Perspectives 2025-1 Preview
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Perspectives
in Inclusive Social Development
Anthroposophic
1· 2025
Inhalt
deutsch
Content
english
Beiträge und Berichte
Rezensionen
Articles and Reports
Reviews
Den Leib und die Welt bewohnen .............. 4
Der Impuls der Sektion für Heilpädagogik und
inklusive soziale Entwicklung
von Jan Göschel
Darsteller und Regisseur . .................. 16
Aus der Zusammenarbeit mit dem Maler
Arnkjell Ruud: Ein Versuch
von Hannes Weigert
Ioana Viscrianu, Johannes Kronenberg, Ruth Fiona
Roever / Zusammenleben wollen. Ein Porträt von drei
sozialtherapeutischen Gemeinschaften: Lebenswirklichkeit,
Entwicklungsfragen und Aspekte der Teilhabe
von Gabriele Scholtes ......................49
Annette Pichler / Kreis und Punkt. Eine kritische
Analyse zum Heilpädagogischen Kurs Rudolf Steiners
von Udi Levy .............................51
Inhabiting the Body and the World ...............4
The impulse of the Section for
Inclusive Social Development
by Jan Göschel
Performer and Director ........................16
From the collaboration with the painter Arnkjell Ruud:
An experiment
by Hannes Weigert
Ioana Viscrianu, Johannes Kronenberg, Ruth Fiona
Roever / Choosing to Live Together. A portrait of three
social-therapeutic communities: The realities of life, development
issues, and questions of participation
by Gabriele Scholtes ............................49
Annette Pichler / Point and Periphery. A critical analysis
of Rudolf Steiner’s Curative Education Course
by Udi Levy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Diversität, Kultur und Inklusion
in Gemeinschaften ........................ 28
Der Impuls der Sektion für Heilpädagogik und
inklusive soziale Entwicklung
von Gleice da Silva
«Geh dorthin, wo du gefeiert wirst, nicht dorthin,
wo du geduldet wirst!» ..................... 44
Bericht aus Indien
Zusammengestellt vom Team Avapanam
Theresa Stommel / Bildung und Staunen. Eine bildungsphilosophische
Perspektive im Kontext geistiger
und schwerer Behinderung
von Angelika Wiehl .......................55
Diversity, Culture, and Inclusion
in Community ................................28
A pilot course for the Camphill Academy
by Gleice da Silva
«Go where you are celebrated, not where
you are tolerated!» ............................44
Report from India
Compiled by Team Avapanam
Theresa Stommel / Education and Amazement. An
educational philosophy perspective in the context of intellectual
and complex disabilities
by Angelika Wiehl ..............................55
Editorial
Editorial
Jan Göschel
Jan Göschel
Nachdem wir das Jahr 2024 mit dem hundertjährigen Jubiläum
von Rudolf Steiners Heilpädagogischem Kurs und
der Gründung der neuen Sektion für Heilpädagogik und
inklusive soziale Entwicklung in der Freien Hochschule für
Geisteswissenschaft am Goetheanum gefeiert haben, erscheint
die Zeitschrift jetzt als Fachzeitschrift der neuen
Sektion. Nach vielen Jahren in der Redaktion, auch schon
in der Vorgängerpublikation, Seelenpflege in Heilpädagogik
und Sozialtherapie, schied Bernhard Schmalenbach
zum Jahresende aus dem Redaktionsteam aus. Für sein
Engagement und seinen Einsatz möchten wir uns an dieser
Stelle ganz herzlich bedanken!
In der vorliegenden Ausgabe finden Sie eine Verschriftlichung
meines Beitrags auf der Gründungstagung der
Sektion, die im Oktober mit fast tausend Menschen aus
allen Kontinenten am Goetheanum stattfand. Die Maler
Hannes Weigert und Arnkjell Ruud geben Einblicke in
Werke aus ihrer Zusammenarbeit. Gleice da Silva stellt
einen Pilotkurs zum Thema «Diversity, Equity and Inclusion»
vor, den sie für die Camphill Academy entwickelt
hat. Ausserdem finden Sie diesmal einen Bericht des indischen
Verbands AVAPANAM sowie drei interessante
Buchbesprechungen.
After celebrating the year 2024 with the centenary of Rudolf
Steiner’s Course on Education for Special Needs and
the founding of the new Section for Inclusive Social Development
at the School of Spiritual Science at the Goetheanum,
Perspectives is now being published as the professional
journal of the new Section. After many years on the
editorial team, including the predecessor publication, Seelenpflege
in Heilpädagogik und Sozialtherapie, Bernhard
Schmalenbach laid down his role on the editorial team at
the end of last year. We would like to take this opportunity
to express our heartfelt thanks to him for his commitment
and engaged contributions!
In this issue, you will find a written version of my contribution
to the Section’s founding conference, which took
place at the Goetheanum in October with almost thousand
people from all continents. The painters Hannes Weigert
and Arnkjell Ruud provide insights into their collaborative
works. Gleice da Silva presents a pilot course on «Diversity,
Equity and Inclusion» that she developed for the Camphill
Academy. Additionally, this issue includes a report from
the Indian association AVAPANAM and three interesting
book reviews.
Den Leib und
die Welt bewohnen
Der Impuls der Sektion für Heilpädagogik und
inklusive soziale Entwicklung
Auf der Grundlage eines Vortrags auf der Internationalen
Tagung über inklusive soziale Entwicklung, der am
3. Oktober 2024 am Goetheanum gehalten wurde
von Jan Göschel
Inhabiting the Body
and the World
The Impulse of the Section for
Inclusive Social Development
Based on a presentation to the International Conference
on Inclusive Social Development, given at the Goetheanum
on October 3, 2024
by Jan Göschel
Jan Göschel,
Dr. phil., Studium der Psychologie an der Universität
Edinburgh und der Pädagogik und Sonderpädagogik
in den USA. Promovierte in Heilpädagogik
und Rehabilitationswissenschaften an der
Universität zu Köln. Leiter der Sektion für Heilpädagogik
und inklusive soziale Entwicklung
am Goetheanum (Freie Hochschule für Geisteswissenschaft).
Zuvor langjährig tätig in der Camphill-Bewegung
in Nordamerika, u.a. als Lehrer
und Schulleiter und als Präsident der Camphill
Academy in der Entwicklung praxisintegrierter
Ausbildungen und Studiengänge.
Jan Göschel,
Dr. phil., studied psychology at the University of
Edinburgh and education and special education
in the USA. Doctorate in special needs education
and rehabilitation sciences from the University
of Cologne. Head of the Section for Inclusive
Social Development at the Goetheanum (School
of Spiritual Science). Before that, active in the
Camphill Movement in North America for many
years, including as a teacher and school leader
and as president of the Camphill Academy, developing
practice-integrated training programs and
courses of studies.
Aus einer globalen Perspektive –
Vernunft, Rationalität oder Resonanz?
In diesen Tagen werden wir die Sektion bzw. Fakultät
für Heilpädagogik und inklusive soziale Entwicklung der
Freien Hochschule für Geisteswissenschaft gründen. Diese
Hochschule ist eine neue Art von Universität, die von
Rudolf Steiner vor 100 Jahren gegründet wurde. Die Gründung
dieser Hochschule fand hier in Mitteleuropa statt,
wo wir uns jetzt treffen, auch wenn sie immer Menschen
aus der ganzen Welt einbezogen hat. Die Anthroposophie,
das Werk Rudolf Steiners und auch der Heilpädagogische
Kurs (GA 317), den er vor 100 Jahren gehalten hat, haben
ihre Wurzeln in Ideen, die hier in Mitteleuropa entstanden
sind. Aber Anthroposophie und diese neue Hochschule für
Geisteswissenschaft sollten immer etwas für die Menschheit
sein, für die Menschen unserer Zeit, und nicht nur für
einen bestimmten Ort in der Welt.
Um ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, was das bedeuten
könnte, möchte ich Ihnen jemanden vorstellen, der
uns helfen kann, das, was wir tun, aus einer anderen Perspektive
zu betrachten, nicht aus Mitteleuropa, sondern
aus der Karibik. Denn manchmal kann man die Dinge klarer
sehen, wenn man den Blickwinkel ändert.
Das Karibische Meer liegt zwischen Süd-, Mittel- und Nordamerika,
und im Osten schliesst sich der Atlantik an. Dort
finden Sie eine Gruppe wunderschöner Inseln. Einige von
Ihnen kommen von dort. Vor über 500 Jahren versuchten
die europäischen Könige und Herrscher, die Karibik unter
ihre Kontrolle zu bringen, weil sie ein Tor nach Amerika
war. Infolgedessen sind diese schönen Inseln seit über
500 Jahren vom Kolonialismus und der damit verbundenen
Gewalt und Ausbeutung betroffen. Und gleichzeitig
sind sie zu einem der kulturell vielfältigsten Orte der Welt
geworden, einem Ort, an dem Kulturen aus verschiedenen
Kontinenten zusammenfliessen und etwas Neues schaffen
– trotz der Gewalt und Ungerechtigkeit des Kolonialismus.
Sylvia Wynter (siehe Scott 2000), die ich Ihnen vorstellen
möchte, wurde 1928 auf der Insel Kuba geboren und
From a global perspective –
reason, rationalism or resonance?
In these coming days, we will be founding the Section or
Faculty for Inclusive Social Development of the School of
Spiritual Science. This school is a new kind of university,
founded by Rudolf Steiner 100 years ago. The founding
of this university took place here in central Europe, where
we are now meeting, even though it has always involved
people from around the world. In one way, anthroposophy,
the work of Rudolf Steiner, and the also the course
on Supportive Education, on «Heilpädagogik» (GA 317),
which he gave 100 years ago, have their roots in ideas that
had developed here, in central Europe. But anthroposophy
and this new University of Spiritual Science were always
meant to be something for humanity, for human beings of
our time, and not just for a particular place in the world.
To get better sense for what that might mean, I would like
to introduce you to someone who can help us look at what
we are doing from another perspective, not from central Europe,
but from the Caribbean. Because sometimes, you can
see things more clearly, when you shift your point of view.
The Caribbean Sea lies between South America, Central
America and North America, and then the Atlantic Ocean
to the East. There, you find a group of beautiful islands.
Some of you have come from there. Over 500 years ago,
European kings and rulers began to try and take control of
the Caribbean, because it was a doorway into the Americas.
As a result, for over 500 years, these beautiful islands
have been impacted by colonialism, and by the violence
and exploitation that goes with it. And at the same time,
they have become one of the most culturally diverse places
in the world, a place where cultures from different continents
have flown together and created something new
– despite the violence and injustices of colonialism.
Sylvia Wynter (see Scott 2000), whom I would like to introduce
you to, was born in 1928 on the island of Cuba and
then grew up on the island of Jamaica, where her parents
wuchs dann auf Jamaika auf, woher ihre Eltern stammten.
Sie wurde Tänzerin, Dichterin, Philosophin und Sozialwissenschaftlerin.
Heute ist sie 96 Jahre alt und emeritierte
Professorin an der Stanford University in den USA.
Sylvia Wynter befasste sich mit diesen 500 Jahren, in denen
die moderne Welt, die Welt, in der wir heute leben, entstanden
ist. Sie wollte verstehen: Was geschah in diesen
500 Jahren, nicht nur äusserlich, sondern was geschah im
menschlichen Bewusstsein, in der Art und Weise, wie die
Menschen sich selbst sehen und verstehen? Und was geschah
in diesen 500 Jahren insbesondere in Europa, das zu
so viel Leid und Gewalt und gleichzeitig zu so vielen neuen
Ideen und Kreativität geführt hat. Sie versuchte, das Licht
und den Schatten der modernen Kultur zu verstehen, die
sich von Europa aus über die ganze Welt ausbreitete.
Was ist es, das sie sieht? Wie lautet ihre Diagnose? Und was
ist nötig, um die zerstörerische Seite der modernen Zivilisation
zu heilen? Was ist die Therapie, die sie vorschlägt?
Vor dem Beginn dieser 500 Jahre, in denen das moderne
Leben entstand, lebten die Menschen in Europa unter der
Autorität der Kirche und unter der Autorität der Könige
und Fürsten, die alle Aspekte des Lebens beherrschten.
Die Menschen mussten sich in eine vorgegebene soziale
Ordnung einfügen. Diese feudale Ordnung wurde als von
Gott gegeben verstanden, dessen Wille durch die Fürsten
der Kirche und die weltlichen Fürsten fliesst. Jeder hatte
seinen Platz in dieser Ordnung zu akzeptieren. Es gab wenig
Raum für individuelle Initiative, für Kreativität, für die
Gestaltung des eigenen Schicksals oder für eine neue oder
andere Art des Zusammenlebens.
Dann, vor 500 Jahren, begannen die Menschen in Europa,
die Welt auf eine neue Weise wahrzunehmen, über ihre Beobachtungen
nachzudenken, zu verstehen, wie die Dinge
funktionieren, und ihre eigenen Schlüsse zu ziehen, sich
ihr eigenes Urteil zu bilden. Sie begannen, sich auf eine
neue Art und Weise für die Welt zu interessieren, Aspekte
des Lebens und Teile der Welt zu entdecken, die sie nicht
kannten. Und sie entdeckten, dass das, was sie für gottgegeben
hielten, die Art und Weise, wie die Dinge waren,
auch anders sein konnte, und dass die Menschen durch ihr
Verständnis, ihre Intelligenz, die Art und Weise, wie sie ihr
Leben organisierten, gestalten konnten. Plötzlich schien
die Autorität der Fürsten und der Kirche nicht mehr von
Gott gegeben zu sein.
were from. She came a dancer, poet, philosopher and social
scientist. Now, she is 96 years old and a retired professor
emerita of Stanford University in the US.
Sylvia Wynter studied these 500 hundred years, during
which the Modern world, the world we live in today, was
created. She wanted to understand: What happened during
these 500 years, not just outwardly, but what happened in
human consciousness, in the way human beings see and
understand themselves? And what happened, in particular
in Europe, during these 500 years, that led to so much
suffering and violence and at the same time to so many
new ideas and creativity. She was trying to understand
the light and the shadow of Modern culture, which spread
from Europe around the world.
What is it, that she sees? What is her diagnosis? And what
is needed to heal the destructive side of Modern civilization?
What is the therapy that she suggests?
Before the beginning of these 500 years, in which Modern
life was born, people in Europe lived under the authority
of the Church and under the authority of the kings and
princes who ruled all aspects of life. Human beings had to
fit into a social order that was given. This feudal order was
understood to come from God, flowing through the Princes
of the Church and the worldly Princes. Everyone had
to accept their given place in that order. There was little
room for individual initiative, for creativity, for individuals
to choose their own destiny or to live together in a new or
different way.
Then, 500 years ago, people in Europe began to observe the
world in a new way, think about their observations, understand
how things work and draw their own conclusions,
to form their own judgments. They began to be interested
in the world in a new way, to discover aspects of life and
parts of the world that they did not know. And they discovered
that what they had thought of as given by God,
the way things were, that this could also be different, and
that human beings, through their understanding, their intelligence,
could shape the way they organized their lives.
Suddenly, the authority of the Princes and of the Church
no longer seemed to be given by God.
4 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
5
Im Laufe dieser 500 Jahre gewannen die Menschen in
Europa allmählich das Vertrauen, dass sie auf der Grundlage
ihrer Vernunftfähigkeit, ihrer Rationalität, sich selbst
regieren konnten. Sie brauchten keine Fürsten oder die
Kirche, um über sie zu herrschen. Das Volk selbst, als Gemeinschaft
rationaler Menschen, konnte eine «Regierung
des Volkes, durch das Volk, für das Volk» bilden (wie Abraham
Lincoln es 1863 formulierte; siehe Abraham Lincoln
Presidential Library and Museum 2025). Und dieselbe
Rationalität erlaubte es ihnen, die Natur, die Erde – und
andere Menschen – zu erobern, unter Kontrolle zu bringen
und auszubeuten!
Es setzte sich das Gefühl durch, dass die ‹Vernunft›, der
‹Verstand› die Eigenschaften sind, die uns eigentlich zum
Menschen machen. Diese Vorstellung ist der Kern des Problems
des modernen Menschen, des «Man», wie Wynter
(2003; auch in Scott 2000) ihn nennt. Die Entdeckung der
Macht der individuellen Rationalität gab uns die Mittel und
das Selbstvertrauen, uns von den unterdrückenden Mächten
der Aristokratie und der Kirche, der feudalen Gesellschaftsordnung
der Vormoderne, zu emanzipieren und
eine Selbstverwaltung des «Demos» durch den «Demos»
zu etablieren. Sie hat uns auch die Möglichkeit gegeben,
eine Technologie und eine Wirtschaft zu etablieren, die
wächst, die sich nicht nur selbst erhält, sondern die immer
mehr von der Welt in ihre Sphäre holt, um die Produktivität
zu steigern. Und sie befähigt den Einzelnen, seinen eigenen
Lebensweg zu bestimmen, sich ein eigenes Urteil zu
bilden und eigene Entscheidungen zu treffen.
Dieser Zustand «Man», des instrumentell-rationalen
Menschseins, schafft aber auch eine tiefe Spaltung: zwischen
dem rationalen Menschen und allem anderen in der
Welt. Der rationale Mensch ist der Eroberer, alles andere
ist dazu da, erobert zu werden. Und was geschieht mit
allen anderen? Wenn Rationalität der Kern dessen ist, was
uns zum Menschen macht – wenn es das ist, was es bedeutet,
ein Mensch zu sein –, dann können alle Menschen
gleich an Rechten und Würde sein, aber eben nur solange
sie mit Vernunft ausgestattet erscheinen.
Wir haben nun ein Bild des Menschen als ‹rationalen Menschen›,
der nach Kontrolle strebt, und eine Welt ohne Seele,
die es zu erobern und zu kontrollieren gilt. Das bedeutet
aber auch, dass alle Menschen, die nicht in das Bild des
‹rationalen Menschen› passen, als nicht vollwertig angesehen
werden und ausserhalb der Idee von gleichen Rechten
und gleicher Würde stehen. Aus der Sicht dieses materialistischen,
rationalistischen, «entzauberten» Verständnisses
des Menschseins werden die indigenen und traditionellen
Kulturen und Zivilisationen der kolonisierten Länder, aber
auch diejenigen innerhalb der westlichen Gesellschaften,
Over the course of these 500 years, people in Europe gradually
began to gain confidence that they could rule themselves,
based on their capacity of reason, their rationality.
They didn’t need Princes or the Church to rule over them.
The people themselves, as rational human beings, could
form «government of the people, by the people, for the
people» (as Abraham Lincoln formulated it in 1863; see
Abraham Lincoln Presidential Library and Museum 2025).
And this same rationality allowed them to conquer, control
and extract value from nature, from the earth – and
from other people!
The feeling took hold that ‹reason›, that ‹rationality› is the
quality that makes us truly human. This idea is at the heart
of the problem of Modern «Man», as Wynter (2003; also in
Scott 2000) calls him. The discovery of the power of individual
rationality gave us the tools and the confidence to
emancipate from the oppressive powers of the aristocracy
and the Church, of the feudal social order of pre-modern
times, and to establish self-governance of the «demos», by
the «demos»; «of the people, by the people». It also gave
us the possibility to establish technology and an economy
that grows, that doesn’t just maintain itself, but that
brings more and more of the world into its sphere in order
to increase productivity. And it empowers individuals to
chart their own course in life, to form their own judgments
and make their own decisions.
However, the condition of «Man» also creates a deep split:
between the rational human being and everything else in
the world. The rational human being is the conqueror,
everything else is there to be conquered. And what happens
to everyone else? If rationality is at the heart of what
makes us human – if this is what it means to be human,
then all human beings may be equal in rights and dignity,
but only as long as they appear endowed with reason.
We now have a picture of the human being as a ‹rational
Man›, seeking control, and a world without a soul that is
there to be conquered and controlled. But that also means
that all human beings who do not fit the picture of the
‹rational Man›, are seen as not fully human and stand outside
of the idea of equal rights and equal dignity. From the
point of view of this materialistic, rationalistic, «dis-enchanted»
understanding of what it means to be human,
the indigenous and traditional cultures and civilizations
of the colonized lands, but also those within Western societies
who do not meet the requirements of the ‹rational
actor› – human beings, whom today we would describe as
cognitively disabled or mentally ill, but also women, who
were seen as less rational than men, are not recognized
as full and equal members of society. Modern civilization
creates an external and an internal ‹Other› and defines itself
in contrast with this ‹Other›.
die nicht den Anforderungen des ‹rationalen Akteurs› entsprechen
– Menschen, die wir heute vielleicht als kognitiv
behindert oder psychisch krank bezeichnen würden, aber
auch Frauen, die als weniger rational angesehen wurden
als Männer – nicht als volle und gleichberechtigte Mitglieder
der Gesellschaft anerkannt. Die moderne Zivilisation
schafft einen äusseren und einen inneren ‹Anderen› und
definiert sich selbst im Gegensatz zu diesen ‹Anderen›.
So lautet die Diagnose von Sylvia Wynter: Das materialistische,
rationalistische Bild davon, was es bedeutet, ein
Mensch zu sein – ein rationaler Akteur zu sein, der unabhängige
Urteile bildet und die Welt erobert und beherrscht
– hat es der modernen westlichen Zivilisation ermöglicht,
die unterdrückenden Strukturen der Feudalgesellschaft
abzuschütteln. Sie ermöglichte es dem Einzelnen, sich von
einer unterdrückerischen Gesellschaftsordnung zu emanzipieren.
Aber ihr Schatten ist die Ausbeutung der Erde
und anderer Menschen, die Zerstörung alter und indigener
Kulturen und die Marginalisierung und Ausgrenzung derjenigen
innerhalb der modernen Zivilisation, die nicht in
dieses Bild passen.
Was wir brauchen, so Wynter, ist ein neues Bild des Menschen,
ein neues Verständnis davon, was es bedeutet, ein
Mensch zu sein. Sie nennt dies eine «Wiederverzauberung
des Humanismus» («Re-enchantment of Humanism», Wynter
in Scott 2000); man könnte auch sagen, eine (künstlerische)
Re-Spiritualisierung des Humanismus. Das bedeutet
nicht, zu einer vormodernen Sicht des Menschen
zurückzukehren, sondern nach vorne zu gehen. Die Frage
ist also: Wie können wir jenen Aspekt des Humanismus
der europäischen Aufklärung erweitern und vertiefen, der
die gleiche Würde aller Menschen anerkennen will, aber
hinter seiner inklusiven Absicht zurückbleibt, weil er die
Rationalität zum bestimmenden Merkmal des Menschseins
macht?
Wie können wir ein neues und tieferes, inklusives Verständnis
unseres gemeinsamen Menschseins finden, das
die Unterschiede der westlichen und nicht-westlichen Kulturen
transzendiert, sie integriert und die Vielfalt all der
verschiedenen Arten, in denen Menschen verkörpert sind
und als Menschen auf der Erde leben, einbezieht und würdigt:
das gesamte Spektrum des leiblich präsenten Ausdrucks
der Menschheit?
Für Wynter bedeutet die «Wiederverzauberung» des Humanismus,
dass wir die spirituelle und die verkörperte Seite
unseres Menschseins wieder integrieren, und damit auch
die verschiedenen Arten des Wissens, die wir brauchen,
um sie zu erkennen. Zu diesen Wissensformen gehören
kontemplative, künstlerische und praktische Wissensformen.
Und nur diese werden uns zu einem Verständnis des
Menschseins führen, das die gesamte menschliche Erfahrung
umfasst und einschliesst.
This is Sylvia Wynter’s diagnosis: The materialistic, rationalistic
picture of what it means to be human – to be a
rational actor, forming independent judgments and conquering
and gaining control of the world – made it possible
for Modern Western civilization to shake off the oppressive
structures of feudal society. It made it possible for the
individual to emancipate from an oppressive social order.
But its shadow is the exploitation of the earth and of other
human beings, the destruction of ancient and indigenous
cultures, and the marginalization and exclusion of those
within modern civilization who do not fit this picture.
What is needed, according to Wynter, is a new image of
the human being, a new understanding of what it means
to be human. She calls this a «re-enchantment of humanism»
(Wynter in Scott 2000); we could also say, an (artistic)
re-spiritualization of humanism. This does not mean
going back to a pre-modern view of the human being but
going forward. The question becomes: How can we expand
and deepen that aspect of the humanism of the European
Enlightenment that wants to recognize the equal dignity of
all human beings, but falls short of its inclusive intention
because it makes rationality the defining feature of what it
means to be human.
How can we find a new and deeper, inclusive understanding
of our shared humanity that can transcend and embrace
Western and non-Western cultures, and that can
include and honor the diversity of all the different ways
in which human beings are embodied and live as human
beings on the earth: the whole spectrum of embodied expression
of humanity?
In Wynter’s view, «re-enchanting» humanism means re-integrating
the spiritual and the embodied sides of our humanity,
and with that also the different ways of knowing
that we need in order to acknowledge them. These ways
of knowing include contemplative, artistic and practical
ways of knowing. And only these will lead us to an understanding
of what it means to be human that embraces and
includes the whole human experience.
It does not mean to reject rationality. Reason and the ability
to think are important capacities. But the human being
is first and foremost a relational being. What makes us
human is that we are embodied spiritual beings who are
looking to connect with each other and the world in a resonant
way (see Rosa 2016). This relational view of what it
means to be human allows us to put rationality in its place
as a helpful function where it belongs. However, the instrumental
quest for control no longer defines us. Instead,
the human being is recognized as a being that can enter
into relationships with the earth, with other human beings
6 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
7
Das bedeutet nicht, dass wir die Rationalität ablehnen.
Vernunft und die Fähigkeit zu denken sind wichtige Fähigkeiten.
Aber der Mensch ist in erster Linie ein Beziehungswesen.
Was uns menschlich macht, ist, dass wir verkörperte
spirituelle Wesen sind, die sich auf eine resonante Weise
miteinander und mit der Welt verbinden wollen (siehe Rosa
2016). Diese relationale Sichtweise dessen, was es bedeutet,
ein Mensch zu sein, ermöglicht es uns, die Rationalität
als hilfreiche Funktion an ihren Platz zu stellen. Das instrumentelle
Streben nach Kontrolle definiert uns jedoch
nicht mehr. Stattdessen wird der Mensch als ein Wesen
anerkannt, das mit der Erde, mit anderen Menschen und
mit dem Kosmos in Beziehung treten kann. Ein Wesen, das
der Welt begegnen und mit seiner eigenen Stimme auf die
Welt antworten kann.
So sieht die Herausforderung der inklusiven sozialen Entwicklung
aus der Sicht einer jamaikanischen Philosophin,
Tänzerin, Dichterin und Sozialwissenschaftlerin im 20.
und 21. Jahrhundert aus.
Deutsche Romantik –
die ‹Jenaer Konstellation›
Aus dieser Perspektive können wir sehen, dass Steiners
Arbeit, die die Grundlage dieser Hochschule für Geisteswissenschaft
ist, Teil eines grösseren Projekts ist: der
«Wiederverzauberung des Humanismus», der Heilung der
spirituellen Wunde der modernen Zivilisation – die sich
von Europa aus über den ganzen Globus ausgebreitet hat.
Wie Wynter will Steiner nicht in die vormoderne Zeit zurückkehren.
Er will einen Weg finden, auf der Entdeckung
des individuellen «Ichs», des individuellen Geistes als eines
freien und selbstwirksamen schöpferischen Wesens
aufzubauen, aber in dieses Menschenbild all das wieder
zu integrieren, was auf dem Weg verloren gegangen ist:
die geistigen, die inneren und die leiblichen Dimensionen
des Erlebens. Tatsächlich bedeutet «Anthroposophie», die
Weisheit, das Bewusstsein oder die Erkenntnis dessen, was
es bedeutet, Mensch zu sein, in gewisser Weise fast dasselbe
wie eine «Wiederverzauberung des Humanismus»:
den Menschen als ein geistiges Wesen zu sehen, das eine
leibliche Daseinsweise in der Welt lebt und durch den Leib
in eine resonante Beziehung zur Welt tritt.
Hier, in Mitteleuropa, begann die Suche nach dieser «Wiederverzauberung
des Humanismus» deutlich erkennbar
um das Jahr 1800 in der Stadt Jena im Osten Deutschlands.
Es ist dieselbe kleine Stadt, in der vor 100 Jahren eine kleine
Gruppe junger Menschen das «Heil- und Erziehungsinstitut
für Seelenpflege-bedürftige Kinder Lauenstein» gründete.
Dies war das Heim, die Schule und die Gemeinschaft
für Kinder mit Assistenzbedarf, aus der die weltweite Berufsgemeinschaft,
die heute hier versammelt ist, erwachsen
ist (siehe Frielingsdorf, Grimm & Kaldenberg 2013).
and with the cosmos. A being that can meet the world and
respond to the world in their own voice.
