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Perspectives 2025-1 Preview

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Perspectives

in Inclusive Social Development

Anthroposophic

1· 2025


Inhalt

deutsch

Content

english

Beiträge und Berichte

Rezensionen

Articles and Reports

Reviews

Den Leib und die Welt bewohnen .............. 4

Der Impuls der Sektion für Heilpädagogik und

inklusive soziale Entwicklung

von Jan Göschel

Darsteller und Regisseur . .................. 16

Aus der Zusammenarbeit mit dem Maler

Arnkjell Ruud: Ein Versuch

von Hannes Weigert

Ioana Viscrianu, Johannes Kronenberg, Ruth Fiona

Roever / Zusammenleben wollen. Ein Porträt von drei

sozialtherapeutischen Gemeinschaften: Lebenswirklichkeit,

Entwicklungsfragen und Aspekte der Teilhabe

von Gabriele Scholtes ......................49

Annette Pichler / Kreis und Punkt. Eine kritische

Analyse zum Heilpädagogischen Kurs Rudolf Steiners

von Udi Levy .............................51

Inhabiting the Body and the World ...............4

The impulse of the Section for

Inclusive Social Development

by Jan Göschel

Performer and Director ........................16

From the collaboration with the painter Arnkjell Ruud:

An experiment

by Hannes Weigert

Ioana Viscrianu, Johannes Kronenberg, Ruth Fiona

Roever / Choosing to Live Together. A portrait of three

social-therapeutic communities: The realities of life, development

issues, and questions of participation

by Gabriele Scholtes ............................49

Annette Pichler / Point and Periphery. A critical analysis

of Rudolf Steiner’s Curative Education Course

by Udi Levy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

Diversität, Kultur und Inklusion

in Gemeinschaften ........................ 28

Der Impuls der Sektion für Heilpädagogik und

inklusive soziale Entwicklung

von Gleice da Silva

«Geh dorthin, wo du gefeiert wirst, nicht dorthin,

wo du geduldet wirst!» ..................... 44

Bericht aus Indien

Zusammengestellt vom Team Avapanam

Theresa Stommel / Bildung und Staunen. Eine bildungsphilosophische

Perspektive im Kontext geistiger

und schwerer Behinderung

von Angelika Wiehl .......................55

Diversity, Culture, and Inclusion

in Community ................................28

A pilot course for the Camphill Academy

by Gleice da Silva

«Go where you are celebrated, not where

you are tolerated!» ............................44

Report from India

Compiled by Team Avapanam

Theresa Stommel / Education and Amazement. An

educational philosophy perspective in the context of intellectual

and complex disabilities

by Angelika Wiehl ..............................55

Editorial

Editorial

Jan Göschel

Jan Göschel

Nachdem wir das Jahr 2024 mit dem hundertjährigen Jubiläum

von Rudolf Steiners Heilpädagogischem Kurs und

der Gründung der neuen Sektion für Heilpädagogik und

inklusive soziale Entwicklung in der Freien Hochschule für

Geisteswissenschaft am Goetheanum gefeiert haben, erscheint

die Zeitschrift jetzt als Fachzeitschrift der neuen

Sektion. Nach vielen Jahren in der Redaktion, auch schon

in der Vorgängerpublikation, Seelenpflege in Heilpädagogik

und Sozialtherapie, schied Bernhard Schmalenbach

zum Jahresende aus dem Redaktionsteam aus. Für sein

Engagement und seinen Einsatz möchten wir uns an dieser

Stelle ganz herzlich bedanken!

In der vorliegenden Ausgabe finden Sie eine Verschriftlichung

meines Beitrags auf der Gründungstagung der

Sektion, die im Oktober mit fast tausend Menschen aus

allen Kontinenten am Goetheanum stattfand. Die Maler

Hannes Weigert und Arnkjell Ruud geben Einblicke in

Werke aus ihrer Zusammenarbeit. Gleice da Silva stellt

einen Pilotkurs zum Thema «Diversity, Equity and Inclusion»

vor, den sie für die Camphill Academy entwickelt

hat. Ausserdem finden Sie diesmal einen Bericht des indischen

Verbands AVAPANAM sowie drei interessante

Buchbesprechungen.

After celebrating the year 2024 with the centenary of Rudolf

Steiner’s Course on Education for Special Needs and

the founding of the new Section for Inclusive Social Development

at the School of Spiritual Science at the Goetheanum,

Perspectives is now being published as the professional

journal of the new Section. After many years on the

editorial team, including the predecessor publication, Seelenpflege

in Heilpädagogik und Sozialtherapie, Bernhard

Schmalenbach laid down his role on the editorial team at

the end of last year. We would like to take this opportunity

to express our heartfelt thanks to him for his commitment

and engaged contributions!

In this issue, you will find a written version of my contribution

to the Section’s founding conference, which took

place at the Goetheanum in October with almost thousand

people from all continents. The painters Hannes Weigert

and Arnkjell Ruud provide insights into their collaborative

works. Gleice da Silva presents a pilot course on «Diversity,

Equity and Inclusion» that she developed for the Camphill

Academy. Additionally, this issue includes a report from

the Indian association AVAPANAM and three interesting

book reviews.



Den Leib und

die Welt bewohnen

Der Impuls der Sektion für Heilpädagogik und

inklusive soziale Entwicklung

Auf der Grundlage eines Vortrags auf der Internationalen

Tagung über inklusive soziale Entwicklung, der am

3. Oktober 2024 am Goetheanum gehalten wurde

von Jan Göschel

Inhabiting the Body

and the World

The Impulse of the Section for

Inclusive Social Development

Based on a presentation to the International Conference

on Inclusive Social Development, given at the Goetheanum

on October 3, 2024

by Jan Göschel

Jan Göschel,

Dr. phil., Studium der Psychologie an der Universität

Edinburgh und der Pädagogik und Sonderpädagogik

in den USA. Promovierte in Heilpädagogik

und Rehabilitationswissenschaften an der

Universität zu Köln. Leiter der Sektion für Heilpädagogik

und inklusive soziale Entwicklung

am Goetheanum (Freie Hochschule für Geisteswissenschaft).

Zuvor langjährig tätig in der Camphill-Bewegung

in Nordamerika, u.a. als Lehrer

und Schulleiter und als Präsident der Camphill

Academy in der Entwicklung praxisintegrierter

Ausbildungen und Studiengänge.

Jan Göschel,

Dr. phil., studied psychology at the University of

Edinburgh and education and special education

in the USA. Doctorate in special needs education

and rehabilitation sciences from the University

of Cologne. Head of the Section for Inclusive

Social Development at the Goetheanum (School

of Spiritual Science). Before that, active in the

Camphill Movement in North America for many

years, including as a teacher and school leader

and as president of the Camphill Academy, developing

practice-integrated training programs and

courses of studies.

Aus einer globalen Perspektive –

Vernunft, Rationalität oder Resonanz?

In diesen Tagen werden wir die Sektion bzw. Fakultät

für Heilpädagogik und inklusive soziale Entwicklung der

Freien Hochschule für Geisteswissenschaft gründen. Diese

Hochschule ist eine neue Art von Universität, die von

Rudolf Steiner vor 100 Jahren gegründet wurde. Die Gründung

dieser Hochschule fand hier in Mitteleuropa statt,

wo wir uns jetzt treffen, auch wenn sie immer Menschen

aus der ganzen Welt einbezogen hat. Die Anthroposophie,

das Werk Rudolf Steiners und auch der Heilpädagogische

Kurs (GA 317), den er vor 100 Jahren gehalten hat, haben

ihre Wurzeln in Ideen, die hier in Mitteleuropa entstanden

sind. Aber Anthroposophie und diese neue Hochschule für

Geisteswissenschaft sollten immer etwas für die Menschheit

sein, für die Menschen unserer Zeit, und nicht nur für

einen bestimmten Ort in der Welt.

Um ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, was das bedeuten

könnte, möchte ich Ihnen jemanden vorstellen, der

uns helfen kann, das, was wir tun, aus einer anderen Perspektive

zu betrachten, nicht aus Mitteleuropa, sondern

aus der Karibik. Denn manchmal kann man die Dinge klarer

sehen, wenn man den Blickwinkel ändert.

Das Karibische Meer liegt zwischen Süd-, Mittel- und Nordamerika,

und im Osten schliesst sich der Atlantik an. Dort

finden Sie eine Gruppe wunderschöner Inseln. Einige von

Ihnen kommen von dort. Vor über 500 Jahren versuchten

die europäischen Könige und Herrscher, die Karibik unter

ihre Kontrolle zu bringen, weil sie ein Tor nach Amerika

war. Infolgedessen sind diese schönen Inseln seit über

500 Jahren vom Kolonialismus und der damit verbundenen

Gewalt und Ausbeutung betroffen. Und gleichzeitig

sind sie zu einem der kulturell vielfältigsten Orte der Welt

geworden, einem Ort, an dem Kulturen aus verschiedenen

Kontinenten zusammenfliessen und etwas Neues schaffen

– trotz der Gewalt und Ungerechtigkeit des Kolonialismus.

Sylvia Wynter (siehe Scott 2000), die ich Ihnen vorstellen

möchte, wurde 1928 auf der Insel Kuba geboren und

From a global perspective –

reason, rationalism or resonance?

In these coming days, we will be founding the Section or

Faculty for Inclusive Social Development of the School of

Spiritual Science. This school is a new kind of university,

founded by Rudolf Steiner 100 years ago. The founding

of this university took place here in central Europe, where

we are now meeting, even though it has always involved

people from around the world. In one way, anthroposophy,

the work of Rudolf Steiner, and the also the course

on Supportive Education, on «Heilpädagogik» (GA 317),

which he gave 100 years ago, have their roots in ideas that

had developed here, in central Europe. But anthroposophy

and this new University of Spiritual Science were always

meant to be something for humanity, for human beings of

our time, and not just for a particular place in the world.

To get better sense for what that might mean, I would like

to introduce you to someone who can help us look at what

we are doing from another perspective, not from central Europe,

but from the Caribbean. Because sometimes, you can

see things more clearly, when you shift your point of view.

The Caribbean Sea lies between South America, Central

America and North America, and then the Atlantic Ocean

to the East. There, you find a group of beautiful islands.

Some of you have come from there. Over 500 years ago,

European kings and rulers began to try and take control of

the Caribbean, because it was a doorway into the Americas.

As a result, for over 500 years, these beautiful islands

have been impacted by colonialism, and by the violence

and exploitation that goes with it. And at the same time,

they have become one of the most culturally diverse places

in the world, a place where cultures from different continents

have flown together and created something new

– despite the violence and injustices of colonialism.

Sylvia Wynter (see Scott 2000), whom I would like to introduce

you to, was born in 1928 on the island of Cuba and

then grew up on the island of Jamaica, where her parents

wuchs dann auf Jamaika auf, woher ihre Eltern stammten.

Sie wurde Tänzerin, Dichterin, Philosophin und Sozialwissenschaftlerin.

Heute ist sie 96 Jahre alt und emeritierte

Professorin an der Stanford University in den USA.

Sylvia Wynter befasste sich mit diesen 500 Jahren, in denen

die moderne Welt, die Welt, in der wir heute leben, entstanden

ist. Sie wollte verstehen: Was geschah in diesen

500 Jahren, nicht nur äusserlich, sondern was geschah im

menschlichen Bewusstsein, in der Art und Weise, wie die

Menschen sich selbst sehen und verstehen? Und was geschah

in diesen 500 Jahren insbesondere in Europa, das zu

so viel Leid und Gewalt und gleichzeitig zu so vielen neuen

Ideen und Kreativität geführt hat. Sie versuchte, das Licht

und den Schatten der modernen Kultur zu verstehen, die

sich von Europa aus über die ganze Welt ausbreitete.

Was ist es, das sie sieht? Wie lautet ihre Diagnose? Und was

ist nötig, um die zerstörerische Seite der modernen Zivilisation

zu heilen? Was ist die Therapie, die sie vorschlägt?

Vor dem Beginn dieser 500 Jahre, in denen das moderne

Leben entstand, lebten die Menschen in Europa unter der

Autorität der Kirche und unter der Autorität der Könige

und Fürsten, die alle Aspekte des Lebens beherrschten.

Die Menschen mussten sich in eine vorgegebene soziale

Ordnung einfügen. Diese feudale Ordnung wurde als von

Gott gegeben verstanden, dessen Wille durch die Fürsten

der Kirche und die weltlichen Fürsten fliesst. Jeder hatte

seinen Platz in dieser Ordnung zu akzeptieren. Es gab wenig

Raum für individuelle Initiative, für Kreativität, für die

Gestaltung des eigenen Schicksals oder für eine neue oder

andere Art des Zusammenlebens.

Dann, vor 500 Jahren, begannen die Menschen in Europa,

die Welt auf eine neue Weise wahrzunehmen, über ihre Beobachtungen

nachzudenken, zu verstehen, wie die Dinge

funktionieren, und ihre eigenen Schlüsse zu ziehen, sich

ihr eigenes Urteil zu bilden. Sie begannen, sich auf eine

neue Art und Weise für die Welt zu interessieren, Aspekte

des Lebens und Teile der Welt zu entdecken, die sie nicht

kannten. Und sie entdeckten, dass das, was sie für gottgegeben

hielten, die Art und Weise, wie die Dinge waren,

auch anders sein konnte, und dass die Menschen durch ihr

Verständnis, ihre Intelligenz, die Art und Weise, wie sie ihr

Leben organisierten, gestalten konnten. Plötzlich schien

die Autorität der Fürsten und der Kirche nicht mehr von

Gott gegeben zu sein.

were from. She came a dancer, poet, philosopher and social

scientist. Now, she is 96 years old and a retired professor

emerita of Stanford University in the US.

Sylvia Wynter studied these 500 hundred years, during

which the Modern world, the world we live in today, was

created. She wanted to understand: What happened during

these 500 years, not just outwardly, but what happened in

human consciousness, in the way human beings see and

understand themselves? And what happened, in particular

in Europe, during these 500 years, that led to so much

suffering and violence and at the same time to so many

new ideas and creativity. She was trying to understand

the light and the shadow of Modern culture, which spread

from Europe around the world.

What is it, that she sees? What is her diagnosis? And what

is needed to heal the destructive side of Modern civilization?

What is the therapy that she suggests?

Before the beginning of these 500 years, in which Modern

life was born, people in Europe lived under the authority

of the Church and under the authority of the kings and

princes who ruled all aspects of life. Human beings had to

fit into a social order that was given. This feudal order was

understood to come from God, flowing through the Princes

of the Church and the worldly Princes. Everyone had

to accept their given place in that order. There was little

room for individual initiative, for creativity, for individuals

to choose their own destiny or to live together in a new or

different way.

Then, 500 years ago, people in Europe began to observe the

world in a new way, think about their observations, understand

how things work and draw their own conclusions,

to form their own judgments. They began to be interested

in the world in a new way, to discover aspects of life and

parts of the world that they did not know. And they discovered

that what they had thought of as given by God,

the way things were, that this could also be different, and

that human beings, through their understanding, their intelligence,

could shape the way they organized their lives.

Suddenly, the authority of the Princes and of the Church

no longer seemed to be given by God.

4 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

5



Im Laufe dieser 500 Jahre gewannen die Menschen in

Europa allmählich das Vertrauen, dass sie auf der Grundlage

ihrer Vernunftfähigkeit, ihrer Rationalität, sich selbst

regieren konnten. Sie brauchten keine Fürsten oder die

Kirche, um über sie zu herrschen. Das Volk selbst, als Gemeinschaft

rationaler Menschen, konnte eine «Regierung

des Volkes, durch das Volk, für das Volk» bilden (wie Abraham

Lincoln es 1863 formulierte; siehe Abraham Lincoln

Presidential Library and Museum 2025). Und dieselbe

Rationalität erlaubte es ihnen, die Natur, die Erde – und

andere Menschen – zu erobern, unter Kontrolle zu bringen

und auszubeuten!

Es setzte sich das Gefühl durch, dass die ‹Vernunft›, der

‹Verstand› die Eigenschaften sind, die uns eigentlich zum

Menschen machen. Diese Vorstellung ist der Kern des Problems

des modernen Menschen, des «Man», wie Wynter

(2003; auch in Scott 2000) ihn nennt. Die Entdeckung der

Macht der individuellen Rationalität gab uns die Mittel und

das Selbstvertrauen, uns von den unterdrückenden Mächten

der Aristokratie und der Kirche, der feudalen Gesellschaftsordnung

der Vormoderne, zu emanzipieren und

eine Selbstverwaltung des «Demos» durch den «Demos»

zu etablieren. Sie hat uns auch die Möglichkeit gegeben,

eine Technologie und eine Wirtschaft zu etablieren, die

wächst, die sich nicht nur selbst erhält, sondern die immer

mehr von der Welt in ihre Sphäre holt, um die Produktivität

zu steigern. Und sie befähigt den Einzelnen, seinen eigenen

Lebensweg zu bestimmen, sich ein eigenes Urteil zu

bilden und eigene Entscheidungen zu treffen.

Dieser Zustand «Man», des instrumentell-rationalen

Menschseins, schafft aber auch eine tiefe Spaltung: zwischen

dem rationalen Menschen und allem anderen in der

Welt. Der rationale Mensch ist der Eroberer, alles andere

ist dazu da, erobert zu werden. Und was geschieht mit

allen anderen? Wenn Rationalität der Kern dessen ist, was

uns zum Menschen macht – wenn es das ist, was es bedeutet,

ein Mensch zu sein –, dann können alle Menschen

gleich an Rechten und Würde sein, aber eben nur solange

sie mit Vernunft ausgestattet erscheinen.

Wir haben nun ein Bild des Menschen als ‹rationalen Menschen›,

der nach Kontrolle strebt, und eine Welt ohne Seele,

die es zu erobern und zu kontrollieren gilt. Das bedeutet

aber auch, dass alle Menschen, die nicht in das Bild des

‹rationalen Menschen› passen, als nicht vollwertig angesehen

werden und ausserhalb der Idee von gleichen Rechten

und gleicher Würde stehen. Aus der Sicht dieses materialistischen,

rationalistischen, «entzauberten» Verständnisses

des Menschseins werden die indigenen und traditionellen

Kulturen und Zivilisationen der kolonisierten Länder, aber

auch diejenigen innerhalb der westlichen Gesellschaften,

Over the course of these 500 years, people in Europe gradually

began to gain confidence that they could rule themselves,

based on their capacity of reason, their rationality.

They didn’t need Princes or the Church to rule over them.

The people themselves, as rational human beings, could

form «government of the people, by the people, for the

people» (as Abraham Lincoln formulated it in 1863; see

Abraham Lincoln Presidential Library and Museum 2025).

And this same rationality allowed them to conquer, control

and extract value from nature, from the earth – and

from other people!

The feeling took hold that ‹reason›, that ‹rationality› is the

quality that makes us truly human. This idea is at the heart

of the problem of Modern «Man», as Wynter (2003; also in

Scott 2000) calls him. The discovery of the power of individual

rationality gave us the tools and the confidence to

emancipate from the oppressive powers of the aristocracy

and the Church, of the feudal social order of pre-modern

times, and to establish self-governance of the «demos», by

the «demos»; «of the people, by the people». It also gave

us the possibility to establish technology and an economy

that grows, that doesn’t just maintain itself, but that

brings more and more of the world into its sphere in order

to increase productivity. And it empowers individuals to

chart their own course in life, to form their own judgments

and make their own decisions.

However, the condition of «Man» also creates a deep split:

between the rational human being and everything else in

the world. The rational human being is the conqueror,

everything else is there to be conquered. And what happens

to everyone else? If rationality is at the heart of what

makes us human – if this is what it means to be human,

then all human beings may be equal in rights and dignity,

but only as long as they appear endowed with reason.

We now have a picture of the human being as a ‹rational

Man›, seeking control, and a world without a soul that is

there to be conquered and controlled. But that also means

that all human beings who do not fit the picture of the

‹rational Man›, are seen as not fully human and stand outside

of the idea of equal rights and equal dignity. From the

point of view of this materialistic, rationalistic, «dis-enchanted»

understanding of what it means to be human,

the indigenous and traditional cultures and civilizations

of the colonized lands, but also those within Western societies

who do not meet the requirements of the ‹rational

actor› – human beings, whom today we would describe as

cognitively disabled or mentally ill, but also women, who

were seen as less rational than men, are not recognized

as full and equal members of society. Modern civilization

creates an external and an internal ‹Other› and defines itself

in contrast with this ‹Other›.

die nicht den Anforderungen des ‹rationalen Akteurs› entsprechen

– Menschen, die wir heute vielleicht als kognitiv

behindert oder psychisch krank bezeichnen würden, aber

auch Frauen, die als weniger rational angesehen wurden

als Männer – nicht als volle und gleichberechtigte Mitglieder

der Gesellschaft anerkannt. Die moderne Zivilisation

schafft einen äusseren und einen inneren ‹Anderen› und

definiert sich selbst im Gegensatz zu diesen ‹Anderen›.

So lautet die Diagnose von Sylvia Wynter: Das materialistische,

rationalistische Bild davon, was es bedeutet, ein

Mensch zu sein – ein rationaler Akteur zu sein, der unabhängige

Urteile bildet und die Welt erobert und beherrscht

– hat es der modernen westlichen Zivilisation ermöglicht,

die unterdrückenden Strukturen der Feudalgesellschaft

abzuschütteln. Sie ermöglichte es dem Einzelnen, sich von

einer unterdrückerischen Gesellschaftsordnung zu emanzipieren.

Aber ihr Schatten ist die Ausbeutung der Erde

und anderer Menschen, die Zerstörung alter und indigener

Kulturen und die Marginalisierung und Ausgrenzung derjenigen

innerhalb der modernen Zivilisation, die nicht in

dieses Bild passen.

Was wir brauchen, so Wynter, ist ein neues Bild des Menschen,

ein neues Verständnis davon, was es bedeutet, ein

Mensch zu sein. Sie nennt dies eine «Wiederverzauberung

des Humanismus» («Re-enchantment of Humanism», Wynter

in Scott 2000); man könnte auch sagen, eine (künstlerische)

Re-Spiritualisierung des Humanismus. Das bedeutet

nicht, zu einer vormodernen Sicht des Menschen

zurückzukehren, sondern nach vorne zu gehen. Die Frage

ist also: Wie können wir jenen Aspekt des Humanismus

der europäischen Aufklärung erweitern und vertiefen, der

die gleiche Würde aller Menschen anerkennen will, aber

hinter seiner inklusiven Absicht zurückbleibt, weil er die

Rationalität zum bestimmenden Merkmal des Menschseins

macht?

Wie können wir ein neues und tieferes, inklusives Verständnis

unseres gemeinsamen Menschseins finden, das

die Unterschiede der westlichen und nicht-westlichen Kulturen

transzendiert, sie integriert und die Vielfalt all der

verschiedenen Arten, in denen Menschen verkörpert sind

und als Menschen auf der Erde leben, einbezieht und würdigt:

das gesamte Spektrum des leiblich präsenten Ausdrucks

der Menschheit?

Für Wynter bedeutet die «Wiederverzauberung» des Humanismus,

dass wir die spirituelle und die verkörperte Seite

unseres Menschseins wieder integrieren, und damit auch

die verschiedenen Arten des Wissens, die wir brauchen,

um sie zu erkennen. Zu diesen Wissensformen gehören

kontemplative, künstlerische und praktische Wissensformen.

Und nur diese werden uns zu einem Verständnis des

Menschseins führen, das die gesamte menschliche Erfahrung

umfasst und einschliesst.

This is Sylvia Wynter’s diagnosis: The materialistic, rationalistic

picture of what it means to be human – to be a

rational actor, forming independent judgments and conquering

and gaining control of the world – made it possible

for Modern Western civilization to shake off the oppressive

structures of feudal society. It made it possible for the

individual to emancipate from an oppressive social order.

But its shadow is the exploitation of the earth and of other

human beings, the destruction of ancient and indigenous

cultures, and the marginalization and exclusion of those

within modern civilization who do not fit this picture.

What is needed, according to Wynter, is a new image of

the human being, a new understanding of what it means

to be human. She calls this a «re-enchantment of humanism»

(Wynter in Scott 2000); we could also say, an (artistic)

re-spiritualization of humanism. This does not mean

going back to a pre-modern view of the human being but

going forward. The question becomes: How can we expand

and deepen that aspect of the humanism of the European

Enlightenment that wants to recognize the equal dignity of

all human beings, but falls short of its inclusive intention

because it makes rationality the defining feature of what it

means to be human.

How can we find a new and deeper, inclusive understanding

of our shared humanity that can transcend and embrace

Western and non-Western cultures, and that can

include and honor the diversity of all the different ways

in which human beings are embodied and live as human

beings on the earth: the whole spectrum of embodied expression

of humanity?

In Wynter’s view, «re-enchanting» humanism means re-integrating

the spiritual and the embodied sides of our humanity,

and with that also the different ways of knowing

that we need in order to acknowledge them. These ways

of knowing include contemplative, artistic and practical

ways of knowing. And only these will lead us to an understanding

of what it means to be human that embraces and

includes the whole human experience.

It does not mean to reject rationality. Reason and the ability

to think are important capacities. But the human being

is first and foremost a relational being. What makes us

human is that we are embodied spiritual beings who are

looking to connect with each other and the world in a resonant

way (see Rosa 2016). This relational view of what it

means to be human allows us to put rationality in its place

as a helpful function where it belongs. However, the instrumental

quest for control no longer defines us. Instead,

the human being is recognized as a being that can enter

into relationships with the earth, with other human beings

6 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

7



Das bedeutet nicht, dass wir die Rationalität ablehnen.

Vernunft und die Fähigkeit zu denken sind wichtige Fähigkeiten.

Aber der Mensch ist in erster Linie ein Beziehungswesen.

Was uns menschlich macht, ist, dass wir verkörperte

spirituelle Wesen sind, die sich auf eine resonante Weise

miteinander und mit der Welt verbinden wollen (siehe Rosa

2016). Diese relationale Sichtweise dessen, was es bedeutet,

ein Mensch zu sein, ermöglicht es uns, die Rationalität

als hilfreiche Funktion an ihren Platz zu stellen. Das instrumentelle

Streben nach Kontrolle definiert uns jedoch

nicht mehr. Stattdessen wird der Mensch als ein Wesen

anerkannt, das mit der Erde, mit anderen Menschen und

mit dem Kosmos in Beziehung treten kann. Ein Wesen, das

der Welt begegnen und mit seiner eigenen Stimme auf die

Welt antworten kann.

So sieht die Herausforderung der inklusiven sozialen Entwicklung

aus der Sicht einer jamaikanischen Philosophin,

Tänzerin, Dichterin und Sozialwissenschaftlerin im 20.

und 21. Jahrhundert aus.

Deutsche Romantik –

die ‹Jenaer Konstellation›

Aus dieser Perspektive können wir sehen, dass Steiners

Arbeit, die die Grundlage dieser Hochschule für Geisteswissenschaft

ist, Teil eines grösseren Projekts ist: der

«Wiederverzauberung des Humanismus», der Heilung der

spirituellen Wunde der modernen Zivilisation – die sich

von Europa aus über den ganzen Globus ausgebreitet hat.

Wie Wynter will Steiner nicht in die vormoderne Zeit zurückkehren.

Er will einen Weg finden, auf der Entdeckung

des individuellen «Ichs», des individuellen Geistes als eines

freien und selbstwirksamen schöpferischen Wesens

aufzubauen, aber in dieses Menschenbild all das wieder

zu integrieren, was auf dem Weg verloren gegangen ist:

die geistigen, die inneren und die leiblichen Dimensionen

des Erlebens. Tatsächlich bedeutet «Anthroposophie», die

Weisheit, das Bewusstsein oder die Erkenntnis dessen, was

es bedeutet, Mensch zu sein, in gewisser Weise fast dasselbe

wie eine «Wiederverzauberung des Humanismus»:

den Menschen als ein geistiges Wesen zu sehen, das eine

leibliche Daseinsweise in der Welt lebt und durch den Leib

in eine resonante Beziehung zur Welt tritt.

Hier, in Mitteleuropa, begann die Suche nach dieser «Wiederverzauberung

des Humanismus» deutlich erkennbar

um das Jahr 1800 in der Stadt Jena im Osten Deutschlands.

Es ist dieselbe kleine Stadt, in der vor 100 Jahren eine kleine

Gruppe junger Menschen das «Heil- und Erziehungsinstitut

für Seelenpflege-bedürftige Kinder Lauenstein» gründete.

Dies war das Heim, die Schule und die Gemeinschaft

für Kinder mit Assistenzbedarf, aus der die weltweite Berufsgemeinschaft,

die heute hier versammelt ist, erwachsen

ist (siehe Frielingsdorf, Grimm & Kaldenberg 2013).

and with the cosmos. A being that can meet the world and

respond to the world in their own voice.

