»Der Direktor hat sich nach PLUTO erkundigt.«<br />
PLUTO – der mutmaßliche Verräter im Herzen der sowjetischen<br />
Sicherheitsgemeinschaft. Orlows Besessenheit und Wassins<br />
täglicher Albtraum. Am Ende seines letzten Einsatzes in<br />
der geheimen Atomversuchsanlage Arsamas-16 hatte Wassin<br />
einen amerikanischen Spion erfunden. Der Fall war ein heilloses<br />
Chaos gewesen, und Wassin musste etliche Regeln beugen<br />
– und teilweise brechen –, um einen fehlgeleiteten Fanatiker<br />
davon abzuhalten, eine nukleare Vernichtung auszulösen.<br />
Er bereute nichts. Aber um mit heiler Haut davonzukommen,<br />
hatte Wassin aus dem Wahnsinnigen einen amerikanischen<br />
Spion gemacht. Damals hatte er es als geradezu elegant empfunden,<br />
einem Toten ein erfundenes Vergehen anzuhängen.<br />
Mehr noch, Wassin war ruhmreich daraus hervorgegangen. Als<br />
neuer führender Spionjäger der Abteilung für Sonderfälle.<br />
Inzwischen war Wassins Bericht über den Spion ordnungsgemäß<br />
protokolliert worden. Was seine Fantasie zur offiziellen<br />
Tatsache erhoben hatte. Und Spione, ob real oder nicht,<br />
brauchten einen Betreuer. Deshalb war Wassin von General<br />
Orlow dazu auserkoren worden, PLUTO aufzuspüren. Er sollte<br />
den imaginären Spion mit einem realen in Verbindung bringen.<br />
Mit diesem unlösbaren Rätsel hatte Orlow seinen neuen<br />
Günstling beauftragt. Los, Wassin, stellen Sie die verdammten<br />
Zusammenhänge her. Viel Glück. Und so hatte Wassin in den<br />
letzten neun Monaten dieses Phantom gejagt, war Gerüchten<br />
nachgegangen und hatte nach dem kleinsten Hinweis darauf<br />
gesucht, dass Oberst Oleg Morosow tatsächlich der sagenumwobene<br />
PLUTO war.<br />
27
»Jetzt kann ich dem Direktor endlich mitteilen, dass wir einen<br />
Durchbruch erzielt haben. Die Enttarnung von PLUTO<br />
wird uns zum nächsten Bindeglied führen. Wir finden heraus,<br />
welche Informationen er an die Amerikaner weitergibt. Wir<br />
finden heraus, wer ihm diese Informationen liefert. Aber am<br />
wichtigsten ist, dass wir herausfinden, wer Morosows Krysha ist.<br />
Haben Sie mich verstanden, Wassin?«<br />
Krysha bedeutete wörtlich: Dach. Im Verbrecherjargon stand<br />
es für einen Beschützer. Wassin spürte, wie die Welt vor seinen<br />
Augen verschwamm. Ja. Er verstand haargenau, was Orlow<br />
meinte. Oder besser gesagt, wen. In Orlows Vorstellung führten<br />
die nächsten Glieder der Kette des Verrats immer weiter nach<br />
oben bis hinein in die höchsten Machtgefilde der Sowjetunion.<br />
»Morosows Beschützer, Genosse General?« Wassins Mund<br />
war trocken geworden. »Ein ranghoher Offizier, mit dem er<br />
vielleicht privaten Umgang pflegt?«<br />
»Ganz genau, Wassin. Vielleicht ist Morosow der Freund<br />
einer Familie. Vielleicht besucht er Grillfeiern in der Datscha<br />
irgendeines Bonzen. Oder nimmt an Jagdgesellschaften mit hohen<br />
Tieren teil. Ist Ihnen so jemand untergekommen, Wassin?<br />
Immerhin hat Ihr fachkundiges Auge Morosow seit geraumer<br />
Zeit unter Beobachtung.«<br />