This is what the problem of inclusive social development
looks like from the perspective of a Jamaican philosopher,
dancer, poet and social scientist in the 20 th and 21 st century.
German Romanticism –
the ‹Jena Set›
From this perspective, we can see that Steiner’s work, which
is the foundation of this School or University of Spiritual
Science, is part of a larger project: the «Re-Enchantment
of Humanism», the healing of the spiritual wound of Modern
civilization – which has spread from Europe across the
globe. Like Wynter, Steiner does not want to go back to
pre-modern times. He wants to find a way to build on the
discovery of the individual «I», the individual spirit as a
free and powerful creative being, but to re-integrate into
this picture of the human being everything that has been
lost on the way: the spiritual, the inner and the embodied
dimensions of experience. In fact, «Anthroposophy», the
Wisdom, Consciousness or Awareness of What it Means to
Be Human, in some ways means almost the same thing as a
«Re-Enchantment of Humanism»: to see the human being
as a spiritual being that lives an embodied way of being
in the world and enters through the body into a resonant
relationship with the world.
Here, in Central Europe, the search for this «Re-Enchantment
of Humanism» began in a clearly recognizable way
around the year 1800, in the city of Jena, in the Eastern
part of Germany. This is the very same small city where
100 years ago, a small group of young people founded the
«Heil- und Erziehungsinstitut für Seelenpflege-bedürftige
Kinder Lauenstein» (Lauenstein Institute for Children in
Need of Care of the Soul). This was the home, school and
community for children with disabilities from which the
worldwide professional community that is gathered here
today, has grown (see Frielingsdorf, Grimm & Kaldenberg
2013).
Just over 100 years before this Lauenstein community
started in Jena with the help of Rudolf Steiner, Johann
Wolfgang Goethe, whom the building that we are in is
named after, had helped bring together a small community
of men and women connected with the University
of Jena, who already then were searching for the «Re-Enchantment
of Humanism». These artists, poets, philosophers
and scientists were in many ways the inspiration
for anthroposophy, 100 years later. They also inspired
the concept of «Heilpädagogik», which was formulated
in 1861, the year Steiner was born; of education for all
Etwas mehr als 100 Jahre vor der Gründung dieser Lauensteiner
Gemeinschaft in Jena, mit der Hilfe Rudolf Steiners,
hatte Johann Wolfgang Goethe, nach dem das Gebäude,
in dem wir uns befinden, benannt ist, eine kleine Gemeinschaft
von Männern und Frauen zusammengebracht, die
mit der Universität Jena verbunden waren und schon damals
auf der Suche nach der «Wiederverzauberung des
Humanismus» waren. Diese Künstler, Dichter, Philosophen
und Wissenschaftler waren 100 Jahre später in vielerlei
Hinsicht die Inspiration für die Anthroposophie. Sie
inspirierten auch die Idee der «Heilpädagogik», die 1861,
im Geburtsjahr Steiners, formuliert wurde: eine Pädagogik
für alle Menschen und eine unterstützende Erziehung für
Kinder, deren Weg durch den Leib in die Welt besonders
herausfordernd ist und achtsame Aufmerksamkeit und Begleitung
braucht.
Ich möchte nur zwei Mitglieder dieser Gemeinschaft in Jena,
um 1800, hervorheben. Andrea Wulf (2022) hat ein wunderbares
Buch über sie geschrieben, ‹Magnificent Rebels›.
1800 war die Zeit kurz nach der Französischen Revolution:
Das französische Volk hatte die tyrannische Monarchie
gestürzt und die Macht der Kirche beschnitten. Die Revolutionäre
hatten die alte Religion durch das ersetzt, was
sie das «Fest/den Kult der Vernunft» nannten. Doch diese
Herrschaft der Vernunft hatte sich in eine Schreckensherrschaft
verwandelt. Was als Streben nach Freiheit, Gleichheit
und Brüderlichkeit begonnen hatte, war in brutale Gewalt
umgeschlagen.
Was war schiefgelaufen? Wie konnte der rationale Humanismus
der Aufklärung so schnell entzaubert werden?
Friedrich Schiller, der berühmte Dramatiker und Freund
Goethes, der damals Professor für Geschichte und Philosophie
an der Universität Jena war, erkannte als einer der
ersten, dass Rationalität alleine nicht die Grundlage wahrer
Humanität, von Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit sein
kann. In seinen «Briefen über die ästhetische Erziehung
der Menschheit» (Schiller 1795 a,b,c) beschreibt er das
«Spiel» als Ausgangspunkt und Urbild aller menschlichen
Kultur und Bildung. Freiheit und schöpferisches Handeln
werden möglich, wenn wir das Irdische und das Geistige,
das Leben und die Form, durch unsere eigene Tätigkeit
in ein ausgewogenes Verhältnis bringen. Das Spiel ist die
Quelle aller Kunst, aller Kultur und Bildung. Es führt uns in
ein Verhältnis zur Welt, das die Grenzen des Gegebenen
anerkennt und zugleich neue Möglichkeitsräume für die
Zukunft eröffnet. Für Schiller werden wir im und durch das
Spiel ganz Mensch.
people and supportive education for children whose path
through the body into the world is particularly challenging
and needs mindful attention and accompaniment.
I only want to highlight two members of this community in
Jena, around 1800. Andrea Wulf (2022) has written a wonderful
book about them, ‹Magnificent Rebels›.
1800 was the time just after the French Revolution: The
French people had overthrown the tyrannical monarchy
and cut the power of the church. The revolutionaries had
replaced the old religion with what they called the «Festival/Cult
of Reason». But this rulership of reason had descended
into a «Reign of Terror». What had started as a
quest for freedom, equality and brotherhood, had turned
into brutal violence.
What had gone wrong? How did the rational humanism of
the Enlightenment become dis-enchanted so quickly?
Friedrich Schiller, the famous playwright and friend of
Goethe’s, who was a Professor of History and Philosophy
at the University of Jena at the time, was one of the first to
recognize that rationality by itself could not be the foundation
of true humanity, of freedom, brotherhood and
equality. In his «Letters on the Aesthetic Education of Humanity»
(Schiller 1795 a,b,c), he describes «Play» (Spiel) as
the starting point and archetype of all human culture and
education. Freedom and creative action become possible
when we bring the earthly and the spiritual, life and form,
into a balanced relationship through our own activity. Play
is the source of all art, all culture and education. It leads us
into a relationship to the world that recognizes the limitations
of what is given and at the same time opens up new
spaces of possibility for the future. For Schiller, it is in and
through play that we become fully human.
For his young student, Friedrich von Hardenberg, who
adopted the pen name Novalis, another polarity becomes
important: that between day consciousness and night
consciousness. Day consciousness is our awake, ordinary
‹modern› consciousness. Night consciousness, to Novalis,
is that deeper consciousness that puts us in touch with an
inner world of images, with imagination, inspiration and
intuition – with other and to him deeper ways of knowing
than the ones accessible to our day consciousness. In
his «Hymns to the Night» (Novalis 1910), he explores this
threshold – of letting go of rational day consciousness and
transforming our relationship to the world through a kind
of death and re-awakening into an experience of reality
that is deepened by imagination, inspiration and intuition.
It is through these ‹transrational› ways of knowing that
ideas for the future can come to us, while our day consciousness,
by itself, remains stuck in what we are already
familiar with.
Für seinen jungen Studenten Friedrich von Hardenberg,
der sich den Künstlernamen Novalis gab, wird eine andere
Polarität wichtig: die zwischen Tag- und Nachtbewusstsein.
Das Tagesbewusstsein ist unser waches, gewöhnliches
‹modernes› Bewusstsein. Das Nachtbewusstsein ist
für Novalis jenes tiefere Bewusstsein, das uns mit einer inneren
Bilderwelt, mit Imagination, Inspiration und Intuition
in Berührung bringt – mit anderen und nach seiner Einschätzung
tieferen Wegen des Erkennens als denen, die
unserem Tagesbewusstsein zugänglich sind. In seinen
8 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
9
«Hymnen an die Nacht» (Novalis 1910) erkundet er diese
Schwelle – das Loslassen des rationalen Tagesbewusstseins
und die Umwandlung unserer Beziehung zur Welt
durch eine Art Tod und Wiedererwachen in ein Erleben der
Wirklichkeit, das durch Imagination, Inspiration und Intuition
vertieft wird. Durch diese ‹transrationalen› Formen
der Erkenntnis können uns Ideen für die Zukunft kommen,
während unser Tagesbewusstsein in dem stecken bleibt,
was uns bereits vertraut ist.
Mit unserem rationalen Tagesbewusstsein, unserer instrumentellen
Vernunft, können wir uns Ziele setzen, die auf
dem basieren, was wir bereits wissen, und einen Plan ausarbeiten,
wie wir dorthin gelangen. Aber wenn wir die Nacht
in unser Bewusstsein einbeziehen, finden wir Intuitionen, die
wie Samen für etwas völlig Neues sind, die etwas aus der
Zukunft durch uns in den gegenwärtigen Moment kommen
lassen.
Im 19.Jahrhundert, nach diesem Moment in Jena, entwickelten
sich zwei Dinge: Einerseits beschleunigte die industrielle
Revolution mit ihren Fabriken und Maschinen
die Eroberung und Ausbeutung der Welt und der anderen
Menschen, insbesondere derjenigen, die als ‹Andere›, als
nicht völlig rationale Wesen erschienen, um den von der
instrumentellen Vernunft gesetzten Zielen zu dienen. Dies
führte in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zu der
Vorstellung, dass es so etwas wie eine ‹allgemeine Intelligenz›
gäbe, über die manche Menschen mehr, andere
weniger verfügen, und dass dies den wahren Wert eines
Menschen ausmache. Und dass Menschen, die nicht genug
von dieser Art von ‹Intelligenz» haben, deren ‹IQ› zu
niedrig sei, wertlos, ‹nutzlos› und eine Last seien. Diese
Idee wird oft ‹Eugenik› genannt, nach Francis Galton, der
sie formuliert hat (Galton 1909).
Gleichzeitig gab es andere, die sich von den Ereignissen in
Jena um 1800 inspirieren liessen und in dieser ‹Wiederverzauberung
des Humanismus›, diesem Versuch, die Heiligkeit
des Menschseins wieder anzuerkennen, den Keim, die
Intuition für eine menschlichere Kultur und Gesellschaft,
eine menschlichere Zivilisation der Zukunft sahen. Einer
derjenigen, die versuchten, diese «wiederverzauberte»
Sicht des Menschen gesellschaftlich und praktisch fruchtbar
zu machen, war Heinrich Marianus Deinhardt (1821-
1880), der 1861, im Geburtsjahr Steiners, den Begriff
‹Heilpädagogik› prägte (vgl. Georgens & Deinhardt 1861).
Er war in der Nähe von Jena aufgewachsen, hatte dort in der
Nähe von Halle studiert und war ein Freund von Karl Julius
Schröer, dem späteren Hochschullehrer Rudolf Steiners.
Wir wissen nicht, ob Steiner ihn in Wien noch gesehen oder
getroffen hat – er starb 1880 in Armut –, aber wir können
annehmen, dass Schröer Steiner mit Deinhardts Werk bekannt
gemacht hat (siehe Anthrowiki 2024).
With our rational day consciousness, our instrumental
reason, we can set ourselves goals based on what we already
know and figure out a plan of how to get there. But it
is when we include the night in our consciousness that we
find intuitions, which are like seeds for something completely
new, which allow something from the future to
come into the present moment through us.
In the 19 th Century, after this moment in Jena, two things
developed: On the one hand, the industrial revolution, with
factories and machines, was speeding up the conquest and
exploitation of the world and of other human beings, especially
those who appeared as ‹Other›, as not fully rational,
to serve the goals set by instrumental reason. This led, in
the second half of the 19 th century, to the idea that there is
something like a ‹general intelligence›, of which some people
have more, and some people less, and that this is what
determines the real value of a human being. And that people
who don’t have enough of this kind of ‹intelligence›,
whose ‹IQ› is too low, are not worthwhile, are ‹useless› and
a burden. This idea is sometimes called ‹eugenics›, after
Francis Galton, who formulated it (Galton 1909).
At the same time, there were others who were inspired by
what had happened in Jena around the year 1800, and who
saw in this ‹Re-Enchantment of Humanism›, this attempt
to see again the sacredness of what it means to be human,
the seeds, the intuition for a more human culture and society,
a more human civilization of the future. One of those,
who were trying to make this ‹Re-Enchanted› view of the
human being socially and practically fruitful, was Heinrich
Marianus Deinhardt (1821-1880), who in 1861, the
year of Steiner’s birth, coined the term ‹Heilpädagogik›,
‹Healing› or ‹Supportive Education› (see Georgens & Deinhardt
1861). He had grown up near Jena, studied there and
nearby in Halle, and was a friend of Karl Julius Schröer’s,
Rudolf Steiner’s later university teacher. We don’t know
if Steiner still saw or met him in Vienna – he died in 1880,
in poverty – but we can assume that Schröer introduced
Steiner to Deinhardt’s work (see Anthrowiki 2024).
In Deinhardt’s work, we see some of the seeds of inclusive
social development. Already as a young student, in
his 20s, he was interested in how to bring about a new inclusive
society, in which communities of people governed
themselves, based on democratic processes in which all
members of the community could participate. He thought
about how economic processes could be organized in
associative and cooperative forms that put them in the
hands of those directly involved. And he saw that to make
this possible, every member of society would need to have
access to a truly human education; an education that is
focused on developing and unfolding the potential of each
In Deinhardts Arbeit sehen wir einige der Keime für eine
inklusive soziale Entwicklung. Schon als junger Student
in seinen 20ern interessierte er sich dafür, wie man eine
neue, inklusive Gesellschaft schaffen könnte, in der sich
Gemeinschaften von Menschen selbst regieren, basierend
auf demokratischen Prozessen, an denen alle Mitglieder
der Gemeinschaft teilnehmen können. Er dachte darüber
nach, wie wirtschaftliche Prozesse in assoziativen und genossenschaftlichen
Formen organisiert werden könnten,
um sie in die Hände der unmittelbar Beteiligten zu legen.
Und er erkannte, dass dazu jedes Mitglied der Gesellschaft
Zugang zu einer wahrhaft menschlichen Bildung haben
müsste; einer Bildung, die darauf ausgerichtet ist, das Potenzial
jedes Einzelnen zu entwickeln und zu entfalten, um
ein freier und kreativer Teilnehmer am gesellschaftlichen
Prozess zu werden (Stöger 2017). Dies wäre eine Bildung,
die von Schillers Idee des ‹Spiels› als Quelle aller menschlichen
Kultur, der Kunst, der Erforschung und der schöpferischen
Teilhabe an der Welt inspiriert ist: eine praktische
Erziehungskunst, die die Entwicklung einer wahrhaft
menschlichen Kultur der Zukunft unterstützt, trotz des
unaufhaltsamen ‹Fortschritts› einer zunehmend mechanisierten
Zivilisation (siehe Deinhardt 1861).
Später, während des Ersten Weltkrieges, sagte Steiner über ihn:
«[Dieser] Mann wollte gar nichts anderes, als den ungeheuren
geistigen Impuls, der in Schillers Briefen über die
ästhetische Erziehung des Menschen liegt, pädagogisch
fruchtbar machen für die ganze Menschheit. [...] [Er]
starb Hungers. Niemand hat sich interessiert dafür, dass
aus diesen Briefen über die ästhetische Erziehung des
Menschen gezogen werden kann etwas, was das ganze
geistige Niveau der Menschheit durch eine ungeheuer
tiefe soziale Volkspädagogik heben könnte.» (Steiner GA
251, S. 399)
In Wien arbeitete Deinhardt mit Kindern mit verschiedenen
Behinderungen und Entwicklungsschwierigkeiten sowie
mit Kindern aus verarmten und sozial ausgegrenzten
Verhältnissen. Er war zutiefst davon überzeugt, dass alle
Kinder und alle Menschen zur Entwicklung fähig sind, dass
jeder eine sinnvolle Beziehung zur Welt und zu anderen
finden kann und dass dies – das Eingehen einer echten,
sinnvollen Beziehung zur Welt und zu anderen – das ist,
was es uns ermöglicht, als menschliche Wesen voll gegenwärtig
zu sein.
Als Deinhardt 1861 über «Heilpädagogik» schrieb, war ihm
vor allem eines wichtig, um seine «praktische Erziehungskunst»
und seine Vision einer inklusiven Gesellschaftsentwicklung
weiterzuentwickeln: ein grundlegend neues
und praktisches Verständnis des Menschen als verkörpertes
geistiges Wesen in der Welt; ein Verständnis, das alle
Dimensionen des Menschseins in einem integralen oder
transdisziplinären Bild zusammenführt. Er hatte das Gefühl,
dass er noch nicht in der Lage war, dies zu entwickeln.
Wie dies zu erreichen sei, war seine Frage an die Zukunft
(Georgens & Deinhardt 1861).
individual to become a free and creative participant in the
social process (Stöger 2017). This would be an education,
inspired by Schiller’s idea of ‹play› as the source of all human
culture, of art, exploration and creative participation
in the world: a practical art of education that supports the
development of a truly human culture of the future, despite
the unstoppable ‹progress› of on increasingly mechanized
civilization (see Deinhardt 1861).
Later, during the First World War, Steiner said about him:
«This man actually didn’t aim for anything other than to
make the incredible spiritual impulse that lies in Schiller's
Letters on Aesthetic Education fruitful for all of humanity.
[…] He dies of hunger. Nobody was interested in
the fact that something can be taken from these Letters
on the Aesthetic Education of Humanity that could lift up
the entire spiritual state of humanity through an incredibly
deep education for all.» (GA 251, p. 399, transl. JG)
In Vienna, Deinhardt worked with children with various
disabilities and developmental difficulties, as well as children
from impoverished and socially marginalized backgrounds.
He was deeply convinced that all children and
all human beings are capable of development, that everyone
can find a meaningful relationship to the world and
to others, and that this – entering into a real, meaningful
relationship to the world and to others – is what allows us
to be fully present as human beings.
When Deinhardt wrote about «Heilpädagogik», about
«healing» or «supportive» education in 1861, there was
one thing in particular, which he felt would be needed in
order to further develop his «practical art of education»
and his vision of inclusive social development: a fundamentally
new and practical understanding of the human
being as an embodied spiritual being in the world; an
understanding that brings all the dimensions of what it
means to be human together in one integral or transdisciplinary
picture. This, he felt, he hadn’t been able to develop
yet. How to accomplish this was his question to the future
(Georgens & Deinhardt 1861).
Rudolf Steiner’s course on «Heilpädagogik»
or Supportive Education
When Steiner (GA 317) gave his course on «Heilpädagogik»,
on supportive education in 1924, he offered such
a transdisciplinary understanding of the human being – in
the form of anthroposophy – as a foundation for education
and support for children with developmental difficulties.
In the course, Steiner frames child development as a process
by which the I, the spiritual individuality, shapes its
10 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
11
Rudolf Steiners
«Heilpädagogischer Kurs»
Als Steiner (GA 317) 1924 seinen Kurs über «Heilpädagogik»
gab, bot er ein solches transdisziplinäres Menschenbild
– in Form der Anthroposophie – als Grundlage für die
Erziehung und Förderung von Kindern mit Entwicklungsstörungen
an. Steiner stellt darin die kindliche Entwicklung
als einen Prozess dar, in dem das Ich, die geistige
Individualität, den eigenen Leib als Instrument für die Beziehung
zur Aussenwelt bildet. Gelingt dies, so dient der
Körper als Resonanzorgan für die Wahrnehmung, durch
das das Ich unmittelbar in der Welt präsent sein kann. Dies
ist auch die Grundlage für ein Erlebnis der Selbstwirksamkeit:
Das Ich nimmt die Welt wahr und hinterlässt durch
seine verkörperte Präsenz seine Signatur in der Welt. Der
Entwicklungsprozess, der dazu führt, ist jedoch ein sensibler
und fragiler; er ist Störungen unterworfen, die ihren
Ursprung in den Bedingungen der äusseren Welt, in den erblichen
Gegebenheiten, die den Grundstein für die Fähigkeit
des Ichs zum Aufbau eines neuen Körpers legen, oder
in der geistigen Biographie des Ichs selbst haben können.
Mit anderen Worten: Die Art und Weise, wie Kinder in die
Welt kommen und ein resonantes Verhältnis zur Welt und
Selbstwirksamkeit in der Welt aufbauen, ist immer durch
die Vergangenheit bedingt, gleichwie sie auch immer die
Möglichkeit einer radikal neuen Zukunft in sich trägt.
Steiner charakterisiert die Heilpädagogik als einen Prozess
der Verwandlung von Karma. Dieser Gedanke ist für viele
heute eine Herausforderung. Auf einer grundlegenden
Ebene bedeutet es dies einfach: Zu jedem Zeitpunkt ist
die Situation, mit der wir es zu tun haben, einschliesslich
ihrer Herausforderungen und begrenzenden Faktoren,
das Ergebnis vergangener Ereignisse. Alles, was ist, ist
durch vergangene Ereignisse entstanden. Dies gilt sogar
für unsere physische Umgebung: Sie ist das verfestigte Ergebnis
vergangener Prozesse. Einige dieser Bedingungen
können mit einer Vergangenheit in Beziehung stehen, an
der wir selbst beteiligt waren, aber es gibt auch sehr viele
Aspekte und Umstände, die unser Leben bestimmen und
die zu einer kollektiven Vergangenheit gehören, zu den
Familien, Gemeinschaften und Gesellschaften, den Landschaften
und Orten auf der Erde, die wir für unsere Inkarnation
als Kontext wählen (siehe Göschel 2024).
own body as an instrument through which it can connect
with the outer world. If this is successful, the body serves
as a resonant organ of perception, allowing the I to be
directly present through it, in the world. This is also the
foundation of a sense of agency: The I perceives the world
and leaves its signature in the world through its embodied
presence. However, the developmental process that leads
to this is a sensitive and fragile one; it is subject to disturbances
that can originate in the conditions of the outer
world, in the hereditary circumstance that lay the foundation
for the I’s ability to build a new body, or in the spiritual
biography of the I itself. In other words: the way children
come into the world and establish a resonant relationship
to the world and a sense of agency in the world is always
conditioned by the past, just as it also always holds within
it the possibility of a radically new future.
Steiner characterizes supportive education as a process
of transforming karma. That is a challenging thought for
many today. On a basic level, it means this: At any given
moment, the situation that we are dealing with, including
its challenges and limiting factors, is the result of past
events. Everything that is, has come into being through
past events. This even holds true for our physical environment:
it is the solidified result of past processes. Some of
these conditions may relate to a past that we have been individually
involved in, but there are also very many aspects
and circumstances that condition our lives, and which belong
to a collective past, to the families, communities and
societies, the landscapes and places on the earth, through
which we choose to incarnate (see Göschel 2024).
The conditions that we inherit from the past give us solid
ground to stand on, but they also give us resistance. And if
that were all, if everything that happened were just a consequence
of the past, which sends its effects forward in a
causal chain, there could be no freedom. But in Steiner’s
understanding of the human being, as he also develops it
in his course on supportive education, the important thing
is this: at every moment in time, we have the possibility to
bring a completely new impulse into the world; to plant a
seed of the future, which then transforms everything that
is. We can do something that no outer reason compels us
to do; we can withhold an action that we would have taken,
had we simply followed our past patterns, habits and
instincts, and we can take a completely open and neutral
stance, making space for an intuition of a yet unknown
future possibility that wants become real. This gesture of
‹making space for the future› is what it means to transform
karma in Steiner’s sense.
Die Bedingungen, die wir aus der Vergangenheit geerbt
haben, geben uns festen Boden unter den Füssen, aber
sie geben uns auch Widerstand. Und wenn das alles wäre,
wenn alles, was geschieht, nur eine Folge der Vergangenheit
wäre, die ihre Wirkungen in einer Kausalkette fortsetzt,
könnte es keine Freiheit geben. Aber in Steiners
Menschenbild, wie er es auch in seinem Heilpädagogischen
Kurs entwickelt, kommt es darauf an, dass wir in jedem
Augenblick die Möglichkeit haben, einen ganz neuen
Impuls in die Welt zu bringen, einen Samen der Zukunft
zu pflanzen, der dann alles, was ist, verwandelt. Wir können
etwas tun, wozu uns kein äusserer Grund zwingt; wir
können eine Handlung zurückhalten, die wir getan hätten,
wenn wir einfach unseren bisherigen Mustern, Gewohnheiten
und Instinkten gefolgt wären, und wir können eine
völlig offene und neutrale Haltung einnehmen, die einer Intuition
von einer noch unbekannten zukünftigen Möglichkeit,
die Wirklichkeit werden will, Raum gibt. Diese Geste
des ‹Platzmachens für die Zukunft› ist es, was es bedeutet,
Karma im Sinne Steiners zu transformieren.
An anderer Stelle spricht Steiner auch von Prinzipien
und Qualitäten einer zukünftigen Gesellschaft, die noch
im Keimstadium sind, die aber bereits als Möglichkeiten
wahrgenommen werden können und mit denen wir in
eben diesem Sinne arbeiten können, um der Zukunft unter
den Bedingungen der Gegenwart Raum zu geben (vgl. GA
186, GA 257). Er charakterisiert diese zukünftige Gesellschaft
als eine, die auf einer Kultur des Mitgefühls und
der Empathie aufbaut, die in die Tat umgesetzt wird. Die
Wahrnehmung der Erfahrung und des Leidens des Anderen
wird so real werden, dass wir sie nicht mehr ignorieren
können. Die Bedürfnisse des Anderen werden zu einer
grundlegenden Tatsache des gesellschaftlichen Lebens.
Dies geht einher mit einer Geste des bedingungslosen Respekts
für die unantastbare Integrität des inneren Lebens
des anderen. Es wird zur Erfahrung einer objektiven Realität
werden, dass dieses innere Seelenleben des anderen
einen Raum der Freiheit bildet, in den ich nicht eindringen
darf. Und zum anderen werden neue und tiefere Erkenntnisweisen,
die über die persönliche Perspektive und den
eigenen Standpunkt hinausgehen, ohne diese zu negieren,
Erkenntnisweisen, die zu einer Begegnung mit dem
Wesen und der Essenz der Phänomene in der Welt führen,
zu der pfingstlichen Erfahrung führen, dass wir letztlich
alle in derselben gemeinsamen Wirklichkeit leben und uns
über alle Unterschiede hinweg verständigen können. Diese
Qualitäten einer zukünftigen Zivilisation, die bereits jetzt
keimhaft entwickelt werden können, können als Leitprinzipien
für eine inklusive soziale Entwicklung im anthroposophischen
Sinne dienen.
Der Weg durch die Nacht
In other places, Steiner also speaks of the principles and
qualities of a future society that are still only in their germinal
stage, but which can already be perceived as possibilities,
and which we can work with in just this sense of
making space for the future within the conditions of the
present (see GA 186, GA 257). He characterizes this future
society as one that is built on a culture of compassion and
empathy that moves into action. The perception of the experience
and the suffering of the other will become so real
that we can no longer ignore it. The needs of the other will
become a fundamental fact of social life. This goes together
with a gesture of unconditional respect for the inviolable
integrity of the inner life of the other. It will become
the experience of an objective reality, that this inner life of
the soul of the other forms a space of freedom into which I
must not intrude. And on the other hand, new and deeper
ways of knowing that transcend personal perspective and
standpoint without negating these, ways of knowing that
lead to an encounter with the being and essence of the phenomena
in the world, will lead to a Whitsun-like experience
that we all ultimately live in the same shared reality and
can understand each other across all differences. These
qualities of a future civilization that can be developed in a
germinal state already now, can serve as guiding principles
for inclusive social development in an anthroposophical
sense.
The path through the night
What does all of this mean in relation to the dilemma of
reason, rationality and the autonomy of the rational individual
as founding principles of Modern civilization that
we started out with? Certainly, as Sylvia Wynter (2003; also
in Scott 2000) also emphasizes, the question is not one of
rejecting reason and going back to a pre-modern understanding
of the human being and society. Such ‹romanticism›
that longs for a past in which, however permeated
with a spiritual understanding of the human being, the
earth and the cosmos it was, the individual human being
only counted as a cell in a larger body, was also definitively
not what the Jena Romantics had in mind. Fiercely individualistic,
they were instead looking for a way to expand
the possibilities of the emancipated I to relate to the world
without giving up its emancipatory achievements.