This is what the problem of inclusive social development

looks like from the perspective of a Jamaican philosopher,

dancer, poet and social scientist in the 20 th and 21 st century.

German Romanticism –

the ‹Jena Set›

From this perspective, we can see that Steiner’s work, which

is the foundation of this School or University of Spiritual

Science, is part of a larger project: the «Re-Enchantment

of Humanism», the healing of the spiritual wound of Modern

civilization – which has spread from Europe across the

globe. Like Wynter, Steiner does not want to go back to

pre-modern times. He wants to find a way to build on the

discovery of the individual «I», the individual spirit as a

free and powerful creative being, but to re-integrate into

this picture of the human being everything that has been

lost on the way: the spiritual, the inner and the embodied

dimensions of experience. In fact, «Anthroposophy», the

Wisdom, Consciousness or Awareness of What it Means to

Be Human, in some ways means almost the same thing as a

«Re-Enchantment of Humanism»: to see the human being

as a spiritual being that lives an embodied way of being

in the world and enters through the body into a resonant

relationship with the world.

Here, in Central Europe, the search for this «Re-Enchantment

of Humanism» began in a clearly recognizable way

around the year 1800, in the city of Jena, in the Eastern

part of Germany. This is the very same small city where

100 years ago, a small group of young people founded the

«Heil- und Erziehungsinstitut für Seelenpflege-bedürftige

Kinder Lauenstein» (Lauenstein Institute for Children in

Need of Care of the Soul). This was the home, school and

community for children with disabilities from which the

worldwide professional community that is gathered here

today, has grown (see Frielingsdorf, Grimm & Kaldenberg

2013).

Just over 100 years before this Lauenstein community

started in Jena with the help of Rudolf Steiner, Johann

Wolfgang Goethe, whom the building that we are in is

named after, had helped bring together a small community

of men and women connected with the University

of Jena, who already then were searching for the «Re-Enchantment

of Humanism». These artists, poets, philosophers

and scientists were in many ways the inspiration

for anthroposophy, 100 years later. They also inspired

the concept of «Heilpädagogik», which was formulated

in 1861, the year Steiner was born; of education for all

Etwas mehr als 100 Jahre vor der Gründung dieser Lauensteiner

Gemeinschaft in Jena, mit der Hilfe Rudolf Steiners,

hatte Johann Wolfgang Goethe, nach dem das Gebäude,

in dem wir uns befinden, benannt ist, eine kleine Gemeinschaft

von Männern und Frauen zusammengebracht, die

mit der Universität Jena verbunden waren und schon damals

auf der Suche nach der «Wiederverzauberung des

Humanismus» waren. Diese Künstler, Dichter, Philosophen

und Wissenschaftler waren 100 Jahre später in vielerlei

Hinsicht die Inspiration für die Anthroposophie. Sie

inspirierten auch die Idee der «Heilpädagogik», die 1861,

im Geburtsjahr Steiners, formuliert wurde: eine Pädagogik

für alle Menschen und eine unterstützende Erziehung für

Kinder, deren Weg durch den Leib in die Welt besonders

herausfordernd ist und achtsame Aufmerksamkeit und Begleitung

braucht.

Ich möchte nur zwei Mitglieder dieser Gemeinschaft in Jena,

um 1800, hervorheben. Andrea Wulf (2022) hat ein wunderbares

Buch über sie geschrieben, ‹Magnificent Rebels›.

1800 war die Zeit kurz nach der Französischen Revolution:

Das französische Volk hatte die tyrannische Monarchie

gestürzt und die Macht der Kirche beschnitten. Die Revolutionäre

hatten die alte Religion durch das ersetzt, was

sie das «Fest/den Kult der Vernunft» nannten. Doch diese

Herrschaft der Vernunft hatte sich in eine Schreckensherrschaft

verwandelt. Was als Streben nach Freiheit, Gleichheit

und Brüderlichkeit begonnen hatte, war in brutale Gewalt

umgeschlagen.

Was war schiefgelaufen? Wie konnte der rationale Humanismus

der Aufklärung so schnell entzaubert werden?

Friedrich Schiller, der berühmte Dramatiker und Freund

Goethes, der damals Professor für Geschichte und Philosophie

an der Universität Jena war, erkannte als einer der

ersten, dass Rationalität alleine nicht die Grundlage wahrer

Humanität, von Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit sein

kann. In seinen «Briefen über die ästhetische Erziehung

der Menschheit» (Schiller 1795 a,b,c) beschreibt er das

«Spiel» als Ausgangspunkt und Urbild aller menschlichen

Kultur und Bildung. Freiheit und schöpferisches Handeln

werden möglich, wenn wir das Irdische und das Geistige,

das Leben und die Form, durch unsere eigene Tätigkeit

in ein ausgewogenes Verhältnis bringen. Das Spiel ist die

Quelle aller Kunst, aller Kultur und Bildung. Es führt uns in

ein Verhältnis zur Welt, das die Grenzen des Gegebenen

anerkennt und zugleich neue Möglichkeitsräume für die

Zukunft eröffnet. Für Schiller werden wir im und durch das

Spiel ganz Mensch.

people and supportive education for children whose path

through the body into the world is particularly challenging

and needs mindful attention and accompaniment.

I only want to highlight two members of this community in

Jena, around 1800. Andrea Wulf (2022) has written a wonderful

book about them, ‹Magnificent Rebels›.

1800 was the time just after the French Revolution: The

French people had overthrown the tyrannical monarchy

and cut the power of the church. The revolutionaries had

replaced the old religion with what they called the «Festival/Cult

of Reason». But this rulership of reason had descended

into a «Reign of Terror». What had started as a

quest for freedom, equality and brotherhood, had turned

into brutal violence.

What had gone wrong? How did the rational humanism of

the Enlightenment become dis-enchanted so quickly?

Friedrich Schiller, the famous playwright and friend of

Goethe’s, who was a Professor of History and Philosophy

at the University of Jena at the time, was one of the first to

recognize that rationality by itself could not be the foundation

of true humanity, of freedom, brotherhood and

equality. In his «Letters on the Aesthetic Education of Humanity»

(Schiller 1795 a,b,c), he describes «Play» (Spiel) as

the starting point and archetype of all human culture and

education. Freedom and creative action become possible

when we bring the earthly and the spiritual, life and form,

into a balanced relationship through our own activity. Play

is the source of all art, all culture and education. It leads us

into a relationship to the world that recognizes the limitations

of what is given and at the same time opens up new

spaces of possibility for the future. For Schiller, it is in and

through play that we become fully human.

For his young student, Friedrich von Hardenberg, who

adopted the pen name Novalis, another polarity becomes

important: that between day consciousness and night

consciousness. Day consciousness is our awake, ordinary

‹modern› consciousness. Night consciousness, to Novalis,

is that deeper consciousness that puts us in touch with an

inner world of images, with imagination, inspiration and

intuition – with other and to him deeper ways of knowing

than the ones accessible to our day consciousness. In

his «Hymns to the Night» (Novalis 1910), he explores this

threshold – of letting go of rational day consciousness and

transforming our relationship to the world through a kind

of death and re-awakening into an experience of reality

that is deepened by imagination, inspiration and intuition.

It is through these ‹transrational› ways of knowing that

ideas for the future can come to us, while our day consciousness,

by itself, remains stuck in what we are already

familiar with.

Für seinen jungen Studenten Friedrich von Hardenberg,

der sich den Künstlernamen Novalis gab, wird eine andere

Polarität wichtig: die zwischen Tag- und Nachtbewusstsein.

Das Tagesbewusstsein ist unser waches, gewöhnliches

‹modernes› Bewusstsein. Das Nachtbewusstsein ist

für Novalis jenes tiefere Bewusstsein, das uns mit einer inneren

Bilderwelt, mit Imagination, Inspiration und Intuition

in Berührung bringt – mit anderen und nach seiner Einschätzung

tieferen Wegen des Erkennens als denen, die

unserem Tagesbewusstsein zugänglich sind. In seinen

8 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

9



«Hymnen an die Nacht» (Novalis 1910) erkundet er diese

Schwelle – das Loslassen des rationalen Tagesbewusstseins

und die Umwandlung unserer Beziehung zur Welt

durch eine Art Tod und Wiedererwachen in ein Erleben der

Wirklichkeit, das durch Imagination, Inspiration und Intuition

vertieft wird. Durch diese ‹transrationalen› Formen

der Erkenntnis können uns Ideen für die Zukunft kommen,

während unser Tagesbewusstsein in dem stecken bleibt,

was uns bereits vertraut ist.

Mit unserem rationalen Tagesbewusstsein, unserer instrumentellen

Vernunft, können wir uns Ziele setzen, die auf

dem basieren, was wir bereits wissen, und einen Plan ausarbeiten,

wie wir dorthin gelangen. Aber wenn wir die Nacht

in unser Bewusstsein einbeziehen, finden wir Intuitionen, die

wie Samen für etwas völlig Neues sind, die etwas aus der

Zukunft durch uns in den gegenwärtigen Moment kommen

lassen.

Im 19.Jahrhundert, nach diesem Moment in Jena, entwickelten

sich zwei Dinge: Einerseits beschleunigte die industrielle

Revolution mit ihren Fabriken und Maschinen

die Eroberung und Ausbeutung der Welt und der anderen

Menschen, insbesondere derjenigen, die als ‹Andere›, als

nicht völlig rationale Wesen erschienen, um den von der

instrumentellen Vernunft gesetzten Zielen zu dienen. Dies

führte in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zu der

Vorstellung, dass es so etwas wie eine ‹allgemeine Intelligenz›

gäbe, über die manche Menschen mehr, andere

weniger verfügen, und dass dies den wahren Wert eines

Menschen ausmache. Und dass Menschen, die nicht genug

von dieser Art von ‹Intelligenz» haben, deren ‹IQ› zu

niedrig sei, wertlos, ‹nutzlos› und eine Last seien. Diese

Idee wird oft ‹Eugenik› genannt, nach Francis Galton, der

sie formuliert hat (Galton 1909).

Gleichzeitig gab es andere, die sich von den Ereignissen in

Jena um 1800 inspirieren liessen und in dieser ‹Wiederverzauberung

des Humanismus›, diesem Versuch, die Heiligkeit

des Menschseins wieder anzuerkennen, den Keim, die

Intuition für eine menschlichere Kultur und Gesellschaft,

eine menschlichere Zivilisation der Zukunft sahen. Einer

derjenigen, die versuchten, diese «wiederverzauberte»

Sicht des Menschen gesellschaftlich und praktisch fruchtbar

zu machen, war Heinrich Marianus Deinhardt (1821-

1880), der 1861, im Geburtsjahr Steiners, den Begriff

‹Heilpädagogik› prägte (vgl. Georgens & Deinhardt 1861).

Er war in der Nähe von Jena aufgewachsen, hatte dort in der

Nähe von Halle studiert und war ein Freund von Karl Julius

Schröer, dem späteren Hochschullehrer Rudolf Steiners.

Wir wissen nicht, ob Steiner ihn in Wien noch gesehen oder

getroffen hat – er starb 1880 in Armut –, aber wir können

annehmen, dass Schröer Steiner mit Deinhardts Werk bekannt

gemacht hat (siehe Anthrowiki 2024).

With our rational day consciousness, our instrumental

reason, we can set ourselves goals based on what we already

know and figure out a plan of how to get there. But it

is when we include the night in our consciousness that we

find intuitions, which are like seeds for something completely

new, which allow something from the future to

come into the present moment through us.

In the 19 th Century, after this moment in Jena, two things

developed: On the one hand, the industrial revolution, with

factories and machines, was speeding up the conquest and

exploitation of the world and of other human beings, especially

those who appeared as ‹Other›, as not fully rational,

to serve the goals set by instrumental reason. This led, in

the second half of the 19 th century, to the idea that there is

something like a ‹general intelligence›, of which some people

have more, and some people less, and that this is what

determines the real value of a human being. And that people

who don’t have enough of this kind of ‹intelligence›,

whose ‹IQ› is too low, are not worthwhile, are ‹useless› and

a burden. This idea is sometimes called ‹eugenics›, after

Francis Galton, who formulated it (Galton 1909).

At the same time, there were others who were inspired by

what had happened in Jena around the year 1800, and who

saw in this ‹Re-Enchantment of Humanism›, this attempt

to see again the sacredness of what it means to be human,

the seeds, the intuition for a more human culture and society,

a more human civilization of the future. One of those,

who were trying to make this ‹Re-Enchanted› view of the

human being socially and practically fruitful, was Heinrich

Marianus Deinhardt (1821-1880), who in 1861, the

year of Steiner’s birth, coined the term ‹Heilpädagogik›,

‹Healing› or ‹Supportive Education› (see Georgens & Deinhardt

1861). He had grown up near Jena, studied there and

nearby in Halle, and was a friend of Karl Julius Schröer’s,

Rudolf Steiner’s later university teacher. We don’t know

if Steiner still saw or met him in Vienna – he died in 1880,

in poverty – but we can assume that Schröer introduced

Steiner to Deinhardt’s work (see Anthrowiki 2024).

In Deinhardt’s work, we see some of the seeds of inclusive

social development. Already as a young student, in

his 20s, he was interested in how to bring about a new inclusive

society, in which communities of people governed

themselves, based on democratic processes in which all

members of the community could participate. He thought

about how economic processes could be organized in

associative and cooperative forms that put them in the

hands of those directly involved. And he saw that to make

this possible, every member of society would need to have

access to a truly human education; an education that is

focused on developing and unfolding the potential of each

In Deinhardts Arbeit sehen wir einige der Keime für eine

inklusive soziale Entwicklung. Schon als junger Student

in seinen 20ern interessierte er sich dafür, wie man eine

neue, inklusive Gesellschaft schaffen könnte, in der sich

Gemeinschaften von Menschen selbst regieren, basierend

auf demokratischen Prozessen, an denen alle Mitglieder

der Gemeinschaft teilnehmen können. Er dachte darüber

nach, wie wirtschaftliche Prozesse in assoziativen und genossenschaftlichen

Formen organisiert werden könnten,

um sie in die Hände der unmittelbar Beteiligten zu legen.

Und er erkannte, dass dazu jedes Mitglied der Gesellschaft

Zugang zu einer wahrhaft menschlichen Bildung haben

müsste; einer Bildung, die darauf ausgerichtet ist, das Potenzial

jedes Einzelnen zu entwickeln und zu entfalten, um

ein freier und kreativer Teilnehmer am gesellschaftlichen

Prozess zu werden (Stöger 2017). Dies wäre eine Bildung,

die von Schillers Idee des ‹Spiels› als Quelle aller menschlichen

Kultur, der Kunst, der Erforschung und der schöpferischen

Teilhabe an der Welt inspiriert ist: eine praktische

Erziehungskunst, die die Entwicklung einer wahrhaft

menschlichen Kultur der Zukunft unterstützt, trotz des

unaufhaltsamen ‹Fortschritts› einer zunehmend mechanisierten

Zivilisation (siehe Deinhardt 1861).

Später, während des Ersten Weltkrieges, sagte Steiner über ihn:

«[Dieser] Mann wollte gar nichts anderes, als den ungeheuren

geistigen Impuls, der in Schillers Briefen über die

ästhetische Erziehung des Menschen liegt, pädagogisch

fruchtbar machen für die ganze Menschheit. [...] [Er]

starb Hungers. Niemand hat sich interessiert dafür, dass

aus diesen Briefen über die ästhetische Erziehung des

Menschen gezogen werden kann etwas, was das ganze

geistige Niveau der Menschheit durch eine ungeheuer

tiefe soziale Volkspädagogik heben könnte.» (Steiner GA

251, S. 399)

In Wien arbeitete Deinhardt mit Kindern mit verschiedenen

Behinderungen und Entwicklungsschwierigkeiten sowie

mit Kindern aus verarmten und sozial ausgegrenzten

Verhältnissen. Er war zutiefst davon überzeugt, dass alle

Kinder und alle Menschen zur Entwicklung fähig sind, dass

jeder eine sinnvolle Beziehung zur Welt und zu anderen

finden kann und dass dies – das Eingehen einer echten,

sinnvollen Beziehung zur Welt und zu anderen – das ist,

was es uns ermöglicht, als menschliche Wesen voll gegenwärtig

zu sein.

Als Deinhardt 1861 über «Heilpädagogik» schrieb, war ihm

vor allem eines wichtig, um seine «praktische Erziehungskunst»

und seine Vision einer inklusiven Gesellschaftsentwicklung

weiterzuentwickeln: ein grundlegend neues

und praktisches Verständnis des Menschen als verkörpertes

geistiges Wesen in der Welt; ein Verständnis, das alle

Dimensionen des Menschseins in einem integralen oder

transdisziplinären Bild zusammenführt. Er hatte das Gefühl,

dass er noch nicht in der Lage war, dies zu entwickeln.

Wie dies zu erreichen sei, war seine Frage an die Zukunft

(Georgens & Deinhardt 1861).

individual to become a free and creative participant in the

social process (Stöger 2017). This would be an education,

inspired by Schiller’s idea of ‹play› as the source of all human

culture, of art, exploration and creative participation

in the world: a practical art of education that supports the

development of a truly human culture of the future, despite

the unstoppable ‹progress› of on increasingly mechanized

civilization (see Deinhardt 1861).

Later, during the First World War, Steiner said about him:

«This man actually didn’t aim for anything other than to

make the incredible spiritual impulse that lies in Schiller's

Letters on Aesthetic Education fruitful for all of humanity.

[…] He dies of hunger. Nobody was interested in

the fact that something can be taken from these Letters

on the Aesthetic Education of Humanity that could lift up

the entire spiritual state of humanity through an incredibly

deep education for all.» (GA 251, p. 399, transl. JG)

In Vienna, Deinhardt worked with children with various

disabilities and developmental difficulties, as well as children

from impoverished and socially marginalized backgrounds.

He was deeply convinced that all children and

all human beings are capable of development, that everyone

can find a meaningful relationship to the world and

to others, and that this – entering into a real, meaningful

relationship to the world and to others – is what allows us

to be fully present as human beings.

When Deinhardt wrote about «Heilpädagogik», about

«healing» or «supportive» education in 1861, there was

one thing in particular, which he felt would be needed in

order to further develop his «practical art of education»

and his vision of inclusive social development: a fundamentally

new and practical understanding of the human

being as an embodied spiritual being in the world; an

understanding that brings all the dimensions of what it

means to be human together in one integral or transdisciplinary

picture. This, he felt, he hadn’t been able to develop

yet. How to accomplish this was his question to the future

(Georgens & Deinhardt 1861).

Rudolf Steiner’s course on «Heilpädagogik»

or Supportive Education

When Steiner (GA 317) gave his course on «Heilpädagogik»,

on supportive education in 1924, he offered such

a transdisciplinary understanding of the human being – in

the form of anthroposophy – as a foundation for education

and support for children with developmental difficulties.

In the course, Steiner frames child development as a process

by which the I, the spiritual individuality, shapes its

10 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

11



Rudolf Steiners

«Heilpädagogischer Kurs»

Als Steiner (GA 317) 1924 seinen Kurs über «Heilpädagogik»

gab, bot er ein solches transdisziplinäres Menschenbild

– in Form der Anthroposophie – als Grundlage für die

Erziehung und Förderung von Kindern mit Entwicklungsstörungen

an. Steiner stellt darin die kindliche Entwicklung

als einen Prozess dar, in dem das Ich, die geistige

Individualität, den eigenen Leib als Instrument für die Beziehung

zur Aussenwelt bildet. Gelingt dies, so dient der

Körper als Resonanzorgan für die Wahrnehmung, durch

das das Ich unmittelbar in der Welt präsent sein kann. Dies

ist auch die Grundlage für ein Erlebnis der Selbstwirksamkeit:

Das Ich nimmt die Welt wahr und hinterlässt durch

seine verkörperte Präsenz seine Signatur in der Welt. Der

Entwicklungsprozess, der dazu führt, ist jedoch ein sensibler

und fragiler; er ist Störungen unterworfen, die ihren

Ursprung in den Bedingungen der äusseren Welt, in den erblichen

Gegebenheiten, die den Grundstein für die Fähigkeit

des Ichs zum Aufbau eines neuen Körpers legen, oder

in der geistigen Biographie des Ichs selbst haben können.

Mit anderen Worten: Die Art und Weise, wie Kinder in die

Welt kommen und ein resonantes Verhältnis zur Welt und

Selbstwirksamkeit in der Welt aufbauen, ist immer durch

die Vergangenheit bedingt, gleichwie sie auch immer die

Möglichkeit einer radikal neuen Zukunft in sich trägt.

Steiner charakterisiert die Heilpädagogik als einen Prozess

der Verwandlung von Karma. Dieser Gedanke ist für viele

heute eine Herausforderung. Auf einer grundlegenden

Ebene bedeutet es dies einfach: Zu jedem Zeitpunkt ist

die Situation, mit der wir es zu tun haben, einschliesslich

ihrer Herausforderungen und begrenzenden Faktoren,

das Ergebnis vergangener Ereignisse. Alles, was ist, ist

durch vergangene Ereignisse entstanden. Dies gilt sogar

für unsere physische Umgebung: Sie ist das verfestigte Ergebnis

vergangener Prozesse. Einige dieser Bedingungen

können mit einer Vergangenheit in Beziehung stehen, an

der wir selbst beteiligt waren, aber es gibt auch sehr viele

Aspekte und Umstände, die unser Leben bestimmen und

die zu einer kollektiven Vergangenheit gehören, zu den

Familien, Gemeinschaften und Gesellschaften, den Landschaften

und Orten auf der Erde, die wir für unsere Inkarnation

als Kontext wählen (siehe Göschel 2024).

own body as an instrument through which it can connect

with the outer world. If this is successful, the body serves

as a resonant organ of perception, allowing the I to be

directly present through it, in the world. This is also the

foundation of a sense of agency: The I perceives the world

and leaves its signature in the world through its embodied

presence. However, the developmental process that leads

to this is a sensitive and fragile one; it is subject to disturbances

that can originate in the conditions of the outer

world, in the hereditary circumstance that lay the foundation

for the I’s ability to build a new body, or in the spiritual

biography of the I itself. In other words: the way children

come into the world and establish a resonant relationship

to the world and a sense of agency in the world is always

conditioned by the past, just as it also always holds within

it the possibility of a radically new future.

Steiner characterizes supportive education as a process

of transforming karma. That is a challenging thought for

many today. On a basic level, it means this: At any given

moment, the situation that we are dealing with, including

its challenges and limiting factors, is the result of past

events. Everything that is, has come into being through

past events. This even holds true for our physical environment:

it is the solidified result of past processes. Some of

these conditions may relate to a past that we have been individually

involved in, but there are also very many aspects

and circumstances that condition our lives, and which belong

to a collective past, to the families, communities and

societies, the landscapes and places on the earth, through

which we choose to incarnate (see Göschel 2024).

The conditions that we inherit from the past give us solid

ground to stand on, but they also give us resistance. And if

that were all, if everything that happened were just a consequence

of the past, which sends its effects forward in a

causal chain, there could be no freedom. But in Steiner’s

understanding of the human being, as he also develops it

in his course on supportive education, the important thing

is this: at every moment in time, we have the possibility to

bring a completely new impulse into the world; to plant a

seed of the future, which then transforms everything that

is. We can do something that no outer reason compels us

to do; we can withhold an action that we would have taken,

had we simply followed our past patterns, habits and

instincts, and we can take a completely open and neutral

stance, making space for an intuition of a yet unknown

future possibility that wants become real. This gesture of

‹making space for the future› is what it means to transform

karma in Steiner’s sense.

Die Bedingungen, die wir aus der Vergangenheit geerbt

haben, geben uns festen Boden unter den Füssen, aber

sie geben uns auch Widerstand. Und wenn das alles wäre,

wenn alles, was geschieht, nur eine Folge der Vergangenheit

wäre, die ihre Wirkungen in einer Kausalkette fortsetzt,

könnte es keine Freiheit geben. Aber in Steiners

Menschenbild, wie er es auch in seinem Heilpädagogischen

Kurs entwickelt, kommt es darauf an, dass wir in jedem

Augenblick die Möglichkeit haben, einen ganz neuen

Impuls in die Welt zu bringen, einen Samen der Zukunft

zu pflanzen, der dann alles, was ist, verwandelt. Wir können

etwas tun, wozu uns kein äusserer Grund zwingt; wir

können eine Handlung zurückhalten, die wir getan hätten,

wenn wir einfach unseren bisherigen Mustern, Gewohnheiten

und Instinkten gefolgt wären, und wir können eine

völlig offene und neutrale Haltung einnehmen, die einer Intuition

von einer noch unbekannten zukünftigen Möglichkeit,

die Wirklichkeit werden will, Raum gibt. Diese Geste

des ‹Platzmachens für die Zukunft› ist es, was es bedeutet,

Karma im Sinne Steiners zu transformieren.

An anderer Stelle spricht Steiner auch von Prinzipien

und Qualitäten einer zukünftigen Gesellschaft, die noch

im Keimstadium sind, die aber bereits als Möglichkeiten

wahrgenommen werden können und mit denen wir in

eben diesem Sinne arbeiten können, um der Zukunft unter

den Bedingungen der Gegenwart Raum zu geben (vgl. GA

186, GA 257). Er charakterisiert diese zukünftige Gesellschaft

als eine, die auf einer Kultur des Mitgefühls und

der Empathie aufbaut, die in die Tat umgesetzt wird. Die

Wahrnehmung der Erfahrung und des Leidens des Anderen

wird so real werden, dass wir sie nicht mehr ignorieren

können. Die Bedürfnisse des Anderen werden zu einer

grundlegenden Tatsache des gesellschaftlichen Lebens.

Dies geht einher mit einer Geste des bedingungslosen Respekts

für die unantastbare Integrität des inneren Lebens

des anderen. Es wird zur Erfahrung einer objektiven Realität

werden, dass dieses innere Seelenleben des anderen

einen Raum der Freiheit bildet, in den ich nicht eindringen

darf. Und zum anderen werden neue und tiefere Erkenntnisweisen,

die über die persönliche Perspektive und den

eigenen Standpunkt hinausgehen, ohne diese zu negieren,

Erkenntnisweisen, die zu einer Begegnung mit dem

Wesen und der Essenz der Phänomene in der Welt führen,

zu der pfingstlichen Erfahrung führen, dass wir letztlich

alle in derselben gemeinsamen Wirklichkeit leben und uns

über alle Unterschiede hinweg verständigen können. Diese

Qualitäten einer zukünftigen Zivilisation, die bereits jetzt

keimhaft entwickelt werden können, können als Leitprinzipien

für eine inklusive soziale Entwicklung im anthroposophischen

Sinne dienen.

Der Weg durch die Nacht

In other places, Steiner also speaks of the principles and

qualities of a future society that are still only in their germinal

stage, but which can already be perceived as possibilities,

and which we can work with in just this sense of

making space for the future within the conditions of the

present (see GA 186, GA 257). He characterizes this future

society as one that is built on a culture of compassion and

empathy that moves into action. The perception of the experience

and the suffering of the other will become so real

that we can no longer ignore it. The needs of the other will

become a fundamental fact of social life. This goes together

with a gesture of unconditional respect for the inviolable

integrity of the inner life of the other. It will become

the experience of an objective reality, that this inner life of

the soul of the other forms a space of freedom into which I

must not intrude. And on the other hand, new and deeper

ways of knowing that transcend personal perspective and

standpoint without negating these, ways of knowing that

lead to an encounter with the being and essence of the phenomena

in the world, will lead to a Whitsun-like experience

that we all ultimately live in the same shared reality and

can understand each other across all differences. These

qualities of a future civilization that can be developed in a

germinal state already now, can serve as guiding principles

for inclusive social development in an anthroposophical

sense.

The path through the night

What does all of this mean in relation to the dilemma of

reason, rationality and the autonomy of the rational individual

as founding principles of Modern civilization that

we started out with? Certainly, as Sylvia Wynter (2003; also

in Scott 2000) also emphasizes, the question is not one of

rejecting reason and going back to a pre-modern understanding

of the human being and society. Such ‹romanticism›

that longs for a past in which, however permeated

with a spiritual understanding of the human being, the

earth and the cosmos it was, the individual human being

only counted as a cell in a larger body, was also definitively

not what the Jena Romantics had in mind. Fiercely individualistic,

they were instead looking for a way to expand

the possibilities of the emancipated I to relate to the world

without giving up its emancipatory achievements.