Er spürte, wie sich Orlows Blick in ihn bohrte. Oh ja – beide<br />
Männer wussten genau, wen Orlow im Sinn hatte. Oberst<br />
Morosows alten Kumpel, seinen Gastgeber bei Feiern in dessen<br />
Datscha und bei Jagdgesellschaften. Seinen persönlichen<br />
Freund und Mentor, seinen Vorgesetzten und Beschützer. Niemand<br />
Geringeren als General Iwan Serow, Leiter der Hauptnachrichtendirektion<br />
des Generalstabs der Roten Arbeiter- und<br />
Bauernarmee. Besser bekannt als Glawnoje Raswedywatelnoje<br />
Uprawlenije, Hauptverwaltung für Aufklärung, kurz GRU. Der<br />
militärische Geheimdienst und als Institution der Hauptrivale<br />
des KGB. Serow – Orlows großer bürokratischer Widersacher.<br />
28
Und aus Gründen, die Wassin nicht ansatzweise verstand, Orlows<br />
Erzfeind.<br />
Wassin konnte die Logik seines Vorgesetzten deutlich nachvollziehen.<br />
Er wollte Morosow benutzen, um seinen Beschützer<br />
Serow dranzukriegen. Ihm vielleicht sogar einen Todesstoß zu<br />
versetzen. Was wäre es für ein Triumph für Orlow, den Leiter<br />
des Konkurrenzdienstes am Haken zu haben?<br />
Vor einigen Monaten hatte Wassin einen neuen amerikanischen<br />
Film gesehen – im Rahmen einer geschlossenen Vorführung<br />
ausschließlich für Offiziere der Kontora, nicht für die<br />
Öffentlichkeit. Darin ging es um einen verrückten Kapitän zur<br />
See aus dem neunzehnten Jahrhundert, der ein Phantom in Gestalt<br />
eines weißen Wals durch die Weltmeere jagte. Orlow glich<br />
diesem Kapitän, die Abteilung für Sonderfälle seinem Schiff –<br />
und Wassin war sein glückloser Erster Offizier, dazu verdammt,<br />
seinem Kapitän und seiner Besessenheit bis ans Ende der Welt<br />
zu folgen.<br />
»Wir haben eine solche Bekanntschaft beobachtet, Genosse.<br />
Wie Sie bereits wissen.« Wassins Stimme hatte sich zu einem<br />
Flüstern gesenkt. »Sie glauben, dass Genosse General Serow<br />
in die Machenschaften des Verräters Morosow verwickelt sein<br />
könnte?«<br />
»Und wenn nicht verwickelt, dann deckt Serow seinen<br />
Freund vielleicht. Beides könnte plausibel sein. Lose Enden<br />
sind in unserer Branche nicht zulässig. Finden Sie einen Schuldigen,<br />
Wassin.«<br />
Wassin nahm allen Mut zusammen und ergriff unter Orlows<br />
loderndem Blick das Wort. »Sie meinen, ich soll herausfinden,<br />
dass Serow schuldig ist, Genosse General?«<br />
Einen Moment lang fürchtete Wassin, sein Vorgesetzter<br />
würde anschwellen und platzen wie ein überreifer Bovist. Aber<br />
nein. Stattdessen lehnte sich der stets unberechenbare Orlow<br />
zurück und hob schmunzelnd die Hände.<br />
29
»Wir halten uns natürlich an die Beweise. Die Beweise unserer<br />
Augen und Ohren. Die Beweise in Morosows letztendlichem<br />
Geständnis. Wassin, Sie haben zwei lose Fäden, die es<br />
zu verknüpfen gilt. Einen am Anfang der Morosow-Geschichte,<br />
einen am Ende. Begonnen hat es mit Ihrer Geschichte über den<br />
Verräter in Arsamas …«<br />
Etwas in Wassin krampfte sich jedes Mal zusammen, wenn<br />
Orlow davon sprach, dass der Spion von Arsamas »seine« Geschichte,<br />