To Novalis, this meant finding a way to re-integrate the
‹night side› of our experience into our relationship with
the world (see Wulf 2022). Modern consciousness has
come about by a contraction of our experience to its ‹day
side›: that is what instrumental rationality is. In instrumental
rationality, my consciousness is fully present in
and to the outer physical and sense-perceptible world.
This awake or ‹enlightened› state is achieved by excluding
Was bedeutet all dies in Bezug auf das Dilemma der Vernunft,
der Rationalität und der Autonomie des rationalen
Individuums als Grundprinzipien der modernen Zivilisation,
von denen wir ausgegangen sind? Sicherlich geht es,
wie auch Sylvia Wynter (2003; auch in Scott 2000) betont,
nicht darum, die Vernunft abzulehnen und zu einem vormodernen
Verständnis von Mensch und Gesellschaft zurückzukehren.
Eine solche ‹Romantik›, die sich nach einer
Vergangenheit sehnt, in der der einzelne Mensch, so sehr
er auch von einem spirituellen Verständnis des Menschen,
der Erde und des Kosmos durchdrungen war, nur als Zelle
in einem grösseren Körper zählte, war auch definitiv nicht
12 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
13
das, was die Jenaer Romantiker im Sinn hatten. Dezidiert
individualistisch suchten sie stattdessen nach einem Weg,
die Beziehungsmöglichkeiten des emanzipierten Ichs zur
Welt zu erweitern, ohne seine emanzipatorischen Errungenschaften
aufzugeben.
Für Novalis bedeutete dies, einen Weg zu finden, die
‹Nachtseite› unserer Erfahrung wieder in unsere Beziehung
zur Welt zu integrieren (siehe Wulf 2022). Das moderne
Bewusstsein ist durch eine Kontraktion unserer
Erfahrung auf ihre ‹Tagseite› entstanden: Das ist es, was
instrumentelle Rationalität ausmacht. In der instrumentellen
Rationalität ist mein Bewusstsein in und für die äussere,
physische und sinnlich wahrnehmbare Welt voll präsent.
Dieser wache oder ‹aufgeklärte› Zustand wird erreicht, indem
alle Erfahrungen, die nicht durch die Sinne vermittelt
sind, und alle anderen Arten des Wissens als die rationale,
die in der Lage ist, kausale Beziehungen innerhalb der
äusseren, sinnlich wahrnehmbaren Welt zu verstehen,
ausgeschlossen werden. Das bedeutet aber auch, dass es
sich um eine Art des Erkennens handelt, die grundsätzlich
durch die Vergangenheit bedingt ist, in Form der bereits
vorhandenen äusseren Tatsachen und der Kausalketten,
die von ihnen in die Zukunft wirken. Sie ist nicht in der
Lage, die Quellen der schöpferischen Intuition, Fantasie
und des schöpferischen Handelns zu erschliessen, durch
die der Keim einer anderen Zukunft in die Welt gebracht
werden kann.
all experiences that are not mediated by the senses, and
all other ways of knowing than the rational one, which is
able to understand causal relationships within the outer,
sense-perceptible world. But this also means it is a way of
knowing that is fundamentally conditioned by the past, in
form of the outer facts that already are, and of the causal
chains that work from the past into the future. It is unable
to unlock the sources of creative intuition, imagination
and action through which the seeds of a different future
can be brought into the world.
From this point of view, it makes sense that Steiner introduces
the Point-Circle-Meditation as the central mediation
for those, whose professional task is in supportive education
and inclusive social development. The Point-Circle-Meditation
is a way of going the path through the
night, of integrating the sources of intuition, inspiration
and imagination into our daily action, in the sense of what
Novalis and Wynter are looking for. It is a meditation to
support the «Re-Enchantment of Humanism» (Wynter in
Scott 2000); the healing of the wound of Modernity and
with it perhaps also the difficult legacy of the West. A
re-enchanted humanism in Wynter’s sense builds on the
emancipatory impulses that allowed the individual human
being to be recognized in its capacity for agency and
individual action in the world. It accomplishes a deeper
emancipation by freeing that individual from the limited
verwandeln, also die Zukunft in der Gegenwart erscheinen
zu lassen, auf die Steiner in seinem Kurs über unterstützende
Erziehung (GA 317) hindeutet.
Diese Fähigkeiten beruhen auf der Entwicklung einer resonanten
Beziehung zu anderen und zur Welt, die nicht
auf Beherrschung und Kontrolle fusst. Diese resonante
Beziehung ist es, die den Raum zwischen Ich und Du öffnet,
in dem etwas Neues gegenwärtig werden kann (siehe
Rosa 2016). Sie führt von einer rein individualistischen zu
einer relationalen Sichtweise dessen, was es bedeutet, ein
Mensch zu sein; eine Sichtweise, die die Fähigkeit zur Beziehung
und zur Schaffung von Zwischenräumen als grundlegend
anerkennt, sogar grundlegender als Vernunft und
Rationalität, ohne die Nützlichkeit der beiden letzteren zu
leugnen. Dieses Verständnis, dass wir verkörperte geistige
Wesen sind, die in ihren Beziehungen zueinander, zur Erde
und zum Kosmos nach Resonanz und Handlungsfähigkeit
suchen, bildet die Grundlage für die Art von Heilpädagogik
und inklusiver sozialer Entwicklung, die wir hier gemeinsam
entwickeln können.
concept of individual agency that is inherent in an instrumental
relationship to the world: that of mastery and control
of outer circumstances. It expands the possibilities
to include moral intuition, moral imagination and moral
technique, in the sense of Steiner’s Philosophy of Freedom
(GA 4), and the possibility to transform karma, to make the
future appear in the present, that Steiner points towards in
his course on supportive education (GA 317).
These abilities are based on the development of a resonant
relationship to others and to the world, not one that
is based on domination and control. This resonant relationship
is what opens up the space between I and You,
in which something new can become present (see Rosa
2016). It leads from a purely individualistic to a relational
view of what it means to be human; one that recognizes
the ability to relate and to create in-between-spaces as
fundamental, even more fundamental than reason and
rationality, without denying the utility of the latter two.
This understanding that we are embodied spiritual beings,
looking for resonance and agency in our relationships to
each other, to the earth and to the cosmos, provides the
foundation for the kind of supportive education and inclusive
social development that we have the opportunity to
develop together here.
Unter diesem Gesichtspunkt macht es Sinn, dass Steiner
die Punkt-Kreis-Meditation als zentrale Mediation für diejenigen
einführt, deren berufliche Aufgabe in der Heilpädagogik
und der inklusiven sozialen Entwicklung liegt.
Die Punkt-Kreis-Meditation ist eine Möglichkeit, den Weg
durch die Nacht zu gehen, die Quellen der Intuition, Inspiration
und Imagination in unser tägliches Handeln zu integrieren,
im Sinne dessen, was Novalis und Wynter suchen.
Es ist eine Meditation zur Unterstützung der «Wiederverzauberung
des Humanismus» (Wynter in Scott 2000); der
Heilung der Wunde der Moderne und damit vielleicht auch
des schwierigen Erbes des Westens. Ein wiederverzauberter
Humanismus im Sinne Wynters baut auf den emanzipatorischen
Impulsen auf, die es dem einzelnen Menschen
ermöglichten, in seiner Handlungsfähigkeit und seinem
individuellen Handeln in der Welt anerkannt zu werden. Er
erreicht eine tiefere Emanzipation, indem er das Individuum
von dem begrenzten Begriff individueller Handlungsfähigkeit
befreit, das einem instrumentellen Verhältnis
zur Welt innewohnt: dem der Beherrschung und Kontrolle
über die äusseren Umstände. Stattdessen erweitert sie die
Möglichkeiten um moralische Intuition, moralische Imagination
und moralische Technik im Sinne von Steiners Philosophie
der Freiheit (GA 4) und die Möglichkeit, Karma zu
Literature | Literatur
Abraham Lincoln Presidential Library and Museum: The Gettysburg Address.
Verfügbar unter https://presidentlincoln.illinois.gov/exhibits/
online-exhibits/gettysburg-address-everett-copy/ (10.02.2025) ||| AnthroWiki:
Heinrich Marianus Deinhardt. Verfügbar unter https://anthrowiki.at/Heinrich_Marianus_Deinhardt
(13.03.2024) ||| Deinhardt, H.M.
(1861): Beiträge zur Würdigung und zum Verständnisse Schillers. Erster
Band. J. G. Cotta’scher Verlag, Stuttgart ||| Frielingsdorf V., Grimm R. &
Kaldenberg, B. (2013): Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik
und Sozialtherapie: Entwicklungslinien und Aufgabenfelder 1920-
1980. Verlag am Goetheanum & Athena Verlag, Dornach & Oberhausen.
Galton, F. (1909): Essays on Eugenics. The Eugenics Education Society,
London ||| Georgens, J.-D. & Deinhardt, H.M. (1861): Die Heilpädagogik.
Mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten.
Erster Band. Fleischer., Leipzig ||| Göschel, J. (2024): Heilpädagogik als
gestalterisches Handeln in karmischen Zusammenhängen: Wiederverkörperung
und Schicksal im Heilpädagogischen Kurs. In: J. Göschel &
R. Grimm (Hrsg.). «…ein fortwährender lebendiger Zusammenhang»:
Beiträge zu Rudolf Steiners Heilpädagogischem Kurs. S. 463-488. Verlag
am Goetheanum & wbv | ATHENA, Dornach & Oberhausen ||| Novalis
(1910): Hymnen an die Nacht. Die Christenheit oder Europa. Insel-Verlag,
Leipzig ||| Rosa, H. (2016): Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung.
Suhrkamp, Berlin ||| Schiller, F. (1795a): Ueber die ästhetische Erziehung
des Menschen in einer Reyhe von Briefen. In: Schiller F (Hg.). Die Horen.
Band 1. 1. Stück. Tübingen; 7-48 ||| Schiller, F. (1795b): Ueber die ästhetische
Erziehung des Menschen. In: Schiller F (Hg). Die Horen. Band 1, 2.
Stück. Tübingen; 51–94 ||| Schiller, F. (1795c): Die schmelzende Schönheit.
Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. In:
Schiller F (Hg). Die Horen. Band 2, 6. Stück. Tübingen; 45-124 ||| Scott,
D. (2000): The Re-Enchantment of Humanism: An Interview with Sylvia
Wynter. Small Axe 8, 119-207 ||| Steiner, R. (2021): Die Philosophie
der Freiheit (GA 4). Rudolf Steiner Verlag, Basel ||| Steiner, R. (1990): Die
soziale Grundforderung unserer Zeit. In geänderter Zeitlage (GA 186).
Vortrag vom 12.12.1918. Rudolf Steiner Verlag, Dornach ||| Steiner, R.
(2023): Zur Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft 1913-
1922 (GA 251). Vortrag vom 12. Juni 1917. Rudolf Steiner Verlag, Basel
||| Steiner R. (1989): Anthroposophische Gemeinschaftsbildung (GA 257).
Vorträge vom 27.02.1923, 28.02.1923, 03.03.1923, 04.03.1923. Rudolf
Steiner Verlag, Dornach ||| Steiner, R. (2024): Heilpädagogischer Kurs (GA
317). Rudolf Steiner Verlag, Basel ||| Stöger, C. (2017): Die Idee der Demokratie
von 1848: Studien zu Heinrich Deinhardts frühem Leben und
Werk (1821-1851). Klinkhardt, Bad Heilbrunn ||| Wulf, A. (2022): Magnificent
Rebels: The First Romantics and the Invention of the Self. Alfred A.
Knopf, New York Wynter, S. (2003): Unsettling the Coloniality of Being/
Power/Truth/Freedom: Towards the Human, After Man, Its Overrepresentation
– An Argument. The New Centennial Review, Volume 3, Number
3, 257-337 (https://doi.org/10.1353/ncr.2004.0015).
14 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
15
Darsteller und
Regisseur
Aus der Zusammenarbeit mit dem Maler Arnkjell Ruud:
Ein Versuch
von Hannes Weigert
Performer and
Director
From the collaboration with the painter Arnkjell Ruud:
An experiment
by Hannes Weigert
I.
... und dann ist da ein Bild mit einer braunen Fläche.
Das ist ein Malbrett.
Ein Malbrett?
Arnkjell Ruud malte eine Reihe von Selbstbildnissen. Er
sass vor einem grossen Spiegel, in dem sich auch die
Staffelei und das Bild zeigte. Wir sehen das Malbrett
von hinten. Auf der anderen Seite wäre das Bild, das
gerade im Entstehen ist.
Wo ist der Maler?
Den Maler haben wir weggelassen.
Hätte Arnkjell Ruud das Bild so gelassen?
Ich glaube nicht, dass er das Bild als fertig betrachtet.
Vielleicht ist es auch nicht fertig. Doch darum geht es
nicht.
Worum geht es?
Es geht darum, dass in dem Moment, wo man innehält
im Malen, etwas anwesend ist, manchmal. Man kann
etwas bemerken, was sofort vorübergeht, wenn man
weitermalen würde.
Was ist das?
Durch diese braune Fläche in dem hellen Raum entsteht
eine Offenheit und eine Präsenz, eine Geistesgegenwärtigkeit,
im Anschauen.
Sind das nun deine oder Arnkjells Bilder?
Schwierige Frage. Arnkjell hat sie gemalt. 1
I.
… and there is a painting there with a brown surface.
That is a painting board.
A painting board?
Arnkjell Ruud painted a series of self-portraits. He sat
in front of a large mirror, which also showed the easel
and the painting. We see the painting board from behind.
On the other side would be the painting that is
coming into being.
Where is the painter?
We’ve left the painter out.
Would Arnkjell Ruud have left the painting like that?
I don’t believe he felt that the painting was finished.
Perhaps it isn’t finished. But that’s not the point.
What is the point?
The point is that when you pause, in painting, something
is sometimes present. You can feel something
that would immediately vanish, if you were to continue
painting.
What is it?
This brown surface in this bright space creates an
openness and a presence – a mindfulness, when you
look at it.
Are these paintings yours or Arnkjell’s?
Difficult question. Arnkjell painted them. 1
Arnkjell Ruud in der Malerverksted 2016
Fotos: Hannes Weigert
16 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
17
Arnkjell Ruud,
geboren 1945 in Drammen (Norwegen),
lebt und arbeitet seit 1970 in Vidaråsen.
Er begann vermutlich in den 90er Jahren
zu malen. Von 2010-2018 arbeitete er
mit Hannes Weigert in der Malerverksted.
Arnkjell Ruud,
born in Drammen, Norway in 1945, has
lived and worked in Vidaråsen since
1970. He probably began painting in the
1990s. He worked in the Malerverksted
with Hannes Weigert from 2010-2018.
Hannes Weigert,
geboren 1964 in Germany, studierte und lehrte
von 1985-1995 an der Malschule am Goetheanum.
Von 2010 bis 2018 künstlerischer Leiter
der Malerverksted.
Die Arbeiten, die aus der Zusammenarbeit zwischen
den beiden Malern entstanden sind, sind
jetzt im Malerverksted Arkiv in Vidaråsen.
Hannes Weigert,
born in Stuttgart in 1964, studied and taught
at the Goetheanum Painting School from
1985-1995. From 2010 to 2018 he was Artistic
Director of the Malerverksted.
The works resulting from the collaboration
between the two painters are now in the
Malerverksted Arkiv in Vidaråsen.
II.
In Alfred Hitchcocks Film Rear Window sehen wir die Fassade
eines Hauses mit vielen Fenstern, und wir sehen
Menschen, die in den Fensteröffnungen auftauchen und
wieder verschwinden. Die Fenster sind wie kleine Bilder in
einem grossen Bild. Jahrelang lagen die Fotos aus Hitchcocks
Film auf dem Arbeitstisch in der Malerverksted. 2
Immer wieder wollte ich einen Anfang machen und mit
Arnkjell an die Arbeit gehen, immer wieder jedoch zögerte
ich. Natürlich wusste ich schon, dass Arnkjell sich in seiner
Malerei besonders für Häuser und Menschen interessiert.
Aber wie schon so oft, stellte sich die Frage, warum ich diese
Bilder überhaupt mit ihm malen will, was sie mit Arnkjell
zu tun haben und ob ich ihn nicht schlichtweg dazu missbrauche,
Bilder zu malen, die ich selbst nicht malen kann. 3
III.
In den Jahren, in denen ich mit meinen Kolleginnen und
Kollegen in der Malerverksted arbeitete, hatte ich immer
das Bedürfnis, mich selbst darüber aufzuklären, was sich
in der Zusammenarbeit zwischen uns eigentlich ereignet
und wie wir gegenseitig aufeinander wirken. Ich hatte
dabei immer das Gefühl, mit meinem Verstehen an eine
Grenze zu kommen, weil ich selbst in diese im Seelischen
sich vollziehenden Wechselwirkungen so stark hineinverwoben
war, dass ich dieses Mit- und Ineinander-verwoben-
Sein nicht anschauen, mir nicht voll zu Bewusstsein bringen
konnte. Gerade weil die Zusammenarbeit von meinen
Kolleginnen und Kollegen gar nicht unbedingt als solche
aufgefasst wurde, fühle ich eine gewisse Verpflichtung
(nicht nur mir selbst gegenüber), diese Vorgänge besser
zu verstehen. 4
II.
In Alfred Hitchcock’s film Rear Window, we see the façade
of a house with many windows, and we see people appearing
and disappearing again in the windows. The windows
are like little pictures within a larger picture. For years, the
photos from Hitchcock’s film lay on a worktable in the Malerverksted.
2 So many times, I wanted to begin working on
them with Arnkjell, but every time I hesitated. Of course, I
knew that Arnkjell, in his painting, was especially interested
in houses and people. But as so often happens, I asked
myself why I even wanted to paint these pictures with him
– what they have to do with Arnkjell and whether I’d be
taking advantage of him to paint pictures that I’m not able
to paint myself. 3
III.
In the years that I worked in the Malerverksted with my
various colleagues, I always wanted to understand what
was actually happening between us in our collaboration
and how we were affecting each other. I always felt as if my
understanding came up against a boundary, because I was
so deeply entangled in these processes of soul interaction
that I was not able to see clearly or be fully conscious of
this interwovenness. Precisely because my colleagues did
not necessarily perceive the collaboration as such, I feel a
certain obligation (not only towards myself) to better understand
these processes. 4
IV.
In every human being lives something that is not encompassed
by our self-awareness. But it is precisely this
non-consciousness that becomes active in the process of
artistic creation. Kurt Schwitters points to this when he
says that it is not he, himself who paints his paintings, but
rather someone else. 5 Georg Baselitz wants to leave the
painting process to this other being within him. He says,
«I don’t want to be there when a painting is painted by
IV.
In jedem Menschen lebt etwas, was von dem Bewusstsein
von sich selbst nicht umfasst wird. Doch gerade dieses Nicht-
Bewusste ist es, das im künstlerischen Schaffensprozess
wirksam wird. Darauf deutet Kurt Schwitters hin, wenn er
sagt, nicht er selbst male seine Bilder, sondern ein anderer.
5 Georg Baselitz wiederum möchte diesem Anderen in
sich das Malen überlassen. Er sagt: ich möchte nicht dabei
sein, wenn von mir ein Bild gemalt wird. Auch Federico Fellini
sieht nicht sich selbst als Schöpfer seiner Filme an, sondern
schreibt sie einem anderen zu: «it’s someone else, not
me, with whom I co-exist, but whom I don‘t know.» – Man
kann diesen Unbekannten, der man selbst ist, kennenlernen,
sagt Rudolf Steiner: Wir sind eine Wesenheit, in der wir
selbst darinnenstehen und bei der wir beginnen können zu
lernen, uns von ihr zu unterscheiden.
V.
Bei manchen Bildern von Arnkjell Ruud, bei deren Entstehung
ich anwesend und mitwirkend sein durfte, ist es mir,
als würde ich den anderen A. R. wahrnehmen können. Ich
frage mich, ob mein Bewusstsein von diesem anderen A.
R. für die Entstehung gerade derjenigen Bilder, die diesen
mir vor Augen führen, notwendig ist.
VI.
Im malerischen Prozess wird etwas sichtbar, durch den Maler
entsteht ein Bild. Es muss aber auch gesehen werden.
Dadurch beteiligt sich der Betrachter an der Realisierung
des Bildes. Wie aber, wenn der Betrachter schon beim Malen
des Bildes an der Seite des Malers stehen und das Sichtbarwerden
anstossen, begleiten und mitgestalten würde?
Er wäre dann nicht nur Betrachter des Bildes, auch nicht
nur Zeuge des entstehenden Bildes, sondern Mit-Schaffender
des Bildes. Die Grenze zwischen Maler und Betrachter
löste sich auf. Beide wären im Malvorgang ganz darinnen,
aber in unterschiedlicher Art: Der eine tauchte in den Malvorgang
ein, der andere erlebte diesen mehr von aussen,
wahrnehmend und dirigierend. Der Maler wäre dann ein
Darsteller und der Betrachter so etwas wie ein Regisseur.
me.» Federico Fellini doesn’t see himself as the creator
of his films, either, and ascribes them to another: «It’s
someone else, not me, with whom I co-exist, but whom I
don’t know.» Rudolf Steiner says it is possible to become
acquainted with this unknown that is ourself: We are an
entity in which we, ourselves, exist and from which we can
begin to learn to distinguish ourselves.
V.
In some of the paintings by Arnkjell Ruud, in the creation
of which I was allowed to be present and to participate,
it seems to me as if I can perceive the other A. R.
I wonder if my awareness of this other A. R. is necessary to
the creation of those very paintings that reveal him to me.
VI.
In the painting process, something becomes visible: A picture
is created via the painter. But it must also be seen.
Therefore, the observer participates in the realization of
the painting. But what if the observer were to stand by the
painter’s side while the picture is being painted and initiate,
accompany and help shape the process of its becoming
visible? Then he would be not only an observer of the
picture, and not only a witness to the picture’s creation,
but also a co-creator of the picture. The boundary between
the painter and the viewer would dissolve. Both would be
completely within the painting process, but in different
ways: The one would be immersed in the painting process;
the other would experience it more from the outside, perceiving
and directing it. The painter would then be a performer
and the observer something like a director.
18 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
19
VII.
Ein Maler tritt manchmal vor seinem Bild zurück, schaut es
von aussen an, um dann erneut ins Malen unterzutauchen.
Man stelle sich vor, der Maler könnte sich aufspalten in
einen, der malt, und einen, der zurücktritt und beim Malen
zuschaut, und beide wären doch miteinander so verbunden,
dass sie zusammenwirken könnten, ohne sich verständigen
zu müssen. Was einer von ihnen täte, dächte,
sähe und erlebte, wirkte unmittelbar auf den je anderen.
Und doch wäre jeder ganz sich selbst. Der Zuschauende
könnte empfinden: Ich habe etwas in das Bild hineingelegt,
das mir durch den, der es malt, innerlich vertraut,
aber zugleich auch fremd wird. Und der Malende könnte
empfinden: In meinem eigenen Bild tritt mir etwas gegenüber,
was durch mich so entsteht, dass ich mich selbst als
dessen Ermöglicher empfinden kann.
VIII.
In dem Zusammenwirken der beiden Maler lebt etwas
– besser wäre es zu sagen: sie leben in etwas – das ich,
wenn ich es mir zu Bewusstsein zu bringen versuche, als
ein Feld des Dazwischen erfahre. Zwischen uns. Zwischen
dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Das Zwischen ist
zugleich eine Art von Schwelle. Eine Schwelle zum anderen
hin. Zum anderen als seelisch-geistiges Wesen. Die beiden
interagieren im Bereich dieser Schwelle. Hinüber und Herüber
– aber im Richten der Aufmerksamkeit auf das Bild.
Alles zwischen ihnen spielt sich über das Bild ab. Und das
Bild wird zum Ausdruck dieses Dazwischens.
IX.
Wären wir nicht verkörperte Wesen, wir könnten uns nicht
über das Sichtbare – über das äussere Bild, mit dem wir
aber innerlich verbunden sind – begegnen. Wir könnten
nur geistig in- und aufeinander wirken; unmittelbarer vielleicht,
aber nicht sichtbar. Im Geistigen ist unmittelbare
gegenseitige Durchdringung der Wesen selbstverständlich.
Beim Malen stehen wir physisch nebeneinander im
Raum, aber wir können uns – als unsichtbar-sichtbare Wesen,
die wir sind – wechselseitig geistig durchdringen. 6
X.
Wir sind uns gegenseitig Helfer. Was wir zusammen vermögen,
befreit uns beide ein wenig von uns selbst. Er holt
aus mir etwas heraus und ich aus ihm, was sonst verborgen
bliebe. Das Rätsel des Ich tritt so offener zutage. Auch
das Rätsel der Malerei, das uns verbindet. 7
VII.
Sometimes, a painter will step back from their painting,
look at it from the outside, and then dive back into it. It is
as if the painter could split into one who paints and one
who steps back and watches the painting process, both
parts so connected with each other that they can work
together without having to communicate. Whatever the
one does, thinks, sees and experiences directly affects the
other. And yet each is completely distinct. The observer
might feel: I have incorporated something into the picture
that is inwardly familiar to me through the painter, and yet
is at the same time foreign to me. And the painter might
feel: In my own painting I am confronted with something
that is created through me in such a way that I can experience
myself as its facilitator.
VIII.
Something lives within the interaction between the two
painters – or, more accurately, they live within something
– that I experience, when I try to bring it to my awareness,
as a field of inbetween-ness. Between us; between the visible
and the invisible. This between-ness is also a kind of
threshold – a threshold to the other – the other as a soulspiritual
being. The two interact within the field of this
threshold, back and forth, when focusing their attention
on the picture. Everything that is between them happens
through the picture. And the picture becomes the expression
of this inbetween-ness.
IX.
If we weren’t embodied beings, we would not be able to
meet each other through the visible – the external picture,
with which we are also internally connected. We would
only be able to interact spiritually – more directly, perhaps,
but not visibly. In the spiritual realm, direct interpenetration
of beings is natural. When we paint, we are
physically next to each other in space, but we can – as the
invisible-visible beings that we are – also spiritually interpenetrate
each other. 6
X.
We are helpers to each other. What we are able to do together
frees each of us a little from ourselves. He gets
something out of me and I get something out of him that
would otherwise remain hidden. In this way, more of the
enigma of the I is revealed. As is the enigma of painting,
which connects us. 7
Anmerkungen
1 Hannes Weigert, Zwei Maler. Selbstgespräch in der Malerverksted, Zeitschrift
Behinderte Menschen, 6-2015.
2 Die Malerverksted (Malerwerkstatt) im Camphill Vidaråsen in Norwegen
wurde 2009 von Ruth Wood und Hannes Weigert zusammen mit Arnkjell
Ruud, Reidun Tyvold Larsen, Tor Alexander Janicki und David Blair Johansen
gegründet. Von 2010 bis 2018 war Hannes Weigert der künstlerische
Leiter des Projektes. In dieser Zeit richtete er auch ein Archiv für die Bilder
ein. Über Ausstellungen, Publikationen, Filme informiert die Webseite des
Archivs (https://vidarasen.camphill.no/arkiv/category1366.html). Man
findet dort auch einen link zu dem Film Malerverksted von Arthur Gay (65
Min., 2014) und verschiedene Texte, zum Beispiel: Jasminka Bogdanovic,
Rätsel, Zeitschrift Seelenpflege, 2013-1. Malerverksted: Rudolf Steiners
Eurythmiefiguren, Zeitschrift Seelenpflege, 2014-1. Johannes Nilo, Rätsel
der Malerei, Das Goetheanum, 48-2012. Alexander Schaumann, Malerverksted:
Album, Das Goetheanum 11-2014. Torsten Steen, Steinerstudien,
Das Goetheanum 36-2015. Hannes Weigert, Goetheanum. Bilder von
Arnkjell Ruud, Zeitschrift Seelenpflege 2015-1. Zwei Maler. Selbstgespräch
in der Malerverksted, 6-2015. Goetheanum-Vorhang, Zeitschrift Seelenpflege
Special 2016.
3 Hannes Weigert, Ich und Nicht-Ich, 2019, unveröffentlicht.
4 In einer E-Mail an Gabriele Scholtes, 7.9.2024.
5 «…es ist nämlich ein anderer, der malt, das bin nicht ich.» Brief von Kurt
Schwitters, geschrieben im norwegischen Exil am 23. Dezember 1939 an
seine Frau Helma. Siehe auch: Schwitters in Norway (Den andre Schwitters).
Film von Arthur Gay und Hannes Weigert, mit Arnkjell Ruud (2014), 5 min.
(https://www.youtube.com/watch?v=_7_D6OoFoU8)
6 Zu einem möglichen Verständnis der hier angedeuteten Wechselwirkung
siehe: Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs, 2. Vortrag (26. Juni 1924).