To Novalis, this meant finding a way to re-integrate the

‹night side› of our experience into our relationship with

the world (see Wulf 2022). Modern consciousness has

come about by a contraction of our experience to its ‹day

side›: that is what instrumental rationality is. In instrumental

rationality, my consciousness is fully present in

and to the outer physical and sense-perceptible world.

This awake or ‹enlightened› state is achieved by excluding

Was bedeutet all dies in Bezug auf das Dilemma der Vernunft,

der Rationalität und der Autonomie des rationalen

Individuums als Grundprinzipien der modernen Zivilisation,

von denen wir ausgegangen sind? Sicherlich geht es,

wie auch Sylvia Wynter (2003; auch in Scott 2000) betont,

nicht darum, die Vernunft abzulehnen und zu einem vormodernen

Verständnis von Mensch und Gesellschaft zurückzukehren.

Eine solche ‹Romantik›, die sich nach einer

Vergangenheit sehnt, in der der einzelne Mensch, so sehr

er auch von einem spirituellen Verständnis des Menschen,

der Erde und des Kosmos durchdrungen war, nur als Zelle

in einem grösseren Körper zählte, war auch definitiv nicht

12 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

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das, was die Jenaer Romantiker im Sinn hatten. Dezidiert

individualistisch suchten sie stattdessen nach einem Weg,

die Beziehungsmöglichkeiten des emanzipierten Ichs zur

Welt zu erweitern, ohne seine emanzipatorischen Errungenschaften

aufzugeben.

Für Novalis bedeutete dies, einen Weg zu finden, die

‹Nachtseite› unserer Erfahrung wieder in unsere Beziehung

zur Welt zu integrieren (siehe Wulf 2022). Das moderne

Bewusstsein ist durch eine Kontraktion unserer

Erfahrung auf ihre ‹Tagseite› entstanden: Das ist es, was

instrumentelle Rationalität ausmacht. In der instrumentellen

Rationalität ist mein Bewusstsein in und für die äussere,

physische und sinnlich wahrnehmbare Welt voll präsent.

Dieser wache oder ‹aufgeklärte› Zustand wird erreicht, indem

alle Erfahrungen, die nicht durch die Sinne vermittelt

sind, und alle anderen Arten des Wissens als die rationale,

die in der Lage ist, kausale Beziehungen innerhalb der

äusseren, sinnlich wahrnehmbaren Welt zu verstehen,

ausgeschlossen werden. Das bedeutet aber auch, dass es

sich um eine Art des Erkennens handelt, die grundsätzlich

durch die Vergangenheit bedingt ist, in Form der bereits

vorhandenen äusseren Tatsachen und der Kausalketten,

die von ihnen in die Zukunft wirken. Sie ist nicht in der

Lage, die Quellen der schöpferischen Intuition, Fantasie

und des schöpferischen Handelns zu erschliessen, durch

die der Keim einer anderen Zukunft in die Welt gebracht

werden kann.

all experiences that are not mediated by the senses, and

all other ways of knowing than the rational one, which is

able to understand causal relationships within the outer,

sense-perceptible world. But this also means it is a way of

knowing that is fundamentally conditioned by the past, in

form of the outer facts that already are, and of the causal

chains that work from the past into the future. It is unable

to unlock the sources of creative intuition, imagination

and action through which the seeds of a different future

can be brought into the world.

From this point of view, it makes sense that Steiner introduces

the Point-Circle-Meditation as the central mediation

for those, whose professional task is in supportive education

and inclusive social development. The Point-Circle-Meditation

is a way of going the path through the

night, of integrating the sources of intuition, inspiration

and imagination into our daily action, in the sense of what

Novalis and Wynter are looking for. It is a meditation to

support the «Re-Enchantment of Humanism» (Wynter in

Scott 2000); the healing of the wound of Modernity and

with it perhaps also the difficult legacy of the West. A

re-enchanted humanism in Wynter’s sense builds on the

emancipatory impulses that allowed the individual human

being to be recognized in its capacity for agency and

individual action in the world. It accomplishes a deeper

emancipation by freeing that individual from the limited

verwandeln, also die Zukunft in der Gegenwart erscheinen

zu lassen, auf die Steiner in seinem Kurs über unterstützende

Erziehung (GA 317) hindeutet.

Diese Fähigkeiten beruhen auf der Entwicklung einer resonanten

Beziehung zu anderen und zur Welt, die nicht

auf Beherrschung und Kontrolle fusst. Diese resonante

Beziehung ist es, die den Raum zwischen Ich und Du öffnet,

in dem etwas Neues gegenwärtig werden kann (siehe

Rosa 2016). Sie führt von einer rein individualistischen zu

einer relationalen Sichtweise dessen, was es bedeutet, ein

Mensch zu sein; eine Sichtweise, die die Fähigkeit zur Beziehung

und zur Schaffung von Zwischenräumen als grundlegend

anerkennt, sogar grundlegender als Vernunft und

Rationalität, ohne die Nützlichkeit der beiden letzteren zu

leugnen. Dieses Verständnis, dass wir verkörperte geistige

Wesen sind, die in ihren Beziehungen zueinander, zur Erde

und zum Kosmos nach Resonanz und Handlungsfähigkeit

suchen, bildet die Grundlage für die Art von Heilpädagogik

und inklusiver sozialer Entwicklung, die wir hier gemeinsam

entwickeln können.

concept of individual agency that is inherent in an instrumental

relationship to the world: that of mastery and control

of outer circumstances. It expands the possibilities

to include moral intuition, moral imagination and moral

technique, in the sense of Steiner’s Philosophy of Freedom

(GA 4), and the possibility to transform karma, to make the

future appear in the present, that Steiner points towards in

his course on supportive education (GA 317).

These abilities are based on the development of a resonant

relationship to others and to the world, not one that

is based on domination and control. This resonant relationship

is what opens up the space between I and You,

in which something new can become present (see Rosa

2016). It leads from a purely individualistic to a relational

view of what it means to be human; one that recognizes

the ability to relate and to create in-between-spaces as

fundamental, even more fundamental than reason and

rationality, without denying the utility of the latter two.

This understanding that we are embodied spiritual beings,

looking for resonance and agency in our relationships to

each other, to the earth and to the cosmos, provides the

foundation for the kind of supportive education and inclusive

social development that we have the opportunity to

develop together here.

Unter diesem Gesichtspunkt macht es Sinn, dass Steiner

die Punkt-Kreis-Meditation als zentrale Mediation für diejenigen

einführt, deren berufliche Aufgabe in der Heilpädagogik

und der inklusiven sozialen Entwicklung liegt.

Die Punkt-Kreis-Meditation ist eine Möglichkeit, den Weg

durch die Nacht zu gehen, die Quellen der Intuition, Inspiration

und Imagination in unser tägliches Handeln zu integrieren,

im Sinne dessen, was Novalis und Wynter suchen.

Es ist eine Meditation zur Unterstützung der «Wiederverzauberung

des Humanismus» (Wynter in Scott 2000); der

Heilung der Wunde der Moderne und damit vielleicht auch

des schwierigen Erbes des Westens. Ein wiederverzauberter

Humanismus im Sinne Wynters baut auf den emanzipatorischen

Impulsen auf, die es dem einzelnen Menschen

ermöglichten, in seiner Handlungsfähigkeit und seinem

individuellen Handeln in der Welt anerkannt zu werden. Er

erreicht eine tiefere Emanzipation, indem er das Individuum

von dem begrenzten Begriff individueller Handlungsfähigkeit

befreit, das einem instrumentellen Verhältnis

zur Welt innewohnt: dem der Beherrschung und Kontrolle

über die äusseren Umstände. Stattdessen erweitert sie die

Möglichkeiten um moralische Intuition, moralische Imagination

und moralische Technik im Sinne von Steiners Philosophie

der Freiheit (GA 4) und die Möglichkeit, Karma zu

Literature | Literatur

Abraham Lincoln Presidential Library and Museum: The Gettysburg Address.

Verfügbar unter https://presidentlincoln.illinois.gov/exhibits/

online-exhibits/gettysburg-address-everett-copy/ (10.02.2025) ||| AnthroWiki:

Heinrich Marianus Deinhardt. Verfügbar unter https://anthrowiki.at/Heinrich_Marianus_Deinhardt

(13.03.2024) ||| Deinhardt, H.M.

(1861): Beiträge zur Würdigung und zum Verständnisse Schillers. Erster

Band. J. G. Cotta’scher Verlag, Stuttgart ||| Frielingsdorf V., Grimm R. &

Kaldenberg, B. (2013): Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik

und Sozialtherapie: Entwicklungslinien und Aufgabenfelder 1920-

1980. Verlag am Goetheanum & Athena Verlag, Dornach & Oberhausen.

Galton, F. (1909): Essays on Eugenics. The Eugenics Education Society,

London ||| Georgens, J.-D. & Deinhardt, H.M. (1861): Die Heilpädagogik.

Mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten.

Erster Band. Fleischer., Leipzig ||| Göschel, J. (2024): Heilpädagogik als

gestalterisches Handeln in karmischen Zusammenhängen: Wiederverkörperung

und Schicksal im Heilpädagogischen Kurs. In: J. Göschel &

R. Grimm (Hrsg.). «…ein fortwährender lebendiger Zusammenhang»:

Beiträge zu Rudolf Steiners Heilpädagogischem Kurs. S. 463-488. Verlag

am Goetheanum & wbv | ATHENA, Dornach & Oberhausen ||| Novalis

(1910): Hymnen an die Nacht. Die Christenheit oder Europa. Insel-Verlag,

Leipzig ||| Rosa, H. (2016): Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung.

Suhrkamp, Berlin ||| Schiller, F. (1795a): Ueber die ästhetische Erziehung

des Menschen in einer Reyhe von Briefen. In: Schiller F (Hg.). Die Horen.

Band 1. 1. Stück. Tübingen; 7-48 ||| Schiller, F. (1795b): Ueber die ästhetische

Erziehung des Menschen. In: Schiller F (Hg). Die Horen. Band 1, 2.

Stück. Tübingen; 51–94 ||| Schiller, F. (1795c): Die schmelzende Schönheit.

Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. In:

Schiller F (Hg). Die Horen. Band 2, 6. Stück. Tübingen; 45-124 ||| Scott,

D. (2000): The Re-Enchantment of Humanism: An Interview with Sylvia

Wynter. Small Axe 8, 119-207 ||| Steiner, R. (2021): Die Philosophie

der Freiheit (GA 4). Rudolf Steiner Verlag, Basel ||| Steiner, R. (1990): Die

soziale Grundforderung unserer Zeit. In geänderter Zeitlage (GA 186).

Vortrag vom 12.12.1918. Rudolf Steiner Verlag, Dornach ||| Steiner, R.

(2023): Zur Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft 1913-

1922 (GA 251). Vortrag vom 12. Juni 1917. Rudolf Steiner Verlag, Basel

||| Steiner R. (1989): Anthroposophische Gemeinschaftsbildung (GA 257).

Vorträge vom 27.02.1923, 28.02.1923, 03.03.1923, 04.03.1923. Rudolf

Steiner Verlag, Dornach ||| Steiner, R. (2024): Heilpädagogischer Kurs (GA

317). Rudolf Steiner Verlag, Basel ||| Stöger, C. (2017): Die Idee der Demokratie

von 1848: Studien zu Heinrich Deinhardts frühem Leben und

Werk (1821-1851). Klinkhardt, Bad Heilbrunn ||| Wulf, A. (2022): Magnificent

Rebels: The First Romantics and the Invention of the Self. Alfred A.

Knopf, New York Wynter, S. (2003): Unsettling the Coloniality of Being/

Power/Truth/Freedom: Towards the Human, After Man, Its Overrepresentation

– An Argument. The New Centennial Review, Volume 3, Number

3, 257-337 (https://doi.org/10.1353/ncr.2004.0015).

14 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

15



Darsteller und

Regisseur

Aus der Zusammenarbeit mit dem Maler Arnkjell Ruud:

Ein Versuch

von Hannes Weigert

Performer and

Director

From the collaboration with the painter Arnkjell Ruud:

An experiment

by Hannes Weigert

I.

... und dann ist da ein Bild mit einer braunen Fläche.

Das ist ein Malbrett.

Ein Malbrett?

Arnkjell Ruud malte eine Reihe von Selbstbildnissen. Er

sass vor einem grossen Spiegel, in dem sich auch die

Staffelei und das Bild zeigte. Wir sehen das Malbrett

von hinten. Auf der anderen Seite wäre das Bild, das

gerade im Entstehen ist.

Wo ist der Maler?

Den Maler haben wir weggelassen.

Hätte Arnkjell Ruud das Bild so gelassen?

Ich glaube nicht, dass er das Bild als fertig betrachtet.

Vielleicht ist es auch nicht fertig. Doch darum geht es

nicht.

Worum geht es?

Es geht darum, dass in dem Moment, wo man innehält

im Malen, etwas anwesend ist, manchmal. Man kann

etwas bemerken, was sofort vorübergeht, wenn man

weitermalen würde.

Was ist das?

Durch diese braune Fläche in dem hellen Raum entsteht

eine Offenheit und eine Präsenz, eine Geistesgegenwärtigkeit,

im Anschauen.

Sind das nun deine oder Arnkjells Bilder?

Schwierige Frage. Arnkjell hat sie gemalt. 1

I.

… and there is a painting there with a brown surface.

That is a painting board.

A painting board?

Arnkjell Ruud painted a series of self-portraits. He sat

in front of a large mirror, which also showed the easel

and the painting. We see the painting board from behind.

On the other side would be the painting that is

coming into being.

Where is the painter?

We’ve left the painter out.

Would Arnkjell Ruud have left the painting like that?

I don’t believe he felt that the painting was finished.

Perhaps it isn’t finished. But that’s not the point.

What is the point?

The point is that when you pause, in painting, something

is sometimes present. You can feel something

that would immediately vanish, if you were to continue

painting.

What is it?

This brown surface in this bright space creates an

openness and a presence – a mindfulness, when you

look at it.

Are these paintings yours or Arnkjell’s?

Difficult question. Arnkjell painted them. 1

Arnkjell Ruud in der Malerverksted 2016

Fotos: Hannes Weigert

16 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

17



Arnkjell Ruud,

geboren 1945 in Drammen (Norwegen),

lebt und arbeitet seit 1970 in Vidaråsen.

Er begann vermutlich in den 90er Jahren

zu malen. Von 2010-2018 arbeitete er

mit Hannes Weigert in der Malerverksted.

Arnkjell Ruud,

born in Drammen, Norway in 1945, has

lived and worked in Vidaråsen since

1970. He probably began painting in the

1990s. He worked in the Malerverksted

with Hannes Weigert from 2010-2018.

Hannes Weigert,

geboren 1964 in Germany, studierte und lehrte

von 1985-1995 an der Malschule am Goetheanum.

Von 2010 bis 2018 künstlerischer Leiter

der Malerverksted.

Die Arbeiten, die aus der Zusammenarbeit zwischen

den beiden Malern entstanden sind, sind

jetzt im Malerverksted Arkiv in Vidaråsen.

Hannes Weigert,

born in Stuttgart in 1964, studied and taught

at the Goetheanum Painting School from

1985-1995. From 2010 to 2018 he was Artistic

Director of the Malerverksted.

The works resulting from the collaboration

between the two painters are now in the

Malerverksted Arkiv in Vidaråsen.

II.

In Alfred Hitchcocks Film Rear Window sehen wir die Fassade

eines Hauses mit vielen Fenstern, und wir sehen

Menschen, die in den Fensteröffnungen auftauchen und

wieder verschwinden. Die Fenster sind wie kleine Bilder in

einem grossen Bild. Jahrelang lagen die Fotos aus Hitchcocks

Film auf dem Arbeitstisch in der Malerverksted. 2

Immer wieder wollte ich einen Anfang machen und mit

Arnkjell an die Arbeit gehen, immer wieder jedoch zögerte

ich. Natürlich wusste ich schon, dass Arnkjell sich in seiner

Malerei besonders für Häuser und Menschen interessiert.

Aber wie schon so oft, stellte sich die Frage, warum ich diese

Bilder überhaupt mit ihm malen will, was sie mit Arnkjell

zu tun haben und ob ich ihn nicht schlichtweg dazu missbrauche,

Bilder zu malen, die ich selbst nicht malen kann. 3

III.

In den Jahren, in denen ich mit meinen Kolleginnen und

Kollegen in der Malerverksted arbeitete, hatte ich immer

das Bedürfnis, mich selbst darüber aufzuklären, was sich

in der Zusammenarbeit zwischen uns eigentlich ereignet

und wie wir gegenseitig aufeinander wirken. Ich hatte

dabei immer das Gefühl, mit meinem Verstehen an eine

Grenze zu kommen, weil ich selbst in diese im Seelischen

sich vollziehenden Wechselwirkungen so stark hineinverwoben

war, dass ich dieses Mit- und Ineinander-verwoben-

Sein nicht anschauen, mir nicht voll zu Bewusstsein bringen

konnte. Gerade weil die Zusammenarbeit von meinen

Kolleginnen und Kollegen gar nicht unbedingt als solche

aufgefasst wurde, fühle ich eine gewisse Verpflichtung

(nicht nur mir selbst gegenüber), diese Vorgänge besser

zu verstehen. 4

II.

In Alfred Hitchcock’s film Rear Window, we see the façade

of a house with many windows, and we see people appearing

and disappearing again in the windows. The windows

are like little pictures within a larger picture. For years, the

photos from Hitchcock’s film lay on a worktable in the Malerverksted.

2 So many times, I wanted to begin working on

them with Arnkjell, but every time I hesitated. Of course, I

knew that Arnkjell, in his painting, was especially interested

in houses and people. But as so often happens, I asked

myself why I even wanted to paint these pictures with him

– what they have to do with Arnkjell and whether I’d be

taking advantage of him to paint pictures that I’m not able

to paint myself. 3

III.

In the years that I worked in the Malerverksted with my

various colleagues, I always wanted to understand what

was actually happening between us in our collaboration

and how we were affecting each other. I always felt as if my

understanding came up against a boundary, because I was

so deeply entangled in these processes of soul interaction

that I was not able to see clearly or be fully conscious of

this interwovenness. Precisely because my colleagues did

not necessarily perceive the collaboration as such, I feel a

certain obligation (not only towards myself) to better understand

these processes. 4

IV.

In every human being lives something that is not encompassed

by our self-awareness. But it is precisely this

non-consciousness that becomes active in the process of

artistic creation. Kurt Schwitters points to this when he

says that it is not he, himself who paints his paintings, but

rather someone else. 5 Georg Baselitz wants to leave the

painting process to this other being within him. He says,

«I don’t want to be there when a painting is painted by

IV.

In jedem Menschen lebt etwas, was von dem Bewusstsein

von sich selbst nicht umfasst wird. Doch gerade dieses Nicht-

Bewusste ist es, das im künstlerischen Schaffensprozess

wirksam wird. Darauf deutet Kurt Schwitters hin, wenn er

sagt, nicht er selbst male seine Bilder, sondern ein anderer.

5 Georg Baselitz wiederum möchte diesem Anderen in

sich das Malen überlassen. Er sagt: ich möchte nicht dabei

sein, wenn von mir ein Bild gemalt wird. Auch Federico Fellini

sieht nicht sich selbst als Schöpfer seiner Filme an, sondern

schreibt sie einem anderen zu: «it’s someone else, not

me, with whom I co-exist, but whom I don‘t know.» – Man

kann diesen Unbekannten, der man selbst ist, kennenlernen,

sagt Rudolf Steiner: Wir sind eine Wesenheit, in der wir

selbst darinnenstehen und bei der wir beginnen können zu

lernen, uns von ihr zu unterscheiden.

V.

Bei manchen Bildern von Arnkjell Ruud, bei deren Entstehung

ich anwesend und mitwirkend sein durfte, ist es mir,

als würde ich den anderen A. R. wahrnehmen können. Ich

frage mich, ob mein Bewusstsein von diesem anderen A.

R. für die Entstehung gerade derjenigen Bilder, die diesen

mir vor Augen führen, notwendig ist.

VI.

Im malerischen Prozess wird etwas sichtbar, durch den Maler

entsteht ein Bild. Es muss aber auch gesehen werden.

Dadurch beteiligt sich der Betrachter an der Realisierung

des Bildes. Wie aber, wenn der Betrachter schon beim Malen

des Bildes an der Seite des Malers stehen und das Sichtbarwerden

anstossen, begleiten und mitgestalten würde?

Er wäre dann nicht nur Betrachter des Bildes, auch nicht

nur Zeuge des entstehenden Bildes, sondern Mit-Schaffender

des Bildes. Die Grenze zwischen Maler und Betrachter

löste sich auf. Beide wären im Malvorgang ganz darinnen,

aber in unterschiedlicher Art: Der eine tauchte in den Malvorgang

ein, der andere erlebte diesen mehr von aussen,

wahrnehmend und dirigierend. Der Maler wäre dann ein

Darsteller und der Betrachter so etwas wie ein Regisseur.

me.» Federico Fellini doesn’t see himself as the creator

of his films, either, and ascribes them to another: «It’s

someone else, not me, with whom I co-exist, but whom I

don’t know.» Rudolf Steiner says it is possible to become

acquainted with this unknown that is ourself: We are an

entity in which we, ourselves, exist and from which we can

begin to learn to distinguish ourselves.

V.

In some of the paintings by Arnkjell Ruud, in the creation

of which I was allowed to be present and to participate,

it seems to me as if I can perceive the other A. R.

I wonder if my awareness of this other A. R. is necessary to

the creation of those very paintings that reveal him to me.

VI.

In the painting process, something becomes visible: A picture

is created via the painter. But it must also be seen.

Therefore, the observer participates in the realization of

the painting. But what if the observer were to stand by the

painter’s side while the picture is being painted and initiate,

accompany and help shape the process of its becoming

visible? Then he would be not only an observer of the

picture, and not only a witness to the picture’s creation,

but also a co-creator of the picture. The boundary between

the painter and the viewer would dissolve. Both would be

completely within the painting process, but in different

ways: The one would be immersed in the painting process;

the other would experience it more from the outside, perceiving

and directing it. The painter would then be a performer

and the observer something like a director.

18 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

19



VII.

Ein Maler tritt manchmal vor seinem Bild zurück, schaut es

von aussen an, um dann erneut ins Malen unterzutauchen.

Man stelle sich vor, der Maler könnte sich aufspalten in

einen, der malt, und einen, der zurücktritt und beim Malen

zuschaut, und beide wären doch miteinander so verbunden,

dass sie zusammenwirken könnten, ohne sich verständigen

zu müssen. Was einer von ihnen täte, dächte,

sähe und erlebte, wirkte unmittelbar auf den je anderen.

Und doch wäre jeder ganz sich selbst. Der Zuschauende

könnte empfinden: Ich habe etwas in das Bild hineingelegt,

das mir durch den, der es malt, innerlich vertraut,

aber zugleich auch fremd wird. Und der Malende könnte

empfinden: In meinem eigenen Bild tritt mir etwas gegenüber,

was durch mich so entsteht, dass ich mich selbst als

dessen Ermöglicher empfinden kann.

VIII.

In dem Zusammenwirken der beiden Maler lebt etwas

– besser wäre es zu sagen: sie leben in etwas – das ich,

wenn ich es mir zu Bewusstsein zu bringen versuche, als

ein Feld des Dazwischen erfahre. Zwischen uns. Zwischen

dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Das Zwischen ist

zugleich eine Art von Schwelle. Eine Schwelle zum anderen

hin. Zum anderen als seelisch-geistiges Wesen. Die beiden

interagieren im Bereich dieser Schwelle. Hinüber und Herüber

– aber im Richten der Aufmerksamkeit auf das Bild.

Alles zwischen ihnen spielt sich über das Bild ab. Und das

Bild wird zum Ausdruck dieses Dazwischens.

IX.

Wären wir nicht verkörperte Wesen, wir könnten uns nicht

über das Sichtbare – über das äussere Bild, mit dem wir

aber innerlich verbunden sind – begegnen. Wir könnten

nur geistig in- und aufeinander wirken; unmittelbarer vielleicht,

aber nicht sichtbar. Im Geistigen ist unmittelbare

gegenseitige Durchdringung der Wesen selbstverständlich.

Beim Malen stehen wir physisch nebeneinander im

Raum, aber wir können uns – als unsichtbar-sichtbare Wesen,

die wir sind – wechselseitig geistig durchdringen. 6

X.

Wir sind uns gegenseitig Helfer. Was wir zusammen vermögen,

befreit uns beide ein wenig von uns selbst. Er holt

aus mir etwas heraus und ich aus ihm, was sonst verborgen

bliebe. Das Rätsel des Ich tritt so offener zutage. Auch

das Rätsel der Malerei, das uns verbindet. 7

VII.

Sometimes, a painter will step back from their painting,

look at it from the outside, and then dive back into it. It is

as if the painter could split into one who paints and one

who steps back and watches the painting process, both

parts so connected with each other that they can work

together without having to communicate. Whatever the

one does, thinks, sees and experiences directly affects the

other. And yet each is completely distinct. The observer

might feel: I have incorporated something into the picture

that is inwardly familiar to me through the painter, and yet

is at the same time foreign to me. And the painter might

feel: In my own painting I am confronted with something

that is created through me in such a way that I can experience

myself as its facilitator.

VIII.

Something lives within the interaction between the two

painters – or, more accurately, they live within something

– that I experience, when I try to bring it to my awareness,

as a field of inbetween-ness. Between us; between the visible

and the invisible. This between-ness is also a kind of

threshold – a threshold to the other – the other as a soulspiritual

being. The two interact within the field of this

threshold, back and forth, when focusing their attention

on the picture. Everything that is between them happens

through the picture. And the picture becomes the expression

of this inbetween-ness.

IX.

If we weren’t embodied beings, we would not be able to

meet each other through the visible – the external picture,

with which we are also internally connected. We would

only be able to interact spiritually – more directly, perhaps,

but not visibly. In the spiritual realm, direct interpenetration

of beings is natural. When we paint, we are

physically next to each other in space, but we can – as the

invisible-visible beings that we are – also spiritually interpenetrate

each other. 6

X.

We are helpers to each other. What we are able to do together

frees each of us a little from ourselves. He gets

something out of me and I get something out of him that

would otherwise remain hidden. In this way, more of the

enigma of the I is revealed. As is the enigma of painting,

which connects us. 7

Anmerkungen

1 Hannes Weigert, Zwei Maler. Selbstgespräch in der Malerverksted, Zeitschrift

Behinderte Menschen, 6-2015.

2 Die Malerverksted (Malerwerkstatt) im Camphill Vidaråsen in Norwegen

wurde 2009 von Ruth Wood und Hannes Weigert zusammen mit Arnkjell

Ruud, Reidun Tyvold Larsen, Tor Alexander Janicki und David Blair Johansen

gegründet. Von 2010 bis 2018 war Hannes Weigert der künstlerische

Leiter des Projektes. In dieser Zeit richtete er auch ein Archiv für die Bilder

ein. Über Ausstellungen, Publikationen, Filme informiert die Webseite des

Archivs (https://vidarasen.camphill.no/arkiv/category1366.html). Man

findet dort auch einen link zu dem Film Malerverksted von Arthur Gay (65

Min., 2014) und verschiedene Texte, zum Beispiel: Jasminka Bogdanovic,

Rätsel, Zeitschrift Seelenpflege, 2013-1. Malerverksted: Rudolf Steiners

Eurythmiefiguren, Zeitschrift Seelenpflege, 2014-1. Johannes Nilo, Rätsel

der Malerei, Das Goetheanum, 48-2012. Alexander Schaumann, Malerverksted:

Album, Das Goetheanum 11-2014. Torsten Steen, Steinerstudien,

Das Goetheanum 36-2015. Hannes Weigert, Goetheanum. Bilder von

Arnkjell Ruud, Zeitschrift Seelenpflege 2015-1. Zwei Maler. Selbstgespräch

in der Malerverksted, 6-2015. Goetheanum-Vorhang, Zeitschrift Seelenpflege

Special 2016.

3 Hannes Weigert, Ich und Nicht-Ich, 2019, unveröffentlicht.

4 In einer E-Mail an Gabriele Scholtes, 7.9.2024.

5 «…es ist nämlich ein anderer, der malt, das bin nicht ich.» Brief von Kurt

Schwitters, geschrieben im norwegischen Exil am 23. Dezember 1939 an

seine Frau Helma. Siehe auch: Schwitters in Norway (Den andre Schwitters).

Film von Arthur Gay und Hannes Weigert, mit Arnkjell Ruud (2014), 5 min.

(https://www.youtube.com/watch?v=_7_D6OoFoU8)

6 Zu einem möglichen Verständnis der hier angedeuteten Wechselwirkung

siehe: Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs, 2. Vortrag (26. Juni 1924).