»sein« Fall wäre. Es gab Augenblicke, da fragte sich<br />
Wassin, ob das alte Reptil vermutete, der Spionagevorwurf<br />
könnte nur ein Hirngespinst gewesen sein.<br />
Aber sein Vorgesetzter fuhr seelenruhig fort und zählte die<br />
Punkte an der Hand ab. »Das wiederum hat zur Suche nach<br />
dem Betreuer Ihres Spions geführt. Sobald wir Morosow festgenagelt<br />
und bewiesen haben, dass er PLUTO ist, finden wir<br />
heraus, wer der Nächste ist. Mit wem er in Verbindung steht.<br />
Nach oben, nach unten, auf gleicher Ebene.«<br />
Orlow stand auf, ging seitlich am Tisch entlang und legte<br />
Wassin vertrauensvoll die Hand auf die Schulter. Die Stimme<br />
des Generals ertönte tief und leise in Wassins Ohr. »Sascha.<br />
Zwei lose Enden, ein Mann. Um Himmels willen, Wassin. Ich<br />
habe Ihnen gute Leute gegeben. Es ist an der Zeit, den verdammten<br />
Fall in trockene Tücher zu packen. Und zwar rasch.«<br />
30
2<br />
Verteidigungsministerium, Moskau<br />
12. Juli 1962<br />
Hauptmann Wassili Archipow saß allein an einem leeren Tisch<br />
in der Ecke der Cafeteria des Verteidigungsministeriums. Seine<br />
Aktentasche lag flach vor ihm neben einer Tasse mit kubanischem<br />
Kaffee, die allmählich kalt wurde. Seine Hände ruhten<br />
auf der Tasche. Sie zitterten kaum. Er atmete tief durch.<br />
Am anderen Ende des Raums erblickte er den alten Kameraden,<br />
auf den er gewartet hatte. Wie Archipow trug er die Uniform<br />
eines Marinekapitäns Ersten Ranges. Aber im Gegensatz<br />
zu Archipows Sonnenbrand hatte Timofei Swiagin leichenblasse<br />
Züge, und sowohl sein Kopf als auch sein Gesicht waren<br />
vollkommen unbehaart. Archipow stand auf. Die beiden Männer<br />
umarmten sich innig.<br />
»Bruder! Wie zum Teufel geht’s dir, Tima?«<br />
»Ging schon mal besser.«<br />
»Was sagen die Ärzte?«<br />
Swiagin zuckte mit den Schultern und sah seinem Freund<br />
einen ausgedehnten Moment lang in die Augen. »In Remission,<br />
verspricht man mir. Sicherheitshalber pumpt man mich trotzdem<br />
weiter mit Gift voll.«<br />
In seinen Träumen sah Archipow seinen Freund jede Nacht.<br />
Timofei an seiner Station außerhalb des siedend heißen Dampfs<br />
aus dem schmelzenden Reaktorraum von K-19, sein Overall<br />
fettverschmiert, das Gesicht von der roten Notbeleuchtung<br />
schaurig erhellt. Der Gestank, eine Mischung von Schweißarbeiten<br />
und dem erstickenden Mief von ausgetretener Reaktorkühlflüssigkeit.<br />
Swiagins Stimme, zum Befehlston erhoben, um<br />
das panische Geplapper der Männer zum Schweigen zu brin-<br />
31
gen, die sich dabei abwechselten, die Schweißnähte des Notkühlsystems<br />
zu versiegeln. Ruhig, Kameraden, ruhig.<br />
»Du siehst gut aus, Tima.«<br />
»Wassili, du warst noch nie ein guter Lügner. Ich sehe beschissen<br />
aus. Was führt dich in unser Bürokratenbordell?«<br />
»Bewertungsausschuss.«<br />
»Hier in Moskau statt im Hauptquartier der Nordflotte?<br />
Dann muss er hochrangig besetzt gewesen sein. Wie ist es gelaufen?«<br />
»Admirale. Glotow. Komarow. Hohe Tiere vom Verteidigungsministerium.<br />
Ein General der strategischen Raketentruppen.«<br />
