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Spectrum #1 2018

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KURZGESCHICHTE<br />

Die Misere des Dazwischen<br />

Lulgjin Spanca<br />

Ich bin einem Wahn verfallen, ich kann nicht mehr klar denken,<br />

denn mir wurde der Verstand geraubt. Ich höre eine<br />

Stimme, die mich fragt, warum ich mich verstecke und niemandem<br />

vertraue. Weil ich als Erstes im Leben erfahren habe,<br />

dass mich diejenigen Leute im Stich gelassen haben, die mich<br />

am meisten hätten lieben müssen. Meine Mutter hat Zwillinge<br />

zur Welt gebracht: mich und die Furcht.<br />

Mir wurde schon oft vorgeworfen, dass ich Menschen nur vor<br />

den Kopf stosse, damit sie mir nicht zuvorkommen. Ich bin<br />

einsam und das seit zweiundzwanzig Jahren. Die Menschen<br />

um mich herum verstehen nicht, dass ich mir heute noch die<br />

Schuld dafür gebe, was früher geschehen ist und was mir angetan<br />

wurde. Ich wurde als Mann mit den Nerven eines Soldaten<br />

und der Besorgnis eines Engels geboren.<br />

Ich lasse mich ungern auf Frauen ein, denn meine letzte und<br />

erste Beziehung verlief nicht so, wie ich sie mir erträumt hatte.<br />

Sie kannte das Gefühl nicht, für jemanden da zu sein – komme,<br />

was wolle, auch wenn wir gemeinsam einsam leben würden.<br />

Sie wusste nicht, was ein wirklicher Verlust ist, denn das<br />

lernt man nur, wenn man jemanden mehr liebt, als sich selbst.<br />

Doch sie wurde meiner Liebe überdrüssig.<br />

Die ambulanten Aufenthalte, die ich hatte, die rezeptpflichtigen<br />

Medikamente, die ich je nach Bedarf eingenommen<br />

habe, die verschiedenen Gespräche, die ich manchmal führen<br />

musste und manchmal führen wollte, um mein Bindungsproblem<br />

bestätigt zu bekommen und meine Selbstisolation und<br />

Zuflucht in Bibliotheken und in der Musik haben auf meiner<br />

Seele eine solche Hornhaut wachsen lassen, dass mein Ich sich<br />

dem Leben überlassen hat. Pillen sind wie Freunde, die dich<br />

nicht verurteilen und als Gegenleistung nur geliebt werden<br />

möchten. Mein Ich wird durch verschiedene Trostpflaster, die<br />

auf meine Seele geklebt wurden, von meinem Innersten getrennt<br />

und erhält in der stufenweisen Verarmung eine Fallhöhe.<br />

Ich taumle am Rand eines Zusammenbruchs, unfähig, mit<br />

meiner Wut, meinem Frust und der Sinnlosigkeit umzugehen.<br />

Ich habe Angst, enttäuscht zu werden, Angst vor dem Verlust.<br />

Heute habe ich dich kennengelernt. Du magst es, wenn ich<br />

dich meine kleine süsse Jüdin nenne. Als hätte mir dich jemand<br />

geschickt, um mich aus den Tiefen der Abwärtsspirale<br />

zu holen. Du gibst mir das Gefühl, nicht etwas, sondern jemand<br />

zu sein. Heute will ich aus der Geschichte lernen und<br />

dir vertrauen können. Aber zeitgleich pendle ich zwischen der<br />

Freude über deinen Eintritt in mein Leben und deiner Zurückweisung<br />

meinerseits. Schliesslich führt dieses Schwindelgefühl<br />

zu keinem dritten Weg: Repression oder Erwiderung.<br />

Das einzig Wertvolle ist das Unmögliche. Alles andere ist grau.<br />

Ich will unbegrenzte Dinge. Ich will alles. Eine echte Liebe. Ein<br />

echtes Haus. Etwas Echtes machen. Ich würde lieber sterben,<br />

als dich nicht zu bekommen – erschrecke aber, wenn ich höre,<br />

dass du mich liebst. Ich oszilliere zwischen deinem geistigen<br />

Hebammendienst, der in mir das Verlangen nach mehr auslöst<br />

und meinem blinden Eifer, dich loszulassen. Ich werde<br />

mich immer vor dir verstecken, denn die Vertrautheit, die ich<br />

dir gegenüber aufbringe, macht mich verletzlich. So wie du<br />

jetzt bist, bist du perfekt. Wieso soll ich das zerstören? Es ist<br />

die Vorstellung von dir, die mich unvollkommen vollkommen<br />

macht.<br />

Hast du selbst eine Kurzgeschichte, die veröffentlicht werden sollte?<br />

Dann sende deinen Text (max. 5'000 Zeichen inkl. Leerzeichen) an: redaction@spectrum-unifr.ch<br />

02-03.<strong>2018</strong><br />

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