7 Hannes Weigert, Malen mit Arnkjell Ruud, Ensemble # 2, 2025. Zum

Rätsel des Ich siehe: Johannes Nilo, Rätsel der Malerei, Das Goetheanum

48-2012. Darin beschreibt Nilo die Malerverksted als Ich-Werkstatt. Siehe

dazu auch: Christian Egge, Wachendes Träumen, träumendes Wachen. Gespräch

mit Hannes Weigert über die Malerverksted, Ensemble # 2, 2025.

Notes

1 Hannes Weigert, Zwei Maler. Selbstgespräch in der Malerverksted, Magazine

Behinderte Menschen, 6-2015.

2 The Malerverksted (painters’ workshop) at Camphill Vidaråsen in Norway

was founded in 2009 by Ruth Wood and Hannes Weigert together

with Arnkjell Ruud, Reidun Tyvold Larsen, Tor Alexander Janicki and

David Blair Johansen. Hannes Weigert was the artistic director of the project

from 2010 to 2018. During this time, he also set up an archive for

the images. The archive’s website (https://vidarasen.camphill.no/arkiv/

category1366.html) provides information about exhibitions, publications

and films. There you will also find a link to the film Malerverksted

by Arthur Gay (65 min., 2014) and various texts, for example: Jasminka

Bogdanovic, Rätsel, Zeitschrift Seelenpflege, 2013-1. Malerverksted: Rudolf

Steiner‘s eurythmy figures, Zeitschrift Seelenpflege, 2014-1. Johannes

Nilo, Rätsel der Malerei, Das Goetheanum, 48-2012. Alexander Schaumann,

Malerverksted: Album, The Goetheanum 11-2014. Torsten Steen,

Steinerstudien, The Goetheanum 36-2015. Hannes Weigert, Goetheanum.

Pictures by Arnkjell Ruud, Zeitschrift Seelenpflege 2015-1. Zwei Maler.

Selbstgespräch in der Malerverksted, 6-2015. Goetheanum Curtain, Zeitschrift

Seelenpflege Special 2016.

3 Hannes Weigert, Ich und Nicht-Ich, 2019, unpublished.

4 In an email to Gabriele Scholtes, 7.9.2024.

5 «... because it is someone else who paints, it is not me.» Letter from Kurt

Schwitters, written in exile in Norway on December 23, 1939 to his wife

Helma. See also: Schwitters in Norway (Den andre Schwitters). Film by Arthur

Gay and Hannes Weigert, with Arnkjell Ruud (2014), 5 min. (https://

www.youtube.com/watch?v=_7_D6OoFoU8)

6 For a possible understanding of the interaction alluded to here, see:

Rudolf Steiner, Curative Education Course, 2nd lecture (June 26, 1924).

7 Hannes Weigert, Painting with Arnkjell Ruud, Ensemble # 2, 2025. On the

enigma of the ‹I› see: Johannes Nilo, Rätsel der Malerei, Das Goetheanum

48-2012, in which Nilo describes the Malerverksted as an ‹I› -workshop.

See also: Christian Egge, Wachendes Träumen, träumendes Wachen. Gespräch

mit Hannes Weigert über die Malerverksted, Ensemble # 2, 2025.

Translation from German by Tascha Babitch

20 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

21



Arnkjell Ruud

Arnkjell Ruud

Bin ich es selbst oder ein anderer?

Is it me or someone else?

Der Maler.

Es war einmal ein Maler der war mit malen fertig und er

rauchte eine Zigarette und vor ihm war ein Tisch.

The painter.

Once upon a time there was a painter who had finished

painting and he was smoking a cigarette and there was a

table in front of him.

Gesicht.

Als ich in der Malerverksted war zeigte mir Hannes ein Bild

von einem Gesicht mit einem Kreis rundherum und ich

glaube das bin ich selbst. Der Kreis ist rot und das Gesicht

ist dunkel, aber bin ich es selbst den ich malte oder ein

anderer? Vielleicht war es auch Rudolf Steiner.

Face.

When I was at the Malerverksted, Hannes showed me a picture

of a face with a circle around it and I think it's me. The

circle is red and the face is dark, but is it myself that I painted

or someone else? Perhaps it was also Rudolf Steiner.

Philip Guston nr. 1,

Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert,

Malerverksted 26.1.2011

(Malerverksted Arkiv)

Philip Guston nr. 1,

Arnkjell Ruud with Hannes Weigert,

Malerverksted 26.1.2011

(Malerverksted Arkiv)

Rudolf Steiner nr. 4,

Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert,

Malerverksted 5.1.2011

(Goetheanum Kunstsammlung)

Rudolf Steiner nr. 4,

Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert,

Malerverksted 5.1.2011

(Goetheanum Kunstsammlung)

22 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

23



Philip Guston «The Studio». Es war einmal ein Maler der

war ein Maler der hiess Philip Guston und er hatte ein Atelier

und er hatte eine Staffelei und einen Pinsel plus eine

Malplatte. Er malt ein Haus und wir sehen sein Gesicht

nicht weil es von einer Maske verdeckt ist.

Philip Guston «The Studio». Once upon a time there was a

painter and he was a painter and he was called Philip Guston

and he had a studio and he had an easel and a brush

plus a painting board. He paints a house and we can't see

his face because it's covered by a mask.

Besuch bei Philip Guston. Wir sehen einen Maler und der

Maler war ich und ich sitze in Philip Gustons Atelier und

male ein Bild von Philip Guston. Ich habe eine Staffelei und

vor der Staffelei sind zwei Malkübel und es gibt eine Glühbirne

oder Lampe. Der Tisch ist braun und die Staffelei

ist braun und der Maler bin ich. Eigentlich male ich in der

Malerverksted in Vidaråsen.

A visit to Philip Guston. We see a painter and the painter

was me and I'm sitting in Philip Guston's studio and I paint

a picture of Philip Guston. I have an easel and in front of

the easel are two paint buckets and there is a light bulb

or lamp. The table is brown and the easel is brown and

the painter is me. I actually paint at the Malerverksted in

Vidaråsen.

Der Maler. Ich habe dieses Bild vor langer Zeit gemalt

das ich Der Maler genannt habe aber eigentlich ist es ein

Selbstporträt und ich habe mich selbst gemalt. Das Gesicht

ist rosa und das ist Hautfarbe und der Malerkittel ist fast

gräulich. Die Brille ist dunkel und ich kann fast weisses

Haar und Bart sehen. Ich malte dieses Bild an meinem 70.

Geburtstag der war am 4. Februar 2015 und der Pinsel ist

dunkel.

The painter. I painted this picture a long time ago that I

called The Painter but it's actually a self-portrait and I painted

myself. The face is pink and that is skin color and the

painter's coat is almost grayish. The glasses are dark and I

can almost see white hair and beard. I painted this picture

on my 70th birthday which was on February 4, 2015 and

the brush is dark.

In Gustons Studio

Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert

Malerverksted 28.4.2015

(Malerverksted Arkiv)

In Gustons Studio

Arnkjell Ruud with Hannes Weigert

Malerverksted 28.4.2015

(Malerverksted Arkiv)

Maleren nr. 17

Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert

Malerverksted 4.2.2015

(Malerverksted Arkiv).

Maleren nr. 17

Arnkjell Ruud with Hannes Weigert

Malerverksted 4.2.2015

(Malerverksted Arkiv).

24 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

25



Der Hüter der Schwelle. Ich sehe einen Mann mit Kreuz

auf dem Kopf und das Kreuz ist schwarz während der Kopf

ein wenig grau ist. Die Schwelle wird behütet von einem

Hüter der alle behütet die über die Schwelle zur geistigen

Welt gehen. Man geht über die Schwelle wenn man stirbt

und nichts mehr auf der Erde zu tun hat. Ich habe etwas

zu tun auf der Erde und ich will damit fortfahren zu malen

und zu schreiben und mit allem anderen was ich tun kann

und wenn wir schlafen sind wir auch über die Schwelle gegangen,

aber wir kommen zurück zur Erde und unserem

eigenen Bett.

The guardian of the threshold. I see a man with a cross

on his head and the cross is black while the head is a little

gray. The threshold is guarded by a guardian who guards

all those who cross the threshold to the spiritual world.

You cross the threshold when you die and have nothing

more to do on earth. I have something to do on earth and I

want to continue with painting and writing and with everything

else I can do and when we sleep we have also crossed

the threshold but we come back to earth and our own bed.

Ein Mann und eine Frau. Ich habe eine Frau und einen

Mann gemalt. Wer die zwei Menschen sind ist nicht gut

zu erinnern. Der eine hatte einen Hut auf und der andere

hatte keinen Hut auf dem Kopf. Der mit Hut war ein Mann

während der ohne Hut eine Frau war. Vielleicht unterhalten

sie sich. Die Dame spricht zuerst und der Mann spricht

später. Die Dame sagt zu dem Mann: «Du hast wirklich einen

schönen Hut.» Da antwortete der Mann: «Vielen Dank,

freut mich zu hören. Du hast schönes Haar. Wie heisst du?»

Da antwortete die Frau: «Marylin Monroe. Wie heisst du?»

Der Mann sagte: «Clark Gable.»

A man and a woman. I have painted a woman and a man.

It’s not easy to remember who the two people are. One had

a hat on and the other had no hat on his head. The one with

a hat was a man while the one without a hat was a woman.

Perhaps they are talking. The lady speaks first and the man

speaks later. The lady says to the man, «You really have a

nice hat.» The man replies: «Thank you very much, I’m glad

to hear that. You have beautiful hair. What’s your name?»

The woman replied: «Marylin Monroe. What’s your name?»

The man said: «Clark Gable.»

Der Hüter der Schwelle nr. 8 (nach einer Skizze von Rudolf Steiner)

Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert

Malerverksted 3.12.2013

(Goetheanum Kunstsammlung)

The Guardian of the Threshold nr. 8 (after a sketch by Rudolf Steiner)

Arnkjell Ruud with Hannes Weigert

Malerverksted 3.12.2013

(Goetheanum Kunstsammlung)

The Misfits nr. 10

Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert

Malerverkstedet 23.12.2014 (Malerverksted Arkiv)

Die Bildbeschreibungen entstanden im Winter 2015/16

Konzept: H. Weigert

The Misfits nr. 10

Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert

Malerverkstedet 23.12.2014 (Malerverksted Arkiv)

The descriptions of the pictures were created in Winter 20215/16

Concept: H. Weigert

26 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

27



Diversität, Kultur

und Inklusion in

Gemeinschaften

Ein Pilotprogramm der Camphill-Academy

von Gleice da Silva

Einleitung

Diversity, Culture,

and Inclusion in

Community

A pilot course for the Camphill Academy

by Gleice da Silva

Introduction

Gleice da Silva ist eine Heilpädagogin, die gerne reist, Geschichten

erzählt, tanzt und sich mit Anthroposophie beschäftigt.

Sie arbeitete 12 Jahre an der Camphill School in

Pennsylvania und lebt und arbeitet jetzt in Camphill Communities

in Kalifornien. Nach ihrem Abschluss reiste sie

zwei Jahre lang und arbeitete als Freiwillige in Angola, Mosambik

und Indien, bevor sie zur Sheiling School Ringwood

in England kam. Gleice hat ein Diplom in Heilpädagogik von

der Camphill Academy und einen M. Ed. in Healing Education

von der Antioch University New England. Momentan

unterrichtet sie an der Camphill Academy und engagiert

sich in der Lehre und der Arbeit mit heilenden Geschichten

auf der ganzen Welt.

Gleice da Silva is a curative educator who enjoys

traveling, storytelling, dancing and anthroposophy.

She worked at the Camphill School in Pennsylvania

for 12 years and now lives and works in the Camphill

Communities in California. After graduating,

she spent two years traveling and volunteering in

Angola, Mozambique and India before joining the

Ringwood Sheiling School in England. Gleice has a

Diploma in Curative Education from Camphill Academy

and an M. Ed. in Healing Education from Antioch

University New England. She currently teaches

at Camphill Academy and is involved in teaching

and working with healing stories around the world.

Ich wuchs im Nordosten Brasiliens auf, in einem Dorf mit

etwa 50 Familien. Ich lebte mit meiner Mutter, meinem

Vater, meiner Schwester und vielen Verwandten (jeder gehörte

dort zur Familie) auf einer Zuckerrohr-Plantage. Die

meisten Väter arbeiteten auf der Plantage, während die

Mütter sich um Haus und Kinder kümmerten. Das Haus,

in dem wir wohnten, gehörte dem Plantagenbesitzer. Wir

lebten hauptsächlich von Fischfang, Jagd, Anbau und Nahrungsmitteln

aus dem Dorfladen. Die meisten Familien

hatten keine formale Bildung und meine Eltern konnten

kaum lesen und schreiben. Mit fünf Jahren kam ich in die

Schule. Dort waren alle überrascht, dass ich schon lesen

konnte, obwohl ich nie in einer Schule gewesen war. Mein

Vater las zwar nicht viel, aber er konnte mir aus der Bibel

vorlesen und so lernte ich selbst auch Lesen.

Als Kind liebte ich es zu fischen, Spielzeug aus weggeworfenen

Dosen zu basteln und auf Bäume zu klettern.

Auch Schwimmen machte mir Spass und für meinen Vater

kirchliche Theaterstücke aufzuführen. Meine Grossmutter

war die Dorfheilerin und ich schaute ihr gern dabei zu,

wenn sie Menschen mit Kräutern und Gebeten behandelte.

Ich glaube, wir haben viel gemeinsam. Trotz unserer Armut

war unser Leben unkompliziert. Das ganze Dorf passte

auf uns Kinder auf, denn es herrschte ein ausgeprägter

Gemeinschaftssinn und christliche Werte wurden gelebt.

Wir tanzten und feierten gerne. Die Hauptfeste waren Johanni

(die Maisernte, mein Lieblingsfest), Karneval und

Neujahr. Weihnachten feierten wir nie, aber Ostern, und

an Karfreitag durften wir nur Fisch essen.

Rassenzugehörigkeit war im Dorf kein Thema, obwohl

die meisten Familien helle Haut hatten und es nur einige

Schwarze gab, darunter meine Familie. Diesbezügliche

Anspielungen begegneten mir in meiner Kindheit hauptsächlich

durch die vielen Spitznamen, die mir wegen meiner

Hautfarbe und meiner Haare gegeben wurden.

Die Menschen in meinem Dorf hatten ihre Ansichten davon,

wie die Welt sein sollte und wer willkommen war. Für

die meisten von ihnen war Homosexualität inakzeptabel;

I grew up in a village with about 50 families in northeastern

Brazil. The place where I lived with my mom, dad, sister,

and many relatives (there, everybody was just family) was

a sugarcane plantation. Most fathers worked at the plantation,

while most mothers stayed home to look after the

house and children. The owner of the sugarcane plantation

owned the house I lived in. Most of our food was acquired

by fishing, hunting, planting, and buying goods from

the local shop. Most families had little to no formal education,

and my parents barely knew how to read or write.

At the age of five, I started school. Everyone in school was

surprised to find out I already knew how to read despite

not having gone to school; though my dad didn’t read

much, he could read the Bible for me, which also allowed

me to learn.

As a child, I enjoyed fishing, making toys from discarded

cans, and climbing trees; I also loved swimming and putting

on church plays for my dad. My grandmother was the

village healer, and I enjoyed watching her care for people

using herbs and prayers; I like to think we have a lot in

common. Though we were poor, life was simple. We children

were looked after by everyone. The sense of community

was strong, and the values of Christianity were also

present. We loved to dance and party. The main festivals

we celebrated were Saint John’s (the harvest of the corn

– my favorite), Carnival, and New Year’s. We never celebrated

Christmas, though we observed Easter and were only

allowed to eat fish on Good Friday.

In the village, we didn’t talk about race, but most families

were light-skinned, with a few families being black; my family

was one of them. The main aspects of race I encountered

growing up were related to the many nicknames I got,

linked to my skin color and hair.

The people in my village had their own opinions about

how the world should be run and who was welcome there.

For most of them, homosexuality was not well accepted;

everyone who smoked weed was a criminal, and people

with disabilities were called «crazy», but if you needed

wenn jemand Marihuana rauchte, war das ein Verbrechen,

und Menschen mit Behinderungen galten als «verrückt»;

aber wenn man Hilfe brauchte, waren sie immer zur Stelle,

ohne viel zu fragen. Als ich fünf Jahre alt war, besuchte

meine Familie meinen Grossvater und einen Onkel, von

dem ich vorher nie gehört hatte. Bei unserer Ankunft, noch

in der Tür stehend, erblickten wir meinen Onkel, an ein

Tischbein angebunden, in Lumpen gekleidet, neben ihm

auf dem Boden ein Teller mit Essen. Mein Vater erklärte, er

sei «verrückt» und dass es nicht sicher sei, sich in seiner

Nähe aufzuhalten. Meine Schwester und ich waren von dieser

Begegnung zutiefst betroffen.

Obwohl das Dorfleben einfach und angenehm schien,

wurde mir, als ich mein Studium an der Universität antrat,

deutlich, wie viele Vorurteile ich anderen Menschen

gegenüber hatte und umgekehrt. Zum ersten Mal erlebte

ich wirklich Rassismus, hauptsächlich dadurch, dass Menschen

meine Gegenwart an Orten in Frage stellten, wo ich

ihrer Meinung nach nicht hingehörte. Als ich eine Freundin

in einem schicken Gebäude besuchte, wurde ich gefragt,

in welchem Appartement ich arbeitete oder wem ich die

Nägel lackierte. Sie gingen davon aus, dass ich dort nicht

wohnen bzw. Freundinnen haben könnte. Für eine Schwarze

gab es nur einen Grund dort zu sein: zum Arbeiten. Es

hat Jahre und viel Arbeit gebraucht, bis ich mich als den

Menschen akzeptieren konnte, der ich bin, mit meiner Herkunft,

mit den Werten und Traditionen, die Teil von mir

sind, und dabei auch anzuerkennen, dass jeder (und ich

meine jeder einzelne) Mensch seine eigenen Werte und

Traditionen hat, die von meinen ganz verschieden sein

können.

An der Uni war es erstmal ein Aufwacherlebnis zu sehen,

dass jeder anders war, und ich musste lernen damit umzugehen.

Zwar hatte ich manche Überzeugungen mit einigen

gemeinsam, aber das galt selten in jeder Hinsicht. Wir waren

zwar im gleichen Land, sprachen die gleiche Sprache

und waren mehr oder weniger gleichaltrig, dennoch hatte

ich das Gefühl, dass ich mich immer anstrengen musste

um dazuzugehören. Um Erfolg zu haben, musste ich mich

«assimilieren».

their support, they would be there, no matter what. When

I was five, my family visited my grandfather and an uncle I

didn’t know I had. Upon arriving at the door, we witnessed

the scene of my uncle, tied to the leg of the table, wearing

rags, and with a plate of food on the floor by his side. My

dad told us he was «crazy» and wasn’t safe for other people

to be around. This event shook me and my younger

sister very much.

Though life in the village seemed simple and pleasant,

when I entered university, I realized how many preconceived

ideas I had about people, and how many they had

about me. It was in my university years that I experienced

racism for the first time. I mainly experienced it in the

form of people questioning my belonging to places they

thought I didn’t belong in. If I was visiting a friend in a fancy

building, they would ask which apartment I worked at

or whose nails I did. They always assumed I could not live

or have friends there; the only reason for a black person to

be in those buildings was because they were workers. It has

taken years of continued work to honor who I am, where I

come from, and the values and traditions I carry, while acknowledging

that everyone (I mean everyone) has their own

values and traditions that might differ hugely from mine.

In university, it was shocking to realize everyone was different,

and that I had to learn how to be with them. Though

I shared some beliefs with some of them, I rarely shared

all. Though we were in the same country, spoke the same

language, and were more or less the same age, I still felt I

really had to work in order to fit in, I had to assimilate to

that environment if I wanted to thrive.

Assimilation refers to the process by which individuals

and groups of differing cultures acquire the basic habits,

attitudes, and modes of life of an embracing culture (Merriam-Webster,

n.d.). That embracing culture was the «university

culture». It was the culture of white, upper-middle-class

students who had lived most of their lives in the

city. Because of this, my perception was that most of them

had a lot of experiences in common and I was the one who

needed to fit in.

28 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

29



Laut Duden bedeutet Assimilation die «Angleichung eines

Einzelnen oder einer Gruppe an die Eigenart einer anderen

Gruppe, eines anderen Volkes». In diesem Fall war das

die Universitätskultur: die Kultur weisser Studierender der

oberen Mittelklasse, die meist in der Grossstadt aufgewachsen

waren. Mein Eindruck war daher, dass die meisten

von ihnen viele Erfahrungen teilten und ich diejenige

war, die sich anpassen musste.

Nach Abschluss meines Biologie-Studiums wollte ich humanitär

arbeiten. Ich besuchte die USA, Angola, Mosambik

und Indien, alles kulturreiche Orte, wo es manchmal nicht

leicht war sich anzupassen. Aber ich wusste, dass mein

Aufenthalt zeitlich begrenzt war und konzentierte mich

daher eher darauf zu lernen und offen zu sein. Der Aufenthalt

in diesen Ländern war für mich lebensverändernd.

Durch die Erfahrungen und Begegnungen, die ich dort hatte,

lernte ich viel über mich und andere. In mir erwachte

eine Leidenschaft für die Geschichten anderer Menschen,

für das, was ihnen wichtig war, ihre Werte und Bräuche.

In Angola, Mosambik und Indien lernte ich schnell zuzuhören

anstatt zu reden, und Unterschiede zu respektieren,

anstatt zu urteilen. Mit Anfang 20 und frisch von der Universität

ist das eine enorme Herausforderung.

With the wish to do humanitarian work, I left university

after finishing my degree (I studied Biology). I visited the

United States, Angola, Mozambique, and India. Those places

were rich culturally and, at times, difficult to adjust

to. But I knew I was there temporarily; therefore, I focused

on learning and staying open, rather than adapting.

Living in those countries was life-changing for me. Those

experiences and encounters taught me a lot about myself

and others. They made me passionate about listening to

people’s stories, especially about what mattered most to

them, like their values and traditions. In places like Angola,

Mozambique, and India, I quickly learned to listen,

rather than talk, and to respect differences, rather than

to judge; for someone in their early 20s, fresh out of university,

with ideas of how the world should run, that was

a mighty task.

My search for knowledge and spiritual connection brought

me to anthroposophy. Because I was thirsty to learn more

about it, I traveled to England and then back to the USA,

where I lived and worked in Camphill communities that

had schools for children and young adults with disabilities.

The intersectionality of being black, a woman, a Brazilian

immigrant, and having higher education puts me in a very

small demographic pool in the USA. And that experience

of being in a minority in the USA is similar to the one I have

as being a long-time Camphill coworker (13 years in total)

and a teacher at the Camphill Academy. The Camphill

communities in the USA are often outwardly quite culturally

diverse, but the leadership groups that carry the core

impulse, including the faculty of the Camphill Academy,

are often much more homogeneous in terms of race and

ethnicity. The struggles to fit to such a leadership group

might have been the reason I began to be interested to

work with DEI (Diversity, Equity, and Inclusion). The need

to find ways to express myself and be comfortable in these

leadership spaces has led me to be more vocal about

diversity issues within my own Camphill community and

the Camphill Academy.

Due to my enthusiasm for diversity-related topics and

current world events, I was asked to create and teach a

course on issues related to diversity and inclusion to students

in the fourth year of one of the Camphill Academy

programs. My main goal for the course was to explore with

the students what a healthy, diverse community would

look like when aspects such as assumptions, traditions,

diversity, equity, culture, and inclusion are considered.

With this in mind, the following Motto of the Social Ethic

by Rudolf Steiner was used as the guiding principle for the

entire course: «A healthy social life is found when, in the

mirror of each human soul, the whole community finds its

reflection, and when, in the whole community, the virtue

of each one is living» (Steiner 1990).

Gemeinschaft aussehen würde, in der Aspekte wie Vorurteile,

Traditionen, Diversität, Chancengleichheit, Kultur

und Inklusion berücksichtigt werden. Als Richtlinie für

unsere Untersuchung diente Rudolf Steiners Motto der

Sozialethik: «Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der Menschenseele

sich bildet die ganze Gemeinschaft und in der

Gemeinschaft wirket der Einzelseele Kraft» (Steiner 1998,

S. 298).

Der Kurs: Diversität, Kultur und

Inklusion in der Gemeinschaft

Der Kurs war für Studierende im vierten Jahr eines der Camphill-Academy

Programme 1 konzipiert, die meist zu diesem

Zeitpunkt schon sehr verantwortungsvolle Aufgaben

in ihrer Gemeinschaft übernehmen. In der Gruppe waren

drei Studierende aus drei Ländern auf drei Kontinenten:

Deutschland, Südkorea und Mexiko. Der Kurs bestand aus

neun Einheiten und lief über fünf Wochen mit insgesamt

7,5 Stunden. Die Studierenden wurden über den vorliegenden

Artikel informiert und erhielten eine Kopie zur Einverständniserklärung.

Im Folgenden findet sich eine Auswahl der bearbeiteten

Themen, sowie einige der Resultate aus unserer Arbeit.

The Course – «Diversity, Culture,

and Inclusion in Community»

The course was taught to group of fourth-year students

of one of the Camphill Academy 1 programs. In the fourth

year, typically, students already hold significant community

responsibilities. The class included three students from

three different countries and three different continents:

Germany, South Korea, and Mexico. The course was given

in nine sessions over five weeks, for a total of 7.5 hours.

The students were informed of the writing of this article

and given a copy of it for approval.

Below is a selection of some of the topics we worked with

and some of the results of our work.

Lesson 1: Assumptions

To be curious about someone can be a profound way to

connect, especially in diverse communities. But in meeting

another person, we always make a number of assumptions

about them based on what they look like and where they

come from. This can be a difficult and painful terrain to

navigate.

The students were asked to write about, and discuss, different

assumptions they make about other people daily.

They worked with a number of prompting questions, including:

• What assumptions do people make about me?

• What assumptions do I make about others?

• How does it make me feel when someone

makes certain assumptions about me?

• What would I like to say to someone when

they make hurtful assumptions about me?

• How should I prevent making assumptions

about others?

Most students agreed that prior experience, upbringing,

and prejudice are the basis for our bias toward each other.

To make assumptions about others, and have assumptions

made about me, can lead to pain and separation in

communities. To have assumptions made about myself,

whether true or not, can cause a myriad of feelings, such as

anger, frustration, sadness, and disappointment.

We then asked the question: What are the best practices to

avoid making assumptions about others? Here’s some of

what was discussed:

«Check my thoughts about people when I meet them, slow

down, and breathe»; «Develop a genuine interest in the

people I meet, letting them tell me what I should know

about them»; «Develop self-awareness about my assumptions

and biases and apologize when I realize I have assumed

something about someone».

As a class, we began to awaken to the reality that cultivating

interest in each other is a far better way of connecting

Meine Suche nach Erkenntnis und Spiritualität führte mich

zur Anthroposophie. Um mehr darüber zu lernen, ging ich

1. Einheit: Vorurteile

nach England, dann zurück in die USA, um in Camphill-Einrichtungen

Neugier anderen gegenüber kann tiefere Verbindungen

zu leben und zu arbeiten, in denen es Schulen

fördern, besonders in diversen Gemeinschaften. Aller-

für Kinder und junge Erwachsene mit Unterstützungsbedarf

dings beruht jede Begegnung aufgrund des Aussehens

gab.

und Herkommens eines anderen Menschen auf einer Reihe

Als schwarze Frau und brasilianische Immigrantin mit höherem

von Vorurteilen – ein potenziell schwieriger und schmerz-

Bildungsabschluss gehörte ich in den USA zu einer

hafter Prozess.

Minderheit. Das Gleiche erlebe ich als langjährige Mitarbeiterin

Die Studierenden bekamen die Aufgabe, Beispiele solcher

(insgesamt 13 Jahre) in Camphill und Dozentin

Vorurteile, die sie täglich gegenüber anderen Menschen

an der Camphill-Academy. Nach aussen sind die Camphill-

haben, aufzuschreiben und darüber zu diskutieren. Als

Gemeinschaften in den USA oft kulturell recht vielfältig,

Anhaltspunkte dienten ihnen eine Reihe von Fragen, z. B.:

aber die Leitungsgruppen, die den Kernimpuls tragen –

• Was für Vorurteile haben andere über mich?

und dazu gehört auch die Fakultät der Camphill-Academy

• Was für Vorurteile habe ich anderen gegenüber?