»Klingt, als wärst du für ein großes Kommando vorgesehen,<br />
mein Freund. Etwas Geheimes. Glückwunsch.«<br />
»Drauf gespuckt.«<br />
Swiagin drehte den Kopf zur linken Schulter und gab<br />
dreifach Spucklaute von sich. Schutz gegen Unglück. Selbst<br />
hochrangige sowjetische Marineoffiziere blieben im Herzen<br />
Seeleute – und damit so abergläubisch wie Bäuerinnen. »Darüber<br />
musst du doch glücklich sein, Wassili, oder? Ein schickes<br />
neues Kommando könnte ein Neustart sein. Und nichts Geringeres<br />
verdient ein Held und Veteran der K-19-Katastrophe,<br />
richtig?«<br />
»Du bist der Held von K-19, Tima. Du hättest das neue<br />
Kommando bekommen sollen.«<br />
»Mach dich nicht über einen Invaliden lustig. Du willst<br />
doch unbedingt zurück aufs Meer, oder?«<br />
Archipow zuckte mit den Schultern und betrachtete schweigend<br />
seine Hände, während sein alter Bootskamerad ihn prüfend<br />
musterte.<br />
»Wassili – mir kommen oben an meinem Schreibtisch Dinge<br />
zu Ohren. Ich lese Dinge. Du wirst nicht mit einem Atomantrieb<br />
unterwegs sein, falls dir das Kopfzerbrechen bereitet. Das<br />
32
kann ich dir versprechen. Nach dem Unfall … nach K-19 wird<br />
jedes Atom-U-Boot der Flotte überholt. Alle sind in die Stützpunkte<br />
zurückbeordert worden und bleiben dort. Sogar die<br />
neuesten Boote der Projekt-658-Klasse bekommen umgebaute<br />
Reaktoren. Ich habe gehört, sogar unser altes K-19 soll eines<br />
Tages wieder seetauglich sein. Aber nicht so bald. Also entspann<br />
dich. Bis mindestens nächstes Jahr dürfen nur die alten dieselelektrischen<br />
U-Boote hinaus auf Langstreckenpatrouillen. Lass<br />
dir das von jemandem gesagt sein, der es weiß. Darüber musst<br />
du dir also keine Sorgen machen … Weißt du noch, wie der<br />
verrückte usbekische Smutje den Reaktor genannt hat? ›Satan<br />
in der Blechdose‹.«<br />
Archipow lächelte verschmitzt. Natürlich erinnerte er sich<br />
an den Smutje. Der Arzt an Bord von K-19 hatte ihm eine kräftige<br />
Dosis Diazepam in den Arm gejagt, um den Mann ruhigzustellen,<br />
weil er während des Unfalls einfach nicht zu schreien<br />
aufgehört hatte. Panik an Bord eines sinkenden U-Boots tausend<br />
Kilometer weit draußen im Nordatlantik konnte genauso<br />
tödlich sein wie der vernichtende Druck in den Tiefen.<br />
»Wäre mir so oder so egal. Satan hin, Satan her, ein Boot<br />
bleibt ein Boot.«<br />
Archipows Freund nickte sarkastisch. »Wie ich schon sagte,<br />
bist du ein schlechter Lügner, Wassili. Du hast gesagt, ein General<br />
der strategischen Raketentruppen war in deinem Ausschuss?«<br />
»Ja. Was hatte es damit auf sich?«<br />
»Wurde etwas über eine spezielle Waffe gesagt, die bei deiner<br />
neuen Mission eingesetzt werden soll?«<br />
»Eine spezielle Waffe?«<br />
Timofei stieß den Atem aus. »Vielleicht nur ein Gerücht.<br />
Noch kann ich dir nichts darüber sagen. Wie wär’s mit einem<br />
Cognac? Der Arzt sagt zwar, das sollte ich nicht – aber pfeif<br />
drauf, oder?«<br />
33
Archipow beobachtete Swiagins kahlen Kopf, während sich<br />