7 Hannes Weigert, Malen mit Arnkjell Ruud, Ensemble # 2, 2025. Zum
Rätsel des Ich siehe: Johannes Nilo, Rätsel der Malerei, Das Goetheanum
48-2012. Darin beschreibt Nilo die Malerverksted als Ich-Werkstatt. Siehe
dazu auch: Christian Egge, Wachendes Träumen, träumendes Wachen. Gespräch
mit Hannes Weigert über die Malerverksted, Ensemble # 2, 2025.
Notes
1 Hannes Weigert, Zwei Maler. Selbstgespräch in der Malerverksted, Magazine
Behinderte Menschen, 6-2015.
2 The Malerverksted (painters’ workshop) at Camphill Vidaråsen in Norway
was founded in 2009 by Ruth Wood and Hannes Weigert together
with Arnkjell Ruud, Reidun Tyvold Larsen, Tor Alexander Janicki and
David Blair Johansen. Hannes Weigert was the artistic director of the project
from 2010 to 2018. During this time, he also set up an archive for
the images. The archive’s website (https://vidarasen.camphill.no/arkiv/
category1366.html) provides information about exhibitions, publications
and films. There you will also find a link to the film Malerverksted
by Arthur Gay (65 min., 2014) and various texts, for example: Jasminka
Bogdanovic, Rätsel, Zeitschrift Seelenpflege, 2013-1. Malerverksted: Rudolf
Steiner‘s eurythmy figures, Zeitschrift Seelenpflege, 2014-1. Johannes
Nilo, Rätsel der Malerei, Das Goetheanum, 48-2012. Alexander Schaumann,
Malerverksted: Album, The Goetheanum 11-2014. Torsten Steen,
Steinerstudien, The Goetheanum 36-2015. Hannes Weigert, Goetheanum.
Pictures by Arnkjell Ruud, Zeitschrift Seelenpflege 2015-1. Zwei Maler.
Selbstgespräch in der Malerverksted, 6-2015. Goetheanum Curtain, Zeitschrift
Seelenpflege Special 2016.
3 Hannes Weigert, Ich und Nicht-Ich, 2019, unpublished.
4 In an email to Gabriele Scholtes, 7.9.2024.
5 «... because it is someone else who paints, it is not me.» Letter from Kurt
Schwitters, written in exile in Norway on December 23, 1939 to his wife
Helma. See also: Schwitters in Norway (Den andre Schwitters). Film by Arthur
Gay and Hannes Weigert, with Arnkjell Ruud (2014), 5 min. (https://
www.youtube.com/watch?v=_7_D6OoFoU8)
6 For a possible understanding of the interaction alluded to here, see:
Rudolf Steiner, Curative Education Course, 2nd lecture (June 26, 1924).
7 Hannes Weigert, Painting with Arnkjell Ruud, Ensemble # 2, 2025. On the
enigma of the ‹I› see: Johannes Nilo, Rätsel der Malerei, Das Goetheanum
48-2012, in which Nilo describes the Malerverksted as an ‹I› -workshop.
See also: Christian Egge, Wachendes Träumen, träumendes Wachen. Gespräch
mit Hannes Weigert über die Malerverksted, Ensemble # 2, 2025.
Translation from German by Tascha Babitch
20 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
21
Arnkjell Ruud
Arnkjell Ruud
Bin ich es selbst oder ein anderer?
Is it me or someone else?
Der Maler.
Es war einmal ein Maler der war mit malen fertig und er
rauchte eine Zigarette und vor ihm war ein Tisch.
The painter.
Once upon a time there was a painter who had finished
painting and he was smoking a cigarette and there was a
table in front of him.
Gesicht.
Als ich in der Malerverksted war zeigte mir Hannes ein Bild
von einem Gesicht mit einem Kreis rundherum und ich
glaube das bin ich selbst. Der Kreis ist rot und das Gesicht
ist dunkel, aber bin ich es selbst den ich malte oder ein
anderer? Vielleicht war es auch Rudolf Steiner.
Face.
When I was at the Malerverksted, Hannes showed me a picture
of a face with a circle around it and I think it's me. The
circle is red and the face is dark, but is it myself that I painted
or someone else? Perhaps it was also Rudolf Steiner.
Philip Guston nr. 1,
Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert,
Malerverksted 26.1.2011
(Malerverksted Arkiv)
Philip Guston nr. 1,
Arnkjell Ruud with Hannes Weigert,
Malerverksted 26.1.2011
(Malerverksted Arkiv)
Rudolf Steiner nr. 4,
Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert,
Malerverksted 5.1.2011
(Goetheanum Kunstsammlung)
Rudolf Steiner nr. 4,
Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert,
Malerverksted 5.1.2011
(Goetheanum Kunstsammlung)
22 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
23
Philip Guston «The Studio». Es war einmal ein Maler der
war ein Maler der hiess Philip Guston und er hatte ein Atelier
und er hatte eine Staffelei und einen Pinsel plus eine
Malplatte. Er malt ein Haus und wir sehen sein Gesicht
nicht weil es von einer Maske verdeckt ist.
Philip Guston «The Studio». Once upon a time there was a
painter and he was a painter and he was called Philip Guston
and he had a studio and he had an easel and a brush
plus a painting board. He paints a house and we can't see
his face because it's covered by a mask.
Besuch bei Philip Guston. Wir sehen einen Maler und der
Maler war ich und ich sitze in Philip Gustons Atelier und
male ein Bild von Philip Guston. Ich habe eine Staffelei und
vor der Staffelei sind zwei Malkübel und es gibt eine Glühbirne
oder Lampe. Der Tisch ist braun und die Staffelei
ist braun und der Maler bin ich. Eigentlich male ich in der
Malerverksted in Vidaråsen.
A visit to Philip Guston. We see a painter and the painter
was me and I'm sitting in Philip Guston's studio and I paint
a picture of Philip Guston. I have an easel and in front of
the easel are two paint buckets and there is a light bulb
or lamp. The table is brown and the easel is brown and
the painter is me. I actually paint at the Malerverksted in
Vidaråsen.
Der Maler. Ich habe dieses Bild vor langer Zeit gemalt
das ich Der Maler genannt habe aber eigentlich ist es ein
Selbstporträt und ich habe mich selbst gemalt. Das Gesicht
ist rosa und das ist Hautfarbe und der Malerkittel ist fast
gräulich. Die Brille ist dunkel und ich kann fast weisses
Haar und Bart sehen. Ich malte dieses Bild an meinem 70.
Geburtstag der war am 4. Februar 2015 und der Pinsel ist
dunkel.
The painter. I painted this picture a long time ago that I
called The Painter but it's actually a self-portrait and I painted
myself. The face is pink and that is skin color and the
painter's coat is almost grayish. The glasses are dark and I
can almost see white hair and beard. I painted this picture
on my 70th birthday which was on February 4, 2015 and
the brush is dark.
In Gustons Studio
Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert
Malerverksted 28.4.2015
(Malerverksted Arkiv)
In Gustons Studio
Arnkjell Ruud with Hannes Weigert
Malerverksted 28.4.2015
(Malerverksted Arkiv)
Maleren nr. 17
Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert
Malerverksted 4.2.2015
(Malerverksted Arkiv).
Maleren nr. 17
Arnkjell Ruud with Hannes Weigert
Malerverksted 4.2.2015
(Malerverksted Arkiv).
24 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
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Der Hüter der Schwelle. Ich sehe einen Mann mit Kreuz
auf dem Kopf und das Kreuz ist schwarz während der Kopf
ein wenig grau ist. Die Schwelle wird behütet von einem
Hüter der alle behütet die über die Schwelle zur geistigen
Welt gehen. Man geht über die Schwelle wenn man stirbt
und nichts mehr auf der Erde zu tun hat. Ich habe etwas
zu tun auf der Erde und ich will damit fortfahren zu malen
und zu schreiben und mit allem anderen was ich tun kann
und wenn wir schlafen sind wir auch über die Schwelle gegangen,
aber wir kommen zurück zur Erde und unserem
eigenen Bett.
The guardian of the threshold. I see a man with a cross
on his head and the cross is black while the head is a little
gray. The threshold is guarded by a guardian who guards
all those who cross the threshold to the spiritual world.
You cross the threshold when you die and have nothing
more to do on earth. I have something to do on earth and I
want to continue with painting and writing and with everything
else I can do and when we sleep we have also crossed
the threshold but we come back to earth and our own bed.
Ein Mann und eine Frau. Ich habe eine Frau und einen
Mann gemalt. Wer die zwei Menschen sind ist nicht gut
zu erinnern. Der eine hatte einen Hut auf und der andere
hatte keinen Hut auf dem Kopf. Der mit Hut war ein Mann
während der ohne Hut eine Frau war. Vielleicht unterhalten
sie sich. Die Dame spricht zuerst und der Mann spricht
später. Die Dame sagt zu dem Mann: «Du hast wirklich einen
schönen Hut.» Da antwortete der Mann: «Vielen Dank,
freut mich zu hören. Du hast schönes Haar. Wie heisst du?»
Da antwortete die Frau: «Marylin Monroe. Wie heisst du?»
Der Mann sagte: «Clark Gable.»
A man and a woman. I have painted a woman and a man.
It’s not easy to remember who the two people are. One had
a hat on and the other had no hat on his head. The one with
a hat was a man while the one without a hat was a woman.
Perhaps they are talking. The lady speaks first and the man
speaks later. The lady says to the man, «You really have a
nice hat.» The man replies: «Thank you very much, I’m glad
to hear that. You have beautiful hair. What’s your name?»
The woman replied: «Marylin Monroe. What’s your name?»
The man said: «Clark Gable.»
Der Hüter der Schwelle nr. 8 (nach einer Skizze von Rudolf Steiner)
Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert
Malerverksted 3.12.2013
(Goetheanum Kunstsammlung)
The Guardian of the Threshold nr. 8 (after a sketch by Rudolf Steiner)
Arnkjell Ruud with Hannes Weigert
Malerverksted 3.12.2013
(Goetheanum Kunstsammlung)
The Misfits nr. 10
Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert
Malerverkstedet 23.12.2014 (Malerverksted Arkiv)
Die Bildbeschreibungen entstanden im Winter 2015/16
Konzept: H. Weigert
The Misfits nr. 10
Arnkjell Ruud mit Hannes Weigert
Malerverkstedet 23.12.2014 (Malerverksted Arkiv)
The descriptions of the pictures were created in Winter 20215/16
Concept: H. Weigert
26 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
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Diversität, Kultur
und Inklusion in
Gemeinschaften
Ein Pilotprogramm der Camphill-Academy
von Gleice da Silva
Einleitung
Diversity, Culture,
and Inclusion in
Community
A pilot course for the Camphill Academy
by Gleice da Silva
Introduction
Gleice da Silva ist eine Heilpädagogin, die gerne reist, Geschichten
erzählt, tanzt und sich mit Anthroposophie beschäftigt.
Sie arbeitete 12 Jahre an der Camphill School in
Pennsylvania und lebt und arbeitet jetzt in Camphill Communities
in Kalifornien. Nach ihrem Abschluss reiste sie
zwei Jahre lang und arbeitete als Freiwillige in Angola, Mosambik
und Indien, bevor sie zur Sheiling School Ringwood
in England kam. Gleice hat ein Diplom in Heilpädagogik von
der Camphill Academy und einen M. Ed. in Healing Education
von der Antioch University New England. Momentan
unterrichtet sie an der Camphill Academy und engagiert
sich in der Lehre und der Arbeit mit heilenden Geschichten
auf der ganzen Welt.
Gleice da Silva is a curative educator who enjoys
traveling, storytelling, dancing and anthroposophy.
She worked at the Camphill School in Pennsylvania
for 12 years and now lives and works in the Camphill
Communities in California. After graduating,
she spent two years traveling and volunteering in
Angola, Mozambique and India before joining the
Ringwood Sheiling School in England. Gleice has a
Diploma in Curative Education from Camphill Academy
and an M. Ed. in Healing Education from Antioch
University New England. She currently teaches
at Camphill Academy and is involved in teaching
and working with healing stories around the world.
Ich wuchs im Nordosten Brasiliens auf, in einem Dorf mit
etwa 50 Familien. Ich lebte mit meiner Mutter, meinem
Vater, meiner Schwester und vielen Verwandten (jeder gehörte
dort zur Familie) auf einer Zuckerrohr-Plantage. Die
meisten Väter arbeiteten auf der Plantage, während die
Mütter sich um Haus und Kinder kümmerten. Das Haus,
in dem wir wohnten, gehörte dem Plantagenbesitzer. Wir
lebten hauptsächlich von Fischfang, Jagd, Anbau und Nahrungsmitteln
aus dem Dorfladen. Die meisten Familien
hatten keine formale Bildung und meine Eltern konnten
kaum lesen und schreiben. Mit fünf Jahren kam ich in die
Schule. Dort waren alle überrascht, dass ich schon lesen
konnte, obwohl ich nie in einer Schule gewesen war. Mein
Vater las zwar nicht viel, aber er konnte mir aus der Bibel
vorlesen und so lernte ich selbst auch Lesen.
Als Kind liebte ich es zu fischen, Spielzeug aus weggeworfenen
Dosen zu basteln und auf Bäume zu klettern.
Auch Schwimmen machte mir Spass und für meinen Vater
kirchliche Theaterstücke aufzuführen. Meine Grossmutter
war die Dorfheilerin und ich schaute ihr gern dabei zu,
wenn sie Menschen mit Kräutern und Gebeten behandelte.
Ich glaube, wir haben viel gemeinsam. Trotz unserer Armut
war unser Leben unkompliziert. Das ganze Dorf passte
auf uns Kinder auf, denn es herrschte ein ausgeprägter
Gemeinschaftssinn und christliche Werte wurden gelebt.
Wir tanzten und feierten gerne. Die Hauptfeste waren Johanni
(die Maisernte, mein Lieblingsfest), Karneval und
Neujahr. Weihnachten feierten wir nie, aber Ostern, und
an Karfreitag durften wir nur Fisch essen.
Rassenzugehörigkeit war im Dorf kein Thema, obwohl
die meisten Familien helle Haut hatten und es nur einige
Schwarze gab, darunter meine Familie. Diesbezügliche
Anspielungen begegneten mir in meiner Kindheit hauptsächlich
durch die vielen Spitznamen, die mir wegen meiner
Hautfarbe und meiner Haare gegeben wurden.
Die Menschen in meinem Dorf hatten ihre Ansichten davon,
wie die Welt sein sollte und wer willkommen war. Für
die meisten von ihnen war Homosexualität inakzeptabel;
I grew up in a village with about 50 families in northeastern
Brazil. The place where I lived with my mom, dad, sister,
and many relatives (there, everybody was just family) was
a sugarcane plantation. Most fathers worked at the plantation,
while most mothers stayed home to look after the
house and children. The owner of the sugarcane plantation
owned the house I lived in. Most of our food was acquired
by fishing, hunting, planting, and buying goods from
the local shop. Most families had little to no formal education,
and my parents barely knew how to read or write.
At the age of five, I started school. Everyone in school was
surprised to find out I already knew how to read despite
not having gone to school; though my dad didn’t read
much, he could read the Bible for me, which also allowed
me to learn.
As a child, I enjoyed fishing, making toys from discarded
cans, and climbing trees; I also loved swimming and putting
on church plays for my dad. My grandmother was the
village healer, and I enjoyed watching her care for people
using herbs and prayers; I like to think we have a lot in
common. Though we were poor, life was simple. We children
were looked after by everyone. The sense of community
was strong, and the values of Christianity were also
present. We loved to dance and party. The main festivals
we celebrated were Saint John’s (the harvest of the corn
– my favorite), Carnival, and New Year’s. We never celebrated
Christmas, though we observed Easter and were only
allowed to eat fish on Good Friday.
In the village, we didn’t talk about race, but most families
were light-skinned, with a few families being black; my family
was one of them. The main aspects of race I encountered
growing up were related to the many nicknames I got,
linked to my skin color and hair.
The people in my village had their own opinions about
how the world should be run and who was welcome there.
For most of them, homosexuality was not well accepted;
everyone who smoked weed was a criminal, and people
with disabilities were called «crazy», but if you needed
wenn jemand Marihuana rauchte, war das ein Verbrechen,
und Menschen mit Behinderungen galten als «verrückt»;
aber wenn man Hilfe brauchte, waren sie immer zur Stelle,
ohne viel zu fragen. Als ich fünf Jahre alt war, besuchte
meine Familie meinen Grossvater und einen Onkel, von
dem ich vorher nie gehört hatte. Bei unserer Ankunft, noch
in der Tür stehend, erblickten wir meinen Onkel, an ein
Tischbein angebunden, in Lumpen gekleidet, neben ihm
auf dem Boden ein Teller mit Essen. Mein Vater erklärte, er
sei «verrückt» und dass es nicht sicher sei, sich in seiner
Nähe aufzuhalten. Meine Schwester und ich waren von dieser
Begegnung zutiefst betroffen.
Obwohl das Dorfleben einfach und angenehm schien,
wurde mir, als ich mein Studium an der Universität antrat,
deutlich, wie viele Vorurteile ich anderen Menschen
gegenüber hatte und umgekehrt. Zum ersten Mal erlebte
ich wirklich Rassismus, hauptsächlich dadurch, dass Menschen
meine Gegenwart an Orten in Frage stellten, wo ich
ihrer Meinung nach nicht hingehörte. Als ich eine Freundin
in einem schicken Gebäude besuchte, wurde ich gefragt,
in welchem Appartement ich arbeitete oder wem ich die
Nägel lackierte. Sie gingen davon aus, dass ich dort nicht
wohnen bzw. Freundinnen haben könnte. Für eine Schwarze
gab es nur einen Grund dort zu sein: zum Arbeiten. Es
hat Jahre und viel Arbeit gebraucht, bis ich mich als den
Menschen akzeptieren konnte, der ich bin, mit meiner Herkunft,
mit den Werten und Traditionen, die Teil von mir
sind, und dabei auch anzuerkennen, dass jeder (und ich
meine jeder einzelne) Mensch seine eigenen Werte und
Traditionen hat, die von meinen ganz verschieden sein
können.
An der Uni war es erstmal ein Aufwacherlebnis zu sehen,
dass jeder anders war, und ich musste lernen damit umzugehen.
Zwar hatte ich manche Überzeugungen mit einigen
gemeinsam, aber das galt selten in jeder Hinsicht. Wir waren
zwar im gleichen Land, sprachen die gleiche Sprache
und waren mehr oder weniger gleichaltrig, dennoch hatte
ich das Gefühl, dass ich mich immer anstrengen musste
um dazuzugehören. Um Erfolg zu haben, musste ich mich
«assimilieren».
their support, they would be there, no matter what. When
I was five, my family visited my grandfather and an uncle I
didn’t know I had. Upon arriving at the door, we witnessed
the scene of my uncle, tied to the leg of the table, wearing
rags, and with a plate of food on the floor by his side. My
dad told us he was «crazy» and wasn’t safe for other people
to be around. This event shook me and my younger
sister very much.
Though life in the village seemed simple and pleasant,
when I entered university, I realized how many preconceived
ideas I had about people, and how many they had
about me. It was in my university years that I experienced
racism for the first time. I mainly experienced it in the
form of people questioning my belonging to places they
thought I didn’t belong in. If I was visiting a friend in a fancy
building, they would ask which apartment I worked at
or whose nails I did. They always assumed I could not live
or have friends there; the only reason for a black person to
be in those buildings was because they were workers. It has
taken years of continued work to honor who I am, where I
come from, and the values and traditions I carry, while acknowledging
that everyone (I mean everyone) has their own
values and traditions that might differ hugely from mine.
In university, it was shocking to realize everyone was different,
and that I had to learn how to be with them. Though
I shared some beliefs with some of them, I rarely shared
all. Though we were in the same country, spoke the same
language, and were more or less the same age, I still felt I
really had to work in order to fit in, I had to assimilate to
that environment if I wanted to thrive.
Assimilation refers to the process by which individuals
and groups of differing cultures acquire the basic habits,
attitudes, and modes of life of an embracing culture (Merriam-Webster,
n.d.). That embracing culture was the «university
culture». It was the culture of white, upper-middle-class
students who had lived most of their lives in the
city. Because of this, my perception was that most of them
had a lot of experiences in common and I was the one who
needed to fit in.
28 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
29
Laut Duden bedeutet Assimilation die «Angleichung eines
Einzelnen oder einer Gruppe an die Eigenart einer anderen
Gruppe, eines anderen Volkes». In diesem Fall war das
die Universitätskultur: die Kultur weisser Studierender der
oberen Mittelklasse, die meist in der Grossstadt aufgewachsen
waren. Mein Eindruck war daher, dass die meisten
von ihnen viele Erfahrungen teilten und ich diejenige
war, die sich anpassen musste.
Nach Abschluss meines Biologie-Studiums wollte ich humanitär
arbeiten. Ich besuchte die USA, Angola, Mosambik
und Indien, alles kulturreiche Orte, wo es manchmal nicht
leicht war sich anzupassen. Aber ich wusste, dass mein
Aufenthalt zeitlich begrenzt war und konzentierte mich
daher eher darauf zu lernen und offen zu sein. Der Aufenthalt
in diesen Ländern war für mich lebensverändernd.
Durch die Erfahrungen und Begegnungen, die ich dort hatte,
lernte ich viel über mich und andere. In mir erwachte
eine Leidenschaft für die Geschichten anderer Menschen,
für das, was ihnen wichtig war, ihre Werte und Bräuche.
In Angola, Mosambik und Indien lernte ich schnell zuzuhören
anstatt zu reden, und Unterschiede zu respektieren,
anstatt zu urteilen. Mit Anfang 20 und frisch von der Universität
ist das eine enorme Herausforderung.
With the wish to do humanitarian work, I left university
after finishing my degree (I studied Biology). I visited the
United States, Angola, Mozambique, and India. Those places
were rich culturally and, at times, difficult to adjust
to. But I knew I was there temporarily; therefore, I focused
on learning and staying open, rather than adapting.
Living in those countries was life-changing for me. Those
experiences and encounters taught me a lot about myself
and others. They made me passionate about listening to
people’s stories, especially about what mattered most to
them, like their values and traditions. In places like Angola,
Mozambique, and India, I quickly learned to listen,
rather than talk, and to respect differences, rather than
to judge; for someone in their early 20s, fresh out of university,
with ideas of how the world should run, that was
a mighty task.
My search for knowledge and spiritual connection brought
me to anthroposophy. Because I was thirsty to learn more
about it, I traveled to England and then back to the USA,
where I lived and worked in Camphill communities that
had schools for children and young adults with disabilities.
The intersectionality of being black, a woman, a Brazilian
immigrant, and having higher education puts me in a very
small demographic pool in the USA. And that experience
of being in a minority in the USA is similar to the one I have
as being a long-time Camphill coworker (13 years in total)
and a teacher at the Camphill Academy. The Camphill
communities in the USA are often outwardly quite culturally
diverse, but the leadership groups that carry the core
impulse, including the faculty of the Camphill Academy,
are often much more homogeneous in terms of race and
ethnicity. The struggles to fit to such a leadership group
might have been the reason I began to be interested to
work with DEI (Diversity, Equity, and Inclusion). The need
to find ways to express myself and be comfortable in these
leadership spaces has led me to be more vocal about
diversity issues within my own Camphill community and
the Camphill Academy.
Due to my enthusiasm for diversity-related topics and
current world events, I was asked to create and teach a
course on issues related to diversity and inclusion to students
in the fourth year of one of the Camphill Academy
programs. My main goal for the course was to explore with
the students what a healthy, diverse community would
look like when aspects such as assumptions, traditions,
diversity, equity, culture, and inclusion are considered.
With this in mind, the following Motto of the Social Ethic
by Rudolf Steiner was used as the guiding principle for the
entire course: «A healthy social life is found when, in the
mirror of each human soul, the whole community finds its
reflection, and when, in the whole community, the virtue
of each one is living» (Steiner 1990).
Gemeinschaft aussehen würde, in der Aspekte wie Vorurteile,
Traditionen, Diversität, Chancengleichheit, Kultur
und Inklusion berücksichtigt werden. Als Richtlinie für
unsere Untersuchung diente Rudolf Steiners Motto der
Sozialethik: «Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der Menschenseele
sich bildet die ganze Gemeinschaft und in der
Gemeinschaft wirket der Einzelseele Kraft» (Steiner 1998,
S. 298).
Der Kurs: Diversität, Kultur und
Inklusion in der Gemeinschaft
Der Kurs war für Studierende im vierten Jahr eines der Camphill-Academy
Programme 1 konzipiert, die meist zu diesem
Zeitpunkt schon sehr verantwortungsvolle Aufgaben
in ihrer Gemeinschaft übernehmen. In der Gruppe waren
drei Studierende aus drei Ländern auf drei Kontinenten:
Deutschland, Südkorea und Mexiko. Der Kurs bestand aus
neun Einheiten und lief über fünf Wochen mit insgesamt
7,5 Stunden. Die Studierenden wurden über den vorliegenden
Artikel informiert und erhielten eine Kopie zur Einverständniserklärung.
Im Folgenden findet sich eine Auswahl der bearbeiteten
Themen, sowie einige der Resultate aus unserer Arbeit.
The Course – «Diversity, Culture,
and Inclusion in Community»
The course was taught to group of fourth-year students
of one of the Camphill Academy 1 programs. In the fourth
year, typically, students already hold significant community
responsibilities. The class included three students from
three different countries and three different continents:
Germany, South Korea, and Mexico. The course was given
in nine sessions over five weeks, for a total of 7.5 hours.
The students were informed of the writing of this article
and given a copy of it for approval.
Below is a selection of some of the topics we worked with
and some of the results of our work.
Lesson 1: Assumptions
To be curious about someone can be a profound way to
connect, especially in diverse communities. But in meeting
another person, we always make a number of assumptions
about them based on what they look like and where they
come from. This can be a difficult and painful terrain to
navigate.
The students were asked to write about, and discuss, different
assumptions they make about other people daily.
They worked with a number of prompting questions, including:
• What assumptions do people make about me?
• What assumptions do I make about others?
• How does it make me feel when someone
makes certain assumptions about me?
• What would I like to say to someone when
they make hurtful assumptions about me?
• How should I prevent making assumptions
about others?
Most students agreed that prior experience, upbringing,
and prejudice are the basis for our bias toward each other.
To make assumptions about others, and have assumptions
made about me, can lead to pain and separation in
communities. To have assumptions made about myself,
whether true or not, can cause a myriad of feelings, such as
anger, frustration, sadness, and disappointment.
We then asked the question: What are the best practices to
avoid making assumptions about others? Here’s some of
what was discussed:
«Check my thoughts about people when I meet them, slow
down, and breathe»; «Develop a genuine interest in the
people I meet, letting them tell me what I should know
about them»; «Develop self-awareness about my assumptions
and biases and apologize when I realize I have assumed
something about someone».
As a class, we began to awaken to the reality that cultivating
interest in each other is a far better way of connecting
Meine Suche nach Erkenntnis und Spiritualität führte mich
zur Anthroposophie. Um mehr darüber zu lernen, ging ich
1. Einheit: Vorurteile
nach England, dann zurück in die USA, um in Camphill-Einrichtungen
Neugier anderen gegenüber kann tiefere Verbindungen
zu leben und zu arbeiten, in denen es Schulen
fördern, besonders in diversen Gemeinschaften. Aller-
für Kinder und junge Erwachsene mit Unterstützungsbedarf
dings beruht jede Begegnung aufgrund des Aussehens
gab.
und Herkommens eines anderen Menschen auf einer Reihe
Als schwarze Frau und brasilianische Immigrantin mit höherem
von Vorurteilen – ein potenziell schwieriger und schmerz-
Bildungsabschluss gehörte ich in den USA zu einer
hafter Prozess.
Minderheit. Das Gleiche erlebe ich als langjährige Mitarbeiterin
Die Studierenden bekamen die Aufgabe, Beispiele solcher
(insgesamt 13 Jahre) in Camphill und Dozentin
Vorurteile, die sie täglich gegenüber anderen Menschen
an der Camphill-Academy. Nach aussen sind die Camphill-
haben, aufzuschreiben und darüber zu diskutieren. Als
Gemeinschaften in den USA oft kulturell recht vielfältig,
Anhaltspunkte dienten ihnen eine Reihe von Fragen, z. B.:
aber die Leitungsgruppen, die den Kernimpuls tragen –
• Was für Vorurteile haben andere über mich?
und dazu gehört auch die Fakultät der Camphill-Academy
• Was für Vorurteile habe ich anderen gegenüber?