– sind oft ethnisch homogener. Die Schwierigkeit, sich

• Wie ist das für mich, wenn andere bestimmte

in einer solchen Führungsgruppe dazugehörig zu fühlen,

Vorurteile mir gegenüber haben?

weckte mein Interesse an der Arbeit im DEI-Bereich: Diversity,

• Was würde ich gerne zu anderen sagen, wenn

Equity, Inclusion (Diversität, Chancengleichheit,

sie verletzende Vorurteile über mich haben?

Inklusion). Das Bedürfnis, mich zu verwirklichen und mich

• Wie kann ich Vorurteile über andere vermeiden?

in diesen Führungszusammenhängen wohlzufühlen, half

Die meisten Studierenden stimmten überein, dass unsere

mir dabei, Diversitätsfragen in meiner eigenen Camphill-

Einstellungen anderen gegenüber auf vorherigen Erfahrungen,

Gemeinschaft und in der Camphill-Academy offen zu thematisieren.

Erziehung und Voreingenommenheit beruhen.

Voreilige Annahmen, die man über andere hat oder die

Wegen meinem Interesse an Vielfalt und am aktuellen

andere über einen haben, können in Gemeinschaften zu

Zeitgeschehen wurde mir angeboten, einen Kurs über

Schmerz und Trennung führen. Vorurteile anderen gegenüber,

Diversität und Inklusion zu konzipieren und Studierende

egal ob sie zutreffen oder nicht, können eine Vielzahl

im vierten Jahr eines der Camphill-Academy Programme

von Emotionen wie Wut, Frustration, Traurigkeit und Enttäuschung

zu unterrichten. Das Hauptziel des Kurses war, mit den

hervorrufen.

Studierenden zu untersuchen, wie eine gesunde, diverse

Wir fragten uns dann: Wie kann man Vorurteile anderen

gegenüber am besten vermeiden? Hier sind einige der geäusserten

Überlegungen:

«Meine Gedanken über Menschen, denen ich begegne,

überdenken, innehalten und atmen.» «Ein echtes Interesse

an den Menschen entwickeln, denen ich begegne: es

ihnen überlassen mir mitzuteilen, was ich über sie wissen

sollte.» «Sich der eigenen Vorurteile und Vermutun-

30 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

31



gen bewusst werden und sich entschuldigen, wenn man

merkt, dass man Vorurteile einem anderen Menschen

gegenüber hat.»

Als Gruppe wurden wir uns bewusster, dass Interesse füreinander

zu pflegen eine weit bessere Voraussetzung für

Beziehungen ist als einfach Vermutungen anzustellen. In

seinen Vorträgen zu Franz von Assisi und dem Christus-

Impuls sagt Rudolf Steiner:

«Dass wir unser Interesse erweitern, dass wir die Möglichkeit

finden, uns verständnisvoll hineinzuversetzen

in die Dinge und Wesen, das ruft unsere Kräfte im Innern

auf, auch den Menschen gegenüber. Selbst das Mitleid

wird in entsprechend richtiger Weise wachgerufen, wenn

wir Interesse an einem Wesen haben. Und wenn wir als

[Anthroposoph:innen] uns die Aufgabe stellen, unser

Interesse immer mehr und mehr zu erweitern, unsern

Horizont immer grösser und grösser zu machen, dann

wird auch die allgemeine menschliche Brüderlichkeit

dadurch gehoben werden. Nicht durch Predigen von allgemeiner

Menschenliebe können wir vorwärts kommen,

sondern dadurch, dass wir unsere Interessen immer

weiter und weiter treiben, so dass wir es immer mehr

dazu bringen, uns für Seelen mit den verschiedensten

Temperamenten, mit den verschiedensten Charakteranlagen,

Rasseneigentümlichkeiten, Nationaleigentümlichkeiten,

mit den verschiedensten religiösen und philosophischen

Bekenntnissen zu interessieren und ihnen

Verständnis entgegenzubringen. Das richtige Verständnis,

das richtige Interesse ruft aus der Seele heraus die

richtige moralische Tat.» (Steiner 1994, S.112).

Steiners Aussage gilt heute in zunehmendem Mass, insbesondere

in diversitätsbasierten Zusammenhängen wie

Camphill-Gemeinschaften, der Camphill-Academy und

den Menschen und Gemeinschaften gegenüber, mit denen

die Studierenden arbeiten. Wie Steiner betont – und

das wissen die Studierenden aus eigener Erfahrung – erfordert

die Entwicklung von Interesse an anderen Menschen

Arbeit und Hingabe. Darüber sprechen, es in den Vordergrund

unseres Austausches mit anderen stellen, könnte

ein Anfang sein.

2. Einheit: Vereinbarungen

Vereinbarungen vermitteln Klarheit bezüglich erwarteter

Verhaltensweisen und Interaktionen in der Klasse. Sowohl

für Studierende als auch Lehrende schaffen sie einen sicheren

Raum für das Diskutieren von schwierigen Themen

wie Diversität. Wegen dem breiten Spektrum an Erfahrungen

und Hintergründen sind solche Vereinbarungen essenziell.

Ich wartete mit diesen Vereinbarungen bis zur zweiten

Einheit, obwohl sie eigentlich in die erste Einheit gehört

hätten. Es war mir wichtig, dass die Studierenden schon

einen Eindruck davon hatten, warum Vereinbarungen notwendig

sein könnten.

than simply assuming. In the Lectures The Spiritual Foundation

of Morality: Francis of Assisi and the Christ Impulse,

Steiner says:

«When we extend our interests, when we find opportunity

to enter with understanding into the objects and

beings of the world, our inner forces are called forth. If

we take an interest in a person, our compassion is called

forth in an appropriate manner. If we, as [anthroposophists]

set ourselves the task of increasingly extending

our interests, of increasingly widening our horizons,

this will promote the universal [fraternity] of humanity.

Progress is not made by the mere preaching of universal

love, but by the extension of our interest further and

further, so that we increasingly come to be interested

in and to understand people with widely different temperaments

and personalities, with widely different racial

and national characteristics, with widely different

religious and philosophical views. Right understanding,

right interest, calls forth from the soul the right moral

conduct.» (Steiner 1995, p. 49)

What Steiner is referring to has significant meaning for the

world today, and especially for a diverse community such

as the Camphill communities, the Camphill Academy, and

the individuals and communities that the students serve.

As Steiner points out, and the students themselves realized,

to call forth the right interest towards others requires

work and dedication. To talk about it, to place it in the

forefront of our interactions with others, might be the way

to begin.

Lesson 2: Agreements

Agreements provide clear expectations for classroom behaviors

and interactions. They can promote a safe space

for students and teachers when discussing challenging topics

like diversity. These agreements are significant given

the wide range of experience and background.

I left the social agreements to be created in the second

class. Though these agreements should have been created

in the first class, I needed the students to have an experience

of why they might be necessary.

Here are some of the agreements we came to:

• Non-judgmental listening

• Assume the other has a good intention when speaking

• Take time off if you need to

• Try to speak and listen from the heart

• Confidentiality

• Mutual respect

• If needed, ask clarifying questions

These agreements were read before each class and occasionally

re-read as needed.

Hier sind einige der Verabredungen, auf die wir uns einigten:

• Unvoreingenommenes Zuhören

• Davon ausgehen, dass Andere in guter Absicht sprechen

• Wenn nötig, eine Auszeit nehmen

• Versuchen, aus dem Herzen heraus zu sprechen und

zuzuhören

• Vertraulichkeit

• Gegenseitiger Respekt

• Wenn nötig, Verständnisfragen stellen

Diese Vereinbarungen wurden vor jeder Einheit gelesen

und bei Bedarf wiederholt.

3. Einheit: Tradition

Traditionen sind wesentliche Aspekte einer Kultur; über sie

werden gemeinsame Vorstellungen und Überzeugungen

getragen und mitgeteilt. Sie sind die äussere Umsetzung

dieser Überzeugungen. Weil es an der Camphill-Academy

so viele internationale Studierende gibt, die aktiv am Leben

ihrer Gemeinschaften teilnehmen, ist es wesentlich, dass

sie sich des Konfliktpotentials zwischen ihren eigenen und

den in der Gemeinschaft gepflegten Traditionen bewusst

werden.

Die Studierenden erhielten Fragen und die Aufgabe, über

das folgende Thema zu schreiben und es zu diskutieren:

• Was bedeutet das Wort «Tradition»?

• Warum sind Traditionen wichtig?

• Was für Traditionen trage ich selbst in mir?

• Was wären mögliche Folgen, wenn ich meine

Traditionen nicht mehr ausüben könnte?

Nachdem die Studierenden sich über ihre Traditionen ausgetauscht

hatten, sprachen sie über Fragen in Bezug auf

ihr Leben in Camphill. Hier sind einige der Fragen, die ich

ihnen stellte und die jeweiligen Antworten:

Was für Traditionen gibt es in Camphill?

• Bibel-Abende

• Christlicher Gottesdienst

• Christliche Jahresfeste

• Feste generell

• Gebete und Sprüche

• Drei gemeinsam eingenommene Mahlzeiten am Tag

• Die allgemeine Tagesstruktur

Welche Strategien benutzt ihr, für eure Arbeit in Camphill?

• «Ich feiere und teile meine eigenen Feste» («Wenn man

mir Gelegenheit gibt, meinen eigenen Raum aufgrund

meiner eigenen Inspirationen zu gestalten, fühle ich

mich wahrgenommen« und «Das Gefühl, gehört zu

werden, ermöglicht es mir, andere Traditionen zu respektieren,

auch wenn ich sie nicht zu meinen eigenen

machen kann», aber auch: «Meine eigene Kultur kann

ich nur im Haus feiern und nur auf meine eigene Initiative

hin»).

• «Über Dinge reden, die ich nicht verstehe oder über die

ich sogar anders denke.»

• «Die Traditionen anderer pflegen und respektieren,

aber innerlich an meinen Traditionen festhalten.»

Nach dieser Einheit hatte ich aufgrund einiger Kommentare,

die ich von den Studierenden gehört hatte, mehr Fragen

als Antworten: Wie lange werden diese Studierenden in

Camphill bleiben und inwiefern spielt Tradition eine Rolle

dabei, ob sie bleiben oder nicht? Ist der Traditionskonflikt

Lesson 3: Tradition

Traditions are a critical piece of our culture, the means by

which we carry and communicate our shared ideas and beliefs.

They are an outer enactment of those beliefs. Since

the Camphill Academy enrolls so many international students

who participate actively in the communities’ life, it

is essential for the students to consciously acknowledge

the potential of clashes between their own traditions and

those that live in the community.

The students were given prompting questions and asked

to write about and discuss the topic:

• What is the meaning of the word «tradition»?

• Why are traditions important?

• What are some of the traditions I carry?

• What might happen when I’m no longer able

to practice my traditions?

After the students shared their traditions, they discussed

questions related to their life at Camphill. Here are some of

the questions I posed, and the answers they gave:

What are some of Camphill’s traditions?

• Bible supper

• Christian service

• Christian festivals

• Festivals in general

• Prayers and verses

• Sitting together for three meals a day

• The general structure of the day

What are some of your strategies for continuing to work

at Camphill?

• «Celebrating and sharing my own festivals» («When

I’m given the opportunity to create my own space out

of my own inspirations, I feel seen» and «Feeling heard

gives me a possibility to respect other traditions, even

if I can’t make them my own» though «Celebrating my

own culture only happens at the house level if initiated

by me»).

• «Having conversations about things I don’t understand

or even disagree with.»

• «Practicing someone else’s traditions and respecting

them, but holding on to my traditions inwardly.»

After the class was over, and based on some of the comments

I heard from the students, I was left with more questions

than answers: how long will these students remain in

Camphill, and what role will tradition play in their staying

or leaving? Is the clash of traditions the main reason there’s

so little cultural and racial diversity among the longterm

coworkers and leadership? («The longer I stay, the

more I might have to let go of my culture …») Is there an

expiration date for assimilation: Is there a time when assimilation

becomes unbearable? How long can I partake

in someone else’s culture without being able to express

my own? In a community like Camphill, is the clash of traditions

the same for everyone? Who benefits and who is

hindered by the community’s traditions?

32 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

33



der Hauptgrund für die geringe kulturelle und ethnische

Vielfalt bei Langzeit-Mitarbeitenden und Führungskräften?

(«Je länger ich bleibe, umso mehr muss ich eventuell

auf meine eigene Kultur verzichten ...»). Gibt es so etwas

wie ein Ablaufdatum für Assimilation: wird das Anpassen

irgendwann unerträglich? Wie lange kann ich an der Kultur

anderer teilnehmen, ohne meine eigene leben zu können?

Ist in einer Gemeinschaft wie Camphill der Traditionskonflikt

für alle gleich? Wer profitiert von den Traditionen der

Gemeinschaft und wer wird von ihnen behindert?

4. Einheit: Diversität

Das Wort «Diversität» kommt aus dem Lateinischen (diversitas)

und bedeutet Verschiedenheit, Unterschied, Gegensatz,

Widerspruch. 2 Obwohl Übereinstimmung darüber

herrscht, dass Teil einer diversen Gruppe zu sein das eigene

Kreativitäts- und Empathievermögen stärken kann, ist

es nicht leicht, immer mit gegensätzlichen Ansichten konfrontiert

zu werden. Wenn Menschen aus allen möglichen

Lebensbereichen zusammenkommen, um miteinander zu

arbeiten, zu studieren und zu leben, sind sie ständig mit

Gegensätzen, Widersprüchen und Konflikten konfrontiert,

die es zu überwinden gilt.

Wir erforschten das Thema «Diversität», indem wir über

seinen Sinn, seine Vorteile und damit verbundene Herausforderungen

diskutierten. Ein in der New York Times

erschienener Artikel mit dem Titel «The Downside of Diversity»

(Die Kehrseite von Diversität, 2007) lieferte viele

relevante Aspekte für unsere Diskussion.

Eine der Hauptfragen war ganz einfach: Erlebe ich die

Gemeinschaft, in der ich lebe und arbeite, als divers (in

Bezug auf Ethnizität, Religion, Geschlecht, Fähigkeiten,

Alter)? Dieses Thema wurde schnell kontrovers, denn die

Studierenden wollten ihre Meinungen über ihre Gemeinschaft

zum Ausdruck bringen und teilen. Wir mussten uns

unsere Verabredungen in Erinnerung rufen.

Hier sind einige der Gedanken, die in die Diskussion einflossen:

• «In der Gemeinschaft scheint es eine Art ‹selektiver

Diversität› zu geben.»

• «Einige werden übernommen, andere nicht – aber wer

entscheidet das und unter welchen Kriterien?»

• «Ich stelle die Diversität in der Leitungsgruppe und

unter den betreuten Menschen in Frage.»

• «Würde sich die Gemeinschaftsstruktur ändern, wenn

wir weniger Geld hätten?»

• «Andere Feste werden nur gefeiert, wenn ich es initiiere,

und ich darf nur Feste organisieren, die als für die

Gemeinschaft ‹angemessen› gelten.»

Die Studierenden waren mit einer Spannung konfrontiert:

sie geniessen es, dass es auf einigen Ebenen in ihrer Gemeinschaft

Diversität gibt, gaben aber auch zu, dass es

schwierig ist. Es wurde ihnen klar, dass es in ihrer Gemeinschaft

Bereiche gibt, in denen Diversität hinsichtlich der

Lesson 4: Diversity

The word «diversity» comes from the Latin (diversitas),

which means contrariety, contradiction, and disagreement.

2 Though it can be acknowledged that being in a

diverse group can enhance someone’s capacity for creativity

and empathy, it is not easy to be confronted with

opposing views. Coming from all walks of life in order to

work, study, and live together, the task of transcending

contrariety, contradiction, and conflict is something to

constantly aspire to.

The theme of diversity was explored by discussing its meaning,

as well as its benefits and challenges. The New York

Times article «The downside of diversity» (2007), brought

to light a lot of relevant points for our discussion.

One of the main questions was simply: Is my feeling that

the community I work and live in is a diverse place (in terms

of race, ethnicity, religion, sex, gender, abilities, age)? This

topic became contentious quickly – the students were eager

to share and express their opinions about the community

– and we had to remind ourselves of our agreements.

Here are some of the thoughts that were shared in the discussion:

• «The community seems to have ‹selective diversity›.»

• «Some people can stay, and others are asked to leave,

but who gets to decide who stays and who leaves?

What’s the criteria?»

• «I question diversity in the leadership group and diversity

among the friends (individuals with disabilities)

that we serve.»

• «Would the fabric of the community change if we had

less money?»

• «Different festivals are only held if I hold them, and I

can only hold festivals that are considered ‹appropriate›

for the community.»

The students were faced with a tension: they loved that

there is diversity across a number of different dimensions

in their community, but acknowledged how hard it

is. They realized that their community has areas where

diversity could be improved regarding dimensions that

were important to them (such as among the leadership

and friends), and they were faced with the question how to

help the community become more diverse. They realized

how challenging it can be (especially if one wants to challenge

the everyday culture of assimilation), and wondered

what part they might play in it, since they themselves are

in positions of responsibility.

Lesson 5: Equity and Inclusion

In the disability movement, we often talk about equity and

inclusion. We talk about how for people with disabilities to

feel included, they need to be seen for who they are, with

their gifts and limitations – as caregivers, parents, and

educators, we must create ways to include them. A diverse

and inclusive environment is only possible when people

ihnen wichtigen Aspekte (z.B. Leitung, Betreute) verbessert

werden könnte. Sie fragten sich, wie sie die Gemeinschaft

dabei unterstützen könnten, diverser zu werden.

Sie erkannten, wie schwierig das sein kann (besonders

wenn man die übliche Assimilierungskultur hinterfragen

will) und fragten sich, was ihre Rolle als Verantwortungstragende

dabei sein könnte.

5. Einheit: Chancengleichheit und Inklusion

In der Behindertenbewegung wird oft von Chancengleichheit

und Inklusion gesprochen. Es wird gesagt, dass Menschen

mit Assistenzbedarf in ihrem Sosein, mit ihren Begabungen

und Einschränkungen, erkannt werden müssen,

um sich als inkludiert zu erleben. Als Betreuende, Eltern

und Erziehende müssen wir Wege der Inklusion finden. Diversität

und Inklusion sind nur möglich, wenn Menschen

das Gefühl haben, dass sie so wahrgenommen werden,

wie sie sind, und wenn sie einen sinnvollen Beitrag leisten

können. Das gilt auch für Mitarbeitende und Studierende,

die sich für das Leben in einer Gemeinschaft entscheiden.

«Menschen dabei zu haben» reicht nicht aus, um Diversität

zu kultivieren.

Wir begannen den Unterricht mit einer Diskussion über die

Bedeutung von Gleichberechtigung und Chancengleichheit

auf der Basis von Grafiken, die beide Konzepte darstellen.

Diese Einheit konzentrierte sich hauptsächlich auf das Lesen

und Besprechen des Artikels «Was sollte zuerst kommen?

Eine Untersuchung von Diversität, Chancengleichheit

und Inklusion» von Michelle Russen und Mary Dawson

(2023). Die Aktivität inspirierte die Studierenden zu einer

Diskussion über inklusions- und exklusionsgeprägte Bereiche

in ihrer Camphill-Gemeinschaft bzw. der Camphill-

Academy. Zunächst ging es um das einfache Beispiel der

Sprache. Für keine der an diesem Kurs teilnehmenden

Academy-Studierenden war Englisch die erste Sprache

und einige der Menschen mit Unterstützungsbedarf, mit

denen sie zusammenleben, sind entweder non-verbal oder

sprachlich eingeschränkt.

In diesem Zusammenhang sprachen wir über Chancengleichheit

und wie man Inklusion praktisch umsetzen

könnte. Hier sind zwei der gestellten Fragen und einige

Antworten darauf:

Welche Bereiche sind in deiner Gemeinschaft am inklusivsten?

• «Mittags-Café – hier kommt die ganze Gemeinschaft

zum Mittagessen zusammen und wir sorgen dafür,

dass alle essensbezogenen Bedürfnisse abgedeckt

sind.»

• «Befragung [der ganzen Gemeinschaft] zur Leitungsgruppe.»

• «Support-Gruppen» (wo alle ihre Meinungen und Sorgen

teilen können – «Sie müssen meine Meinung nicht

übernehmen, aber sie hören mir zu»).

• «Morgenkreis – die Gemeinschaft kommt jeden Morgen

zusammen, um Hauptaspekte des Tagesablaufes

zu besprechen und miteinander zu singen.»

• «Feste»

feel they are seen for who they are and can contribute meaningfully.

That reality is also true for the coworkers and

students who choose to live together; «having people there»

is not enough to foster diversity.

We started the class by discussing the meaning of equality

and equity through diagrams illustrating those two concepts

(see below).

The main discussion centered around reading and discussing

the article «Which should come first? Examining

diversity, equity, and inclusion» by Michelle Russen and

Mary Dawson (2023). The students’ imagination was awakened,

which laid the foundation for us to discuss environments

of inclusion and exclusion within the Camphill community

and the Camphill Academy. The main discussion

centered around the simple example of language. For all

the Academy students attending the class, English was not

their first language, and some individuals with disabilities

they live with are either non-verbal or have limited speech.

With this in mind, we explored the topic of equity and how

to implement practices that would make inclusion a reality.

Below are two of the questions we asked and some of

their responses:

What are the most inclusive activities in your community?

• «Lunch cafe – where the whole community has lunch

together, and we make sure all the diets are included.»

• «Surveying the [whole community about the] leadership

group.»

• «Support groups» (a place where anyone can share

their opinions and concerns – «They might not take my

opinions, but they will listen to me»).

• «Morning circle – the community meets every morning

to go through the main aspects of the day and sing together.»

• «Festivals. »

What are the places where we could do better at including

everyone?

• «The religious life of the community.»

• «The inclusion of friends [with disabilities] in some topics

of the conversation, especially when the topics are

more intellectual.»

• «Language, especially with non-verbal friends, coworkers,

and Academy students, as well as in places where

all are meant to share, like the Bible supper, or when

choosing which workshop to participate in.»

Equity was a challenging term for the students to understand,

and especially to understand the barriers that some

minority groups might face. Most conversations centered

around people with disabilities and what they might encounter

as barriers, even in a well-meaning, beautiful, and

thoughtful place like Camphill.

34 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

35



Wo könnten wir für alle inklusiver werden?

• «Im religiösen Leben der Gemeinschaft.»

• «Die Inklusion von Betreuten bei manchen Gesprächen,

besonders über eher intellektuelle Themen.»

• «Sprache, besonders bei non-verbalen Betreuten, bei

Mitarbeitenden und Academy-Studierenden, sowie in

Situationen, an denen alle beteiligt sein sollten, wie

beim Bibel-Abend oder bei der Wahl des Workshops,

an dem man teilnehmen will.»

Chancengleichheit ist ein Begriff, der für die Studierenden

nicht leicht zu verstehen war, besonders auch bezüglich

der Barrieren, denen sich einige Minderheitsgruppen gegenübersehen.

Bei den meisten Gesprächen ging es um

Menschen mit Unterstützungsbedarf und die Barrieren,

denen sie begegnen – selbst in auf sie abgestimmten,

schön gestalteten und fürsorgebewussten Einrichtungen

wie Camphill.

Gemeinschaftsprojekt

Diese Gespräche und die Begeisterung der Studierenden für

das Thema führten zu dem Entschluss, das vorgeschriebene

Gemeinschaftsprojekt «Realität – Gleichberechtigung

– Chancengleichheit» zu nennen und es mit der weiteren

Gemeinschaft zu teilen. Es handelte sich um ein Gruppenprojekt,

das die Kursteilnehmenden zusammen entwerfen

sollten. Dazu gehörten die Wahl eines kursspezifischen

Themas, die Wahl einer Zielgruppe (Arbeitsgruppen, die

ganze Gemeinschaft, andere Akademie-Studierende usw.)

und die Entscheidung für ein Format (Präsentation, Kleingruppengespräche,

interaktive Erfahrungen, usw.).

Die Studierenden entschieden sich dafür, mit der ganzen

Gemeinschaft über Realität, Gleichberechtigung und

Chancengleichheit zu sprechen. Sie bereiteten einen

Sketch vor, bei dem Schokoladenstücke auf einer bestimmten

Höhe von der Decke hingen. Sie forderten alle

im Kreis auf, sich etwas von der Schokolade zu nehmen

und zeigten so, dass allein aufgrund von Körpergrösse

einige an die Schokolade heranreichen konnten und andere

nicht. Um Gleichberechtigung zu erzielen, bekamen

alle eine Unterlage von gleicher Höhe, aber einige konnten

trotzdem die Schokolade noch nicht erreichen, auch nicht

mit Hilfe. Daraufhin erhielten diese Menschen eine Leiter

und andere waren aufgefordert, die Leiter zu halten. Auf

diese Weise wurde illustriert, dass Barrieren mit Kreativität

und gemeinschaftlicher Unterstützung überwunden

werden können und so alle die gleiche Chance haben, die

gewünschte Schokolade zu erreichen.

Community Project

These conversations, and the students’ enthusiasm for

the topic, led them to choose the subject of «Reality –

Equality – Equity» to share with the wider community as

part of their assigned Community Project. The Community

Project was a group project the class had to design together.

Its elements included choosing a topic covered by the

course or inspired by the course, choosing a target audience

(working groups, the entire community, other Academy

students, etc.), and choosing a format (presentation, small

group conversations, interactive experiences, etc.).

The students chose to share with the entire community

about reality, equality, and equity. In the form of a skit, the

students created a circle with chocolates hanging from the

ceiling at a certain height. They asked everyone to come up

and take a piece of chocolate, and with that, they showed

that the reality means some have access to it and some

don’t, solely based on height. Then, to establish equality,

they gave everyone the same height of support, but for

some, even with support, they could still not reach; then,

they gave those particular individuals a ladder, where

other participants were asked to hold the ladder. With that

example, they engaged everyone to show how the barriers

can be overcome with creativity and communal support to

ensure everyone has equitable access to the desired chocolate.

gen Begabungen, Vorurteilen, Traditionen usw.) wie auch

in die Bedeutung des Zusammenlebens als Gemeinschaft.

Einerseits kann es keine Gemeinschaft ohne starke Ich-

Präsenz geben, andererseits ist Gemeinschaft auch nicht

möglich, wenn man nicht bemüht ist, geschwisterlich zusammen

zu leben.

In seinem Vortrag Bruderschaft und Daseinskampf

spricht Steiner (1983) von zwei Kräften, von denen eine

auf individuelle Freiheit ausgerichtet ist und die andere

auf Zusammenleben und gegenseitige Unterstützung:

«Bruderschaft und Daseinskampf. Diejenigen von Ihnen,

welche sich nur ein wenig mit den Zielen der geisteswissenschaftlichen

Bewegung befasst haben, kennen

ja unseren ersten Grundsatz, den Kern einer auf allgemeiner

Menschenliebe gegründeten Bruderschaft zu

bilden, ohne Unterschied von Rasse, Geschlecht, Beruf,

Bekenntnis und so weiter.» (ebd., S. 179)

«Ohne Unterschied» bedeutet für Steiner allerdings nicht

vorzugeben, dass es diese individuellen Gegebenheiten

nicht gibt. In seinem Buch Wie erlangt man Erkenntnisse

der höheren Welten? schreibt er:

«Insbesondere kann leicht ein Missverständnis darüber

entstehen, wenn manche glauben, dass man sich tollkühn

machen solle, weil man furchtlos sein soll, dass

man sich vor den Unterschieden der Menschen verschliessen

soll, weil man die Standes-, Rassen- usw. Vorurteile

bekämpfen soll. Man lernt vielmehr erst richtig

erkennen, wenn man nicht mehr in Vorurteilen befangen

ist. Schon im gewöhnlichen Sinne ist es richtig, dass

mich die Furcht vor einer Erscheinung hindert, sie klar

zu beurteilen, dass mich ein Rassenvorurteil hindert, in

eines Menschen Seele zu blicken.» (Steiner 1992, S. 95)

Bei dem Versuch, Steiners Motto der Sozialethik tiefer zu

verstehen, beschrieben die Studierenden in einem Bild, wie

ein gesundes Sozialleben für sie aussehen könnte. Fragen

wie die folgenden wurden in Kürze behandelt:

• Was sind meine Tugenden?

• Wie kommen meine Tugenden in

der Gemeinschaft zur Geltung?

• Welche Tugenden der Gemeinschaft leben in mir?

Darauf folgte der Versuch, die Studierenden den Inhalt der

Einheit künstlerisch in einer Ton-Modellierübung umsetzen

zu lassen.

Lesson 6: Finding Myself in Community

Through the course – with the Motto of the Social Ethic as a

touchstone – the students walked the path of recognizing

the individual (with their unique gifts, biases, traditions,

etc.) and also recognizing the importance of living together

in community. On the one hand, there is no community

without a strong «I» presence, but there is also no

community if I don’t try to live together with others in a

fraternal way.