der Mann den Weg zur Theke der Cafeteria bahnte. Er blickte<br />
wieder auf seine Hände hinab. Ruhiger.<br />
3<br />
Pionierteiche, Moskau<br />
12. Juli 1962<br />
Um halb elf verließ Morosow sein Wohnhaus und trat hinaus<br />
in die zunehmende Hitze des Moskauer Sommervormittags.<br />
Die Jacke trug er über eine Schulter geschlungen, in der anderen<br />
Hand hielt er eine Einkaufstasche aus Segeltuch. Ohne<br />
auf einen älteren Mann zu achten, der am Teich Enten fütterte,<br />
eilte Morosow in Richtung der U-Bahn-Station Majakowskaja.<br />
Eine junge Frau, die im Schaufenster einer Bäckerei ihr Makeup<br />
überprüfte, bemerkte ihn, rückte ihren Hut zurecht und<br />
setzte sich vor Morosow in Bewegung. Dreißig Meter dahinter<br />
marschierte ein schlaksiger Student im selben Tempo.<br />
An der Station Belorusskaja trabte Morosow die Stufen zu<br />
dem breiten Korridor hinauf, der zu den Bahnsteigen der Kolzewaja-Linie<br />
führte. In bewährter Kontora-Manier nahmen die<br />
beiden Beschatter ihr Ziel unterwegs in die Zange. Morosow<br />
stieg in einen Zug nach Westen und verließ ihn an der Station<br />
Kiewskaja, wo er zur Linie Arbatsko-Pokrowskaja wechselte.<br />
Der junge KGB-Leutnant Michail Ljubimow, frisch von der<br />
Höheren Lehranstalt Dzierżyński des KGB, wo er Boris Schultz’<br />
Ausbildung genossen hatte, wurde allmählich nervös. Durch<br />
den zweiten Umstieg wurde die nahe Observierung riskant –<br />
weil die Wahrscheinlichkeit stieg, dass die Zielperson vertraute<br />
Gesichter in zwei aufeinanderfolgenden Zügen bemerken<br />
34
würde. Ljubimow wagte einen Blick durch den Wagen zu seiner<br />
Partnerin Tanja Dulatowa, die im hintersten Winkel in Position<br />
gegangen war. Er befand sich zu weit weg, um Augenkontakt<br />
mit ihr herzustellen. Ein Fehler, einer hübschen jungen Frau<br />
die Verantwortung zu überlassen. Zu auffällig. Mittlerweile<br />
wusste die gesamte Mannschaft, dass der alte Bock Morosow<br />
ein aufmerksames Auge für die Damenwelt hatte.<br />
Als sich an der Station Arbatskaja die Türen öffneten, stieg<br />
Morosow vor ihnen beiden aus. Tanja wollte unbedingt wieder<br />
vor die Zielperson gelangen, verfiel in Laufschritt und drängte<br />
sich mit einer Reihe gemurmelter Entschuldigungen zwischen<br />
den Pendlern hindurch. Ein weiterer Patzer. Ljubimow verwünschte<br />
seine Partnerin. Angestrengt versuchte er, Morosows<br />
kahlen Schädel dreißig Meter vor ihm nicht aus den Augen zu<br />
verlieren, als sich die Menge vor den Rolltreppen staute und<br />
verlangsamte.<br />
»Lasst die Augen auf die Leute auf der Rolltreppe gerichtet,<br />
wenn sie in euer Sichtfeld geraten«, hatte der alte Schultz ihnen<br />
beigebracht. »Ihr könnt nicht durch die Hinterköpfe der Leute<br />
vor euch sehen, und wenn ihr noch so intensiv starrt. Die Augen<br />
nur auf die …«<br />
»Auf die Rolltreppe, Genosse Oberst«, hatte die Klasse wiederholt.<br />
Aber Ljubimows Blick war nicht auf die Rolltreppe gerichtet.<br />
Sein Augenmerk galt dem Stahlgeländer, das die Passagierströme<br />