– sind oft ethnisch homogener. Die Schwierigkeit, sich
• Wie ist das für mich, wenn andere bestimmte
in einer solchen Führungsgruppe dazugehörig zu fühlen,
Vorurteile mir gegenüber haben?
weckte mein Interesse an der Arbeit im DEI-Bereich: Diversity,
• Was würde ich gerne zu anderen sagen, wenn
Equity, Inclusion (Diversität, Chancengleichheit,
sie verletzende Vorurteile über mich haben?
Inklusion). Das Bedürfnis, mich zu verwirklichen und mich
• Wie kann ich Vorurteile über andere vermeiden?
in diesen Führungszusammenhängen wohlzufühlen, half
Die meisten Studierenden stimmten überein, dass unsere
mir dabei, Diversitätsfragen in meiner eigenen Camphill-
Einstellungen anderen gegenüber auf vorherigen Erfahrungen,
Gemeinschaft und in der Camphill-Academy offen zu thematisieren.
Erziehung und Voreingenommenheit beruhen.
Voreilige Annahmen, die man über andere hat oder die
Wegen meinem Interesse an Vielfalt und am aktuellen
andere über einen haben, können in Gemeinschaften zu
Zeitgeschehen wurde mir angeboten, einen Kurs über
Schmerz und Trennung führen. Vorurteile anderen gegenüber,
Diversität und Inklusion zu konzipieren und Studierende
egal ob sie zutreffen oder nicht, können eine Vielzahl
im vierten Jahr eines der Camphill-Academy Programme
von Emotionen wie Wut, Frustration, Traurigkeit und Enttäuschung
zu unterrichten. Das Hauptziel des Kurses war, mit den
hervorrufen.
Studierenden zu untersuchen, wie eine gesunde, diverse
Wir fragten uns dann: Wie kann man Vorurteile anderen
gegenüber am besten vermeiden? Hier sind einige der geäusserten
Überlegungen:
«Meine Gedanken über Menschen, denen ich begegne,
überdenken, innehalten und atmen.» «Ein echtes Interesse
an den Menschen entwickeln, denen ich begegne: es
ihnen überlassen mir mitzuteilen, was ich über sie wissen
sollte.» «Sich der eigenen Vorurteile und Vermutun-
30 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
31
gen bewusst werden und sich entschuldigen, wenn man
merkt, dass man Vorurteile einem anderen Menschen
gegenüber hat.»
Als Gruppe wurden wir uns bewusster, dass Interesse füreinander
zu pflegen eine weit bessere Voraussetzung für
Beziehungen ist als einfach Vermutungen anzustellen. In
seinen Vorträgen zu Franz von Assisi und dem Christus-
Impuls sagt Rudolf Steiner:
«Dass wir unser Interesse erweitern, dass wir die Möglichkeit
finden, uns verständnisvoll hineinzuversetzen
in die Dinge und Wesen, das ruft unsere Kräfte im Innern
auf, auch den Menschen gegenüber. Selbst das Mitleid
wird in entsprechend richtiger Weise wachgerufen, wenn
wir Interesse an einem Wesen haben. Und wenn wir als
[Anthroposoph:innen] uns die Aufgabe stellen, unser
Interesse immer mehr und mehr zu erweitern, unsern
Horizont immer grösser und grösser zu machen, dann
wird auch die allgemeine menschliche Brüderlichkeit
dadurch gehoben werden. Nicht durch Predigen von allgemeiner
Menschenliebe können wir vorwärts kommen,
sondern dadurch, dass wir unsere Interessen immer
weiter und weiter treiben, so dass wir es immer mehr
dazu bringen, uns für Seelen mit den verschiedensten
Temperamenten, mit den verschiedensten Charakteranlagen,
Rasseneigentümlichkeiten, Nationaleigentümlichkeiten,
mit den verschiedensten religiösen und philosophischen
Bekenntnissen zu interessieren und ihnen
Verständnis entgegenzubringen. Das richtige Verständnis,
das richtige Interesse ruft aus der Seele heraus die
richtige moralische Tat.» (Steiner 1994, S.112).
Steiners Aussage gilt heute in zunehmendem Mass, insbesondere
in diversitätsbasierten Zusammenhängen wie
Camphill-Gemeinschaften, der Camphill-Academy und
den Menschen und Gemeinschaften gegenüber, mit denen
die Studierenden arbeiten. Wie Steiner betont – und
das wissen die Studierenden aus eigener Erfahrung – erfordert
die Entwicklung von Interesse an anderen Menschen
Arbeit und Hingabe. Darüber sprechen, es in den Vordergrund
unseres Austausches mit anderen stellen, könnte
ein Anfang sein.
2. Einheit: Vereinbarungen
Vereinbarungen vermitteln Klarheit bezüglich erwarteter
Verhaltensweisen und Interaktionen in der Klasse. Sowohl
für Studierende als auch Lehrende schaffen sie einen sicheren
Raum für das Diskutieren von schwierigen Themen
wie Diversität. Wegen dem breiten Spektrum an Erfahrungen
und Hintergründen sind solche Vereinbarungen essenziell.
Ich wartete mit diesen Vereinbarungen bis zur zweiten
Einheit, obwohl sie eigentlich in die erste Einheit gehört
hätten. Es war mir wichtig, dass die Studierenden schon
einen Eindruck davon hatten, warum Vereinbarungen notwendig
sein könnten.
than simply assuming. In the Lectures The Spiritual Foundation
of Morality: Francis of Assisi and the Christ Impulse,
Steiner says:
«When we extend our interests, when we find opportunity
to enter with understanding into the objects and
beings of the world, our inner forces are called forth. If
we take an interest in a person, our compassion is called
forth in an appropriate manner. If we, as [anthroposophists]
set ourselves the task of increasingly extending
our interests, of increasingly widening our horizons,
this will promote the universal [fraternity] of humanity.
Progress is not made by the mere preaching of universal
love, but by the extension of our interest further and
further, so that we increasingly come to be interested
in and to understand people with widely different temperaments
and personalities, with widely different racial
and national characteristics, with widely different
religious and philosophical views. Right understanding,
right interest, calls forth from the soul the right moral
conduct.» (Steiner 1995, p. 49)
What Steiner is referring to has significant meaning for the
world today, and especially for a diverse community such
as the Camphill communities, the Camphill Academy, and
the individuals and communities that the students serve.
As Steiner points out, and the students themselves realized,
to call forth the right interest towards others requires
work and dedication. To talk about it, to place it in the
forefront of our interactions with others, might be the way
to begin.
Lesson 2: Agreements
Agreements provide clear expectations for classroom behaviors
and interactions. They can promote a safe space
for students and teachers when discussing challenging topics
like diversity. These agreements are significant given
the wide range of experience and background.
I left the social agreements to be created in the second
class. Though these agreements should have been created
in the first class, I needed the students to have an experience
of why they might be necessary.
Here are some of the agreements we came to:
• Non-judgmental listening
• Assume the other has a good intention when speaking
• Take time off if you need to
• Try to speak and listen from the heart
• Confidentiality
• Mutual respect
• If needed, ask clarifying questions
These agreements were read before each class and occasionally
re-read as needed.
Hier sind einige der Verabredungen, auf die wir uns einigten:
• Unvoreingenommenes Zuhören
• Davon ausgehen, dass Andere in guter Absicht sprechen
• Wenn nötig, eine Auszeit nehmen
• Versuchen, aus dem Herzen heraus zu sprechen und
zuzuhören
• Vertraulichkeit
• Gegenseitiger Respekt
• Wenn nötig, Verständnisfragen stellen
Diese Vereinbarungen wurden vor jeder Einheit gelesen
und bei Bedarf wiederholt.
3. Einheit: Tradition
Traditionen sind wesentliche Aspekte einer Kultur; über sie
werden gemeinsame Vorstellungen und Überzeugungen
getragen und mitgeteilt. Sie sind die äussere Umsetzung
dieser Überzeugungen. Weil es an der Camphill-Academy
so viele internationale Studierende gibt, die aktiv am Leben
ihrer Gemeinschaften teilnehmen, ist es wesentlich, dass
sie sich des Konfliktpotentials zwischen ihren eigenen und
den in der Gemeinschaft gepflegten Traditionen bewusst
werden.
Die Studierenden erhielten Fragen und die Aufgabe, über
das folgende Thema zu schreiben und es zu diskutieren:
• Was bedeutet das Wort «Tradition»?
• Warum sind Traditionen wichtig?
• Was für Traditionen trage ich selbst in mir?
• Was wären mögliche Folgen, wenn ich meine
Traditionen nicht mehr ausüben könnte?
Nachdem die Studierenden sich über ihre Traditionen ausgetauscht
hatten, sprachen sie über Fragen in Bezug auf
ihr Leben in Camphill. Hier sind einige der Fragen, die ich
ihnen stellte und die jeweiligen Antworten:
Was für Traditionen gibt es in Camphill?
• Bibel-Abende
• Christlicher Gottesdienst
• Christliche Jahresfeste
• Feste generell
• Gebete und Sprüche
• Drei gemeinsam eingenommene Mahlzeiten am Tag
• Die allgemeine Tagesstruktur
Welche Strategien benutzt ihr, für eure Arbeit in Camphill?
• «Ich feiere und teile meine eigenen Feste» («Wenn man
mir Gelegenheit gibt, meinen eigenen Raum aufgrund
meiner eigenen Inspirationen zu gestalten, fühle ich
mich wahrgenommen« und «Das Gefühl, gehört zu
werden, ermöglicht es mir, andere Traditionen zu respektieren,
auch wenn ich sie nicht zu meinen eigenen
machen kann», aber auch: «Meine eigene Kultur kann
ich nur im Haus feiern und nur auf meine eigene Initiative
hin»).
• «Über Dinge reden, die ich nicht verstehe oder über die
ich sogar anders denke.»
• «Die Traditionen anderer pflegen und respektieren,
aber innerlich an meinen Traditionen festhalten.»
Nach dieser Einheit hatte ich aufgrund einiger Kommentare,
die ich von den Studierenden gehört hatte, mehr Fragen
als Antworten: Wie lange werden diese Studierenden in
Camphill bleiben und inwiefern spielt Tradition eine Rolle
dabei, ob sie bleiben oder nicht? Ist der Traditionskonflikt
Lesson 3: Tradition
Traditions are a critical piece of our culture, the means by
which we carry and communicate our shared ideas and beliefs.
They are an outer enactment of those beliefs. Since
the Camphill Academy enrolls so many international students
who participate actively in the communities’ life, it
is essential for the students to consciously acknowledge
the potential of clashes between their own traditions and
those that live in the community.
The students were given prompting questions and asked
to write about and discuss the topic:
• What is the meaning of the word «tradition»?
• Why are traditions important?
• What are some of the traditions I carry?
• What might happen when I’m no longer able
to practice my traditions?
After the students shared their traditions, they discussed
questions related to their life at Camphill. Here are some of
the questions I posed, and the answers they gave:
What are some of Camphill’s traditions?
• Bible supper
• Christian service
• Christian festivals
• Festivals in general
• Prayers and verses
• Sitting together for three meals a day
• The general structure of the day
What are some of your strategies for continuing to work
at Camphill?
• «Celebrating and sharing my own festivals» («When
I’m given the opportunity to create my own space out
of my own inspirations, I feel seen» and «Feeling heard
gives me a possibility to respect other traditions, even
if I can’t make them my own» though «Celebrating my
own culture only happens at the house level if initiated
by me»).
• «Having conversations about things I don’t understand
or even disagree with.»
• «Practicing someone else’s traditions and respecting
them, but holding on to my traditions inwardly.»
After the class was over, and based on some of the comments
I heard from the students, I was left with more questions
than answers: how long will these students remain in
Camphill, and what role will tradition play in their staying
or leaving? Is the clash of traditions the main reason there’s
so little cultural and racial diversity among the longterm
coworkers and leadership? («The longer I stay, the
more I might have to let go of my culture …») Is there an
expiration date for assimilation: Is there a time when assimilation
becomes unbearable? How long can I partake
in someone else’s culture without being able to express
my own? In a community like Camphill, is the clash of traditions
the same for everyone? Who benefits and who is
hindered by the community’s traditions?
32 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
33
der Hauptgrund für die geringe kulturelle und ethnische
Vielfalt bei Langzeit-Mitarbeitenden und Führungskräften?
(«Je länger ich bleibe, umso mehr muss ich eventuell
auf meine eigene Kultur verzichten ...»). Gibt es so etwas
wie ein Ablaufdatum für Assimilation: wird das Anpassen
irgendwann unerträglich? Wie lange kann ich an der Kultur
anderer teilnehmen, ohne meine eigene leben zu können?
Ist in einer Gemeinschaft wie Camphill der Traditionskonflikt
für alle gleich? Wer profitiert von den Traditionen der
Gemeinschaft und wer wird von ihnen behindert?
4. Einheit: Diversität
Das Wort «Diversität» kommt aus dem Lateinischen (diversitas)
und bedeutet Verschiedenheit, Unterschied, Gegensatz,
Widerspruch. 2 Obwohl Übereinstimmung darüber
herrscht, dass Teil einer diversen Gruppe zu sein das eigene
Kreativitäts- und Empathievermögen stärken kann, ist
es nicht leicht, immer mit gegensätzlichen Ansichten konfrontiert
zu werden. Wenn Menschen aus allen möglichen
Lebensbereichen zusammenkommen, um miteinander zu
arbeiten, zu studieren und zu leben, sind sie ständig mit
Gegensätzen, Widersprüchen und Konflikten konfrontiert,
die es zu überwinden gilt.
Wir erforschten das Thema «Diversität», indem wir über
seinen Sinn, seine Vorteile und damit verbundene Herausforderungen
diskutierten. Ein in der New York Times
erschienener Artikel mit dem Titel «The Downside of Diversity»
(Die Kehrseite von Diversität, 2007) lieferte viele
relevante Aspekte für unsere Diskussion.
Eine der Hauptfragen war ganz einfach: Erlebe ich die
Gemeinschaft, in der ich lebe und arbeite, als divers (in
Bezug auf Ethnizität, Religion, Geschlecht, Fähigkeiten,
Alter)? Dieses Thema wurde schnell kontrovers, denn die
Studierenden wollten ihre Meinungen über ihre Gemeinschaft
zum Ausdruck bringen und teilen. Wir mussten uns
unsere Verabredungen in Erinnerung rufen.
Hier sind einige der Gedanken, die in die Diskussion einflossen:
• «In der Gemeinschaft scheint es eine Art ‹selektiver
Diversität› zu geben.»
• «Einige werden übernommen, andere nicht – aber wer
entscheidet das und unter welchen Kriterien?»
• «Ich stelle die Diversität in der Leitungsgruppe und
unter den betreuten Menschen in Frage.»
• «Würde sich die Gemeinschaftsstruktur ändern, wenn
wir weniger Geld hätten?»
• «Andere Feste werden nur gefeiert, wenn ich es initiiere,
und ich darf nur Feste organisieren, die als für die
Gemeinschaft ‹angemessen› gelten.»
Die Studierenden waren mit einer Spannung konfrontiert:
sie geniessen es, dass es auf einigen Ebenen in ihrer Gemeinschaft
Diversität gibt, gaben aber auch zu, dass es
schwierig ist. Es wurde ihnen klar, dass es in ihrer Gemeinschaft
Bereiche gibt, in denen Diversität hinsichtlich der
Lesson 4: Diversity
The word «diversity» comes from the Latin (diversitas),
which means contrariety, contradiction, and disagreement.
2 Though it can be acknowledged that being in a
diverse group can enhance someone’s capacity for creativity
and empathy, it is not easy to be confronted with
opposing views. Coming from all walks of life in order to
work, study, and live together, the task of transcending
contrariety, contradiction, and conflict is something to
constantly aspire to.
The theme of diversity was explored by discussing its meaning,
as well as its benefits and challenges. The New York
Times article «The downside of diversity» (2007), brought
to light a lot of relevant points for our discussion.
One of the main questions was simply: Is my feeling that
the community I work and live in is a diverse place (in terms
of race, ethnicity, religion, sex, gender, abilities, age)? This
topic became contentious quickly – the students were eager
to share and express their opinions about the community
– and we had to remind ourselves of our agreements.
Here are some of the thoughts that were shared in the discussion:
• «The community seems to have ‹selective diversity›.»
• «Some people can stay, and others are asked to leave,
but who gets to decide who stays and who leaves?
What’s the criteria?»
• «I question diversity in the leadership group and diversity
among the friends (individuals with disabilities)
that we serve.»
• «Would the fabric of the community change if we had
less money?»
• «Different festivals are only held if I hold them, and I
can only hold festivals that are considered ‹appropriate›
for the community.»
The students were faced with a tension: they loved that
there is diversity across a number of different dimensions
in their community, but acknowledged how hard it
is. They realized that their community has areas where
diversity could be improved regarding dimensions that
were important to them (such as among the leadership
and friends), and they were faced with the question how to
help the community become more diverse. They realized
how challenging it can be (especially if one wants to challenge
the everyday culture of assimilation), and wondered
what part they might play in it, since they themselves are
in positions of responsibility.
Lesson 5: Equity and Inclusion
In the disability movement, we often talk about equity and
inclusion. We talk about how for people with disabilities to
feel included, they need to be seen for who they are, with
their gifts and limitations – as caregivers, parents, and
educators, we must create ways to include them. A diverse
and inclusive environment is only possible when people
ihnen wichtigen Aspekte (z.B. Leitung, Betreute) verbessert
werden könnte. Sie fragten sich, wie sie die Gemeinschaft
dabei unterstützen könnten, diverser zu werden.
Sie erkannten, wie schwierig das sein kann (besonders
wenn man die übliche Assimilierungskultur hinterfragen
will) und fragten sich, was ihre Rolle als Verantwortungstragende
dabei sein könnte.
5. Einheit: Chancengleichheit und Inklusion
In der Behindertenbewegung wird oft von Chancengleichheit
und Inklusion gesprochen. Es wird gesagt, dass Menschen
mit Assistenzbedarf in ihrem Sosein, mit ihren Begabungen
und Einschränkungen, erkannt werden müssen,
um sich als inkludiert zu erleben. Als Betreuende, Eltern
und Erziehende müssen wir Wege der Inklusion finden. Diversität
und Inklusion sind nur möglich, wenn Menschen
das Gefühl haben, dass sie so wahrgenommen werden,
wie sie sind, und wenn sie einen sinnvollen Beitrag leisten
können. Das gilt auch für Mitarbeitende und Studierende,
die sich für das Leben in einer Gemeinschaft entscheiden.
«Menschen dabei zu haben» reicht nicht aus, um Diversität
zu kultivieren.
Wir begannen den Unterricht mit einer Diskussion über die
Bedeutung von Gleichberechtigung und Chancengleichheit
auf der Basis von Grafiken, die beide Konzepte darstellen.
Diese Einheit konzentrierte sich hauptsächlich auf das Lesen
und Besprechen des Artikels «Was sollte zuerst kommen?
Eine Untersuchung von Diversität, Chancengleichheit
und Inklusion» von Michelle Russen und Mary Dawson
(2023). Die Aktivität inspirierte die Studierenden zu einer
Diskussion über inklusions- und exklusionsgeprägte Bereiche
in ihrer Camphill-Gemeinschaft bzw. der Camphill-
Academy. Zunächst ging es um das einfache Beispiel der
Sprache. Für keine der an diesem Kurs teilnehmenden
Academy-Studierenden war Englisch die erste Sprache
und einige der Menschen mit Unterstützungsbedarf, mit
denen sie zusammenleben, sind entweder non-verbal oder
sprachlich eingeschränkt.
In diesem Zusammenhang sprachen wir über Chancengleichheit
und wie man Inklusion praktisch umsetzen
könnte. Hier sind zwei der gestellten Fragen und einige
Antworten darauf:
Welche Bereiche sind in deiner Gemeinschaft am inklusivsten?
• «Mittags-Café – hier kommt die ganze Gemeinschaft
zum Mittagessen zusammen und wir sorgen dafür,
dass alle essensbezogenen Bedürfnisse abgedeckt
sind.»
• «Befragung [der ganzen Gemeinschaft] zur Leitungsgruppe.»
• «Support-Gruppen» (wo alle ihre Meinungen und Sorgen
teilen können – «Sie müssen meine Meinung nicht
übernehmen, aber sie hören mir zu»).
• «Morgenkreis – die Gemeinschaft kommt jeden Morgen
zusammen, um Hauptaspekte des Tagesablaufes
zu besprechen und miteinander zu singen.»
• «Feste»
feel they are seen for who they are and can contribute meaningfully.
That reality is also true for the coworkers and
students who choose to live together; «having people there»
is not enough to foster diversity.
We started the class by discussing the meaning of equality
and equity through diagrams illustrating those two concepts
(see below).
The main discussion centered around reading and discussing
the article «Which should come first? Examining
diversity, equity, and inclusion» by Michelle Russen and
Mary Dawson (2023). The students’ imagination was awakened,
which laid the foundation for us to discuss environments
of inclusion and exclusion within the Camphill community
and the Camphill Academy. The main discussion
centered around the simple example of language. For all
the Academy students attending the class, English was not
their first language, and some individuals with disabilities
they live with are either non-verbal or have limited speech.
With this in mind, we explored the topic of equity and how
to implement practices that would make inclusion a reality.
Below are two of the questions we asked and some of
their responses:
What are the most inclusive activities in your community?
• «Lunch cafe – where the whole community has lunch
together, and we make sure all the diets are included.»
• «Surveying the [whole community about the] leadership
group.»
• «Support groups» (a place where anyone can share
their opinions and concerns – «They might not take my
opinions, but they will listen to me»).
• «Morning circle – the community meets every morning
to go through the main aspects of the day and sing together.»
• «Festivals. »
What are the places where we could do better at including
everyone?
• «The religious life of the community.»
• «The inclusion of friends [with disabilities] in some topics
of the conversation, especially when the topics are
more intellectual.»
• «Language, especially with non-verbal friends, coworkers,
and Academy students, as well as in places where
all are meant to share, like the Bible supper, or when
choosing which workshop to participate in.»
Equity was a challenging term for the students to understand,
and especially to understand the barriers that some
minority groups might face. Most conversations centered
around people with disabilities and what they might encounter
as barriers, even in a well-meaning, beautiful, and
thoughtful place like Camphill.
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Wo könnten wir für alle inklusiver werden?
• «Im religiösen Leben der Gemeinschaft.»
• «Die Inklusion von Betreuten bei manchen Gesprächen,
besonders über eher intellektuelle Themen.»
• «Sprache, besonders bei non-verbalen Betreuten, bei
Mitarbeitenden und Academy-Studierenden, sowie in
Situationen, an denen alle beteiligt sein sollten, wie
beim Bibel-Abend oder bei der Wahl des Workshops,
an dem man teilnehmen will.»
Chancengleichheit ist ein Begriff, der für die Studierenden
nicht leicht zu verstehen war, besonders auch bezüglich
der Barrieren, denen sich einige Minderheitsgruppen gegenübersehen.
Bei den meisten Gesprächen ging es um
Menschen mit Unterstützungsbedarf und die Barrieren,
denen sie begegnen – selbst in auf sie abgestimmten,
schön gestalteten und fürsorgebewussten Einrichtungen
wie Camphill.
Gemeinschaftsprojekt
Diese Gespräche und die Begeisterung der Studierenden für
das Thema führten zu dem Entschluss, das vorgeschriebene
Gemeinschaftsprojekt «Realität – Gleichberechtigung
– Chancengleichheit» zu nennen und es mit der weiteren
Gemeinschaft zu teilen. Es handelte sich um ein Gruppenprojekt,
das die Kursteilnehmenden zusammen entwerfen
sollten. Dazu gehörten die Wahl eines kursspezifischen
Themas, die Wahl einer Zielgruppe (Arbeitsgruppen, die
ganze Gemeinschaft, andere Akademie-Studierende usw.)
und die Entscheidung für ein Format (Präsentation, Kleingruppengespräche,
interaktive Erfahrungen, usw.).
Die Studierenden entschieden sich dafür, mit der ganzen
Gemeinschaft über Realität, Gleichberechtigung und
Chancengleichheit zu sprechen. Sie bereiteten einen
Sketch vor, bei dem Schokoladenstücke auf einer bestimmten
Höhe von der Decke hingen. Sie forderten alle
im Kreis auf, sich etwas von der Schokolade zu nehmen
und zeigten so, dass allein aufgrund von Körpergrösse
einige an die Schokolade heranreichen konnten und andere
nicht. Um Gleichberechtigung zu erzielen, bekamen
alle eine Unterlage von gleicher Höhe, aber einige konnten
trotzdem die Schokolade noch nicht erreichen, auch nicht
mit Hilfe. Daraufhin erhielten diese Menschen eine Leiter
und andere waren aufgefordert, die Leiter zu halten. Auf
diese Weise wurde illustriert, dass Barrieren mit Kreativität
und gemeinschaftlicher Unterstützung überwunden
werden können und so alle die gleiche Chance haben, die
gewünschte Schokolade zu erreichen.
Community Project
These conversations, and the students’ enthusiasm for
the topic, led them to choose the subject of «Reality –
Equality – Equity» to share with the wider community as
part of their assigned Community Project. The Community
Project was a group project the class had to design together.
Its elements included choosing a topic covered by the
course or inspired by the course, choosing a target audience
(working groups, the entire community, other Academy
students, etc.), and choosing a format (presentation, small
group conversations, interactive experiences, etc.).
The students chose to share with the entire community
about reality, equality, and equity. In the form of a skit, the
students created a circle with chocolates hanging from the
ceiling at a certain height. They asked everyone to come up
and take a piece of chocolate, and with that, they showed
that the reality means some have access to it and some
don’t, solely based on height. Then, to establish equality,
they gave everyone the same height of support, but for
some, even with support, they could still not reach; then,
they gave those particular individuals a ladder, where
other participants were asked to hold the ladder. With that
example, they engaged everyone to show how the barriers
can be overcome with creativity and communal support to
ensure everyone has equitable access to the desired chocolate.
gen Begabungen, Vorurteilen, Traditionen usw.) wie auch
in die Bedeutung des Zusammenlebens als Gemeinschaft.
Einerseits kann es keine Gemeinschaft ohne starke Ich-
Präsenz geben, andererseits ist Gemeinschaft auch nicht
möglich, wenn man nicht bemüht ist, geschwisterlich zusammen
zu leben.
In seinem Vortrag Bruderschaft und Daseinskampf
spricht Steiner (1983) von zwei Kräften, von denen eine
auf individuelle Freiheit ausgerichtet ist und die andere
auf Zusammenleben und gegenseitige Unterstützung:
«Bruderschaft und Daseinskampf. Diejenigen von Ihnen,
welche sich nur ein wenig mit den Zielen der geisteswissenschaftlichen
Bewegung befasst haben, kennen
ja unseren ersten Grundsatz, den Kern einer auf allgemeiner
Menschenliebe gegründeten Bruderschaft zu
bilden, ohne Unterschied von Rasse, Geschlecht, Beruf,
Bekenntnis und so weiter.» (ebd., S. 179)
«Ohne Unterschied» bedeutet für Steiner allerdings nicht
vorzugeben, dass es diese individuellen Gegebenheiten
nicht gibt. In seinem Buch Wie erlangt man Erkenntnisse
der höheren Welten? schreibt er:
«Insbesondere kann leicht ein Missverständnis darüber
entstehen, wenn manche glauben, dass man sich tollkühn
machen solle, weil man furchtlos sein soll, dass
man sich vor den Unterschieden der Menschen verschliessen
soll, weil man die Standes-, Rassen- usw. Vorurteile
bekämpfen soll. Man lernt vielmehr erst richtig
erkennen, wenn man nicht mehr in Vorurteilen befangen
ist. Schon im gewöhnlichen Sinne ist es richtig, dass
mich die Furcht vor einer Erscheinung hindert, sie klar
zu beurteilen, dass mich ein Rassenvorurteil hindert, in
eines Menschen Seele zu blicken.» (Steiner 1992, S. 95)
Bei dem Versuch, Steiners Motto der Sozialethik tiefer zu
verstehen, beschrieben die Studierenden in einem Bild, wie
ein gesundes Sozialleben für sie aussehen könnte. Fragen
wie die folgenden wurden in Kürze behandelt:
• Was sind meine Tugenden?
• Wie kommen meine Tugenden in
der Gemeinschaft zur Geltung?
• Welche Tugenden der Gemeinschaft leben in mir?
Darauf folgte der Versuch, die Studierenden den Inhalt der
Einheit künstlerisch in einer Ton-Modellierübung umsetzen
zu lassen.
Lesson 6: Finding Myself in Community
Through the course – with the Motto of the Social Ethic as a
touchstone – the students walked the path of recognizing
the individual (with their unique gifts, biases, traditions,
etc.) and also recognizing the importance of living together
in community. On the one hand, there is no community
without a strong «I» presence, but there is also no
community if I don’t try to live together with others in a
fraternal way.