In his lecture Brotherhood and the Struggle for Existence,

Steiner (1995) talks about these dual forces, the one that

works in the direction of individual freedom, and the other

that brings us together to support each other:

«Brotherhood and the struggle for existence! Those of

you who have occupied yourselves even a little with

the aims of our spiritual-scientific movement know our

main principle: to create the heart, the kernel, of a brotherhood

based on all-embracing human love that transcends

race, sex, profession, religion, and so on.» (p. 1)

Yet, according to Steiner, «transcending» does not mean

pretending those aspects of the individual don’t exist. In

How to Know Higher Worlds, he says,

«Misunderstandings can easily arise if, for example, we

believe that the injunction to overcome fear means becoming

foolhardy; or that to fight against discrimination

based on social status or race means becoming blind

to the differences among people. We learn to recognize

these differences for what they are only when we are no

longer caught up in prejudice. Even in ordinary life, fear

of a thing prevents us from seeing it properly. In this

sense, racial prejudice prevents us from seeing into the

human soul.» (Steiner 1994, p. 89).

Trying to understand and penetrate the Motto of the Social

Ethic given by Steiner, the students shared a picture

of what a healthy social life would look like for them and

wrote small paragraphs about questions, such as:

• What virtues do I have?

• How are my virtues living in the community?

• What virtues of the community are living in me?

Then, in the hope of transposing the content of the lesson

into an artistic medium, I guided the students through a

clay modeling exercise.

Clay Modeling

Step 1. Make a clay sculpture representing who you are and

what virtues, challenges, traditions, and assumptions you

might carry.

Step 2. Share with the group what your sculpture represents.

Step 3. Create one sculpture out of all your individual

sculptures, one representing the community and also your

part in it.

For this last step, the students had to follow three rules:

• All three sculptures needed to be grounded;

• All three sculptures needed to connect;

• The final sculpture needed to be strong enough that

they could move it from one place to another.

The first sculptures they created were a bull’s head («represents

gentleness, needs little to survive, communityminded,

horns that represent the growing spirituality»), a

dragon («represents strength and flexibility»), and a little

being with big head and big ears («represents ample listening

space, learning to talk less, warmth, and compassion»).

The final sculpture they created (see image below) was inspiring,

prompting them to reflect again on what a healthy

social life looks like. Here is an example from one of the

students:

«A healthy social life means something interactive, alive,

mutual, and organic. To make a healthy social life, each

one’s values and needs, which are not limited to material

stuff, should be met. It also means to be heard, contribute

to things without expecting return, and equal value.»

Ton-Modellieren

Erster Schritt. Modelliere eine Tonfigur, die darstellt, wer

du bist, mit den Tugenden, Herausforderungen, Traditionen

und Vorurteilen, die du in dir trägst.

Zweiter Schritt. Sprich mit der Gruppe darüber, was deine After sharing those pictures, we read Brotherhood and

Skulptur darstellt.

the Struggle for Existence and discussed its content. While

6. Einheit: Ich in der Gemeinschaft

Dritter Schritt. Schafft aus euren individuellen Skulpturen reading the lecture, the parts in the text that the students

Im Verlauf des Kurses entwickelten die Studierenden auf

eine einzige Skulptur, die sowohl die Gemeinschaft darstellt

highlighted confirmed their experiences during the clay

Grundlage des Mottos der Sozialethik Einsichten in die Bedeutung

als auch die Rolle, die ihr individuell darin spielt. activity, moving from the picture of the individual sculp-

des einzelnen Menschen (mit seinen einzigarti-

Bei diesem letzten Schritt sollten die Studierenden sich an tures to the single sculpture of the community. Here is one

drei Regeln halten:

example:

• Die drei Skulpturen sollten auf der Erde stehen

• Die drei Skulpturen sollten miteinander verbunden

werden können

• Die endgültige Skulptur sollte transportfähig sein.

Die ersten individuellen Figuren waren ein Stierkopf («repräsentiert

Milde, braucht wenig zum Überleben, Gemein-

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schaftssinn, Hörner, die die zunehmende Spiritualität

darstellen»), ein Drachen («steht für Kraft und Beweglichkeit»),

und ein kleines Geschöpf mit grossem Kopf und

grossen Ohren («repräsentiert ausreichend Hörraum; lernen,

weniger zu sprechen; Wärme und Mitgefühl»).

Die endgültige Skulptur (siehe Bild unten) war beeindruckend

und regte die Studierenden an, noch einmal darüber

nachzudenken, wie ein gesundes soziales Leben aussieht.

Hier ist ein Beispiel:

«Ein gesundes Sozialleben ist interaktiv, lebendig, gegenseitig

und organisch. Für ein gesundes Sozialleben

müssen die Werte und Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen

(nicht nur auf materieller Ebene) berücksichtigt

werden. Es bedeutet auch, dass man gehört wird, dass

man beiträgt, ohne eine Gegengabe zu erwarten, und

Gleichwertigkeit.»

Nachdem wir uns über diese Bilder ausgetauscht hatten,

lasen wir Bruderschaft und Daseinskampf und sprachen

über den Inhalt. Die beim Lesen des Textes von den Studierenden

hervorgehobenen Stellen bestätigten, was sie

beim Modellieren erlebten, als sie von den individuellen

Skulpturen zu der Einzelskulptur der Gemeinschaft übergingen.

Hier ist ein Beispiel:

«Machen wir uns nicht fähig, unseren Mitmenschen zu

helfen, so werden wir ihnen auch schlecht helfen können.

Sehen wir nicht zu, dass alle unsere Anlagen ausgebildet

werden, so werden wir auch nur geringen Erfolg

haben, unseren Brüdern zu helfen. Um diese Anlagen

zur Entwicklung zu bringen, muss ein gewisser Egoismus

vorhanden sein, denn Initiative hängt mit Egoismus

zusammen. Wer es versteht, sich nicht führen zu lassen,

wer es versteht, nicht jedes Bild aus der Umgebung auf

sich wirken zu lassen, sondern hinabzusteigen in sein

Inneres, wo die Quellen der Kräfte sind, der wird sich

zu einem kräftigen und fähigen Menschen ausbilden

und bei ihm wird die Möglichkeit, anderen Dienste zu

leisten, viel mehr vorhanden sein als bei dem, welcher

sich allen möglichen Einflüssen seiner Umgebung fügt.

Es liegt nahe, dass dieses Prinzip, das für den Menschen

notwendig ist, ins Radikale ausgearbeitet werden kann.

Nur dann aber wird dieses Prinzip die richtigen Früchte

tragen, wenn es gepaart ist mit dem Prinzip der Bruderliebe.»

(Steiner 1983, S. 191)

Bei der Aufgabe, eine einzige Skulptur zu schaffen, beobachtete

ich, wie die Studierenden ihre eigenen Werke

anschauten und entschieden, welche Teile davon am

wichtigsten waren. Eine Studierende hatte den «Sockel»,

d.h. ihre ganze Skulptur wurde benutzt; die anderen brachen

ihre Figuren in kleinere Teile, die es in die endgültige

Skulptur einzugliedern galt. So gestalteten sie eine Form,

wobei sie an unterschiedlichen Eigenschaften arbeiten

mussten, um sicherzustellen, dass sie so robust war, dass

sie transportiert werden konnte. Das bedeutete, dass sie

«If we do not make ourselves capable of helping our fellow

human being, we shall be poor helpers. If we do not

see to it that all our talents are developed, we shall be

poor helpers… In order to develop these talents, a certain

egoism is necessary, because egoism is connected

with initiative. The person who understands how not to

be led, how not to be influenced by everything in his surroundings,

but who descends into his own inner being,

where the sources of strength are to be found, will develop

into a strong and able person, and in them there will

be a greater ability to serve others than in the ones who

conform to all kinds of influences that come from their

surroundings. Obviously, this principle, which is necessary

for human beings, can be developed to an extreme.

But this principle will bear the proper fruits only when it

is combined with that of fraternity.» (Steiner 1905, p. 8)

When the students were asked to create one single sculpture,

I observed them looking at their sculptures and deciding

what parts of them were most important. One of

the students had the «base» of the sculpture, so her whole

sculpture was used; all the other students broke their

sculpture into smaller pieces to fit the whole. With that,

they made a sculpture and had to work on different qualities

to ensure it was strong enough to move. That included

using someone’s leftovers to support the base. One rule

was not met, which was the one in which everyone needed

to be grounded.

I asked the students if it was difficult to give something up

for the sake of the whole. Some of them mentioned that

certain parts were easy to give up because they felt there

was a similar quality as theirs already represented by their

classmates.

We also talked about how, even though the exercise might

give us an imagination of what could/should happen in a

society that lives the principles of fraternity, in actual life

it is a challenging task to give up oneself for the wellbeing

of the whole. To be «molded» by the community could

be a long process that might lead to pain and suffering.

Individuals need to have a voice in the matter, especially

when the traditions of the place are so different from the

ones they grew up in. As represented in the clay activity,

certain people might be okay with sacrificing the arms of

their sculpture, or bend and twist a little this way and that

way. However, some might be asked to give up 90% of their

sculpture for the sake of the community’s wellbeing, and

that might be okay for a while until it isn’t. Unlike the path

of assimilation, working with the principles of diversity

and inclusion is not a one-way street.

Reste der Einzelfiguren benutzen mussten, um den Sockel

zu festigen. Eine Regel war unbeachtet geblieben: dass

jede Figur auf der Erde stehen sollte.

Ich fragte die Studierenden, ob es schwierig für sie war,

etwas um des Ganzen willen zu opfern. Einige sagten, dass

es ihnen bei Teilen leicht fiel, bei denen sie das Gefühl hatten,

dass eine ähnliche Qualität schon von anderen dargestellt

worden war.

Wir sprachen auch davon, dass die Übung uns zwar ein

Bild davon vermittelte, was in einer Gesellschaft geschehen

könnte oder sollte, die nach den Prinzipien der Geschwisterlichkeit

lebt, dass es aber im wirklichen Leben

eine Herausforderung ist, sich selbst für das Wohl des

Ganzen aufzugeben. Von der Gemeinschaft «geformt» zu

werden, könnte ein langer, zu Schmerz und Leid führender

Prozess sein. Einzelne müssen eine Stimme haben, besonders

wenn die örtlichen Traditionen so ganz anders sind

als diejenigen, mit denen man selbst aufgewachsen ist. Die

Arbeit mit dem Ton zeigte, dass es manchen Menschen

nichts ausmacht, die Arme ihrer Figur zu opfern oder sie

in diese oder jene Richtung zu biegen und zu drehen. Allerdings

wird von manchen verlangt, die 90 Prozent ihrer

Skulptur für das Wohl der Gemeinschaft aufzugeben. Auch

das mag für eine Weile gutgehen, aber irgendwann kommt

der Punkt, wo es nicht mehr in Ordnung ist. Im Gegensatz

zur Assimilation sind die Prozesse, die auf Diversität und

Inklusion aufbauen, keine Einbahnstrasse.

Foto: Gleice da Silva

38 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

39



Nach dem Kurs

Blitzlichter

Eines der Hauptziele des Kurses war es, Räume der Sicherheit

und Unterstützung zu schaffen, in denen die Studierenden

sich über Themen aus dem Bereich Diversität,

Chancengleichheit und Inklusion austauschen konnten.

Ihr Engagement und ihre Begeisterung während der Gespräche

und ihre Rückmeldungen lassen darauf schliessen,

dass dieses Ziel erreicht wurde. Die Studierenden

hatten sinnvolle Erlebnisse. Unsere unterschiedlichen

Hintergründe erlaubten uns ein tieferes Eintauchen in die

Problematik; und die sichere Umgebung, die wir hergestellt

hatten (auch mithilfe der Vereinbarungen) ermöglichte

den Studierenden, ehrlich miteinander zu sein. Da

sie schon verantwortungsvolle Aufgaben in ihren jeweiligen

Gemeinschaften hatten, konnten sie durch den Kurs

anders auf ihre Betreuten und auf die Gemeinschaft als

Ganzes schauen.

Ein weiterer positiver Aspekt war die Tatsache, dass ich

selbst innerhalb von Camphill einer ethnisch-kulturellen

Minderheit angehöre und direkte Erfahrungen mit DEIorientierten

Themen habe; auch, dass ich die Studierenden

anleiten konnte, aus ihren eigenen Lebenserfahrungen heraus

zu sprechen, anstatt ihnen Vorträge anzubieten, die

vielleicht weniger sinnvoll für sie gewesen wären.

Andere Höhepunkte waren u.a.:

• mit einer Mischung von Steiner-Texten und Mainstream-Artikeln

zu arbeiten

• mit einer kleinen Gruppe zu arbeiten

• das Ton-Modellieren

• das Gemeinschaftsprojekt.

Herausforderungen

Die Herausforderungen, die ich bei dem Kurs erlebte, hatten

hauptsächlich mit meinen eigenen Zweifeln und Ängsten

zu tun. Ein derart kontroverses Thema einzuführen,

war eine Herausforderung. Ich fürchtete, dass manche

Leute denken könnten, dass der Kurs uns als Gemeinschaft

nur noch mehr spalten würde (ein Missverständnis,

dem ich begegnete und das ich bereit bin zu hinterfragen)

oder dass ich mit dem Kurs nur meine eigenen Interessen

als Person of Colour verfolgte.

Sicherheit in meiner Methodik war notwendig, um den

Studierenden die Relevanz dieser Themen nahezubringen.

Ich entschied mich für Probleme, die gerade für diese

Studierenden und diese Gemeinschaft relevant waren. Die

gleichen Ängste, die ich beim Unterrichten des Kurses hatte,

habe ich jetzt wieder beim Schreiben dieses Artikels.

Sich mit Diversität zu beschäftigen und die in uns allen verborgen

liegenden Unterdrückungsmechanismen freizulegen

ist ein schmerzlicher, aber notwendiger Schritt – insbesondere,

wenn wir gerne predigen, dass die Würde jedes

Some impressions after teaching

the course

Highlights

One of the main goals of this course was to create safe,

held spaces where the students could discuss DEI-related

topics. Based on their level of engagement, enthusiasm

during the conversations, and positive feedback, this goal

seemed to be met. The students had meaningful experiences.

Being from different backgrounds allowed us all to

dig deeper into those issues, and the safe environment we

created (including through the creation of agreements)

allowed the students to be honest with each other. Since

the students already had significant roles in their community,

the course allowed them to look differently at the

people they were serving and at the community at large.

Another positive aspect of the course was the fact that I

am a person who belongs to a racial and cultural minority

group within Camphill, having direct experiences of DEIrelated

topics, and could guide them to talk out of their experiences

in life instead of creating lectures that perhaps

wouldn’t be so meaningful to them.

Other highlights included:

• Working with reading material that was a mix of Steiner

and mainstream articles

• Working with a small group

• The clay activity

• The community project assignment.

Challenges

The main challenges I encountered during this course

were mainly related to my own doubts and fears. It was

challenging to introduce such a contentious topic. I was

anxious that people might think the classes would only

divide us as a community even further (a misconception

I’ve encountered and am willing to challenge) or would feel

that I was just serving my own agenda as a person of color.

To feel secure in my methodology was a significant barrier

to overcome, but a necessary one, so that the students

could experience the relevance of these topics. – I chose

the issues that would be the most relevant for these particular

students and this particular community. The same

fears I had while teaching the course, I have now while writing

this article. Learning about diversity topics and getting

to know the systems of oppression that are so well

disguised in all of us, is a painful, yet necessary step to take

– especially if we preach that everyone should be treated

with dignity. These topics must be alive in our thinking

and feeling before we can will them, which is the hardest

part. To effect change, we need to repeatedly exercise these

muscles of compassion and interest.

Menschen respektiert werden sollte. Diese Dinge müssen

in unserem Denken und Fühlen leben, bevor sie unseren

Willen ergreifen können, und das ist der schwierigste Teil.

Um Wandel herbeizuführen, müssen wir uns in Mitgefühl

und Interesse üben.

Nach dem Ende des Kurses fragte ich die Studierenden, ob

das vierte Studienjahr ihrer Meinung nach die beste Zeit für

diesen Kurs ist. Ihre Antworten bestätigten wieder meine

Intuition, dass es wichtig ist, diesen Themen Raum zu geben,

besonders in unseren Programmen zur Erwachsenenbildung.

Die Studierenden sagten:

• «Ich denke, es wäre gut, im ersten oder zweiten Jahr

anzufangen, denn das Wissen und das Bewusstsein

von Diversität und Kulturen sind schon am Anfang des

Gemeinschaftslebens wichtig.»

• «Meiner Meinung nach sollten diese Themen früher

eingeführt werden, denn dann könnten wir über mehrere

Jahre daran arbeiten. Diese Themen liegen mir

sehr am Herzen und ich wünschte, ich hätte schon früher

im Studium Gelegenheit gehabt, mehr darüber zu

lernen.»

• «Ich finde, dieser Kurs könnte auch in den ersten Jahren

der Academy sinnvoll sein, damit die Studierenden

von Anfang an Offenheit entwickeln können und wir in

unseren Häusern und in der Gemeinschaft persönliche

Projekte durchführen können.»

Einige Herausforderungen:

• Wegen der Kürze des Kurses wurden viele Themen

entweder übersehen oder nicht angesprochen, und

einige Gespräche musste wegen Zeitmangel eingeschränkt

werden;

• Mehr künstlerische Aktivitäten wie das Ton-Modellieren

hätten den Studierenden ermöglicht, sich auf

unterschiedliche Weise mit den Themen auseinanderzusetzen;

• Das Gemeinschaftsprojekt hätte mehr Führung und

Rückmeldungen gebraucht. Dieses Projekt war ein

wesentlicher Teil des Kurses, und ich hätte den Studierenden

genauere Richtlinien und mehr Unterstützung

geben sollen. Sie mussten die Initiative ergreifen und

das, was für sie an dem Kurs am relevantesten war,

mit der weiteren Gemeinschaft teilen. Dazu kam, dass

die Präsentation ein langer Prozess war, der sich über

mehrere Wochen hinzog, weil die Studierenden nicht

genug Zeit hatten bzw. der Zeitplan der Gemeinschaft

keine schnellere Abwicklung zuliess.

After teaching this course, I asked the students if they felt

this course was well placed in the fourth year of the program,

and their response once more confirmed my intuition

that finding places to discuss these topics is essential,

especially in the adult education programs we have. The

students said:

• «I think starting in the first or second year would be

nice, since the knowledge and awareness of diversity

and cultures are already needed from the early years

of community life.»

• «I feel that these topics should be brought to us earlier,

which would allow for us to work on them over the

course of several years. These topics are very dear to

me, and I wish that I had more opportunities earlier in

my studies to deepen my knowledge.»

• «I think this course can also be good in the first years

of the Academy, so students get an open idea from the

beginning, and we can fully develop personal projects

in our homes and community.»

Some other challenges included:

• Because the course was concise, many topics were

either overlooked or not addressed, and some conversations

had to be cut short for lack of time.

• More artistic activities like clay modeling would have

helped the students to have different experiences

with the topics discussed.

• The community project needed more guidance and

feedback. This project was an essential part of the

course, and I should have given the students more explicit

guidelines and assistance. The students needed

to take the initiative and share with the broader community

what was most relevant to them in the course.

In addition, the process of presenting was long and

dragged on for several weeks because of students’

time constraints or conflicts with the community’s

schedule.

40 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

41



Abschliessende Gedanken

In meinem Heimatdorf waren wir stolz darauf, dass wir uns

umeinander kümmerten. Meine Grossmutter verlangte nie

Bezahlung für ihre Dienste als Heilerin. Die Menschen kamen

zu ihr und ich habe nie erlebt, dass sie Hilfesuchende

abgewiesen hätte. Wenn meine Mutter irgendwo einen

Termin hatte, konnte sie sich immer darauf verlassen,

dass sich jemand um meine Schwester und mich kümmerte.

Neben der Arbeit auf der Zuckerrohr-Plantage baute

mein Vater Maniok an und machte Mehl daraus, das er oft

mit den Nachbarn teilte.

Unser Leben war einfach und wir waren arm, aber wir

konnten gut damit umgehen, weil wir uns aufeinander verlassen

konnten. Ich hatte ein harmonisches Bild von unserem

Dorfleben und vertraute darauf dass «egal, was ist,

wir füreinander da sind». Erst später, als ich nach längerer

Abwesenheit wieder in mein Dorf zurückkehrte, wurde mir

klar, dass Menschen, die anders waren als die meisten,

sich entweder versteckten oder das Dorf verliessen, weil

sie nicht respektiert wurden (Homosexuelle, Prostituierte,

Arbeitslose, Menschen mit Behinderungen, usw.). Ich war

überzeugt gewesen, dass es Ausgrenzung bei uns nicht

gab. Als Erwachsene sehnte ich mich dann danach, Menschen

dabei zu helfen wahrgenommen zu werden – ich

selbst eingeschlossen. Dieser Wunsch führte mich dazu,

mit Menschen mit Unterstützungsbedarf, Obdachlosen,

Gefängnisinsassen, in der Erwachsenenbildung usw. zu

arbeiten und so einen Unterschied zu machen. Den DEI-

Kurs anzubieten war ein weiterer Versuch, die Schranken

zu durchbrechen, die uns immer wieder davon abhalten,

dass wir uns gegenseitig mit Wertschätzung und Würde

begegnen. Der vorliegende Artikel ist ein weiterer Schritt

in diese Richtung. Ich hoffe, dass er gelesen wird und dass

andere ihn beim Schaffen inklusiver Räume hilfreich finden.

Aus dem Englischen übersetzt von Margot M. Saar

Anmerkungen

1 https://camphill.edu/study-inclusive-social-development/

2 de.langenscheid.com (Zugang: 26.11.2024)

Concluding reflections

In the village where I lived, we proudly cared for one another.

Being the village healer, my grandmother never charged

for her services. She always had people coming to see

her, and I never saw her turn down anyone who needed

help. Whenever my mother had an appointment, she could

always count on someone to look after me and my sister.

Besides working on the sugarcane plantation, my father

grew yucca and produced yucca flour, and he would often

share it with neighbors.

Though life was simple and poor, we always made it work

because we could count on each other. I grew up with a

harmonious image of village life, believing, «No matter

your issues, we will be there for each other.» It wasn’t until

later, when I had already moved away from the village and

later went back to it, that I realized how people who didn’t

fit in with most of us were either in hiding or shamed into

leaving (gays, prostitutes, idles, people with disabilities,

etc.). I had always thought we wouldn’t leave anyone behind.

Then I grew up, and since then, I longed to find ways

of helping people feel seen, including myself. This wish

has led me to transformational (personal) work with people

with disabilities, unhoused, inmates, adult education,

and so on. Teaching a class on DEI-related topics was another

attempt to break the barriers that insist on keeping

us from seeing each other’s value and dignity. And writing

this article is yet another step in that direction. I hope people

will read it and find it useful in their own journeys of

creating inclusive spaces.

Notes

1 https://camphill.edu/study-inclusive-social-development/

2 de.langenscheid.com (accessed on: 26.11.2024)

References

Jonas, M. (2007): The downside of diversity. The New York Times article,

https://www.nytimes.com/2007/08/05/world/americas/05iht-diversity.1.6986248.html

Accessed 17 Feabruary. 2024 ||| Russen, M., and

Dawson, M. (2023): Which should come first? Examining diversity, equity

and inclusion ||| Steiner, R. (1994): How to Know Higher Worlds (GA 10).

Anthroposophic Press, Hudson, NY. ||| Steiner, R. (1995). The Spiritual

Foundation of Morality: Francis of Assisi and the Christ impulse (GA

155). Anthroposophic Press, Hudson, NY. ||| Steiner, R. (1980): Brotherhood

and the Struggle for Existence (GA 54). Mercury Press, Spring Valley,

NY. ||| Steiner, R. (1990): Rudolf Steiner/Edith Maryon: Briefwechsel,

1912-1924 (GA 263/1). Rudolf Steiner Verlag, Dornach.

42 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

43



Geh dorthin,

wo du gefeiert wirst,

nicht dorthin,

wo du geduldet wirst!

Go where you are celebrated,

not where you are tolerated!

Die Geschichte der anthroposophischen

The history of anthroposophical cu-

Die Assoziation für anthroposophische Heilpädagogik und The Association for Anthroposophic Curative Education

Sozialtherapie (ACEST) in unserem Land hat sich der Herkulesaufgabe

and Social Therapy (ACEST) in our country has taken up

Heilpädagogik und inklusiven rative education and inclusive social

einer Zukunftsgestaltung gestellt, die auf the Herculean task of shaping a future aimed at bridging

die Überbrückung der riesigen Kluft der sozialen Isolation the huge gap of social isolation and creating a socially inclusive

world for people in need of assistance.

sozialen Entwicklung in Indien development in India

abzielt und eine sozial inklusive Welt für Menschen mit Assistenzbedarf

Zusammengestellt vom Team Avapanam

Compiled by Team Avapanam

zu schaffen.

Vor drei Jahrzehnten kam der sozialtherapeutisch-heilpädagogische

Impuls nach Indien, und sein Wachstum wurde

vor allem durch drei Bildungswege angeregt: Der eine war

der Camphill-Impuls, der zweite war das von der Medizinischen

Sektion am Goetheanum organisierte IPMT und in

den letzten Jahren der IRA-Waldorfpädagogik-Grundkurs.

Der Impuls für die Camphill-Bewegung wurde vor rund 30

Jahren von einigen Freunden in Bangalore in Zusammenarbeit

mit Mitgliedern von Camphill Copake (USA) auf dem

Three decades ago, the socio-therapeutic-curative impulse

came to India and its growth was mainly stimulated

by three educational paths: one was the Camphill impulse,

the second was the IPMT organized by the Medical Section

at the Goetheanum and in recent years, the IRA Waldorf

Education Foundation Course.

44 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

45



fruchtbaren Boden Südindiens initiiert. Die als Tagesstätte

konzipierte Einrichtung, welche Menschen mit Entwicklungsbedarf

eine Berufsausbildung und neue Perspektiven

bietet, hat in der Folgezeit an Schwung gewonnen und stellt

heute eine ernstzunehmende Grösse dar. Das ursprüngliche

Ziel bestand in der Schaffung von Beschäftigungs- und

Erwerbstätigkeitsmöglichkeiten für Menschen mit Assistenzbedarf.

Aus diesen bescheidenen Anfängen heraus

manifestierte sich der Wunsch, eine Wohneinrichtung zu

etablieren, in der ein sinnvolles und zielgerichtetes Leben

geführt werden kann, ein Leben, in dem die Bewohnerinnen

und Bewohner Wertschätzung erfahren. Im Jahr 1999

wurde die Initiative Friends of Camphill India eingeweiht.

Die Gemeinschaft in Bangalore initiierte in Kooperation

mit Mitgliedern der Camphill-Organisation Copake sowie

weiteren Lehrkräften, die in Schottland, Irland, den Niederlanden

und Deutschland auf dem Gebiet der Heilpädagogik

und inklusiven sozialen Entwicklung tätig waren,

die Durchführung eines dreijährigen Grundkurses. Eine

Vielzahl an Fachleuten sowie konventionellen pädagogischen

Fachkräften absolvierte eine Ausbildung auf diesem

neuen anthroposophischen Weg. Die etwa 50 Auszubildenden

gründeten im Anschluss eigene Initiativen oder

waren in anderen Einrichtungen tätig, wobei sie die anthroposophischen

Werte in ihre Arbeit integrierten.

In Südindien wuchs die Arbeit exponentiell durch die Menschen,

die in Friends of Camphill India ausgebildet wurden.

Für Ausbildende, die durch die Teilnahme am IPMT und an

den IRA-Kursmodulen ein vertieftes Verständnis der Anthroposophie

anstrebten, wurden zusätzliche Lesekurse und

Studiengruppen angeboten. In den letzten Jahren wurden

von Avapanam und einer Gruppe von Ausbildenden Kurse

in einer regionalen Sprache, Tamil, durchgeführt.

Indische Spiritualität und das anthroposophische

Menschenverständnis

The impetus for the Camphill movement was initiated

around 30 years ago by some friends in Bangalore in collaboration

with members of Camphill Copake (USA) on the

fertile soil of South India. Conceived as a day care center

offering vocational training and new perspectives to people

with developmental needs, the institution has gained

momentum and is now a force to be reckoned with. The

original aim was to create employment and gainful employment

opportunities for people with assistance needs.

From these modest beginnings, the desire to establish a

residential facility in which a meaningful and purposeful

life could be led, a life in which the residents were valued,

manifested itself. In 1999, the Friends of Camphill India

initiative was inaugurated.