voneinander trennte. Er suchte nach einer Stelle, an<br />
der er sich darunter hindurchducken und vordrängeln könnte.<br />
Und so fand er sich von Angesicht zu Angesicht mit seiner Zielperson<br />
wieder, die zurück zu den Bahnsteigen wollte. Morosow<br />
hatte sich selbst unter dem Begrenzer hindurchgeduckt, seine<br />
Uniformmütze aufgesetzt, die Jacke angezogen und die Richtung<br />
gewechselt. Ein simpler, aber wirkungsvoller Trick, um<br />
Verfolger abzuschütteln.<br />
Tanja musste mittlerweile fast oben an der Rolltreppe an-<br />
35
gekommen sein. Ljubimow war auf sich allein gestellt. Die<br />
Zielperson verlieren oder entdeckt werden? Ein kalkuliertes<br />
Risiko – und gefährlich. Er musste warten, bis sich Morosow<br />
außer Sichtweite befand, bevor er sich athletisch über das Stahlgeländer<br />
schwang und hinter dem Mann hereilte. Er hatte<br />
Glück. Morosow hatte gerade einen Zug verpasst. Sein junger<br />
Beschatter zwängte sich beinah neben ihm in den nächsten.<br />
Ljubimow blieb seinem Ziel auf den Fersen, erst zurück zur Station<br />
Kiewskaja, dann weiter zur Station Oktjabrskaja. Damit<br />
war der Mann viermal umgestiegen. Mittlerweile hatte Ljubimow<br />
die eigene Jacke ausgezogen und sich eine Sommermütze<br />
tief ins Gesicht gezogen. Er betete, dass der Oberst ihn noch<br />
nicht bemerkt hatte. Der junge Agent verspürte einen berauschenden,<br />
beinah Übelkeit erregenden Kick. Seine erste echte<br />
Verfolgungsjagd.<br />
»Zeitungsstände sind unsere Freunde«, hatte Schultz mit seiner<br />
dünnen, näselnden Stimme erklärt. Wenn man nach Verfolgern<br />
Ausschau hielt, hatte er damit gemeint. Die allgegenwärtigen<br />
Kioske standen oft direkt gegenüber den Eingängen zu<br />
U-Bahn-Stationen, und ihre schrägen Fensterfronten boten ein<br />
hilfreiches Spiegelbild aller, die hinter einem auftauchten. Und<br />
tatsächlich, beim Verlassen der Station Oktjabrskaja verharrte<br />
Morosow am Kiosk. Geschlagene fünf Minuten lang tat er so,<br />
als würde er in einer Auswahl von Zeitschriften blättern. Damit<br />
zwang er Ljubimow, ungeschützt in Sichtweite eine riskante<br />
Position an einer nahen Haltestelle für Oberleitungsbusse einzunehmen.<br />
Der gerissene Mistkerl Morosow kannte jeden Trick<br />
im Gegenüberwachungshandbuch des KGB. Aber Ljubimow<br />
hielt sich vor Augen, dass sein eigener Lehrer – Schultz – das<br />
Buch praktisch geschrieben hatte.<br />
Der junge Beschatter folgte Morosow in vorsichtigem Abstand,<br />
als der Mann den Weg zum Café Schokoladniza an der<br />
Ecke des Kaluschskaja-Platzes antrat. Wie immer war das Lokal<br />
36
erstend voll. Eine Schlange erwartungsvoller Gäste erstreckte<br />
sich durch die Tür bis nach draußen. Morosow ging unbekümmert<br />
daran vorbei, suchte den großen, mit Tischen gefüllten<br />
Raum ab und zwängte sich zwischen den Gästen hindurch zu<br />
einer jungen auffallend schönen Frau mit dunklen Haaren an<br />
einem Ecktisch. Sie trug die olivgrüne Uniform eines Leutnants<br />
der Armee und stand auf, als sich Morosow näherte. Sie<br />