In his lecture Brotherhood and the Struggle for Existence,
Steiner (1995) talks about these dual forces, the one that
works in the direction of individual freedom, and the other
that brings us together to support each other:
«Brotherhood and the struggle for existence! Those of
you who have occupied yourselves even a little with
the aims of our spiritual-scientific movement know our
main principle: to create the heart, the kernel, of a brotherhood
based on all-embracing human love that transcends
race, sex, profession, religion, and so on.» (p. 1)
Yet, according to Steiner, «transcending» does not mean
pretending those aspects of the individual don’t exist. In
How to Know Higher Worlds, he says,
«Misunderstandings can easily arise if, for example, we
believe that the injunction to overcome fear means becoming
foolhardy; or that to fight against discrimination
based on social status or race means becoming blind
to the differences among people. We learn to recognize
these differences for what they are only when we are no
longer caught up in prejudice. Even in ordinary life, fear
of a thing prevents us from seeing it properly. In this
sense, racial prejudice prevents us from seeing into the
human soul.» (Steiner 1994, p. 89).
Trying to understand and penetrate the Motto of the Social
Ethic given by Steiner, the students shared a picture
of what a healthy social life would look like for them and
wrote small paragraphs about questions, such as:
• What virtues do I have?
• How are my virtues living in the community?
• What virtues of the community are living in me?
Then, in the hope of transposing the content of the lesson
into an artistic medium, I guided the students through a
clay modeling exercise.
Clay Modeling
Step 1. Make a clay sculpture representing who you are and
what virtues, challenges, traditions, and assumptions you
might carry.
Step 2. Share with the group what your sculpture represents.
Step 3. Create one sculpture out of all your individual
sculptures, one representing the community and also your
part in it.
For this last step, the students had to follow three rules:
• All three sculptures needed to be grounded;
• All three sculptures needed to connect;
• The final sculpture needed to be strong enough that
they could move it from one place to another.
The first sculptures they created were a bull’s head («represents
gentleness, needs little to survive, communityminded,
horns that represent the growing spirituality»), a
dragon («represents strength and flexibility»), and a little
being with big head and big ears («represents ample listening
space, learning to talk less, warmth, and compassion»).
The final sculpture they created (see image below) was inspiring,
prompting them to reflect again on what a healthy
social life looks like. Here is an example from one of the
students:
«A healthy social life means something interactive, alive,
mutual, and organic. To make a healthy social life, each
one’s values and needs, which are not limited to material
stuff, should be met. It also means to be heard, contribute
to things without expecting return, and equal value.»
Ton-Modellieren
Erster Schritt. Modelliere eine Tonfigur, die darstellt, wer
du bist, mit den Tugenden, Herausforderungen, Traditionen
und Vorurteilen, die du in dir trägst.
Zweiter Schritt. Sprich mit der Gruppe darüber, was deine After sharing those pictures, we read Brotherhood and
Skulptur darstellt.
the Struggle for Existence and discussed its content. While
6. Einheit: Ich in der Gemeinschaft
Dritter Schritt. Schafft aus euren individuellen Skulpturen reading the lecture, the parts in the text that the students
Im Verlauf des Kurses entwickelten die Studierenden auf
eine einzige Skulptur, die sowohl die Gemeinschaft darstellt
highlighted confirmed their experiences during the clay
Grundlage des Mottos der Sozialethik Einsichten in die Bedeutung
als auch die Rolle, die ihr individuell darin spielt. activity, moving from the picture of the individual sculp-
des einzelnen Menschen (mit seinen einzigarti-
Bei diesem letzten Schritt sollten die Studierenden sich an tures to the single sculpture of the community. Here is one
drei Regeln halten:
example:
• Die drei Skulpturen sollten auf der Erde stehen
• Die drei Skulpturen sollten miteinander verbunden
werden können
• Die endgültige Skulptur sollte transportfähig sein.
Die ersten individuellen Figuren waren ein Stierkopf («repräsentiert
Milde, braucht wenig zum Überleben, Gemein-
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schaftssinn, Hörner, die die zunehmende Spiritualität
darstellen»), ein Drachen («steht für Kraft und Beweglichkeit»),
und ein kleines Geschöpf mit grossem Kopf und
grossen Ohren («repräsentiert ausreichend Hörraum; lernen,
weniger zu sprechen; Wärme und Mitgefühl»).
Die endgültige Skulptur (siehe Bild unten) war beeindruckend
und regte die Studierenden an, noch einmal darüber
nachzudenken, wie ein gesundes soziales Leben aussieht.
Hier ist ein Beispiel:
«Ein gesundes Sozialleben ist interaktiv, lebendig, gegenseitig
und organisch. Für ein gesundes Sozialleben
müssen die Werte und Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen
(nicht nur auf materieller Ebene) berücksichtigt
werden. Es bedeutet auch, dass man gehört wird, dass
man beiträgt, ohne eine Gegengabe zu erwarten, und
Gleichwertigkeit.»
Nachdem wir uns über diese Bilder ausgetauscht hatten,
lasen wir Bruderschaft und Daseinskampf und sprachen
über den Inhalt. Die beim Lesen des Textes von den Studierenden
hervorgehobenen Stellen bestätigten, was sie
beim Modellieren erlebten, als sie von den individuellen
Skulpturen zu der Einzelskulptur der Gemeinschaft übergingen.
Hier ist ein Beispiel:
«Machen wir uns nicht fähig, unseren Mitmenschen zu
helfen, so werden wir ihnen auch schlecht helfen können.
Sehen wir nicht zu, dass alle unsere Anlagen ausgebildet
werden, so werden wir auch nur geringen Erfolg
haben, unseren Brüdern zu helfen. Um diese Anlagen
zur Entwicklung zu bringen, muss ein gewisser Egoismus
vorhanden sein, denn Initiative hängt mit Egoismus
zusammen. Wer es versteht, sich nicht führen zu lassen,
wer es versteht, nicht jedes Bild aus der Umgebung auf
sich wirken zu lassen, sondern hinabzusteigen in sein
Inneres, wo die Quellen der Kräfte sind, der wird sich
zu einem kräftigen und fähigen Menschen ausbilden
und bei ihm wird die Möglichkeit, anderen Dienste zu
leisten, viel mehr vorhanden sein als bei dem, welcher
sich allen möglichen Einflüssen seiner Umgebung fügt.
Es liegt nahe, dass dieses Prinzip, das für den Menschen
notwendig ist, ins Radikale ausgearbeitet werden kann.
Nur dann aber wird dieses Prinzip die richtigen Früchte
tragen, wenn es gepaart ist mit dem Prinzip der Bruderliebe.»
(Steiner 1983, S. 191)
Bei der Aufgabe, eine einzige Skulptur zu schaffen, beobachtete
ich, wie die Studierenden ihre eigenen Werke
anschauten und entschieden, welche Teile davon am
wichtigsten waren. Eine Studierende hatte den «Sockel»,
d.h. ihre ganze Skulptur wurde benutzt; die anderen brachen
ihre Figuren in kleinere Teile, die es in die endgültige
Skulptur einzugliedern galt. So gestalteten sie eine Form,
wobei sie an unterschiedlichen Eigenschaften arbeiten
mussten, um sicherzustellen, dass sie so robust war, dass
sie transportiert werden konnte. Das bedeutete, dass sie
«If we do not make ourselves capable of helping our fellow
human being, we shall be poor helpers. If we do not
see to it that all our talents are developed, we shall be
poor helpers… In order to develop these talents, a certain
egoism is necessary, because egoism is connected
with initiative. The person who understands how not to
be led, how not to be influenced by everything in his surroundings,
but who descends into his own inner being,
where the sources of strength are to be found, will develop
into a strong and able person, and in them there will
be a greater ability to serve others than in the ones who
conform to all kinds of influences that come from their
surroundings. Obviously, this principle, which is necessary
for human beings, can be developed to an extreme.
But this principle will bear the proper fruits only when it
is combined with that of fraternity.» (Steiner 1905, p. 8)
When the students were asked to create one single sculpture,
I observed them looking at their sculptures and deciding
what parts of them were most important. One of
the students had the «base» of the sculpture, so her whole
sculpture was used; all the other students broke their
sculpture into smaller pieces to fit the whole. With that,
they made a sculpture and had to work on different qualities
to ensure it was strong enough to move. That included
using someone’s leftovers to support the base. One rule
was not met, which was the one in which everyone needed
to be grounded.
I asked the students if it was difficult to give something up
for the sake of the whole. Some of them mentioned that
certain parts were easy to give up because they felt there
was a similar quality as theirs already represented by their
classmates.
We also talked about how, even though the exercise might
give us an imagination of what could/should happen in a
society that lives the principles of fraternity, in actual life
it is a challenging task to give up oneself for the wellbeing
of the whole. To be «molded» by the community could
be a long process that might lead to pain and suffering.
Individuals need to have a voice in the matter, especially
when the traditions of the place are so different from the
ones they grew up in. As represented in the clay activity,
certain people might be okay with sacrificing the arms of
their sculpture, or bend and twist a little this way and that
way. However, some might be asked to give up 90% of their
sculpture for the sake of the community’s wellbeing, and
that might be okay for a while until it isn’t. Unlike the path
of assimilation, working with the principles of diversity
and inclusion is not a one-way street.
Reste der Einzelfiguren benutzen mussten, um den Sockel
zu festigen. Eine Regel war unbeachtet geblieben: dass
jede Figur auf der Erde stehen sollte.
Ich fragte die Studierenden, ob es schwierig für sie war,
etwas um des Ganzen willen zu opfern. Einige sagten, dass
es ihnen bei Teilen leicht fiel, bei denen sie das Gefühl hatten,
dass eine ähnliche Qualität schon von anderen dargestellt
worden war.
Wir sprachen auch davon, dass die Übung uns zwar ein
Bild davon vermittelte, was in einer Gesellschaft geschehen
könnte oder sollte, die nach den Prinzipien der Geschwisterlichkeit
lebt, dass es aber im wirklichen Leben
eine Herausforderung ist, sich selbst für das Wohl des
Ganzen aufzugeben. Von der Gemeinschaft «geformt» zu
werden, könnte ein langer, zu Schmerz und Leid führender
Prozess sein. Einzelne müssen eine Stimme haben, besonders
wenn die örtlichen Traditionen so ganz anders sind
als diejenigen, mit denen man selbst aufgewachsen ist. Die
Arbeit mit dem Ton zeigte, dass es manchen Menschen
nichts ausmacht, die Arme ihrer Figur zu opfern oder sie
in diese oder jene Richtung zu biegen und zu drehen. Allerdings
wird von manchen verlangt, die 90 Prozent ihrer
Skulptur für das Wohl der Gemeinschaft aufzugeben. Auch
das mag für eine Weile gutgehen, aber irgendwann kommt
der Punkt, wo es nicht mehr in Ordnung ist. Im Gegensatz
zur Assimilation sind die Prozesse, die auf Diversität und
Inklusion aufbauen, keine Einbahnstrasse.
Foto: Gleice da Silva
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39
Nach dem Kurs
Blitzlichter
Eines der Hauptziele des Kurses war es, Räume der Sicherheit
und Unterstützung zu schaffen, in denen die Studierenden
sich über Themen aus dem Bereich Diversität,
Chancengleichheit und Inklusion austauschen konnten.
Ihr Engagement und ihre Begeisterung während der Gespräche
und ihre Rückmeldungen lassen darauf schliessen,
dass dieses Ziel erreicht wurde. Die Studierenden
hatten sinnvolle Erlebnisse. Unsere unterschiedlichen
Hintergründe erlaubten uns ein tieferes Eintauchen in die
Problematik; und die sichere Umgebung, die wir hergestellt
hatten (auch mithilfe der Vereinbarungen) ermöglichte
den Studierenden, ehrlich miteinander zu sein. Da
sie schon verantwortungsvolle Aufgaben in ihren jeweiligen
Gemeinschaften hatten, konnten sie durch den Kurs
anders auf ihre Betreuten und auf die Gemeinschaft als
Ganzes schauen.
Ein weiterer positiver Aspekt war die Tatsache, dass ich
selbst innerhalb von Camphill einer ethnisch-kulturellen
Minderheit angehöre und direkte Erfahrungen mit DEIorientierten
Themen habe; auch, dass ich die Studierenden
anleiten konnte, aus ihren eigenen Lebenserfahrungen heraus
zu sprechen, anstatt ihnen Vorträge anzubieten, die
vielleicht weniger sinnvoll für sie gewesen wären.
Andere Höhepunkte waren u.a.:
• mit einer Mischung von Steiner-Texten und Mainstream-Artikeln
zu arbeiten
• mit einer kleinen Gruppe zu arbeiten
• das Ton-Modellieren
• das Gemeinschaftsprojekt.
Herausforderungen
Die Herausforderungen, die ich bei dem Kurs erlebte, hatten
hauptsächlich mit meinen eigenen Zweifeln und Ängsten
zu tun. Ein derart kontroverses Thema einzuführen,
war eine Herausforderung. Ich fürchtete, dass manche
Leute denken könnten, dass der Kurs uns als Gemeinschaft
nur noch mehr spalten würde (ein Missverständnis,
dem ich begegnete und das ich bereit bin zu hinterfragen)
oder dass ich mit dem Kurs nur meine eigenen Interessen
als Person of Colour verfolgte.
Sicherheit in meiner Methodik war notwendig, um den
Studierenden die Relevanz dieser Themen nahezubringen.
Ich entschied mich für Probleme, die gerade für diese
Studierenden und diese Gemeinschaft relevant waren. Die
gleichen Ängste, die ich beim Unterrichten des Kurses hatte,
habe ich jetzt wieder beim Schreiben dieses Artikels.
Sich mit Diversität zu beschäftigen und die in uns allen verborgen
liegenden Unterdrückungsmechanismen freizulegen
ist ein schmerzlicher, aber notwendiger Schritt – insbesondere,
wenn wir gerne predigen, dass die Würde jedes
Some impressions after teaching
the course
Highlights
One of the main goals of this course was to create safe,
held spaces where the students could discuss DEI-related
topics. Based on their level of engagement, enthusiasm
during the conversations, and positive feedback, this goal
seemed to be met. The students had meaningful experiences.
Being from different backgrounds allowed us all to
dig deeper into those issues, and the safe environment we
created (including through the creation of agreements)
allowed the students to be honest with each other. Since
the students already had significant roles in their community,
the course allowed them to look differently at the
people they were serving and at the community at large.
Another positive aspect of the course was the fact that I
am a person who belongs to a racial and cultural minority
group within Camphill, having direct experiences of DEIrelated
topics, and could guide them to talk out of their experiences
in life instead of creating lectures that perhaps
wouldn’t be so meaningful to them.
Other highlights included:
• Working with reading material that was a mix of Steiner
and mainstream articles
• Working with a small group
• The clay activity
• The community project assignment.
Challenges
The main challenges I encountered during this course
were mainly related to my own doubts and fears. It was
challenging to introduce such a contentious topic. I was
anxious that people might think the classes would only
divide us as a community even further (a misconception
I’ve encountered and am willing to challenge) or would feel
that I was just serving my own agenda as a person of color.
To feel secure in my methodology was a significant barrier
to overcome, but a necessary one, so that the students
could experience the relevance of these topics. – I chose
the issues that would be the most relevant for these particular
students and this particular community. The same
fears I had while teaching the course, I have now while writing
this article. Learning about diversity topics and getting
to know the systems of oppression that are so well
disguised in all of us, is a painful, yet necessary step to take
– especially if we preach that everyone should be treated
with dignity. These topics must be alive in our thinking
and feeling before we can will them, which is the hardest
part. To effect change, we need to repeatedly exercise these
muscles of compassion and interest.
Menschen respektiert werden sollte. Diese Dinge müssen
in unserem Denken und Fühlen leben, bevor sie unseren
Willen ergreifen können, und das ist der schwierigste Teil.
Um Wandel herbeizuführen, müssen wir uns in Mitgefühl
und Interesse üben.
Nach dem Ende des Kurses fragte ich die Studierenden, ob
das vierte Studienjahr ihrer Meinung nach die beste Zeit für
diesen Kurs ist. Ihre Antworten bestätigten wieder meine
Intuition, dass es wichtig ist, diesen Themen Raum zu geben,
besonders in unseren Programmen zur Erwachsenenbildung.
Die Studierenden sagten:
• «Ich denke, es wäre gut, im ersten oder zweiten Jahr
anzufangen, denn das Wissen und das Bewusstsein
von Diversität und Kulturen sind schon am Anfang des
Gemeinschaftslebens wichtig.»
• «Meiner Meinung nach sollten diese Themen früher
eingeführt werden, denn dann könnten wir über mehrere
Jahre daran arbeiten. Diese Themen liegen mir
sehr am Herzen und ich wünschte, ich hätte schon früher
im Studium Gelegenheit gehabt, mehr darüber zu
lernen.»
• «Ich finde, dieser Kurs könnte auch in den ersten Jahren
der Academy sinnvoll sein, damit die Studierenden
von Anfang an Offenheit entwickeln können und wir in
unseren Häusern und in der Gemeinschaft persönliche
Projekte durchführen können.»
Einige Herausforderungen:
• Wegen der Kürze des Kurses wurden viele Themen
entweder übersehen oder nicht angesprochen, und
einige Gespräche musste wegen Zeitmangel eingeschränkt
werden;
• Mehr künstlerische Aktivitäten wie das Ton-Modellieren
hätten den Studierenden ermöglicht, sich auf
unterschiedliche Weise mit den Themen auseinanderzusetzen;
• Das Gemeinschaftsprojekt hätte mehr Führung und
Rückmeldungen gebraucht. Dieses Projekt war ein
wesentlicher Teil des Kurses, und ich hätte den Studierenden
genauere Richtlinien und mehr Unterstützung
geben sollen. Sie mussten die Initiative ergreifen und
das, was für sie an dem Kurs am relevantesten war,
mit der weiteren Gemeinschaft teilen. Dazu kam, dass
die Präsentation ein langer Prozess war, der sich über
mehrere Wochen hinzog, weil die Studierenden nicht
genug Zeit hatten bzw. der Zeitplan der Gemeinschaft
keine schnellere Abwicklung zuliess.
After teaching this course, I asked the students if they felt
this course was well placed in the fourth year of the program,
and their response once more confirmed my intuition
that finding places to discuss these topics is essential,
especially in the adult education programs we have. The
students said:
• «I think starting in the first or second year would be
nice, since the knowledge and awareness of diversity
and cultures are already needed from the early years
of community life.»
• «I feel that these topics should be brought to us earlier,
which would allow for us to work on them over the
course of several years. These topics are very dear to
me, and I wish that I had more opportunities earlier in
my studies to deepen my knowledge.»
• «I think this course can also be good in the first years
of the Academy, so students get an open idea from the
beginning, and we can fully develop personal projects
in our homes and community.»
Some other challenges included:
• Because the course was concise, many topics were
either overlooked or not addressed, and some conversations
had to be cut short for lack of time.
• More artistic activities like clay modeling would have
helped the students to have different experiences
with the topics discussed.
• The community project needed more guidance and
feedback. This project was an essential part of the
course, and I should have given the students more explicit
guidelines and assistance. The students needed
to take the initiative and share with the broader community
what was most relevant to them in the course.
In addition, the process of presenting was long and
dragged on for several weeks because of students’
time constraints or conflicts with the community’s
schedule.
40 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
41
Abschliessende Gedanken
In meinem Heimatdorf waren wir stolz darauf, dass wir uns
umeinander kümmerten. Meine Grossmutter verlangte nie
Bezahlung für ihre Dienste als Heilerin. Die Menschen kamen
zu ihr und ich habe nie erlebt, dass sie Hilfesuchende
abgewiesen hätte. Wenn meine Mutter irgendwo einen
Termin hatte, konnte sie sich immer darauf verlassen,
dass sich jemand um meine Schwester und mich kümmerte.
Neben der Arbeit auf der Zuckerrohr-Plantage baute
mein Vater Maniok an und machte Mehl daraus, das er oft
mit den Nachbarn teilte.
Unser Leben war einfach und wir waren arm, aber wir
konnten gut damit umgehen, weil wir uns aufeinander verlassen
konnten. Ich hatte ein harmonisches Bild von unserem
Dorfleben und vertraute darauf dass «egal, was ist,
wir füreinander da sind». Erst später, als ich nach längerer
Abwesenheit wieder in mein Dorf zurückkehrte, wurde mir
klar, dass Menschen, die anders waren als die meisten,
sich entweder versteckten oder das Dorf verliessen, weil
sie nicht respektiert wurden (Homosexuelle, Prostituierte,
Arbeitslose, Menschen mit Behinderungen, usw.). Ich war
überzeugt gewesen, dass es Ausgrenzung bei uns nicht
gab. Als Erwachsene sehnte ich mich dann danach, Menschen
dabei zu helfen wahrgenommen zu werden – ich
selbst eingeschlossen. Dieser Wunsch führte mich dazu,
mit Menschen mit Unterstützungsbedarf, Obdachlosen,
Gefängnisinsassen, in der Erwachsenenbildung usw. zu
arbeiten und so einen Unterschied zu machen. Den DEI-
Kurs anzubieten war ein weiterer Versuch, die Schranken
zu durchbrechen, die uns immer wieder davon abhalten,
dass wir uns gegenseitig mit Wertschätzung und Würde
begegnen. Der vorliegende Artikel ist ein weiterer Schritt
in diese Richtung. Ich hoffe, dass er gelesen wird und dass
andere ihn beim Schaffen inklusiver Räume hilfreich finden.
Aus dem Englischen übersetzt von Margot M. Saar
Anmerkungen
1 https://camphill.edu/study-inclusive-social-development/
2 de.langenscheid.com (Zugang: 26.11.2024)
Concluding reflections
In the village where I lived, we proudly cared for one another.
Being the village healer, my grandmother never charged
for her services. She always had people coming to see
her, and I never saw her turn down anyone who needed
help. Whenever my mother had an appointment, she could
always count on someone to look after me and my sister.
Besides working on the sugarcane plantation, my father
grew yucca and produced yucca flour, and he would often
share it with neighbors.
Though life was simple and poor, we always made it work
because we could count on each other. I grew up with a
harmonious image of village life, believing, «No matter
your issues, we will be there for each other.» It wasn’t until
later, when I had already moved away from the village and
later went back to it, that I realized how people who didn’t
fit in with most of us were either in hiding or shamed into
leaving (gays, prostitutes, idles, people with disabilities,
etc.). I had always thought we wouldn’t leave anyone behind.
Then I grew up, and since then, I longed to find ways
of helping people feel seen, including myself. This wish
has led me to transformational (personal) work with people
with disabilities, unhoused, inmates, adult education,
and so on. Teaching a class on DEI-related topics was another
attempt to break the barriers that insist on keeping
us from seeing each other’s value and dignity. And writing
this article is yet another step in that direction. I hope people
will read it and find it useful in their own journeys of
creating inclusive spaces.
Notes
1 https://camphill.edu/study-inclusive-social-development/
2 de.langenscheid.com (accessed on: 26.11.2024)
References
Jonas, M. (2007): The downside of diversity. The New York Times article,
https://www.nytimes.com/2007/08/05/world/americas/05iht-diversity.1.6986248.html
Accessed 17 Feabruary. 2024 ||| Russen, M., and
Dawson, M. (2023): Which should come first? Examining diversity, equity
and inclusion ||| Steiner, R. (1994): How to Know Higher Worlds (GA 10).
Anthroposophic Press, Hudson, NY. ||| Steiner, R. (1995). The Spiritual
Foundation of Morality: Francis of Assisi and the Christ impulse (GA
155). Anthroposophic Press, Hudson, NY. ||| Steiner, R. (1980): Brotherhood
and the Struggle for Existence (GA 54). Mercury Press, Spring Valley,
NY. ||| Steiner, R. (1990): Rudolf Steiner/Edith Maryon: Briefwechsel,
1912-1924 (GA 263/1). Rudolf Steiner Verlag, Dornach.
42 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
43
Geh dorthin,
wo du gefeiert wirst,
nicht dorthin,
wo du geduldet wirst!
Go where you are celebrated,
not where you are tolerated!
Die Geschichte der anthroposophischen
The history of anthroposophical cu-
Die Assoziation für anthroposophische Heilpädagogik und The Association for Anthroposophic Curative Education
Sozialtherapie (ACEST) in unserem Land hat sich der Herkulesaufgabe
and Social Therapy (ACEST) in our country has taken up
Heilpädagogik und inklusiven rative education and inclusive social
einer Zukunftsgestaltung gestellt, die auf the Herculean task of shaping a future aimed at bridging
die Überbrückung der riesigen Kluft der sozialen Isolation the huge gap of social isolation and creating a socially inclusive
world for people in need of assistance.
sozialen Entwicklung in Indien development in India
abzielt und eine sozial inklusive Welt für Menschen mit Assistenzbedarf
Zusammengestellt vom Team Avapanam
Compiled by Team Avapanam
zu schaffen.
Vor drei Jahrzehnten kam der sozialtherapeutisch-heilpädagogische
Impuls nach Indien, und sein Wachstum wurde
vor allem durch drei Bildungswege angeregt: Der eine war
der Camphill-Impuls, der zweite war das von der Medizinischen
Sektion am Goetheanum organisierte IPMT und in
den letzten Jahren der IRA-Waldorfpädagogik-Grundkurs.
Der Impuls für die Camphill-Bewegung wurde vor rund 30
Jahren von einigen Freunden in Bangalore in Zusammenarbeit
mit Mitgliedern von Camphill Copake (USA) auf dem
Three decades ago, the socio-therapeutic-curative impulse
came to India and its growth was mainly stimulated
by three educational paths: one was the Camphill impulse,
the second was the IPMT organized by the Medical Section
at the Goetheanum and in recent years, the IRA Waldorf
Education Foundation Course.
44 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
45
fruchtbaren Boden Südindiens initiiert. Die als Tagesstätte
konzipierte Einrichtung, welche Menschen mit Entwicklungsbedarf
eine Berufsausbildung und neue Perspektiven
bietet, hat in der Folgezeit an Schwung gewonnen und stellt
heute eine ernstzunehmende Grösse dar. Das ursprüngliche
Ziel bestand in der Schaffung von Beschäftigungs- und
Erwerbstätigkeitsmöglichkeiten für Menschen mit Assistenzbedarf.
Aus diesen bescheidenen Anfängen heraus
manifestierte sich der Wunsch, eine Wohneinrichtung zu
etablieren, in der ein sinnvolles und zielgerichtetes Leben
geführt werden kann, ein Leben, in dem die Bewohnerinnen
und Bewohner Wertschätzung erfahren. Im Jahr 1999
wurde die Initiative Friends of Camphill India eingeweiht.
Die Gemeinschaft in Bangalore initiierte in Kooperation
mit Mitgliedern der Camphill-Organisation Copake sowie
weiteren Lehrkräften, die in Schottland, Irland, den Niederlanden
und Deutschland auf dem Gebiet der Heilpädagogik
und inklusiven sozialen Entwicklung tätig waren,
die Durchführung eines dreijährigen Grundkurses. Eine
Vielzahl an Fachleuten sowie konventionellen pädagogischen
Fachkräften absolvierte eine Ausbildung auf diesem
neuen anthroposophischen Weg. Die etwa 50 Auszubildenden
gründeten im Anschluss eigene Initiativen oder
waren in anderen Einrichtungen tätig, wobei sie die anthroposophischen
Werte in ihre Arbeit integrierten.
In Südindien wuchs die Arbeit exponentiell durch die Menschen,
die in Friends of Camphill India ausgebildet wurden.
Für Ausbildende, die durch die Teilnahme am IPMT und an
den IRA-Kursmodulen ein vertieftes Verständnis der Anthroposophie
anstrebten, wurden zusätzliche Lesekurse und
Studiengruppen angeboten. In den letzten Jahren wurden
von Avapanam und einer Gruppe von Ausbildenden Kurse
in einer regionalen Sprache, Tamil, durchgeführt.
Indische Spiritualität und das anthroposophische
Menschenverständnis
The impetus for the Camphill movement was initiated
around 30 years ago by some friends in Bangalore in collaboration
with members of Camphill Copake (USA) on the
fertile soil of South India. Conceived as a day care center
offering vocational training and new perspectives to people
with developmental needs, the institution has gained
momentum and is now a force to be reckoned with. The
original aim was to create employment and gainful employment
opportunities for people with assistance needs.
From these modest beginnings, the desire to establish a
residential facility in which a meaningful and purposeful
life could be led, a life in which the residents were valued,
manifested itself. In 1999, the Friends of Camphill India
initiative was inaugurated.