The community in Bangalore initiated a three-year basic

course in cooperation with members of the Camphill Organization

Copake and other teachers who were active

in the field of curative education and inclusive social development

in Scotland, Ireland, the Netherlands and Germany.

A large number of professionals and conventional

educational specialists completed training on this new

anthroposophical path. The 50 or so trainees went on to

set up their own initiatives or worked in other institutions,

integrating anthroposophical values into their work.

In South India, the work grew exponentially through the

people who were trained in Friends of Camphill India. Additional

reading courses and study groups were offered

for trainees who sought a deeper understanding of anthroposophy

through participation in the IPMT and IRA

course modules. In recent years, courses in a regional language,

Tamil, have been conducted by Avapanam and a

group of trainers.

Indian spirituality and the anthroposophical

understanding of the

human being

vollzogen werden. Das Programm bietet Kindern die Möglichkeit,

die Natur zu erforschen, eins mit ihr zu werden,

spirituelle Erfahrungen zu machen und Lehrende zu haben,

die einen grossen Einfluss auf ihre Entwicklung haben.

Indien ist in der ganzen Welt für seinen enormen landwirtschaftlichen

Reichtum bekannt, und die indischen Traditionen,

die tief in den Jahreszeiten und Festen verwurzelt

sind, werden überall auf der Welt sehr geschätzt. Die Bewegung

der Heilpädagogik und inklusiven sozialen Entwicklung

hat die Anschaung der Anthroposophie auf wunderbare

Weise integriert und sie an die Bedürfnisse des Landes

und der regionalen Standorte in Indien angepasst.

Die anthroposophische Heilpädagogik und inklusive soziale

Entwicklung hat nicht nur dazu beigetragen, dass die

biografischen Herausforderungen akzeptiert werden, sondern

auch zu einem tieferen Verständnis des persönlichen

Schicksals, des individuellen Selbst und der eigenen Lebensentscheidungen

geführt. Das Konzept eröffnet Möglichkeiten,

mit verschiedenen Aspekten des menschlichen

Daseins zu arbeiten, darunter Ernährung, Natur, Körper

und den Sinnen. Ein weiterer Fokus liegt auf der Veränderung

und Anpassung der Umgebung, anstatt eine Veränderung

des Kindes anzustreben. Den Lehrkräften werden

Instrumente an die Hand gegeben, die ihnen ein Verständnis

dafür vermitteln, dass die Arbeit an der eigenen Person

von essenzieller Bedeutung ist, um ein förderliches Umfeld

für den Unterricht und die Beziehungen zu den Lernenden

zu gestalten. So konnten Initiativen im Bereich der Heilpädagogik

und der inklusiven sozialen Entwicklung in ganz

Indien etabliert werden. Dabei wurde darauf geachtet,

dass die Grundsätze der Heilpädagogik sowie der inklusiven

sozialen Entwicklung im Allgemeinen und der Anthroposophie

im Speziellen gewahrt bleiben. Obgleich die

Auswirkungen unserer Tätigkeit nicht immer unmittelbar

evident sind, sind sie doch stets vorhanden und manifestieren

sich auf subtile Weise und in kleinen Schritten. Jeder

kleine Tropfen macht einen Ozean!

become one with it, have spiritual experiences and have

teachers who have a great influence on their development.

India is known throughout the world for its enormous agricultural

wealth and Indian traditions, deeply rooted in

the seasons and festivals, are highly valued all over the

world. The curative education and inclusive social development

movement has beautifully integrated the anthroposophical

approach and adapted it to the needs of the

country and regional locations in India.

Anthroposophical curative education and inclusive social

development has not only helped in accepting the biographical

challenges but has also led to a deeper understanding

of personal destiny, individual self and one’s life

choices. The concept opens up opportunities to work with

different aspects of human existence, including nutrition,

nature, the body and the senses. Another focus is on

changing and adapting the environment rather than trying

to change the child. Teachers are given tools to understand

that working on the self is essential to creating a supportive

environment for teaching and relationships with learners.

As a result, initiatives in the field of special education and

inclusive social development have been established across

India. Care has been taken to ensure that the principles

of curative education and inclusive social development in

general and anthroposophy in particular are upheld. Although

the effects of our work are not always immediately

evident, they are always present and manifest themselves

in subtle ways and in small steps. Every little drop makes

an ocean!

Public perception

The results of our work are largely perceived and appreciated

positively by the public. People are often impressed

by various aspects of our work. These include, for example,

the reverence for the child, the relationships with each

other, the provision of meaningful employment for adults

with assistance needs, the way the rooms are cared for

and other factors. The public appreciates the methods we

use, as they can see the results of our work immediately.

Outsiders sometimes ask what measures are taken to

achieve the peace of mind described above when working

with people with assistance needs. Parents are our most

important advocates and occasionally also our critics, as

they take the time to understand the way we work. There

is also an interest on the part of the health sector and state

supervisory authorities in learning about our methods,

as we work transparently. We warmly welcome them. The

public can understand and empathize with the love in the

relationships between teachers and children and in the

relational partnership between professionals and adults

with assistance needs, which creates a sense of well-being

in the community.

Der indischen Bevölkerung sind die Konzepte von Reinkarnation

und Karma nicht fremd. Unabhängig davon, woher The Indian people are no strangers to the concepts of reincarnation

Die Wahrnehmung in der

and karma. Regardless of where we come from,

wir kommen, haben wir ein tiefes Verständnis von Menschlichkeit

und Spiritualität und schätzen das Geschenk des we have a deep understanding of humanity and spirituality

Öffentlichkeit

Lebens. Dieses Verständnis führte zur raschen Verbreitung

and appreciate the gift of life. This understanding led

Die Ergebnisse unserer Arbeit werden in der Öffentlichkeit

von ACEST, da die Menschen die Ähnlichkeiten zwischen

to the rapid spread of ACEST as people recognized the

überwiegend positiv wahrgenommen und geschätzt. Die

den traditionellen indischen Philosophien und Wer-

similarities between traditional Indian philosophies and

Menschen sind oft beeindruckt von verschiedenen Aspek-

ten und den Anschauungen von Rudolf Steiner erkannten. values and the views of Rudolf Steiner.

ten unserer Arbeit. Dazu zählen beispielsweise die Ehrfurcht

So wie die indische Philosophie von Selbstverwirklichung Just as Indian philosophy speaks of self-realization and

vor dem Kind, die Beziehungen untereinander, die Bereitstellung

und dem Verständnis der eigenen wahren Natur spricht, understanding one’s true nature, anthroposophy aims to

einer sinnvollen Beschäftigung für Erwachsene mit

zielt auch die Anthroposophie darauf ab, eine Brücke zwischen

build a bridge between the spiritual and material worlds.

Assistenzbedarf, die Art und Weise der Raumpflege und

der geistigen und der materiellen Welt zu schlagen. Both traditions emphasize the integration of body, soul

weitere Faktoren. Die Bevölkerung honoriert die von uns an-

Beide Traditionen betonen die Integration von Körper, Seele

and spirit. India also has the ancient Gurukul school sysgewandten

Methoden, da sie die Resultate unserer Tätigkeit

und Geist. In Indien gibt es auch das uralte Schulsystem tem, which provides a holistic education for children, and

unmittelbar wahrnehmen kann. Mitunter wird von Aussen-

der Gurukul, das eine ganzheitliche Bildung für Kinder bietet

the path of ACEST can be followed in a similar way. The

stehenden die Frage gestellt, welche Massnahmen ergriffen

und der Weg von ACEST kann in ähnlicher Weise nach- program offers children the opportunity to explore nature,

werden, um den beschriebenen Frieden in der Arbeit mit

Menschen mit Assistenzbedarf zu erreichen. Dabei sind die

Eltern unsere wichtigsten Fürsprecher und gelegentlich auch

unsere Kritiker, da sie sich die Zeit nehmen, unsere Arbeitsweise

zu verstehen. Auch seitens des Gesundheitssektors

und der staatlichen Aufsichtsbehörden besteht ein Interesse

daran, unsere Methoden kennenzulernen, da wir transparent

arbeiten. Wir heissen sie herzlich willkommen. Die

46 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

47



Öffentlichkeit kann die Liebe in den Beziehungen zwischen

Lehrenden und Kindern sowie in der Beziehungspartnerschaft

der Fachkräfte zu Erwachsenen mit Assistenzbedarf,

welche ein Gefühl des Wohlbefindens in der Gemeinschaft

schafft, nachvollziehen und nachempfinden.

Gleichwohl wird unser Konzept mitunter nicht in seiner

Ganzheit erfasst, sodass wir uns in der Verantwortung sehen,

unsere Arbeit noch aktiver zu kommunizieren und

mehr Menschen dafür zu begeistern, damit unsere Initiativen

auch in Zukunft Bestand haben können.

Herausforderungen

Die Arbeit in Indien ist vor allem in zweierlei Hinsicht eine

Herausforderung: Einerseits gilt es, Ausbildungsmöglichkeiten

zu schaffen, andererseits müssen Arbeitskräfte

gewonnen werden. Die Arbeit im Bereich der Arbeit mit

Menschen mit Assistenzbedarf wird nicht als lukrativer Beruf

angesehen, weshalb eine Aufwertung des Sektors auf

allen Ebenen erforderlich ist. Es gilt, die Zufriedenheit mit

der Entlohnung zu steigern, die Möglichkeiten zur Verbesserung

der beruflichen Qualifikationen zu optimieren und

alle in diesem Gebiet Beteiligten aufzuwerten.

Bislang wurde lediglich der Grundkurs in Englisch angeboten,

welcher seitens der indischen Regierung keine Anerkennung

erfährt. Zudem sind die aus diesem Kurs resultierenden

Zertifikate für die Arbeitssuche von geringem

Wert. Aufgrund der geographischen und sprachlichen

Grösse des Landes steht die Schaffung einer einheitlichen

Berufsausbildung vor einer besonderen Herausforderung.

Wie in anderen Ländern weltweit sind auch unsere Organisationen

mit Personalproblemen konfrontiert. Aus den

dargelegten Gründen halten wir es für erforderlich, die

Ausbildung auch in den lokalen Sprachen anzubieten.

Das im Jahr 2018 etablierte Indian Forum for Inclusive Social

Development (Avapanam) hat bereits eine Reihe von

Programmen erfolgreich implementiert, die den zuvor genannten

Anforderungen entsprechen. In den vergangenen

fünf Jahren haben wir jährlich viertägige Klausuren durchgeführt,

welche ein ausgewogenes Verhältnis zwischen

Vorträgen, Workshops und Möglichkeiten zum Austausch

und zur Netzwerkbildung für alle Teilnehmenden bieten.

Avapanam hat gerade eine Reise begonnen und die höchste

Priorität liegt in der Schaffung von Ausbildungsmöglichkeiten

auf regionaler Ebene, die auch auf die nationale

Ebene ausgeweitet werden sollen.

Challenges

Working in India is a challenge in two main ways: on the

one hand, it is important to create training opportunities

and, on the other, to recruit workers. Working with people

in need of assistance is not seen as a lucrative profession,

which is why the sector needs to be upgraded at all levels.

There is a need to increase satisfaction with pay, optimize

opportunities to improve professional qualifications and

enhance the value of all those involved in the field.

So far, only the basic course in English has been offered,

which is not recognized by the Indian government. In addition,

the certificates resulting from this course are of

little value when looking for work. Due to the geographical

and linguistic size of the country, the creation of standardized

vocational training is a particular challenge.

As in other countries around the world, our organizations

are also faced with staffing problems. For the reasons outlined

above, we believe it is necessary to offer training in

local languages as well.

The Indian Forum for Inclusive Social Development (Avapanam),

which was established in 2018, has already successfully

implemented a number of programs that meet

the aforementioned requirements. Over the past five

years, we have held annual four-day retreats that offer a

balance of lectures, workshops and opportunities for exchange

and networking for all participants.

Avapanam has just started a journey, and the top priority

is to create training opportunities at regional level to be

extended to national level.

Ioana Viscrianu, Johannes Kronenberg, Ruth Fiona Roever

Zusammenleben

wollen

Ein Porträt von drei sozialtherapeutischen Gemeinschaften:

Lebenswirklichkeit, Entwicklungsfragen und Aspekte

der Teilhabe

Verlag am Goetheanum & Athena Verlag 2024

Rezension: Gabriele Scholtes

Die von einem Forschungsteam der Jugendsektion am Goetheanum

herausgegebene Publikation widmet sich dem

Konzept des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Dabei

fokussiert sie sich auf die komplexe Thematik der Gemeinschaftsbildung,

die insbesondere vor dem Hintergrund der

UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen

(UN-BRK) eine hochaktuelle Debatte darstellt. Die

Perspektive der UN-BRK betont die anthropologische Konstitution

des Individualismus sowie die Relevanz persönlicher

Entfaltung und betrachtet das Leben in Gemeinschaften

potenziell als Bedrohung für die Maximen der Selbstbestimmung,

Partizipation und Inklusion. In diesem Kontext

werden drei verschiedene Lebensgemeinschaften

vorgestellt und ihre Praktiken im

Alltags- und Arbeitsleben beleuchtet. Es sei

an dieser Stelle darauf verwiesen, dass die

Studie sich bewusst gegen eine Bewertung

ausspricht, inwiefern die gesetzlichen Anforderungen

an Inklusion erfüllt sind oder

sein sollten, da der Fokus vielmehr auf den

Gemeinschaften selbst liegt.

Im Rahmen der Untersuchung besuchte das

Forschungsteam die Gemeinschaften für

mehrere Tage. Die Besuche wurden als Gelegenheit

genutzt, die Gemeinschaften als

soziale «Laboratorien» bzw. «Experimente»

zu betrachten, in denen neue Formen des

sozialen Zusammenlebens erforscht und

erprobt werden. Während dieser Zeit führten

die Forschenden Interviews mit Bewohnerinnen

und Bewohnern sowohl mit als

auch ohne Assistenzbedarf und organisierten themenbezogene

Diskussionsrunden. Ein wesentliches Element der

Forschungsmethode war die teilnehmende Beobachtung.

Ein gemeinsames Merkmal der untersuchten Gemeinschaften

ist das Zusammenleben von Menschen mit und ohne

Assistenzbedarf in familienähnlichen Wohngruppen oder

sogenannten Wahlfamilien. Dies wirft die Frage auf, ob eine

mögliche Überbetonung von Nähe und Zugehörigkeit die

Lebensrealitäten der Beteiligten beeinflusst, indem es die

partizipative Gestaltung und die Übernahme von Verantwortung

möglicherweise in den Hintergrund drängt.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Befragten bewusst für diese

Art des Zusammenlebens optieren. Zugleich sind sie

Ioana Viscrianu, Johannes Kronenberg, Ruth Fiona Roever

Choosing to Live

Together

A portrait of three social-therapeutic communities:

The realities of life, development issues, and questions

of participation

Currently only available in German

Review: Gabriele Scholtes

This book, published by a research team from the Youth

Section of the Goetheanum, is dedicated to the idea of

community living. It focuses on the complex subject of

community-building – a highly topical debate, particularly

in light of the UN Convention on the Rights of Persons with

Disabilities (UN-CRPD). The UN-CRPD perspective emphasizes

the anthropological foundation of individualism,

as well as the importance of personal development, and

sees community life as a potential threat to the principles

of self-realization, participation and integration. In this

context, the authors introduce three different life-sharing

communities and explore their practices in daily home

and work life. It should be noted that the

study deliberately refrains from assessing

the extent to which the legal requirements

for integration are or should be met, as the

focus is rather on the communities themselves.

The research team visited each community

for several days. These visits were

an opportunity to observe the communities

as ‹laboratories› or ‹experiments›,

in which new forms of social communal

life are explored and practiced. During

the visits, the researchers conducted interviews

with community members both

with and without disabilities, and organized

topic-based discussion groups.

Participatory observation was an essential

part of the research method. A common

feature of the three communities is

that people with and without disabilities live together

in «expanded family» households. This prompted the

question of whether a possible overemphasis on proximity

and belonging affects everyday life for members

of the community by possibly pushing participatory organization

and individual responsibility into the background.

48 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

49



sich der Chancen und Risiken, die Nähe und Zugehörigkeit

mit sich bringen, bewusst und zeigen sich offen für die notwendigen

Reflexionsprozesse, einschliesslich der Berücksichtigung

externer Perspektiven.

Dieses Buch kann als äusserst lesenswert empfohlen werden,

da es nicht nur faszinierende Einblicke in das Leben

innerhalb dieser Gemeinschaften gewährt, sondern auch

dazu anregt, die aktuellen Paradigmen der sozialen Arbeit

aus einer erweiterten Perspektive heraus zu hinterfragen.

Annette Pichler

Kreis und Punkt

Eine kritische Analyse zum Heilpädagogischen

Kurs Rudolf Steiners

Info3 Verlag 2024

Rezension: Udi Levy

Das vorliegende Buch setzt sich von einem erfahrenen und

fachlich fundierten Standpunkt aus mit dem Heilpädagogischen

Kurs Rudolf Steiners auseinander. Es ist eine zum

Teil kritische, aber auch selbstreflektierende Haltung, aus

der heraus geschrieben wurde. Eine seltene, mutige und

hochaktuelle Erscheinung im Genre der sogenannten anthroposophischen

Sekundärliteratur. Im Sinne des gegenwärtigen

Trends der Inklusion im sozialen Fachbereich

legt die Autorin das Dilemma dar, nach dem es nicht länger

üblich ist, über Menschen zu sprechen und deren Aktionen

in Frage zu stellen, wenn diese nicht anwesend sind. Doch

jene Personen, die in diesem Steinerschen Kurs beschrieben

wurden und agierten, sind längst gestorben. Sie hinterfragt

aus heutiger Sicht den Weg von der Diagnose zur

Therapie – ein Weg, der wegen seiner zum Teil spirituellen

Orientierung Fragen und Überlegungen hervorruft, die im

Jahre 1924 und in Anwesenheit Rudolf Steiners nicht gestellt

wurden. So schreibt sie zu einem Thema, das weiter

noch besprochen wird, sie könne diese «Situation nicht

unbesprochen lassen, weil Anthroposophie meines Erachtens

nicht einfach unhinterfragt tradiert werden sollte,

sondern mit heutigen Diskursen und Paradigmen aktiv in

Dialog treten muss, um zeitgemäss und sinnvoll wirken zu

können und ihr volles Potential zu entfalten» (S. 87).

Hundert Jahre nach Rudolf Steiners Heilpädagogischem

Kurs bestehen über 750 Einrichtungen der anthroposophisch

gesinnten Heilpädagogik und inklusiven sozialen

The results show that those interviewed consciously

choose this form of communal living. They are aware of

both the opportunities and risks that proximity and belonging

can bring with them, and are open to necessary

reflection on their processes, including consideration of

external perspectives.

I highly recommend this book, as it not only provides fascinating

insights into life within these communities, but

also encourages us to question the current paradigms of

social work from a broader perspective.

Translation from German by Tascha Babitch

Annette Pichler

Point and Periphery

A critical analysis of Rudolf Steiner’s

Curative Education Course

Currently only available in German

Review: Udi Levy

This book explores Rudolf Steiner’s Curative Education

Course from a place of experience and well-founded

knowledge of the subject. It is written with a sometimes

critical, other times self-reflective eye. It is a rare, courageous,

and highly topical addition to the genre known as

anthroposophic secondary literature. In the spirit of the

current trend toward inclusion in the social professions,

the author points to the dilemma that arises because it is

now considered problematic to discuss people and question

their actions if those people are not present, but the

people described in this Steiner course have long since

died. She questions the path in it from diagnosis to therapy

from today’s perspective – a path that, because of its partly

spiritual orientation, raises questions and considerations

that were not asked in 1924 and in Rudolf Steiner’s presence.

On a topic that will be further discussed, she writes

that she cannot «leave this situation unaddressed, because

in my opinion anthroposophy should not simply be handed

down unquestioned, but must enter into active dialogue

with current debates and paradigms in order to be relevant

and meaningful and to develop its full potential».

A hundred years after Rudolf Steiner’s Curative Education

Course, there are over 750 anthroposophy-based and -inspired

establishments for curative education and inclusive

social development in sixty countries – an expansion worthy

of a separate article. The twelve lectures in the Course

Entwicklung in 60 Ländern – eine Expansion, die einer gesonderten

Ausführung würdig wäre. Jene zwölf Vorträge

haben einen Impuls ausgelöst, der für Abertausende von

Menschen mit Assistenzbedarf zu einer Lebensgrundlage

geworden ist und für Tausende von Menschen eine Aufgabe,

die sie zeitweise oder berufslebenslang ausüben. Noch

vor der eigentlichen Besprechung des vorliegenden Buches

sei deshalb die Frage gestellt, in welchem Mass die Inhalte

dieses Vortragszyklus’ in den diversen Institutionen

weltweit bewusst gepflegt und umgesetzt werden. Und es

muss, wenn man ehrlich hinschaut, festgestellt werden,

dass dies oft nur sehr spärlich und bescheiden der Fall ist.

Es ist dies das Resultat eines vielschichtigen Prozesses.

Anthroposophische Berufsausbildungen

in diesem Fach sind zum Erlangen

und Erhalten der amtlichen Betriebsbewilligungen

und zur Erfüllung amtlicher

Vorschriften gezwungen, weitgehende

Anpassungen der Lehrpläne vorzunehmen.

Dabei wird der Umfang anthroposophisch

relevanter Inhalte zwangsläufig

reduziert. Der Heilpädagogische

Kurs ist anthroposophischer «Hardcore»

und schon die Grundlagen zu dessen

Entzifferung können zeitlich kaum

noch gelegt werden. Und bei denen, die

diesen Kurs als eine Art Deus ex Machina

behandeln, mangelt es oft an der Fähigkeit,

seine Inhalte mit der immensen

Welt der forscherischen und praktischen

Entwicklung in den letzten 100 Jahren

auf diesem Feld zu konfrontieren. Selbst

an manchen heilpädagogischen und sozialpädagogischen

Ausbildungsstätten,

die sich um die Vermittlung der anthroposophischen

Grundlagen bemühen, ist dieser Text in der

Gegenwart nicht länger Pflichtliteratur. Folglich ist auch

die Beschäftigung mit dessen Inhalten in den Institutionen

sehr oft kaum noch wahrnehmbar.

Ein erster Versuch ...

Das Punkt-und-Kreis-Modell und die mit dem gleichen Namen

bezeichnete Meditation sind Kernpunkt dieses Kurses.

Es ist eine minimalistische Reduktion mancher zentralen

Motive der Anthroposophie und deren Menschenkunde, der

anthroposophischen Auffassung von Mensch und Welt, von

Inkarnation, Exkarnation und Reinkarnation. Vom menschlichen

Ich und seinen Hüllen. Von der materiellen Welt und

deren Übergängen zu einer Transzendenz. Dieser Vortragszyklus

enthält eine Zusammenfassung dieses Motivs, das in

anderer Form und anderen Zusammenhängen an zahlreichen

Stellen in Steiners Werk angesprochen wird.

Die vorliegende Publikation wagt sich an das Entmystifizieren

dieses Motivs. Damit wird dieser Steiner-Text, der wegen

seiner zum Teil esoterischen Inhalte heute oft als praxisfern

betrachtet wird, von einem verschlüsselten Rätsel

zu einer Quelle der fachlichen Inspiration – womit er wieder

an Aktualität und vor allem ebenso an Attraktivität gewinnt.

Es ist Annette Pichlers Verdienst, den Versuch zu unternehmen,

mit modernem, zeitgenössischem Fach-Werkzeug

sich an die Analyse dieses Kodex heranzutasten, kri-

50 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

51

have sparked an impulse that has become the foundation

of daily life for many thousands of people with disabilities

and a temporary or lifelong vocation for thousands of

others. Even before discussing this book, we might therefore

ask to what extent the contents of this lecture cycle

are consciously cultivated and implemented in the various

establishments worldwide. And the reality is that this is

often done only to a limited and modest degree – the result

of a multi-faceted situation. Anthroposophic professional

training courses in this field are forced to make extensive

modifications to their curricula in order to obtain and

maintain official operating licenses and to comply with

official regulations. This necessitates reducing the scope

of relevant anthroposophic content. The

Curative Education Course is «hardcore»

anthroposophy, and there is hardly even

time to lay the foundations for deciphering

it. And those who treat the Course

as a kind of deus ex machina often lack

the ability to contextualize and confront

its content with the immense world of

research and practical developments in

this field over the last hundred years.

Even at some curative education and social

therapy training centers that strive

to teach anthroposophic principles, this

text is no longer required reading. As a

result, engagement with its content is

very often largely absent in these institutions.

A first attempt…

The point-and-periphery model and the

meditation of the same name are at the

center of this course. It is a minimalistic reduction of several

central motifs in anthroposophy and its study of spiritual

science and the anthroposophic understanding of

human beings and the world; of incarnation, excarnation

and reincarnation, of the human I and its layers, and of the

material world and its paths to transcendence. The lecture

cycle contains a synthesis of this motif, which Steiner discusses

in numerous places in other forms and contexts.

This book ventures to demystify this motif. As a result, this

Steiner lecture cycle, which is often considered impractical

today due to its partially esoteric nature, transforms

from an enigmatic mystery to a source of professional inspiration

– gaining both topical relevance and appeal.

It is to Annette Pichler’s credit that she has attempted to

use contemporary professional tools to approach an analysis

of this cycle, to ask critical questions and to build a

bridge for people who want to engage with this cornerstone

of anthroposophic social work today, so that they

can also enter into the spiritual dimensions of the text. In

curative education and inclusive social work worldwide, we



tische Fragen zu stellen und für Menschen, die heutzutage

sich mit diesem Grundstein anthroposophischer sozialer

Arbeit befassen wollen, eine Brücke zu bauen, um in die

auch geistigen Dimensionen dieses Textes einsteigen zu

können. In der weltweiten heilpädagogischen und inklusiven

sozialen Arbeit ist zwar von «Seelenpflege» die Rede.

Paradoxerweise wurde aber jahrzehntelang eher zu wenig

die Entwicklung der psychologischen Forschung und Praxis

in diesen Kreisen berücksichtigt. Für Kenner des Textes

taucht im Hintergrund schnell der abschätzige Steinersche

Satz «Psychoanalyse ist Dilettantismus im Quadrat» (Steiner

2024, S. 88) auf. Pichler ist Psychologin. Ihr Umgang mit den

Inhalten des Kurses (und auch ihrer Leserschaft) ist geprägt

von einem Gesprächston, der dieses Fachbuch nahezu in

einen Dialog verwandelt. Sie scheut sich nicht, mit heutiger

Optik darin beschriebene Behandlungsmethoden infrage

zu stellen – mit Fragen, auf die jahrzehntelang allzu oft

die Antwort kam: «Das hast du noch nicht verstanden, was

Rudolf Steiner damit wirklich gemeint hat, du musst noch

weitere Schritte in deiner spirituellen Entwicklung gehen.»

Psychologische Modelle widersprechen nicht a priori der

spirituellen Menschenkunde. Letztere aber, wenn sie nicht

bewusst durchdrungen, sondern nur modellhaft versucht

wird, sie umzusetzen, hat ein noch grösseres Potenzial,

methodische Fehler und damit Schäden – auch im karmischen

Sinne – zu verursachen, beim zu betreuenden Klienten

wie bei der Fachperson. Pichler bewegt sich frei in diesem

Spannungsfeld und zeigt eine radikale Ehrlichkeit und

Selbstreflexion. Nicht nur frei, sondern auch befreiend:

«Meines Erachtens wäre es also ein schwerwiegender Fehler,

davon auszugehen, dass Steiner aufgrund eines unfehlbar

beschrittenen ‹Schulungsweges› auf jeden Fall immer

die Wirklichkeit erfasst haben müsse» (S. 93). Über

ihren Versuch, an einem konkreten Beispiel Steiners Beziehungsgestaltung,

Diagnose und Therapie zu analysieren,

räumt sie ein, es sei ihr «sehr bewusst, dass dieser Versuch

notwendigerweise unvollkommen bleiben muss und dass

mein Eindruck auch falsch sein kann» (S. 95).

Im Unterschied zu anderen Vortragszyklen waren beim

Heilpädagogischen Kurs nicht hunderte, sondern nur 21

Menschen, Fachleute und Vertraute Steiners, anwesend.

Steiners Vorgehensweise war folglich sehr pragmatisch

und konkret. Die Inhalte stehen weitgehend in einem direkten

Bezug zu jenen Kindern, die von ihm vorgestellt wurden

und die alle Anwesenden bereits kannten oder während des

Kurses kennenlernten – und damit zu den Phänomenen, die

an diesen Kindern sichtbar wurden und auf die er aufmerksam

machen wollte. Das Problem, welche Passagen sich

auf spezifische Kindeskonstitutionen beziehen und wie adäquat

es ist, diese als allgemeine Konstitutionsvarianten zu

verstehen, ist an sich bereits eine Punkt-und-Kreis-Frage.

