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Aline Valangin<br />
Casa Conti<br />
Roman<br />
Limmat Verlag<br />
Zürich
Erstes Kapitel<br />
Es war drei Uhr nachmittags. In der Metzgerei herrschte<br />
fast feierliche Stille. Die weiß gekachelten Wände, die<br />
blinkenden Metallschienen und Haken, die stolze Waage<br />
auf der marmornen Bank, sie glänzten nur für sich, denn<br />
niemand befand sich im Raum. Der Bursche hantierte hinten<br />
im Hof, wo Keller und Kühlkammer lagen; er hatte die<br />
Türe zum Laden offen gelassen, um die Klingel zu hören,<br />
falls ein Käufer eintreten sollte, was aber um diese Zeit<br />
selten geschah.<br />
Nebenan im kleinen Verließ, Büro genannt, saß hinter<br />
einem in eine Glastüre eingelassenen Schalter die Metzgerin,<br />
Frau Lisetta Burri. Sie stützte den Ellenbogen auf<br />
das Zahlbrett und legte den Kopf in die Hand. In gleichmäßigen<br />
Abständen gähnte sie breit, dass es gluckste. Das<br />
tat gut. Dann bewegte sie ihre runden Schultern rasch auf<br />
und ab, um sich zu wecken. Diese Stunde war die peinlichste<br />
des ganzen Tages. Sie hatte Mühe wach zu bleiben.<br />
Vom reichlichen Essen lag eine Schwere in ihr, die sie niederdrückte.<br />
Schlief sie nicht ein, so überfielen sie traurige<br />
Gedanken. Sie litt nicht an der Gewohnheit, mit ihrem<br />
Schicksal zu hadern; damit hatte sie längst ein für allemal<br />
aufgehört. Aber am frühen Nachmittag, wenn sie allein im<br />
Büro saß und in die leere, kühle Metzgerei hinüberschaute,<br />
wagten sich doch allerlei vorlaute Fragen hervor. Sie<br />
fürchtete deshalb diese Zeit. Es war nicht klug, über das<br />
nachzugrübeln, was hätte sein können, noch weniger über<br />
das, was war.<br />
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Was hätte denn sein können? Etwas, nicht unähnlich<br />
dem Glück der Heldin im letzten Film, den sie hatte ansehen<br />
dürfen. Es war lange her. Der Mann erlaubte selten<br />
und ungern, Geld für Vergnügungen auszugeben. Aber sie<br />
erinnerte sich noch genau an die Geschichte, als wäre sie<br />
ihr zugestoßen:<br />
Hübsche, noch junge Frau; freudlose Ehe; taucht da der<br />
verschollene Jugendfreund wieder auf, der einst heiß geliebte,<br />
der sie ohne Grund verlassen und damit in Verzweiflung<br />
gestürzt hatte; der Vielgehasste! Begegnung, Aussprache,<br />
Aufklärung der Missverständnisse, die ihn einst<br />
bewogen hatten, seiner Wege zu ziehen. Neue Liebe, Hangen<br />
und Bangen; schließlich Befreiung aus der unwürdigen<br />
Bindung und höchstes Glück mit dem Wiedergefundenen!<br />
Sie stellte sich die Szenen des Films vor, durchlebte sie<br />
immer wieder und erfand neue dazu, um die Schwierigkeiten<br />
der Liebenden oder deren Wonne, je nach Laune,<br />
zu erhöhen. Es gab viele Varianten über dieses selbe Thema,<br />
doch alle endeten mit der vollen Belohnung der Heldin<br />
für geduldiges Ausharren und Hoffen. Könnte so etwas<br />
nicht sein?<br />
Stattdessen Tag für Tag im Büro sitzen, rechnen und<br />
wieder rechnen – wehe, wenn ein Fehlerchen unterlief! Im<br />
Laden bedienen, Fleisch hauen, Würste reichen, freundlich<br />
plaudern, den Gesellen mit einem Auge beaufsichtigen,<br />
dass er nichts veruntreue, Geld annehmen, Geld herausgeben,<br />
nicken, lächeln …<br />