The community in Bangalore initiated a three-year basic
course in cooperation with members of the Camphill Organization
Copake and other teachers who were active
in the field of curative education and inclusive social development
in Scotland, Ireland, the Netherlands and Germany.
A large number of professionals and conventional
educational specialists completed training on this new
anthroposophical path. The 50 or so trainees went on to
set up their own initiatives or worked in other institutions,
integrating anthroposophical values into their work.
In South India, the work grew exponentially through the
people who were trained in Friends of Camphill India. Additional
reading courses and study groups were offered
for trainees who sought a deeper understanding of anthroposophy
through participation in the IPMT and IRA
course modules. In recent years, courses in a regional language,
Tamil, have been conducted by Avapanam and a
group of trainers.
Indian spirituality and the anthroposophical
understanding of the
human being
vollzogen werden. Das Programm bietet Kindern die Möglichkeit,
die Natur zu erforschen, eins mit ihr zu werden,
spirituelle Erfahrungen zu machen und Lehrende zu haben,
die einen grossen Einfluss auf ihre Entwicklung haben.
Indien ist in der ganzen Welt für seinen enormen landwirtschaftlichen
Reichtum bekannt, und die indischen Traditionen,
die tief in den Jahreszeiten und Festen verwurzelt
sind, werden überall auf der Welt sehr geschätzt. Die Bewegung
der Heilpädagogik und inklusiven sozialen Entwicklung
hat die Anschaung der Anthroposophie auf wunderbare
Weise integriert und sie an die Bedürfnisse des Landes
und der regionalen Standorte in Indien angepasst.
Die anthroposophische Heilpädagogik und inklusive soziale
Entwicklung hat nicht nur dazu beigetragen, dass die
biografischen Herausforderungen akzeptiert werden, sondern
auch zu einem tieferen Verständnis des persönlichen
Schicksals, des individuellen Selbst und der eigenen Lebensentscheidungen
geführt. Das Konzept eröffnet Möglichkeiten,
mit verschiedenen Aspekten des menschlichen
Daseins zu arbeiten, darunter Ernährung, Natur, Körper
und den Sinnen. Ein weiterer Fokus liegt auf der Veränderung
und Anpassung der Umgebung, anstatt eine Veränderung
des Kindes anzustreben. Den Lehrkräften werden
Instrumente an die Hand gegeben, die ihnen ein Verständnis
dafür vermitteln, dass die Arbeit an der eigenen Person
von essenzieller Bedeutung ist, um ein förderliches Umfeld
für den Unterricht und die Beziehungen zu den Lernenden
zu gestalten. So konnten Initiativen im Bereich der Heilpädagogik
und der inklusiven sozialen Entwicklung in ganz
Indien etabliert werden. Dabei wurde darauf geachtet,
dass die Grundsätze der Heilpädagogik sowie der inklusiven
sozialen Entwicklung im Allgemeinen und der Anthroposophie
im Speziellen gewahrt bleiben. Obgleich die
Auswirkungen unserer Tätigkeit nicht immer unmittelbar
evident sind, sind sie doch stets vorhanden und manifestieren
sich auf subtile Weise und in kleinen Schritten. Jeder
kleine Tropfen macht einen Ozean!
become one with it, have spiritual experiences and have
teachers who have a great influence on their development.
India is known throughout the world for its enormous agricultural
wealth and Indian traditions, deeply rooted in
the seasons and festivals, are highly valued all over the
world. The curative education and inclusive social development
movement has beautifully integrated the anthroposophical
approach and adapted it to the needs of the
country and regional locations in India.
Anthroposophical curative education and inclusive social
development has not only helped in accepting the biographical
challenges but has also led to a deeper understanding
of personal destiny, individual self and one’s life
choices. The concept opens up opportunities to work with
different aspects of human existence, including nutrition,
nature, the body and the senses. Another focus is on
changing and adapting the environment rather than trying
to change the child. Teachers are given tools to understand
that working on the self is essential to creating a supportive
environment for teaching and relationships with learners.
As a result, initiatives in the field of special education and
inclusive social development have been established across
India. Care has been taken to ensure that the principles
of curative education and inclusive social development in
general and anthroposophy in particular are upheld. Although
the effects of our work are not always immediately
evident, they are always present and manifest themselves
in subtle ways and in small steps. Every little drop makes
an ocean!
Public perception
The results of our work are largely perceived and appreciated
positively by the public. People are often impressed
by various aspects of our work. These include, for example,
the reverence for the child, the relationships with each
other, the provision of meaningful employment for adults
with assistance needs, the way the rooms are cared for
and other factors. The public appreciates the methods we
use, as they can see the results of our work immediately.
Outsiders sometimes ask what measures are taken to
achieve the peace of mind described above when working
with people with assistance needs. Parents are our most
important advocates and occasionally also our critics, as
they take the time to understand the way we work. There
is also an interest on the part of the health sector and state
supervisory authorities in learning about our methods,
as we work transparently. We warmly welcome them. The
public can understand and empathize with the love in the
relationships between teachers and children and in the
relational partnership between professionals and adults
with assistance needs, which creates a sense of well-being
in the community.
Der indischen Bevölkerung sind die Konzepte von Reinkarnation
und Karma nicht fremd. Unabhängig davon, woher The Indian people are no strangers to the concepts of reincarnation
Die Wahrnehmung in der
and karma. Regardless of where we come from,
wir kommen, haben wir ein tiefes Verständnis von Menschlichkeit
und Spiritualität und schätzen das Geschenk des we have a deep understanding of humanity and spirituality
Öffentlichkeit
Lebens. Dieses Verständnis führte zur raschen Verbreitung
and appreciate the gift of life. This understanding led
Die Ergebnisse unserer Arbeit werden in der Öffentlichkeit
von ACEST, da die Menschen die Ähnlichkeiten zwischen
to the rapid spread of ACEST as people recognized the
überwiegend positiv wahrgenommen und geschätzt. Die
den traditionellen indischen Philosophien und Wer-
similarities between traditional Indian philosophies and
Menschen sind oft beeindruckt von verschiedenen Aspek-
ten und den Anschauungen von Rudolf Steiner erkannten. values and the views of Rudolf Steiner.
ten unserer Arbeit. Dazu zählen beispielsweise die Ehrfurcht
So wie die indische Philosophie von Selbstverwirklichung Just as Indian philosophy speaks of self-realization and
vor dem Kind, die Beziehungen untereinander, die Bereitstellung
und dem Verständnis der eigenen wahren Natur spricht, understanding one’s true nature, anthroposophy aims to
einer sinnvollen Beschäftigung für Erwachsene mit
zielt auch die Anthroposophie darauf ab, eine Brücke zwischen
build a bridge between the spiritual and material worlds.
Assistenzbedarf, die Art und Weise der Raumpflege und
der geistigen und der materiellen Welt zu schlagen. Both traditions emphasize the integration of body, soul
weitere Faktoren. Die Bevölkerung honoriert die von uns an-
Beide Traditionen betonen die Integration von Körper, Seele
and spirit. India also has the ancient Gurukul school sysgewandten
Methoden, da sie die Resultate unserer Tätigkeit
und Geist. In Indien gibt es auch das uralte Schulsystem tem, which provides a holistic education for children, and
unmittelbar wahrnehmen kann. Mitunter wird von Aussen-
der Gurukul, das eine ganzheitliche Bildung für Kinder bietet
the path of ACEST can be followed in a similar way. The
stehenden die Frage gestellt, welche Massnahmen ergriffen
und der Weg von ACEST kann in ähnlicher Weise nach- program offers children the opportunity to explore nature,
werden, um den beschriebenen Frieden in der Arbeit mit
Menschen mit Assistenzbedarf zu erreichen. Dabei sind die
Eltern unsere wichtigsten Fürsprecher und gelegentlich auch
unsere Kritiker, da sie sich die Zeit nehmen, unsere Arbeitsweise
zu verstehen. Auch seitens des Gesundheitssektors
und der staatlichen Aufsichtsbehörden besteht ein Interesse
daran, unsere Methoden kennenzulernen, da wir transparent
arbeiten. Wir heissen sie herzlich willkommen. Die
46 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
47
Öffentlichkeit kann die Liebe in den Beziehungen zwischen
Lehrenden und Kindern sowie in der Beziehungspartnerschaft
der Fachkräfte zu Erwachsenen mit Assistenzbedarf,
welche ein Gefühl des Wohlbefindens in der Gemeinschaft
schafft, nachvollziehen und nachempfinden.
Gleichwohl wird unser Konzept mitunter nicht in seiner
Ganzheit erfasst, sodass wir uns in der Verantwortung sehen,
unsere Arbeit noch aktiver zu kommunizieren und
mehr Menschen dafür zu begeistern, damit unsere Initiativen
auch in Zukunft Bestand haben können.
Herausforderungen
Die Arbeit in Indien ist vor allem in zweierlei Hinsicht eine
Herausforderung: Einerseits gilt es, Ausbildungsmöglichkeiten
zu schaffen, andererseits müssen Arbeitskräfte
gewonnen werden. Die Arbeit im Bereich der Arbeit mit
Menschen mit Assistenzbedarf wird nicht als lukrativer Beruf
angesehen, weshalb eine Aufwertung des Sektors auf
allen Ebenen erforderlich ist. Es gilt, die Zufriedenheit mit
der Entlohnung zu steigern, die Möglichkeiten zur Verbesserung
der beruflichen Qualifikationen zu optimieren und
alle in diesem Gebiet Beteiligten aufzuwerten.
Bislang wurde lediglich der Grundkurs in Englisch angeboten,
welcher seitens der indischen Regierung keine Anerkennung
erfährt. Zudem sind die aus diesem Kurs resultierenden
Zertifikate für die Arbeitssuche von geringem
Wert. Aufgrund der geographischen und sprachlichen
Grösse des Landes steht die Schaffung einer einheitlichen
Berufsausbildung vor einer besonderen Herausforderung.
Wie in anderen Ländern weltweit sind auch unsere Organisationen
mit Personalproblemen konfrontiert. Aus den
dargelegten Gründen halten wir es für erforderlich, die
Ausbildung auch in den lokalen Sprachen anzubieten.
Das im Jahr 2018 etablierte Indian Forum for Inclusive Social
Development (Avapanam) hat bereits eine Reihe von
Programmen erfolgreich implementiert, die den zuvor genannten
Anforderungen entsprechen. In den vergangenen
fünf Jahren haben wir jährlich viertägige Klausuren durchgeführt,
welche ein ausgewogenes Verhältnis zwischen
Vorträgen, Workshops und Möglichkeiten zum Austausch
und zur Netzwerkbildung für alle Teilnehmenden bieten.
Avapanam hat gerade eine Reise begonnen und die höchste
Priorität liegt in der Schaffung von Ausbildungsmöglichkeiten
auf regionaler Ebene, die auch auf die nationale
Ebene ausgeweitet werden sollen.
Challenges
Working in India is a challenge in two main ways: on the
one hand, it is important to create training opportunities
and, on the other, to recruit workers. Working with people
in need of assistance is not seen as a lucrative profession,
which is why the sector needs to be upgraded at all levels.
There is a need to increase satisfaction with pay, optimize
opportunities to improve professional qualifications and
enhance the value of all those involved in the field.
So far, only the basic course in English has been offered,
which is not recognized by the Indian government. In addition,
the certificates resulting from this course are of
little value when looking for work. Due to the geographical
and linguistic size of the country, the creation of standardized
vocational training is a particular challenge.
As in other countries around the world, our organizations
are also faced with staffing problems. For the reasons outlined
above, we believe it is necessary to offer training in
local languages as well.
The Indian Forum for Inclusive Social Development (Avapanam),
which was established in 2018, has already successfully
implemented a number of programs that meet
the aforementioned requirements. Over the past five
years, we have held annual four-day retreats that offer a
balance of lectures, workshops and opportunities for exchange
and networking for all participants.
Avapanam has just started a journey, and the top priority
is to create training opportunities at regional level to be
extended to national level.
Ioana Viscrianu, Johannes Kronenberg, Ruth Fiona Roever
Zusammenleben
wollen
Ein Porträt von drei sozialtherapeutischen Gemeinschaften:
Lebenswirklichkeit, Entwicklungsfragen und Aspekte
der Teilhabe
Verlag am Goetheanum & Athena Verlag 2024
Rezension: Gabriele Scholtes
Die von einem Forschungsteam der Jugendsektion am Goetheanum
herausgegebene Publikation widmet sich dem
Konzept des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Dabei
fokussiert sie sich auf die komplexe Thematik der Gemeinschaftsbildung,
die insbesondere vor dem Hintergrund der
UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
(UN-BRK) eine hochaktuelle Debatte darstellt. Die
Perspektive der UN-BRK betont die anthropologische Konstitution
des Individualismus sowie die Relevanz persönlicher
Entfaltung und betrachtet das Leben in Gemeinschaften
potenziell als Bedrohung für die Maximen der Selbstbestimmung,
Partizipation und Inklusion. In diesem Kontext
werden drei verschiedene Lebensgemeinschaften
vorgestellt und ihre Praktiken im
Alltags- und Arbeitsleben beleuchtet. Es sei
an dieser Stelle darauf verwiesen, dass die
Studie sich bewusst gegen eine Bewertung
ausspricht, inwiefern die gesetzlichen Anforderungen
an Inklusion erfüllt sind oder
sein sollten, da der Fokus vielmehr auf den
Gemeinschaften selbst liegt.
Im Rahmen der Untersuchung besuchte das
Forschungsteam die Gemeinschaften für
mehrere Tage. Die Besuche wurden als Gelegenheit
genutzt, die Gemeinschaften als
soziale «Laboratorien» bzw. «Experimente»
zu betrachten, in denen neue Formen des
sozialen Zusammenlebens erforscht und
erprobt werden. Während dieser Zeit führten
die Forschenden Interviews mit Bewohnerinnen
und Bewohnern sowohl mit als
auch ohne Assistenzbedarf und organisierten themenbezogene
Diskussionsrunden. Ein wesentliches Element der
Forschungsmethode war die teilnehmende Beobachtung.
Ein gemeinsames Merkmal der untersuchten Gemeinschaften
ist das Zusammenleben von Menschen mit und ohne
Assistenzbedarf in familienähnlichen Wohngruppen oder
sogenannten Wahlfamilien. Dies wirft die Frage auf, ob eine
mögliche Überbetonung von Nähe und Zugehörigkeit die
Lebensrealitäten der Beteiligten beeinflusst, indem es die
partizipative Gestaltung und die Übernahme von Verantwortung
möglicherweise in den Hintergrund drängt.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Befragten bewusst für diese
Art des Zusammenlebens optieren. Zugleich sind sie
Ioana Viscrianu, Johannes Kronenberg, Ruth Fiona Roever
Choosing to Live
Together
A portrait of three social-therapeutic communities:
The realities of life, development issues, and questions
of participation
Currently only available in German
Review: Gabriele Scholtes
This book, published by a research team from the Youth
Section of the Goetheanum, is dedicated to the idea of
community living. It focuses on the complex subject of
community-building – a highly topical debate, particularly
in light of the UN Convention on the Rights of Persons with
Disabilities (UN-CRPD). The UN-CRPD perspective emphasizes
the anthropological foundation of individualism,
as well as the importance of personal development, and
sees community life as a potential threat to the principles
of self-realization, participation and integration. In this
context, the authors introduce three different life-sharing
communities and explore their practices in daily home
and work life. It should be noted that the
study deliberately refrains from assessing
the extent to which the legal requirements
for integration are or should be met, as the
focus is rather on the communities themselves.
The research team visited each community
for several days. These visits were
an opportunity to observe the communities
as ‹laboratories› or ‹experiments›,
in which new forms of social communal
life are explored and practiced. During
the visits, the researchers conducted interviews
with community members both
with and without disabilities, and organized
topic-based discussion groups.
Participatory observation was an essential
part of the research method. A common
feature of the three communities is
that people with and without disabilities live together
in «expanded family» households. This prompted the
question of whether a possible overemphasis on proximity
and belonging affects everyday life for members
of the community by possibly pushing participatory organization
and individual responsibility into the background.
48 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
49
sich der Chancen und Risiken, die Nähe und Zugehörigkeit
mit sich bringen, bewusst und zeigen sich offen für die notwendigen
Reflexionsprozesse, einschliesslich der Berücksichtigung
externer Perspektiven.
Dieses Buch kann als äusserst lesenswert empfohlen werden,
da es nicht nur faszinierende Einblicke in das Leben
innerhalb dieser Gemeinschaften gewährt, sondern auch
dazu anregt, die aktuellen Paradigmen der sozialen Arbeit
aus einer erweiterten Perspektive heraus zu hinterfragen.
Annette Pichler
Kreis und Punkt
Eine kritische Analyse zum Heilpädagogischen
Kurs Rudolf Steiners
Info3 Verlag 2024
Rezension: Udi Levy
Das vorliegende Buch setzt sich von einem erfahrenen und
fachlich fundierten Standpunkt aus mit dem Heilpädagogischen
Kurs Rudolf Steiners auseinander. Es ist eine zum
Teil kritische, aber auch selbstreflektierende Haltung, aus
der heraus geschrieben wurde. Eine seltene, mutige und
hochaktuelle Erscheinung im Genre der sogenannten anthroposophischen
Sekundärliteratur. Im Sinne des gegenwärtigen
Trends der Inklusion im sozialen Fachbereich
legt die Autorin das Dilemma dar, nach dem es nicht länger
üblich ist, über Menschen zu sprechen und deren Aktionen
in Frage zu stellen, wenn diese nicht anwesend sind. Doch
jene Personen, die in diesem Steinerschen Kurs beschrieben
wurden und agierten, sind längst gestorben. Sie hinterfragt
aus heutiger Sicht den Weg von der Diagnose zur
Therapie – ein Weg, der wegen seiner zum Teil spirituellen
Orientierung Fragen und Überlegungen hervorruft, die im
Jahre 1924 und in Anwesenheit Rudolf Steiners nicht gestellt
wurden. So schreibt sie zu einem Thema, das weiter
noch besprochen wird, sie könne diese «Situation nicht
unbesprochen lassen, weil Anthroposophie meines Erachtens
nicht einfach unhinterfragt tradiert werden sollte,
sondern mit heutigen Diskursen und Paradigmen aktiv in
Dialog treten muss, um zeitgemäss und sinnvoll wirken zu
können und ihr volles Potential zu entfalten» (S. 87).
Hundert Jahre nach Rudolf Steiners Heilpädagogischem
Kurs bestehen über 750 Einrichtungen der anthroposophisch
gesinnten Heilpädagogik und inklusiven sozialen
The results show that those interviewed consciously
choose this form of communal living. They are aware of
both the opportunities and risks that proximity and belonging
can bring with them, and are open to necessary
reflection on their processes, including consideration of
external perspectives.
I highly recommend this book, as it not only provides fascinating
insights into life within these communities, but
also encourages us to question the current paradigms of
social work from a broader perspective.
Translation from German by Tascha Babitch
Annette Pichler
Point and Periphery
A critical analysis of Rudolf Steiner’s
Curative Education Course
Currently only available in German
Review: Udi Levy
This book explores Rudolf Steiner’s Curative Education
Course from a place of experience and well-founded
knowledge of the subject. It is written with a sometimes
critical, other times self-reflective eye. It is a rare, courageous,
and highly topical addition to the genre known as
anthroposophic secondary literature. In the spirit of the
current trend toward inclusion in the social professions,
the author points to the dilemma that arises because it is
now considered problematic to discuss people and question
their actions if those people are not present, but the
people described in this Steiner course have long since
died. She questions the path in it from diagnosis to therapy
from today’s perspective – a path that, because of its partly
spiritual orientation, raises questions and considerations
that were not asked in 1924 and in Rudolf Steiner’s presence.
On a topic that will be further discussed, she writes
that she cannot «leave this situation unaddressed, because
in my opinion anthroposophy should not simply be handed
down unquestioned, but must enter into active dialogue
with current debates and paradigms in order to be relevant
and meaningful and to develop its full potential».
A hundred years after Rudolf Steiner’s Curative Education
Course, there are over 750 anthroposophy-based and -inspired
establishments for curative education and inclusive
social development in sixty countries – an expansion worthy
of a separate article. The twelve lectures in the Course
Entwicklung in 60 Ländern – eine Expansion, die einer gesonderten
Ausführung würdig wäre. Jene zwölf Vorträge
haben einen Impuls ausgelöst, der für Abertausende von
Menschen mit Assistenzbedarf zu einer Lebensgrundlage
geworden ist und für Tausende von Menschen eine Aufgabe,
die sie zeitweise oder berufslebenslang ausüben. Noch
vor der eigentlichen Besprechung des vorliegenden Buches
sei deshalb die Frage gestellt, in welchem Mass die Inhalte
dieses Vortragszyklus’ in den diversen Institutionen
weltweit bewusst gepflegt und umgesetzt werden. Und es
muss, wenn man ehrlich hinschaut, festgestellt werden,
dass dies oft nur sehr spärlich und bescheiden der Fall ist.
Es ist dies das Resultat eines vielschichtigen Prozesses.
Anthroposophische Berufsausbildungen
in diesem Fach sind zum Erlangen
und Erhalten der amtlichen Betriebsbewilligungen
und zur Erfüllung amtlicher
Vorschriften gezwungen, weitgehende
Anpassungen der Lehrpläne vorzunehmen.
Dabei wird der Umfang anthroposophisch
relevanter Inhalte zwangsläufig
reduziert. Der Heilpädagogische
Kurs ist anthroposophischer «Hardcore»
und schon die Grundlagen zu dessen
Entzifferung können zeitlich kaum
noch gelegt werden. Und bei denen, die
diesen Kurs als eine Art Deus ex Machina
behandeln, mangelt es oft an der Fähigkeit,
seine Inhalte mit der immensen
Welt der forscherischen und praktischen
Entwicklung in den letzten 100 Jahren
auf diesem Feld zu konfrontieren. Selbst
an manchen heilpädagogischen und sozialpädagogischen
Ausbildungsstätten,
die sich um die Vermittlung der anthroposophischen
Grundlagen bemühen, ist dieser Text in der
Gegenwart nicht länger Pflichtliteratur. Folglich ist auch
die Beschäftigung mit dessen Inhalten in den Institutionen
sehr oft kaum noch wahrnehmbar.
Ein erster Versuch ...
Das Punkt-und-Kreis-Modell und die mit dem gleichen Namen
bezeichnete Meditation sind Kernpunkt dieses Kurses.
Es ist eine minimalistische Reduktion mancher zentralen
Motive der Anthroposophie und deren Menschenkunde, der
anthroposophischen Auffassung von Mensch und Welt, von
Inkarnation, Exkarnation und Reinkarnation. Vom menschlichen
Ich und seinen Hüllen. Von der materiellen Welt und
deren Übergängen zu einer Transzendenz. Dieser Vortragszyklus
enthält eine Zusammenfassung dieses Motivs, das in
anderer Form und anderen Zusammenhängen an zahlreichen
Stellen in Steiners Werk angesprochen wird.
Die vorliegende Publikation wagt sich an das Entmystifizieren
dieses Motivs. Damit wird dieser Steiner-Text, der wegen
seiner zum Teil esoterischen Inhalte heute oft als praxisfern
betrachtet wird, von einem verschlüsselten Rätsel
zu einer Quelle der fachlichen Inspiration – womit er wieder
an Aktualität und vor allem ebenso an Attraktivität gewinnt.
Es ist Annette Pichlers Verdienst, den Versuch zu unternehmen,
mit modernem, zeitgenössischem Fach-Werkzeug
sich an die Analyse dieses Kodex heranzutasten, kri-
50 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
51
have sparked an impulse that has become the foundation
of daily life for many thousands of people with disabilities
and a temporary or lifelong vocation for thousands of
others. Even before discussing this book, we might therefore
ask to what extent the contents of this lecture cycle
are consciously cultivated and implemented in the various
establishments worldwide. And the reality is that this is
often done only to a limited and modest degree – the result
of a multi-faceted situation. Anthroposophic professional
training courses in this field are forced to make extensive
modifications to their curricula in order to obtain and
maintain official operating licenses and to comply with
official regulations. This necessitates reducing the scope
of relevant anthroposophic content. The
Curative Education Course is «hardcore»
anthroposophy, and there is hardly even
time to lay the foundations for deciphering
it. And those who treat the Course
as a kind of deus ex machina often lack
the ability to contextualize and confront
its content with the immense world of
research and practical developments in
this field over the last hundred years.
Even at some curative education and social
therapy training centers that strive
to teach anthroposophic principles, this
text is no longer required reading. As a
result, engagement with its content is
very often largely absent in these institutions.
A first attempt…
The point-and-periphery model and the
meditation of the same name are at the
center of this course. It is a minimalistic reduction of several
central motifs in anthroposophy and its study of spiritual
science and the anthroposophic understanding of
human beings and the world; of incarnation, excarnation
and reincarnation, of the human I and its layers, and of the
material world and its paths to transcendence. The lecture
cycle contains a synthesis of this motif, which Steiner discusses
in numerous places in other forms and contexts.
This book ventures to demystify this motif. As a result, this
Steiner lecture cycle, which is often considered impractical
today due to its partially esoteric nature, transforms
from an enigmatic mystery to a source of professional inspiration
– gaining both topical relevance and appeal.
It is to Annette Pichler’s credit that she has attempted to
use contemporary professional tools to approach an analysis
of this cycle, to ask critical questions and to build a
bridge for people who want to engage with this cornerstone
of anthroposophic social work today, so that they
can also enter into the spiritual dimensions of the text. In
curative education and inclusive social work worldwide, we
tische Fragen zu stellen und für Menschen, die heutzutage
sich mit diesem Grundstein anthroposophischer sozialer
Arbeit befassen wollen, eine Brücke zu bauen, um in die
auch geistigen Dimensionen dieses Textes einsteigen zu
können. In der weltweiten heilpädagogischen und inklusiven
sozialen Arbeit ist zwar von «Seelenpflege» die Rede.
Paradoxerweise wurde aber jahrzehntelang eher zu wenig
die Entwicklung der psychologischen Forschung und Praxis
in diesen Kreisen berücksichtigt. Für Kenner des Textes
taucht im Hintergrund schnell der abschätzige Steinersche
Satz «Psychoanalyse ist Dilettantismus im Quadrat» (Steiner
2024, S. 88) auf. Pichler ist Psychologin. Ihr Umgang mit den
Inhalten des Kurses (und auch ihrer Leserschaft) ist geprägt
von einem Gesprächston, der dieses Fachbuch nahezu in
einen Dialog verwandelt. Sie scheut sich nicht, mit heutiger
Optik darin beschriebene Behandlungsmethoden infrage
zu stellen – mit Fragen, auf die jahrzehntelang allzu oft
die Antwort kam: «Das hast du noch nicht verstanden, was
Rudolf Steiner damit wirklich gemeint hat, du musst noch
weitere Schritte in deiner spirituellen Entwicklung gehen.»
Psychologische Modelle widersprechen nicht a priori der
spirituellen Menschenkunde. Letztere aber, wenn sie nicht
bewusst durchdrungen, sondern nur modellhaft versucht
wird, sie umzusetzen, hat ein noch grösseres Potenzial,
methodische Fehler und damit Schäden – auch im karmischen
Sinne – zu verursachen, beim zu betreuenden Klienten
wie bei der Fachperson. Pichler bewegt sich frei in diesem
Spannungsfeld und zeigt eine radikale Ehrlichkeit und
Selbstreflexion. Nicht nur frei, sondern auch befreiend:
«Meines Erachtens wäre es also ein schwerwiegender Fehler,
davon auszugehen, dass Steiner aufgrund eines unfehlbar
beschrittenen ‹Schulungsweges› auf jeden Fall immer
die Wirklichkeit erfasst haben müsse» (S. 93). Über
ihren Versuch, an einem konkreten Beispiel Steiners Beziehungsgestaltung,
Diagnose und Therapie zu analysieren,
räumt sie ein, es sei ihr «sehr bewusst, dass dieser Versuch
notwendigerweise unvollkommen bleiben muss und dass
mein Eindruck auch falsch sein kann» (S. 95).
Im Unterschied zu anderen Vortragszyklen waren beim
Heilpädagogischen Kurs nicht hunderte, sondern nur 21
Menschen, Fachleute und Vertraute Steiners, anwesend.
Steiners Vorgehensweise war folglich sehr pragmatisch
und konkret. Die Inhalte stehen weitgehend in einem direkten
Bezug zu jenen Kindern, die von ihm vorgestellt wurden
und die alle Anwesenden bereits kannten oder während des
Kurses kennenlernten – und damit zu den Phänomenen, die
an diesen Kindern sichtbar wurden und auf die er aufmerksam
machen wollte. Das Problem, welche Passagen sich
auf spezifische Kindeskonstitutionen beziehen und wie adäquat
es ist, diese als allgemeine Konstitutionsvarianten zu
verstehen, ist an sich bereits eine Punkt-und-Kreis-Frage.