salutierten nicht, umarmten sich nicht, schüttelten sich nicht<br />
die Hand. Ihre Körpersprache wirkte förmlich. Während Morosow<br />
mit dem langwierigen Unterfangen begann, einen Kellner<br />
zu ihrem Tisch zu winken, schlich sich Ljubimow draußen<br />
zu einer öffentlichen Telefonzelle. Ein kurzer Wink mit seinem<br />
roten KGB-Ausweis genügte, um den Mann darin sein Gespräch<br />
abrupt beenden und eingeschüchtert die Flucht antreten<br />
zu lassen. Ljubimows Anruf bei der Notrufnummer der Abteilung<br />
für Sonderfälle wurde beim ersten Klingeln durchgestellt.<br />
»PLUTO hat Kontakt aufgenommen. Ersuche um Verstärkung<br />
für die Beschattung. Mit Fotograf. Zwei Autos. Höchste<br />
Dringlichkeit. Ich wiederhole, höchste Dringlichkeit.«<br />
4<br />
KGB-Zentrale, Moskau<br />
12. Juli 1962<br />
Der Überwachungsbericht lag innerhalb von zwei Stunden<br />
auf Wassins Schreibtisch. Schultz hatte den jungen Ljubimow<br />
gut ausgebildet, das musste Wassin zugeben. Und der Alte war<br />
innerhalb von acht Minuten nach dem Anruf seines Schülers<br />
persönlich mit einem Funkwagen vor Ort eingetroffen. Als<br />
Morosow und seine Kaffeebegleitung – getrennt, wie Wassin<br />
37
feststellte – in die verschmutzte Luft der belebten Kreuzung heraustraten,<br />
stand eine Kontora-Mannschaft in der Größe eines<br />
Opernchors für sie bereit.<br />
Wassin zog eine körnige, vergrößerte Aufnahme des Kopfs<br />
der Frau heraus, blätterte in Ljubimows Notizen und forderte<br />
den Jungen mit einem Blick zu einer Erklärung auf. »Sie arbeitet<br />
in der Gogolewski-Allee dreizehn, Gebäude drei? Was ist<br />
dort?«<br />
»Gebäude des Verteidigungsministeriums, Genosse Oberstleutnant.<br />
Ein Teil des Hauptquartiers des Generalstabs. Unlängst<br />
umfunktioniert, vermuten wir. War früher eine Abteilung<br />
des Beschaffungsamts der Armee. Aber man hat das alte<br />
Bezeichnungsschild an der Tür entfernt, Genosse Oberstleutnant.«<br />
»Ein Büro des Aquariums?« Wassin benutzte den neuesten<br />
Jargon für die GRU. Der Begriff ging auf die unlängst gebaute<br />
Zentrale des sowjetischen Militärgeheimdiensts in Jassenewo<br />
zurück, einem Vorort von Moskau. Mit seiner Glasfassade erinnerte<br />
das Gebäude an ein riesiges Fischbecken.<br />
»Ich bin mir nicht sicher, Genosse Oberstleutnant.«<br />
Ȇberlassen Sie das mir. Wir lassen das von einer internen<br />
Quelle überprüfen. In der Zwischenzeit …« Wassin sah auf die<br />
Armbanduhr. »Wird diese Frau nach Hause verfolgt?«<br />
Ljubimow nickte. Sie wussten beide, dass die Kontora keine<br />
Schwierigkeiten dabei haben würde, Morosows Kontaktfrau in<br />
dem Moment zu identifizieren, in dem sie ihren Schlüssel ins<br />
Schloss einer beliebigen Haustür in Moskau steckte.<br />
Wassin entließ den jungen Offizier und griff zum Hörer,<br />
um einen dringenden Termin mit Orlow zu vereinbaren. Ausnahmsweise<br />
mal ein Glücksfall. Nachdem sich Morosow monatbelang<br />
wie ein sowjetischer Musterbürger verhalten hatte,<br />
handelte er endlich wie ein Spion.<br />
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