Insofern ist auch der Inhalt des Kurses per se ein Punkt-und-

Kreis Phänomen – und damit ist bereits die Relevanz einer

analytischen Auseinandersetzung gegeben.

talk about «caring for the psyche [or soul]». Paradoxically,

however, for decades too little attention has been paid in

these circles to the continued development of psychological

research and practice. Those familiar with the Course

will recall Steiner’s disparaging comment, «Psychoanalysis

is dilettantism squared» (Steiner 2024, p. 88). Pichler is a

psychologist. Her approach to the content of the course

(and to her readers) is characterized by a conversational

tone that almost transforms this text into a dialogue. She

does not shy away from questioning the treatment methods

described in it from today’s perspective – with questions

to which, for decades, the answer has all too often

been: «You still haven’t understood what Rudolf Steiner

really meant by that – you need to take further steps in

your spiritual development.» Psychological methods do

not inherently contradict spiritual science and anthroposophy.

This latter, however, if not understood on a deep

level but only attempted to be implemented as a model,

has an even greater potential of causing methodological

errors and therefore damage – including in a karmic

sense – to clients and professionals alike. Pichler moves

freely within this charged space and demonstrates radical

honesty and self-reflection – not only freely, but also in a

way that liberates her readers: «In my opinion, therefore,

it would be a serious mistake to assume that Steiner must

always have grasped the complete truth due to an infallible

‹path of initiation›». In her attempt to analyze Steiner’s

approach to relationships, diagnosis and therapy using a

concrete example, she admits that she is «very aware that

this attempt must necessarily remain imperfect and that

my impression may also be wrong.»

In contrast to other lecture cycles, the Curative Education

Course was not attended by hundreds of people, but only

by 21 people – specialists and close colleagues of Steiner.

For this reason, his approach was very pragmatic and

concrete. Most of the content is directly related to the

children that he presented, all of whom his audience either

already knew or had become familiar with during the

course, and to the phenomena the children exhibited to

which he wanted to draw attention. The problem of which

passages relate to specific children’s constitutions and to

what extent it is appropriate to understand them as general

constitutional variants is already a point-and-periphery

question. Therefore, the content of the course is also

a point-and-periphery phenomena per se – and this inherently

establishes the relevance of an analytical discussion.

This book is a first attempt not only to juxtapose universal

approaches and concrete biographical situations, but also

to critically examine concrete, specific recommendations

by Steiner in the light of current standards, without fundamentally

questioning meditative engagement with the

point-and-periphery idea and its potential for stabilizing

the life of the psyche/soul.

Das vorliegende Buch ist ein erster Versuch, nicht nur universale

Herangehensweisen und konkrete biografische

Situationen aufeinander zu projizieren, sondern zudem

konkrete, spezifische Empfehlungen Steiners nach gegenwärtigen

Massstäben kritisch zu untersuchen, ohne dabei

die auch – meditative Beschäftigung – mit der Punkt-Kreis-

Idee und deren Potenzial als Mittel zur Stabilisierung des

Seelenlebens grundsätzlich infrage zu stellen.

... der Bahn bricht

Pichler berichtet vielmehr über ihre eigenen Erfahrungen

im kontemplativen und meditativen Umgang mit dem

Punkt-und-Kreis-Motiv:

«Wenn ich mir […] Steiners Bild einer Metamorphose

von Kopf und Gliedmassen über das jetzige Leben hinaus

vorstelle, verlasse ich diesen mir bereits bekannten

Wahrnehmungsbereich. Es entsteht eine Bewegung, die

weit über das hinausgeht, was ich noch mit meinem jetzigen

Wahrnehmungsvermögen erfassen kann.» (S. 46).

Damit wird ihr Buch auch zu einer Einführung in den Heilpädagogischen

Kurs und deutet darauf hin, dass dieser

einerseits eine Erweiterung der Steinerschen Menschenkunde

darstellt, und andererseits viele der zunächst persönlichen

und personengebundenen Hinweise Steiners,

bei der von ihr vorgeschlagenen Lesart, nach genauer Prüfung

und individueller Analyse sehr wohl eine universelle,

allgemeinmenschliche Bedeutung haben.

Einen Schwerpunkt des Buches bildet die Auseinandersetzung

mit der Behandlung des hydrocephalen Kindes Willfried

und der Beziehung Steiners zu dessen Mutter Theodora

Kunert, die ihm das Kind anvertraute. 1 Steiner stellte

bei der Mutter ein «abnormes Seelenleben» (Steiner 2024, S.

349) fest, dem zufolge das Kind auch nach der Geburt sein

Embryo-Dasein beibehielt. Er empfahl das sofortige Abstillen,

später sogar die räumliche Abtrennung von der Mutter,

sowie die Pflege in einem dunklen, abgeschotteten

Raum und, abgesehen von medikamentöser Behandlung,

in beziehungsfreier Atmosphäre. 2

Pichler setzt sich nun mit Steiners Art der – damals noch

nicht so bezeichneten – familiären Systembehandlung der

Mutter und des Kindes auseinander. Sie hinterfragt die Gesprächsführung

Steiners mit der Mutter, nimmt Bezug auf

die Verhaltensvorschriften des Pflegepersonals und insbesondere

auf die Trennung des Kindes von der Mutter. Sie

berücksichtigt dabei das inzwischen so reichhaltige und

wesentliche Wissen um die psychologische Bindung von

Neugeborenen an ihre Mutter und deren Bedeutung für

ihre körperliche, seelische und intellektuelle Entwicklung

– was nicht zuletzt die körperliche und seelische Nähe im

unmittelbar postnatalen Zeitraum betrifft. An dieser Stelle

kann nicht tiefer darauf eingegangen werden.

Es sei jedoch gesagt, dass die Autorin, obgleich mit unverkennbarem

Respekt vor Steiners Autorität, sich nicht

davor scheut, fragwürdige Aspekte kritisch zu hinterfragen.

Bei einer Publikation, die sich kritisch, analytisch und

sehr persönlich mit Steiners Werk auseinandersetzt, tendiert

man leicht dazu, Mängel und Fehler zu finden und zu

monieren. Es lohnt sich jedoch, dieses Buch so zu lesen,

dass man den Gedankengängen der Autorin folgt und dabei

wahrnimmt, wie sie selbst mit dem, was sie entdeckt,

ringt – und dass sie dort, wo ihr keine abschliessenden

… that breaks new ground

Rather, Pichler describes her own experiences in her contemplative

and meditative approach to the point-and-periphery

motif:

«If I call up […] Steiner’s image of a metamorphosis of

head and limbs beyond this current life, I am leaving

behind this familiar realm of perception. A movement

arises that goes far beyond what I am able to grasp with

my present capacity for perception.»

Thus, her book also becomes an introduction to the Curative

Education Course. And it indicates on the one hand

that this course represents an extension of Steiner’s study

of the human being, and on the other hand that after close

examination and individual analysis, when read in the way

that Pichler suggests, Steiner’s initially personal and person-specific

references do indeed have a universal, general

human significance.

One focus of the book is the treatment of Willfried, a child

with hydrocephalus, and Steiner’s relationship with his

mother, Theodora Kunert, who entrusted him with her

child. 1 Steiner observed that the mother had an «abnormal

soul life» (Steiner 2024, p. 349), which resulted in the child remaining

in a kind of embryonic existence even after birth.

He recommended immediate weaning of the child, and

later on even physical separation from the mother, as well

as treatment in a darkened, secluded room without real

relating, other than what was necessary for administering

medical treatments. 2

Pichler examines Steiner’s recommendations for the mother

and child from the family systems perspective (not yet

developed in Steiner’s time). She scrutinizes Steiner’s conversations

with the mother, references the nursing codes

of conduct, and focuses especially on the separation of

mother and child. In doing so, she refers to the deep and

extensive knowledge we now have regarding the psychological

bond a newborn has with its mother and its significance

for the child’s physical, emotional and intellectual

development – which includes physical and psychological

closeness in the period immediately following birth. The

scope of this review does not allow us to go into more detail

on the topic here.

It must be said, however, that though the author has unmistakable

respect for Steiner’s authority, she does not

hesitate to critically scrutinize questionable elements of

the course. In a publication that engages critically, analytically

and on a very personal level with Steiner’s course,

there is a tendency to find fault and criticize shortcomings.

However, it is worth reading this book if we can follow

the author’s train of thought and are able to perceive

how she wrestles with her discoveries – and that where

she is unable to reach conclusive results, she leaves questions

open. In its last sub-chapter, Die Aufarbeitung von

Leid und Gewalt und ein neues Selbstverständnis [Working

through suffering and violence and a new self-awareness],

52 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

53



Resultate gelingen, auch Fragen offen stehen lässt. Das

Werk schliesst mit seinem letzten Unterkapitel über Die

Aufarbeitung von Leid und Gewalt und ein neues Selbstverständnis

im Fortissimo. Physische, psychische und

sexualisierte Gewalt bleiben auch in anthroposophisch

sein-wollenden Institutionen nicht aus. Massnahmen, die

an Schutzbefohlenen von Mitarbeitenden durchgeführt

werden, die keine Fachbildung haben und das anthroposophische

Menschenbild nur skizzenhaft in sich tragen,

können verheerende Folgen nach sich ziehen.

Das therapeutische Potenzial einer Gemeinschaft kann

sich erst dann entfalten, wenn ein fundiertes Wissen um

Ursache und Wirkung im therapeutischen Tun vorhanden

ist. Laut Pichler ist es eine «für die nächsten Jahre zentrale

Fragestellung», inwiefern der Gemeinschafts-Begriff

durch das aus der Traumapädagogik stammende Konzept

eines sicheren Ortes abgelöst werden kann – und welche

Formate sich daraus ergeben werden» (S. 167). Damit ist

dieses Buch auch ein Aufruf, nicht nur am Punkt, dem Heilpädagogischen

Kurs Rudolf Steiners, sondern ebenso an

der Peripherie des institutionellen Alltags, im Umkreis der

Weltbewegung, fachlich fundiert neu anzusetzen.

Das Buch deckt nicht alle Aspekte des Heilpädagogischen

Kurses ab und erhebt auch nicht den Anspruch, dies zu

tun. So werden nicht die im Fall des Kindes Willfried ergriffenen

medizinischen Massnahmen besprochen. Doch handelt

es sich insgesamt um eine bahnbrechende Schrift, die

einen zeitgemässen Umgang mit Texten Rudolf Steiners

entwirft. Damit betritt sie einen Weg, der diesen in Fachkreisen

in den Hintergrund geratenen Kurs wieder in das

Zentrum der anthroposophischen Heil- und Inklusionspädagogik

rücken könnte und einen ehrlichen, persönlichen

und dennoch nachvollziehbaren und attraktiven Weg zur

Beschäftigung mit dessen Inhalt markiert. Pichler schreibt:

«Die Punkt-Kreis-Meditation schliesst die Meditierenden

… unmittelbar an die Wahrnehmung einer dynamischen

Wirklichkeit zwischen den physischen anwesenden Menschen

und deren jeweiligem geistigen Bezugspunkt an»

(S. 36). Wer diesen Gedanken verifizieren möchte, wird

sich selbst darin üben müssen. Und deshalb wendet sich

dieses Buch nicht nur an Heil- und Sozialpädagogen, sondern

an alle Menschen, die ein Interesse an einem innovativen,

begründeten, persönlichen und überzeugenden

Umgang mit dem Werk Rudolf Steiners haben.

the book ends on a fortissimo. The issues of physical, psychological

and sexualized violence can arise, even in establishments

that strive to be anthroposophic. Measures

carried out on vulnerable persons by staff with no specialist

training and with only a sketchy understanding of the

anthroposophic view of the human being can have devastating

consequences.

The therapeutic potential of a community can only unfold

if there is a solid understanding of cause and effect in the

therapeutic process. According to Pichler, the question of

the extent to which the concept of community can be superseded

by the trauma-informed concept of a safe place,

and what that will actually look like, is a central one for

the coming years. Therefore, this book also functions as

a call—not only point-related, in terms of Rudolf Steiner’s

Curative Education Course, but equally periphery-related

in the daily life of establishments all over the world—

to find a new approach that takes into account today’s

knowledge of the field.

This book does not cover every element in the Curative

Education Course and does not claim to do so. For example,

medical measures undertaken in the case of the

child, Willfried, are not discussed. Nevertheless, it is a

ground-breaking book that outlines a contemporary approach

to Rudolf Steiner’s works. As such, it sets out on

a path that could bring this course back to the center of

anthroposophic curative and inclusive education, and offers

an honest, personal, and yet accessible and appealing

way of engaging with its content. Pichler writes, «The

point-and-periphery meditation connects meditators […]

directly to the awareness of a dynamic reality between

those physically present and their respective spiritual

points of reference». Anyone who wishes to verify this will

have to take up the practice themselves. This broadens the

audience for this book beyond curative educators and social

therapists to anyone with an interest in an innovative,

grounded, personal and compelling approach to Rudolf

Steiner’s work.

Theresa Stommel

Bildung und

Staunen

Eine bildungsphilosophische Perspektive im Kontext geistiger

und schwerer Behinderung

transcript Verlag 2023

Rezension: Angelika Wiehl

Theresa Stommel

Education and

Amazement

An educational philosophy perspective in the context of

intellectual and complex disabilties

Currently only available in German

Review: Angelika Wiehl

Bildung und Staunen in einem Atemzug zu lesen, mag Reading the words «education and amazement» in one

überraschen und veranlasst zu der Frage: Was wären denn breath may surprise us and elicit the question, «What

Leben und Bildung ohne Staunen? Denn im Staunen verbirgt

would life and education be without amazement?» Be-

sich die Fähigkeit, offen und neugierig, aber auch cause within amazement lies the ability to react with either

irritiert und erschrocken gegenüber etwas Unerwartetem openness and curiosity or confusion and alarm to something

oder Überraschendem zu reagieren, es auf sich wirken zu

unexpected or surprising – to allow it in or to reject

lassen oder es abzuweisen. Staunen kann ermutigen, sich it. Amazement can encourage us to engage with something

empathisch und entdeckend auf etwas

with empathy and an attitude of exploration,

einzulassen – zunächst bedingungslos,

unconditionally and without

ohne jeden Bildungsanspruch. Der Titel

any expectation of its being educational.

Bildung und Staunen und die einführenden

The title Education and Amazement

Gedanken verlocken zur Lektüre,

and the introductory thoughts entice

versprechen aber nicht nur Neues,

us to continue reading with the prom-

sondern eine fundierte Erforschung

ise not only of something new, but also

zur Bildungsteilhabe aller Menschen.

of well-grounded exploration of educational

Aufgezeigt werden Möglichkeiten des

inclusion for all human beings.

Sich-Bildens, die für die Teilhabe aller

The book presents modes of education

Menschen am kulturellen Leben von

that are crucial in order for all human

zentraler Bedeutung sind.

beings to participate in cultural life.

Die als Dissertation verfasste Studie

This research project, published as a

bringt es mit sich, dass zunächst eine

dissertation, begins with a systematic

systematische Revue zum Bildungsbegriff

review of the concept of education and

sowie zu den Teilhabebedingun-

the conditions of participation for peo-

gen für Menschen mit geistiger und

ple with with intellectual and complex

schwerer Behinderung erfolgt. Ausgangspunkt

disabilities. It starts with the observa-

Translation from German by Tascha Babitch

bildet die Beobachtung,

tion that people with disabilities are

dass Menschen mit Einschränkungen

assumed to have a reduced capacity for

We would like to thank the magazine dieDrei for their kind

eine reduzierte Bildungsfähigkeit unterstellt

education and that therefore any educa-

permission to print this review.

wird und dementsprechend

tional opportunities provided for them

die für sie vorgesehenen Bildungsangebote häufig unter often consist of therapeutic measures that emphasize promoting

therapeutische Massnahmen fallen und der Förderung

awareness and independence. They do not meet

Wir danken der Zeitschrift dieDrei für die freundliche Genehmigung

von Wahrnehmung und Selbstständigkeit dienen. Sie ge-

any cultural expectations in any real sense, in contrast

zum Abdruck dieser Rezension.

nügen also keinem kulturellen Anspruch im eigentlichen with general educational programs. This raises questions

Sinne, wie er bei Angeboten für die Allgemeinheit selbstverständlich

about our underlying assumptions regarding education,

Anmerkungen

Notes

ist. Das wirft Fragen nach dem zugrundelie-

as well as the methodologies based on these assumptions,

1 Theodora Kunert wurde später unter dem Namen Maria Josepha Krück 1 Theodora Kunert later became known as a writer under the name Maria

genden Bildungsverständnis und der daran bemessenen which at best do not expressly include certain groups of

von Poturzyn als Schriftstellerin bekannt.

Josepha Krück von Poturzyn.

Bildungsdidaktik auf, die bestimmte Personengruppen zumindest

people and at worst specifically exclude them.

2 Ich selbst hörte in den 70er-Jahren die Schilderung von Lucia Grosse. 2 I myself heard Lucia Grosse's account in the 1970s. She was a nurse and

nicht berücksichtigen, wenn nicht gar ausschlies-

Taking this fact as a point of departure and using phenom-

Sie war Krankenschwester und musste die Versorgung des Kindes in der had to take care of the child in the Arlesheim clinic in silence, without

sen. Von dieser Sachlage ausgehend und auf Grundlage enological and education theory methods, Theresa Stommel

examines the factors that lead to educational barriers,

Arlesheimer Klinik still, wortlos, ohne seelische Zuwendung und in einem words, without emotional attention and in a darkened room.

einer phänomenologischen und bildungstheoretischen

verdunkelten Raum erledigen.

Methode untersucht Theresa Stommel die Faktoren, die

Literatur | Literature

Steiner, R. (2024): Heilpädagogischer Kurs (GA 317). Rudolf Steiner Verlag,

zu Bildungseinschränkungen führen, um Perspektiven

Basel.

für eine zukünftige Bildungsteilhabe aufzuzeigen. In der

in drei Teile gegliederten Forschungsarbeit strebt sie an,

eine möglichst vorurteilsfreie Haltung gegenüber Bildung

einzunehmen, sich offen den Phänomenen des Neuen

und Unvorhergesehenen zu widmen und ein produktives

54 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

55



Weiter- und Andersdenken zuzulassen – also genau jener

Methode zu folgen, durch die eine verändernde und transformierende

Bildung initiiert werden kann. Der Mitvollzug

ihrer detailreichen Erkundung ist erforderlich, um Begriffe

und Strukturen zu verstehen, die zu einem Ausschluss der

genannten Personengruppe an Bildungsangeboten führen

und die zugleich Neudeutungen oder Umformulierungen

verlangen.

Zunächst werden die Herkunft und den Bedeutungswandel

des Bildungsbegriffs erkundet. Bildung, die bei Schiller

noch der Selbstvervollkommnung und bei Humboldt

dem vernunftbestimmten Werdegang des Menschen

diente, wurde vor allem im pädagogischen Kontext durch

Lernen und Sozialisation ersetzt, schliesslich durch den

Pisa-Schock 1 in einem funktionalistischen und technischökonomischen

Sinne gedacht und in der Diskussion um

Inklusion und Exklusion als eine soziale Differenzkategorie

verstanden. Bildung hängt aber auch mit der umgebenden

Kultur, ihrer besonderen Ausprägung und Veränderung

zusammen. Für eine kulturelle Teilhabe bilden

daher kontext- und bedarfsbezogene Bildungsangebote

den Zugang und die Voraussetzung, um eine produktive

Auseinandersetzung und Mitgestaltung an der Kultur zu

gewährleisten.

Ausgeschlossensein von Bildung und jede Form beschränkender

oder fehlender Zugänge zu kulturellen Angeboten

– wie sie häufig Menschen mit geistiger und schwerer

Behinderung widerfahren – bedeuten, an einem menschlichen

und sozialen Lebensbereich nicht partizipieren zu

können. Die Gründe sucht die Autorin zum einen in dem

von Vorannahmen geprägten Verständnis von Bildung,

die klassischerweise auf die Subjektwerdung durch Reifeund

Wachstumsprozesse hin orientiert ist, zum anderen

in den fehlenden oder der Lage der genannten Personengruppe

nicht gerecht werdenden didaktischen Konzepten.

Wenn Bildungsteilhabe von den kognitiven und (selbst-)

reflexiven Fähigkeiten eines Subjekts abhängt, schliesst

sie all jene aus, die nicht in einem als normal angesehenen

Masse darüber verfügen. Weil diese jeweils unterschiedlich

sich entfaltenden Fähigkeiten an das Subjektsein gebunden

sind, beleuchtet Stommel diesen Bezugsrahmen

von Bildung kritisch. Würde das Subjekt nicht nur als eine

autonome und selbstbestimmte Instanz gelten, sondern

als ein mit sich, den Anderen und der Welt im Verhältnis

stehendes, vielfältiges Subjekt verstanden werden, wäre

Bildung als ein relationales und inter-subjektives, nicht

nur an sprachliche und kognitive Fähigkeiten gebundenes

Geschehen zu denken, das transformierend wirkt und

durch die Teilhabe eines jeden Menschen stetig transformiert

wird. Einen besonderen Akzent verleiht die Autorin

ihrer Argumentation durch die Einbeziehung des Fremden,

das Staunen erzeugen kann. Im Gewahrwerden des

Fremden stellt sich eine wechselseitige Veränderung ein;

helping her to identify possibilities for future education

access. In this three-part research project, she strives for

an unbiased stance on education, openness to new and

unexpected findings, and productive, future-bearing, new

ways of thinking – in other words, precisely the attitude

that can initiate a transformed and transformative way of

educating. All of this is necessary in order both to understand

concepts and structures that exclude this particular

group of people, and to demand new definitions or new

language.

First, the author explores the origins of the concept of

education and the change in its meaning over time. Education,

which for Schiller still served self-improvement

and for Humboldt the rationally determined development

of human beings, was replaced by learning and socialization,

especially in a pedagogical context. As a result of the

shock of the PISA Study 1 , our collective concept of education

shifted toward a functionalist, technical and economic

one, and conversation around inclusion and exclusion

came to be seen as belonging to a category of social differentiation.

However, education is also interconnected with

the surrounding culture and its particular characteristics

and changes. Context- and needs-based educational opportunities

therefore provide access and are a prerequisite

in order to ensure productive engagement with and

participation in culture.

Exclusion from education and any restriction or lack of

access to cultural opportunities – so often experienced

by people with with intellectual and complex disabilities

– mean a lack of opportunity to participate in a given

human or social arena. The author sees the reasons for

this in our biased understanding of education, on the one

hand, which is traditionally oriented toward development

of self-awareness and autonomy through maturation and

growth processes, and, on the other hand, in the lack of

pedagogical concepts that meet these groups of people

where they are. If participation in education depends on a

person’s cognitive and (self-)reflective abilities, it excludes

all those who do not possess these to a degree that is considered

normal. Because these differently developing abilities

are linked to individual self-awareness and autonomy,

Stommel takes a critical look at this frame of reference

for education. If individuals were seen not only through

the lens of autonomy and self-determination but as multifaceted

beings in relationship with themselves, others and

the world, education could be understood as a relational,

interpersonal process, transformative and constantly

changing through the participation of each individual,

rather than one that is dependent solely on linguistic and

cognitive ability.

The author emphasizes her argument by including the

unfamiliar, which can evoke amazement. In the process

of becoming aware of something unfamiliar, an interac-

Subjekt und umgebendes Geschehen erscheinen überraschend

und anders. Das dadurch ausgelöste Staunen ist

eine Schwellen- und Übergangserfahrung, die Veränderungen

einleiten kann und situationsbezogene Antworten verlangt.

Vor diesem Hintergrund kann Bildung als ein relationales

Geschehen, also nicht nur normativ gedacht werden,

weil sie sich in einem wechselseitigen Austauschverhältnis

von Subjekt und Weltgeschehen ereignet. Der Wert der Bildung

in diesem Sinne misst sich – so schliesst Stommel –

an den Fähigkeiten zur Selbst- und Mitbestimmung sowie

zur Solidarität, die allen Menschen zu einem guten Leben

verhelfen können.

Um auf dieser Grundlage die Teilhabe für Menschen unterschiedlicher

Lebenslagen zu verwirklichen, müssen adäquate

bildungsdidaktische Ansätze ausgearbeitet werden.

Dafür bedarf es des erweiterten Bildungsbegriffs, der

offen und folglich nicht «auf bestimmte Personen bzw.

auf individuelle Fähigkeiten bezogene, ausschliessende

Eigenschaften» fokussiert ist. Dieser Zielsetzung kann

prinzipiell zugestimmt werden. Aber mit der dafür ins Gespräch

gebrachten subjektiven und sozialen Relationalität,

die für ein transformatives Bildungsverständnis notwendig

sei, wird die Frage umgangen, wie und ob wir ausserdem

über die Individualität und ihre Intentionen bzw. das Ich

des Menschen selbst nachdenken, das wir sein wollen, das

sich aber nicht mit einem relationalen Subjekt deckt und

gerade deshalb in einem idealistischen Bildungsdenken zu

verorten ist.

Studiert man die umfängliche Arbeit von Theresa Stommel,

so folgt man detaillierten Herleitungen von zentralen Begriffen,

ihrem Bedeutungswandel und ihrer Verwendung

in der Auseinandersetzung um Teilhabe. Die Betrachtungen

sind im Sinne einer fundierten Erkundung des Forschungsfeldes

der kulturellen Teilhabe sehr aufschlussreich,

weil sie nicht nur Erklärungen für den Umgang mit

der genannten sozialen und tendenziell von Bildungsangeboten

exkludierten Menschengruppe liefern, sondern

eine deutliche Neuausrichtung des gesellschaftlichen Verständnisses

von kultureller Teilhabe und Mitgestaltung

aufzeigen. Es geht darum, den Werdegang und die Entwicklung

eines jeden Menschen in seiner kulturellen und

sozialen Umgebung anzuerkennen und zu fördern. Dafür

kann Staunen als Schlüsselfähigkeit genutzt werden, denn

im Staunen zeigen sich überraschende und besondere

Momente, die – und das ist die besondere Leistung dieser

Studie – in jedem Moment neue Perspektiven auf Bildungsmöglichkeiten

einzelner Personen, Bildungsinstitutionen

und des kulturellen Umfelds öffnen. Lasst uns miteinander

staunen, lasst alle Menschen ihrem kulturellen Umkreis

angehören, lasst sie ihre je individuelle Teilhabe selbst

verwirklichen.

Anmerkung

1 Das unerwartet schlechte Abschneiden Deutschlands in der internationalen

Vergleichsstudie PISA 2000 wurde in den Medien und in der Politik

stark thematisiert und ist als «PISA-Schock» bekannt.

tive change takes place: Both the individual and their environment

feel surprising and different. The amazement

that this evokes is a threshold and transitional experience

that can initiate change and that calls for situation-specific

responses. In this context, education can be seen as

a relational process, rather than simply a normative one,

as it takes place through an interactive exchange process

between an individual and the events around them. Therefore,

Stommel concludes, the true value of education is

measured in the capacity for self- and co-determination as

well as in the solidarity that can help all human beings lead

a good life. It then follows that in order to realize participation

from people in all kinds of life situations, we must

develop appropriate educational methods and approaches.

This requires an expanded concept of education – one

that is open and not focused «on exclusive characteristics

that apply only to certain people or individual abilities».

This goal can be agreed upon in principle. However, the

aforementioned subjective and social relationality that is

necessary for a transformative understanding of education

avoids the question of how and whether we also consider

the individual and their intentions, i.e. the human I

that we want to become, which does not correspond to a

relational subject and is therefore to be found in an idealistic

understanding of education.

If we study Theresa Stommel’s extensive work, we can

follow detailed derivations of key terms, their changes

in meaning over time, and their use in the conversation

around participation. Her observations in the course of

well-founded research in the field of cultural participation

are very informative, as they not only offer explanations

for our ways of treating these social groups who also tend

to be excluded from educational opportunities, but also

show a clear shift in our societal understanding of cultural

participation and co-creation. We need to recognize and

promote the development of each individual human being

within their cultural and social environment. To this end,

amazement can be used as a key skill, because amazement

reveals surprising and special moments that—and this is

the particular revelation of this research—open up new perspectives

on educational opportunities for individuals, educational

institutions and the cultural environment at any

given moment. Let us be amazed together, let all human

beings be a real part of their cultural environment, and let

each person realize their own, unique way of participating.

Translation from German by Tascha Babitch

Note

1 Germany's unexpectedly low performance in the international comparative

PISA Study 2000 was highly publicized and is know as the

«PISA Shock» in German media and politics.

56 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025

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