Insofern ist auch der Inhalt des Kurses per se ein Punkt-und-
Kreis Phänomen – und damit ist bereits die Relevanz einer
analytischen Auseinandersetzung gegeben.
talk about «caring for the psyche [or soul]». Paradoxically,
however, for decades too little attention has been paid in
these circles to the continued development of psychological
research and practice. Those familiar with the Course
will recall Steiner’s disparaging comment, «Psychoanalysis
is dilettantism squared» (Steiner 2024, p. 88). Pichler is a
psychologist. Her approach to the content of the course
(and to her readers) is characterized by a conversational
tone that almost transforms this text into a dialogue. She
does not shy away from questioning the treatment methods
described in it from today’s perspective – with questions
to which, for decades, the answer has all too often
been: «You still haven’t understood what Rudolf Steiner
really meant by that – you need to take further steps in
your spiritual development.» Psychological methods do
not inherently contradict spiritual science and anthroposophy.
This latter, however, if not understood on a deep
level but only attempted to be implemented as a model,
has an even greater potential of causing methodological
errors and therefore damage – including in a karmic
sense – to clients and professionals alike. Pichler moves
freely within this charged space and demonstrates radical
honesty and self-reflection – not only freely, but also in a
way that liberates her readers: «In my opinion, therefore,
it would be a serious mistake to assume that Steiner must
always have grasped the complete truth due to an infallible
‹path of initiation›». In her attempt to analyze Steiner’s
approach to relationships, diagnosis and therapy using a
concrete example, she admits that she is «very aware that
this attempt must necessarily remain imperfect and that
my impression may also be wrong.»
In contrast to other lecture cycles, the Curative Education
Course was not attended by hundreds of people, but only
by 21 people – specialists and close colleagues of Steiner.
For this reason, his approach was very pragmatic and
concrete. Most of the content is directly related to the
children that he presented, all of whom his audience either
already knew or had become familiar with during the
course, and to the phenomena the children exhibited to
which he wanted to draw attention. The problem of which
passages relate to specific children’s constitutions and to
what extent it is appropriate to understand them as general
constitutional variants is already a point-and-periphery
question. Therefore, the content of the course is also
a point-and-periphery phenomena per se – and this inherently
establishes the relevance of an analytical discussion.
This book is a first attempt not only to juxtapose universal
approaches and concrete biographical situations, but also
to critically examine concrete, specific recommendations
by Steiner in the light of current standards, without fundamentally
questioning meditative engagement with the
point-and-periphery idea and its potential for stabilizing
the life of the psyche/soul.
Das vorliegende Buch ist ein erster Versuch, nicht nur universale
Herangehensweisen und konkrete biografische
Situationen aufeinander zu projizieren, sondern zudem
konkrete, spezifische Empfehlungen Steiners nach gegenwärtigen
Massstäben kritisch zu untersuchen, ohne dabei
die auch – meditative Beschäftigung – mit der Punkt-Kreis-
Idee und deren Potenzial als Mittel zur Stabilisierung des
Seelenlebens grundsätzlich infrage zu stellen.
... der Bahn bricht
Pichler berichtet vielmehr über ihre eigenen Erfahrungen
im kontemplativen und meditativen Umgang mit dem
Punkt-und-Kreis-Motiv:
«Wenn ich mir […] Steiners Bild einer Metamorphose
von Kopf und Gliedmassen über das jetzige Leben hinaus
vorstelle, verlasse ich diesen mir bereits bekannten
Wahrnehmungsbereich. Es entsteht eine Bewegung, die
weit über das hinausgeht, was ich noch mit meinem jetzigen
Wahrnehmungsvermögen erfassen kann.» (S. 46).
Damit wird ihr Buch auch zu einer Einführung in den Heilpädagogischen
Kurs und deutet darauf hin, dass dieser
einerseits eine Erweiterung der Steinerschen Menschenkunde
darstellt, und andererseits viele der zunächst persönlichen
und personengebundenen Hinweise Steiners,
bei der von ihr vorgeschlagenen Lesart, nach genauer Prüfung
und individueller Analyse sehr wohl eine universelle,
allgemeinmenschliche Bedeutung haben.
Einen Schwerpunkt des Buches bildet die Auseinandersetzung
mit der Behandlung des hydrocephalen Kindes Willfried
und der Beziehung Steiners zu dessen Mutter Theodora
Kunert, die ihm das Kind anvertraute. 1 Steiner stellte
bei der Mutter ein «abnormes Seelenleben» (Steiner 2024, S.
349) fest, dem zufolge das Kind auch nach der Geburt sein
Embryo-Dasein beibehielt. Er empfahl das sofortige Abstillen,
später sogar die räumliche Abtrennung von der Mutter,
sowie die Pflege in einem dunklen, abgeschotteten
Raum und, abgesehen von medikamentöser Behandlung,
in beziehungsfreier Atmosphäre. 2
Pichler setzt sich nun mit Steiners Art der – damals noch
nicht so bezeichneten – familiären Systembehandlung der
Mutter und des Kindes auseinander. Sie hinterfragt die Gesprächsführung
Steiners mit der Mutter, nimmt Bezug auf
die Verhaltensvorschriften des Pflegepersonals und insbesondere
auf die Trennung des Kindes von der Mutter. Sie
berücksichtigt dabei das inzwischen so reichhaltige und
wesentliche Wissen um die psychologische Bindung von
Neugeborenen an ihre Mutter und deren Bedeutung für
ihre körperliche, seelische und intellektuelle Entwicklung
– was nicht zuletzt die körperliche und seelische Nähe im
unmittelbar postnatalen Zeitraum betrifft. An dieser Stelle
kann nicht tiefer darauf eingegangen werden.
Es sei jedoch gesagt, dass die Autorin, obgleich mit unverkennbarem
Respekt vor Steiners Autorität, sich nicht
davor scheut, fragwürdige Aspekte kritisch zu hinterfragen.
Bei einer Publikation, die sich kritisch, analytisch und
sehr persönlich mit Steiners Werk auseinandersetzt, tendiert
man leicht dazu, Mängel und Fehler zu finden und zu
monieren. Es lohnt sich jedoch, dieses Buch so zu lesen,
dass man den Gedankengängen der Autorin folgt und dabei
wahrnimmt, wie sie selbst mit dem, was sie entdeckt,
ringt – und dass sie dort, wo ihr keine abschliessenden
… that breaks new ground
Rather, Pichler describes her own experiences in her contemplative
and meditative approach to the point-and-periphery
motif:
«If I call up […] Steiner’s image of a metamorphosis of
head and limbs beyond this current life, I am leaving
behind this familiar realm of perception. A movement
arises that goes far beyond what I am able to grasp with
my present capacity for perception.»
Thus, her book also becomes an introduction to the Curative
Education Course. And it indicates on the one hand
that this course represents an extension of Steiner’s study
of the human being, and on the other hand that after close
examination and individual analysis, when read in the way
that Pichler suggests, Steiner’s initially personal and person-specific
references do indeed have a universal, general
human significance.
One focus of the book is the treatment of Willfried, a child
with hydrocephalus, and Steiner’s relationship with his
mother, Theodora Kunert, who entrusted him with her
child. 1 Steiner observed that the mother had an «abnormal
soul life» (Steiner 2024, p. 349), which resulted in the child remaining
in a kind of embryonic existence even after birth.
He recommended immediate weaning of the child, and
later on even physical separation from the mother, as well
as treatment in a darkened, secluded room without real
relating, other than what was necessary for administering
medical treatments. 2
Pichler examines Steiner’s recommendations for the mother
and child from the family systems perspective (not yet
developed in Steiner’s time). She scrutinizes Steiner’s conversations
with the mother, references the nursing codes
of conduct, and focuses especially on the separation of
mother and child. In doing so, she refers to the deep and
extensive knowledge we now have regarding the psychological
bond a newborn has with its mother and its significance
for the child’s physical, emotional and intellectual
development – which includes physical and psychological
closeness in the period immediately following birth. The
scope of this review does not allow us to go into more detail
on the topic here.
It must be said, however, that though the author has unmistakable
respect for Steiner’s authority, she does not
hesitate to critically scrutinize questionable elements of
the course. In a publication that engages critically, analytically
and on a very personal level with Steiner’s course,
there is a tendency to find fault and criticize shortcomings.
However, it is worth reading this book if we can follow
the author’s train of thought and are able to perceive
how she wrestles with her discoveries – and that where
she is unable to reach conclusive results, she leaves questions
open. In its last sub-chapter, Die Aufarbeitung von
Leid und Gewalt und ein neues Selbstverständnis [Working
through suffering and violence and a new self-awareness],
52 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
53
Resultate gelingen, auch Fragen offen stehen lässt. Das
Werk schliesst mit seinem letzten Unterkapitel über Die
Aufarbeitung von Leid und Gewalt und ein neues Selbstverständnis
im Fortissimo. Physische, psychische und
sexualisierte Gewalt bleiben auch in anthroposophisch
sein-wollenden Institutionen nicht aus. Massnahmen, die
an Schutzbefohlenen von Mitarbeitenden durchgeführt
werden, die keine Fachbildung haben und das anthroposophische
Menschenbild nur skizzenhaft in sich tragen,
können verheerende Folgen nach sich ziehen.
Das therapeutische Potenzial einer Gemeinschaft kann
sich erst dann entfalten, wenn ein fundiertes Wissen um
Ursache und Wirkung im therapeutischen Tun vorhanden
ist. Laut Pichler ist es eine «für die nächsten Jahre zentrale
Fragestellung», inwiefern der Gemeinschafts-Begriff
durch das aus der Traumapädagogik stammende Konzept
eines sicheren Ortes abgelöst werden kann – und welche
Formate sich daraus ergeben werden» (S. 167). Damit ist
dieses Buch auch ein Aufruf, nicht nur am Punkt, dem Heilpädagogischen
Kurs Rudolf Steiners, sondern ebenso an
der Peripherie des institutionellen Alltags, im Umkreis der
Weltbewegung, fachlich fundiert neu anzusetzen.
Das Buch deckt nicht alle Aspekte des Heilpädagogischen
Kurses ab und erhebt auch nicht den Anspruch, dies zu
tun. So werden nicht die im Fall des Kindes Willfried ergriffenen
medizinischen Massnahmen besprochen. Doch handelt
es sich insgesamt um eine bahnbrechende Schrift, die
einen zeitgemässen Umgang mit Texten Rudolf Steiners
entwirft. Damit betritt sie einen Weg, der diesen in Fachkreisen
in den Hintergrund geratenen Kurs wieder in das
Zentrum der anthroposophischen Heil- und Inklusionspädagogik
rücken könnte und einen ehrlichen, persönlichen
und dennoch nachvollziehbaren und attraktiven Weg zur
Beschäftigung mit dessen Inhalt markiert. Pichler schreibt:
«Die Punkt-Kreis-Meditation schliesst die Meditierenden
… unmittelbar an die Wahrnehmung einer dynamischen
Wirklichkeit zwischen den physischen anwesenden Menschen
und deren jeweiligem geistigen Bezugspunkt an»
(S. 36). Wer diesen Gedanken verifizieren möchte, wird
sich selbst darin üben müssen. Und deshalb wendet sich
dieses Buch nicht nur an Heil- und Sozialpädagogen, sondern
an alle Menschen, die ein Interesse an einem innovativen,
begründeten, persönlichen und überzeugenden
Umgang mit dem Werk Rudolf Steiners haben.
the book ends on a fortissimo. The issues of physical, psychological
and sexualized violence can arise, even in establishments
that strive to be anthroposophic. Measures
carried out on vulnerable persons by staff with no specialist
training and with only a sketchy understanding of the
anthroposophic view of the human being can have devastating
consequences.
The therapeutic potential of a community can only unfold
if there is a solid understanding of cause and effect in the
therapeutic process. According to Pichler, the question of
the extent to which the concept of community can be superseded
by the trauma-informed concept of a safe place,
and what that will actually look like, is a central one for
the coming years. Therefore, this book also functions as
a call—not only point-related, in terms of Rudolf Steiner’s
Curative Education Course, but equally periphery-related
in the daily life of establishments all over the world—
to find a new approach that takes into account today’s
knowledge of the field.
This book does not cover every element in the Curative
Education Course and does not claim to do so. For example,
medical measures undertaken in the case of the
child, Willfried, are not discussed. Nevertheless, it is a
ground-breaking book that outlines a contemporary approach
to Rudolf Steiner’s works. As such, it sets out on
a path that could bring this course back to the center of
anthroposophic curative and inclusive education, and offers
an honest, personal, and yet accessible and appealing
way of engaging with its content. Pichler writes, «The
point-and-periphery meditation connects meditators […]
directly to the awareness of a dynamic reality between
those physically present and their respective spiritual
points of reference». Anyone who wishes to verify this will
have to take up the practice themselves. This broadens the
audience for this book beyond curative educators and social
therapists to anyone with an interest in an innovative,
grounded, personal and compelling approach to Rudolf
Steiner’s work.
Theresa Stommel
Bildung und
Staunen
Eine bildungsphilosophische Perspektive im Kontext geistiger
und schwerer Behinderung
transcript Verlag 2023
Rezension: Angelika Wiehl
Theresa Stommel
Education and
Amazement
An educational philosophy perspective in the context of
intellectual and complex disabilties
Currently only available in German
Review: Angelika Wiehl
Bildung und Staunen in einem Atemzug zu lesen, mag Reading the words «education and amazement» in one
überraschen und veranlasst zu der Frage: Was wären denn breath may surprise us and elicit the question, «What
Leben und Bildung ohne Staunen? Denn im Staunen verbirgt
would life and education be without amazement?» Be-
sich die Fähigkeit, offen und neugierig, aber auch cause within amazement lies the ability to react with either
irritiert und erschrocken gegenüber etwas Unerwartetem openness and curiosity or confusion and alarm to something
oder Überraschendem zu reagieren, es auf sich wirken zu
unexpected or surprising – to allow it in or to reject
lassen oder es abzuweisen. Staunen kann ermutigen, sich it. Amazement can encourage us to engage with something
empathisch und entdeckend auf etwas
with empathy and an attitude of exploration,
einzulassen – zunächst bedingungslos,
unconditionally and without
ohne jeden Bildungsanspruch. Der Titel
any expectation of its being educational.
Bildung und Staunen und die einführenden
The title Education and Amazement
Gedanken verlocken zur Lektüre,
and the introductory thoughts entice
versprechen aber nicht nur Neues,
us to continue reading with the prom-
sondern eine fundierte Erforschung
ise not only of something new, but also
zur Bildungsteilhabe aller Menschen.
of well-grounded exploration of educational
Aufgezeigt werden Möglichkeiten des
inclusion for all human beings.
Sich-Bildens, die für die Teilhabe aller
The book presents modes of education
Menschen am kulturellen Leben von
that are crucial in order for all human
zentraler Bedeutung sind.
beings to participate in cultural life.
Die als Dissertation verfasste Studie
This research project, published as a
bringt es mit sich, dass zunächst eine
dissertation, begins with a systematic
systematische Revue zum Bildungsbegriff
review of the concept of education and
sowie zu den Teilhabebedingun-
the conditions of participation for peo-
gen für Menschen mit geistiger und
ple with with intellectual and complex
schwerer Behinderung erfolgt. Ausgangspunkt
disabilities. It starts with the observa-
Translation from German by Tascha Babitch
bildet die Beobachtung,
tion that people with disabilities are
dass Menschen mit Einschränkungen
assumed to have a reduced capacity for
We would like to thank the magazine dieDrei for their kind
eine reduzierte Bildungsfähigkeit unterstellt
education and that therefore any educa-
permission to print this review.
wird und dementsprechend
tional opportunities provided for them
die für sie vorgesehenen Bildungsangebote häufig unter often consist of therapeutic measures that emphasize promoting
therapeutische Massnahmen fallen und der Förderung
awareness and independence. They do not meet
Wir danken der Zeitschrift dieDrei für die freundliche Genehmigung
von Wahrnehmung und Selbstständigkeit dienen. Sie ge-
any cultural expectations in any real sense, in contrast
zum Abdruck dieser Rezension.
nügen also keinem kulturellen Anspruch im eigentlichen with general educational programs. This raises questions
Sinne, wie er bei Angeboten für die Allgemeinheit selbstverständlich
about our underlying assumptions regarding education,
Anmerkungen
Notes
ist. Das wirft Fragen nach dem zugrundelie-
as well as the methodologies based on these assumptions,
1 Theodora Kunert wurde später unter dem Namen Maria Josepha Krück 1 Theodora Kunert later became known as a writer under the name Maria
genden Bildungsverständnis und der daran bemessenen which at best do not expressly include certain groups of
von Poturzyn als Schriftstellerin bekannt.
Josepha Krück von Poturzyn.
Bildungsdidaktik auf, die bestimmte Personengruppen zumindest
people and at worst specifically exclude them.
2 Ich selbst hörte in den 70er-Jahren die Schilderung von Lucia Grosse. 2 I myself heard Lucia Grosse's account in the 1970s. She was a nurse and
nicht berücksichtigen, wenn nicht gar ausschlies-
Taking this fact as a point of departure and using phenom-
Sie war Krankenschwester und musste die Versorgung des Kindes in der had to take care of the child in the Arlesheim clinic in silence, without
sen. Von dieser Sachlage ausgehend und auf Grundlage enological and education theory methods, Theresa Stommel
examines the factors that lead to educational barriers,
Arlesheimer Klinik still, wortlos, ohne seelische Zuwendung und in einem words, without emotional attention and in a darkened room.
einer phänomenologischen und bildungstheoretischen
verdunkelten Raum erledigen.
Methode untersucht Theresa Stommel die Faktoren, die
Literatur | Literature
Steiner, R. (2024): Heilpädagogischer Kurs (GA 317). Rudolf Steiner Verlag,
zu Bildungseinschränkungen führen, um Perspektiven
Basel.
für eine zukünftige Bildungsteilhabe aufzuzeigen. In der
in drei Teile gegliederten Forschungsarbeit strebt sie an,
eine möglichst vorurteilsfreie Haltung gegenüber Bildung
einzunehmen, sich offen den Phänomenen des Neuen
und Unvorhergesehenen zu widmen und ein produktives
54 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
55
Weiter- und Andersdenken zuzulassen – also genau jener
Methode zu folgen, durch die eine verändernde und transformierende
Bildung initiiert werden kann. Der Mitvollzug
ihrer detailreichen Erkundung ist erforderlich, um Begriffe
und Strukturen zu verstehen, die zu einem Ausschluss der
genannten Personengruppe an Bildungsangeboten führen
und die zugleich Neudeutungen oder Umformulierungen
verlangen.
Zunächst werden die Herkunft und den Bedeutungswandel
des Bildungsbegriffs erkundet. Bildung, die bei Schiller
noch der Selbstvervollkommnung und bei Humboldt
dem vernunftbestimmten Werdegang des Menschen
diente, wurde vor allem im pädagogischen Kontext durch
Lernen und Sozialisation ersetzt, schliesslich durch den
Pisa-Schock 1 in einem funktionalistischen und technischökonomischen
Sinne gedacht und in der Diskussion um
Inklusion und Exklusion als eine soziale Differenzkategorie
verstanden. Bildung hängt aber auch mit der umgebenden
Kultur, ihrer besonderen Ausprägung und Veränderung
zusammen. Für eine kulturelle Teilhabe bilden
daher kontext- und bedarfsbezogene Bildungsangebote
den Zugang und die Voraussetzung, um eine produktive
Auseinandersetzung und Mitgestaltung an der Kultur zu
gewährleisten.
Ausgeschlossensein von Bildung und jede Form beschränkender
oder fehlender Zugänge zu kulturellen Angeboten
– wie sie häufig Menschen mit geistiger und schwerer
Behinderung widerfahren – bedeuten, an einem menschlichen
und sozialen Lebensbereich nicht partizipieren zu
können. Die Gründe sucht die Autorin zum einen in dem
von Vorannahmen geprägten Verständnis von Bildung,
die klassischerweise auf die Subjektwerdung durch Reifeund
Wachstumsprozesse hin orientiert ist, zum anderen
in den fehlenden oder der Lage der genannten Personengruppe
nicht gerecht werdenden didaktischen Konzepten.
Wenn Bildungsteilhabe von den kognitiven und (selbst-)
reflexiven Fähigkeiten eines Subjekts abhängt, schliesst
sie all jene aus, die nicht in einem als normal angesehenen
Masse darüber verfügen. Weil diese jeweils unterschiedlich
sich entfaltenden Fähigkeiten an das Subjektsein gebunden
sind, beleuchtet Stommel diesen Bezugsrahmen
von Bildung kritisch. Würde das Subjekt nicht nur als eine
autonome und selbstbestimmte Instanz gelten, sondern
als ein mit sich, den Anderen und der Welt im Verhältnis
stehendes, vielfältiges Subjekt verstanden werden, wäre
Bildung als ein relationales und inter-subjektives, nicht
nur an sprachliche und kognitive Fähigkeiten gebundenes
Geschehen zu denken, das transformierend wirkt und
durch die Teilhabe eines jeden Menschen stetig transformiert
wird. Einen besonderen Akzent verleiht die Autorin
ihrer Argumentation durch die Einbeziehung des Fremden,
das Staunen erzeugen kann. Im Gewahrwerden des
Fremden stellt sich eine wechselseitige Veränderung ein;
helping her to identify possibilities for future education
access. In this three-part research project, she strives for
an unbiased stance on education, openness to new and
unexpected findings, and productive, future-bearing, new
ways of thinking – in other words, precisely the attitude
that can initiate a transformed and transformative way of
educating. All of this is necessary in order both to understand
concepts and structures that exclude this particular
group of people, and to demand new definitions or new
language.
First, the author explores the origins of the concept of
education and the change in its meaning over time. Education,
which for Schiller still served self-improvement
and for Humboldt the rationally determined development
of human beings, was replaced by learning and socialization,
especially in a pedagogical context. As a result of the
shock of the PISA Study 1 , our collective concept of education
shifted toward a functionalist, technical and economic
one, and conversation around inclusion and exclusion
came to be seen as belonging to a category of social differentiation.
However, education is also interconnected with
the surrounding culture and its particular characteristics
and changes. Context- and needs-based educational opportunities
therefore provide access and are a prerequisite
in order to ensure productive engagement with and
participation in culture.
Exclusion from education and any restriction or lack of
access to cultural opportunities – so often experienced
by people with with intellectual and complex disabilities
– mean a lack of opportunity to participate in a given
human or social arena. The author sees the reasons for
this in our biased understanding of education, on the one
hand, which is traditionally oriented toward development
of self-awareness and autonomy through maturation and
growth processes, and, on the other hand, in the lack of
pedagogical concepts that meet these groups of people
where they are. If participation in education depends on a
person’s cognitive and (self-)reflective abilities, it excludes
all those who do not possess these to a degree that is considered
normal. Because these differently developing abilities
are linked to individual self-awareness and autonomy,
Stommel takes a critical look at this frame of reference
for education. If individuals were seen not only through
the lens of autonomy and self-determination but as multifaceted
beings in relationship with themselves, others and
the world, education could be understood as a relational,
interpersonal process, transformative and constantly
changing through the participation of each individual,
rather than one that is dependent solely on linguistic and
cognitive ability.
The author emphasizes her argument by including the
unfamiliar, which can evoke amazement. In the process
of becoming aware of something unfamiliar, an interac-
Subjekt und umgebendes Geschehen erscheinen überraschend
und anders. Das dadurch ausgelöste Staunen ist
eine Schwellen- und Übergangserfahrung, die Veränderungen
einleiten kann und situationsbezogene Antworten verlangt.
Vor diesem Hintergrund kann Bildung als ein relationales
Geschehen, also nicht nur normativ gedacht werden,
weil sie sich in einem wechselseitigen Austauschverhältnis
von Subjekt und Weltgeschehen ereignet. Der Wert der Bildung
in diesem Sinne misst sich – so schliesst Stommel –
an den Fähigkeiten zur Selbst- und Mitbestimmung sowie
zur Solidarität, die allen Menschen zu einem guten Leben
verhelfen können.
Um auf dieser Grundlage die Teilhabe für Menschen unterschiedlicher
Lebenslagen zu verwirklichen, müssen adäquate
bildungsdidaktische Ansätze ausgearbeitet werden.
Dafür bedarf es des erweiterten Bildungsbegriffs, der
offen und folglich nicht «auf bestimmte Personen bzw.
auf individuelle Fähigkeiten bezogene, ausschliessende
Eigenschaften» fokussiert ist. Dieser Zielsetzung kann
prinzipiell zugestimmt werden. Aber mit der dafür ins Gespräch
gebrachten subjektiven und sozialen Relationalität,
die für ein transformatives Bildungsverständnis notwendig
sei, wird die Frage umgangen, wie und ob wir ausserdem
über die Individualität und ihre Intentionen bzw. das Ich
des Menschen selbst nachdenken, das wir sein wollen, das
sich aber nicht mit einem relationalen Subjekt deckt und
gerade deshalb in einem idealistischen Bildungsdenken zu
verorten ist.
Studiert man die umfängliche Arbeit von Theresa Stommel,
so folgt man detaillierten Herleitungen von zentralen Begriffen,
ihrem Bedeutungswandel und ihrer Verwendung
in der Auseinandersetzung um Teilhabe. Die Betrachtungen
sind im Sinne einer fundierten Erkundung des Forschungsfeldes
der kulturellen Teilhabe sehr aufschlussreich,
weil sie nicht nur Erklärungen für den Umgang mit
der genannten sozialen und tendenziell von Bildungsangeboten
exkludierten Menschengruppe liefern, sondern
eine deutliche Neuausrichtung des gesellschaftlichen Verständnisses
von kultureller Teilhabe und Mitgestaltung
aufzeigen. Es geht darum, den Werdegang und die Entwicklung
eines jeden Menschen in seiner kulturellen und
sozialen Umgebung anzuerkennen und zu fördern. Dafür
kann Staunen als Schlüsselfähigkeit genutzt werden, denn
im Staunen zeigen sich überraschende und besondere
Momente, die – und das ist die besondere Leistung dieser
Studie – in jedem Moment neue Perspektiven auf Bildungsmöglichkeiten
einzelner Personen, Bildungsinstitutionen
und des kulturellen Umfelds öffnen. Lasst uns miteinander
staunen, lasst alle Menschen ihrem kulturellen Umkreis
angehören, lasst sie ihre je individuelle Teilhabe selbst
verwirklichen.
Anmerkung
1 Das unerwartet schlechte Abschneiden Deutschlands in der internationalen
Vergleichsstudie PISA 2000 wurde in den Medien und in der Politik
stark thematisiert und ist als «PISA-Schock» bekannt.
tive change takes place: Both the individual and their environment
feel surprising and different. The amazement
that this evokes is a threshold and transitional experience
that can initiate change and that calls for situation-specific
responses. In this context, education can be seen as
a relational process, rather than simply a normative one,
as it takes place through an interactive exchange process
between an individual and the events around them. Therefore,
Stommel concludes, the true value of education is
measured in the capacity for self- and co-determination as
well as in the solidarity that can help all human beings lead
a good life. It then follows that in order to realize participation
from people in all kinds of life situations, we must
develop appropriate educational methods and approaches.
This requires an expanded concept of education – one
that is open and not focused «on exclusive characteristics
that apply only to certain people or individual abilities».
This goal can be agreed upon in principle. However, the
aforementioned subjective and social relationality that is
necessary for a transformative understanding of education
avoids the question of how and whether we also consider
the individual and their intentions, i.e. the human I
that we want to become, which does not correspond to a
relational subject and is therefore to be found in an idealistic
understanding of education.
If we study Theresa Stommel’s extensive work, we can
follow detailed derivations of key terms, their changes
in meaning over time, and their use in the conversation
around participation. Her observations in the course of
well-founded research in the field of cultural participation
are very informative, as they not only offer explanations
for our ways of treating these social groups who also tend
to be excluded from educational opportunities, but also
show a clear shift in our societal understanding of cultural
participation and co-creation. We need to recognize and
promote the development of each individual human being
within their cultural and social environment. To this end,
amazement can be used as a key skill, because amazement
reveals surprising and special moments that—and this is
the particular revelation of this research—open up new perspectives
on educational opportunities for individuals, educational
institutions and the cultural environment at any
given moment. Let us be amazed together, let all human
beings be a real part of their cultural environment, and let
each person realize their own, unique way of participating.
Translation from German by Tascha Babitch
Note
1 Germany's unexpectedly low performance in the international comparative
PISA Study 2000 was highly publicized and is know as the
«PISA Shock» in German media and politics.
56 Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development | 1-2025
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