Ein Schatten fiel vom Schaufenster her ins Geschäft.<br />
Lisetta steckte den Kopf durch den Schalter, neugierig,<br />
wer wohl um diese Stunde die Auslage studiere. Eine Dame<br />
6
war es, eine Dame im Reisekleid; eine Fremde, sicher eine<br />
Fremde, die Proviant für einen Ausflug einkaufen wollte.<br />
Lisetta wartete. Würde sie eintreten, würde sie weitergehen?<br />
Die Fremde schien vertieft in den Anblick der heute<br />
frisch gemachten Blut und Leberwürste, wovon ein stattlicher<br />
Rest in der Mitte des Schaufensters prangte. Ja, das<br />
bekam man nicht überall unter die Augen. Hierzulande<br />
jedenfalls sah man Ähnliches nicht. Das war die Spezialität<br />
des Geschäftes.<br />
Lisetta betrachtete mit Genugtuung die Reihen der vielerlei<br />
Würste, die an ihren Schnüren oder in langen Ketten<br />
stattlich genug ihr gegenüber im Laden vor der weißen<br />
Wand hingen. Eine Pracht! Sie hatte es einsehen gelernt:<br />
eine Pracht! Da baumelten nicht, wie in andern Metzgereien<br />
am Ort, nur Salami oder Mortadellen in Stäben und<br />
Ballen von der Decke, da bot sich die ganze reiche Auswahl<br />
der Wurstwaren, wie sie drüben im Heimatkanton ihres<br />
Mannes beliebt waren. Sie kannte die Namen all dieser<br />
Würste und sagte sie sich in der ihr fremden Sprache langsam<br />
vor: Emmentalerli, Schüblig, Wienerli, Lyoner … Ja,<br />
der Mann verstand seinen Beruf. Und sauber war es bei<br />
ihnen, man durfte in jeden Winkel gucken. Es hatte viel<br />
ge braucht, bis die Angestellten so weit waren, diese Sauberkeit<br />
als etwas Selbstverständliches zu üben. Auch sie,<br />
Lisetta, hatte manches in dieser Richtung schwer erlernen<br />
müssen. Es war nicht ohne Geschrei und Gedonner vonseiten<br />
des Mannes abgegangen. Mit Schrecken dachte sie<br />
daran zurück. Sie fürchtete den Zorn Burris. Der Mann<br />
war groß und dick, zweimal sie selbst. Das erschüttert,<br />
wenn ein solcher Koloss …<br />
7
Die Ladenglocke schrillte. Die Fremde war eingetreten.<br />
Sie schaute sich um und ging dann auf Lisetta zu, die ihr<br />
verwundert entgegenstarrte.<br />
«Alba, du!», rief die Metzgerin aus, stand auf und öffnete<br />
hastig die Schaltertüre, um die so Angerufene ins Büro<br />
zu ziehen. Die Frauen küssten sich auf beide Wangen, lachten<br />
und sprudelten gleichzeitig die notwendigen Begrüßungsworte<br />
hervor, während sie sich musterten: «Du siehst<br />
gut aus!» – «Wie geht es dir?» – «Was tust du?» – «Und das<br />
Kind?» Dann setzten sie sich einander gegenüber, etwas<br />
verlegen, und schwiegen.<br />
Die Neuangekommene ließ rasch ihre Blicke im Raume<br />
schweifen. In Reichweite des Schalters ein großer, graugrüner<br />
Geldschrank; daneben auf einem Regal, säuberlich<br />
aneinandergereiht, Dossiers; unter dem hoch angebrachten,<br />
mit dickem, grün gestrichenem Gitter gesicherten<br />
Fenster ein kleines, schräges Stehpult, belegt mit Stapeln<br />
von Rechnungen und Heftchen; die Wände weiß und kahl,<br />
der Fußboden aus Granitplatten, hellgescheuert.<br />
«Ordnung, Ordnung habt ihr», rühmte sie, da sie nichts<br />
anderes zu rühmen fand.<br />
«Ja, daran fehlt es nicht bei uns», gab Lisetta mit bescheidenem<br />
Stolze zu. «Aber sage mir, wohin gehst denn<br />
du?», warf sie das Gespräch herum.<br />
«Zum Vater, wohin sonst?», antwortete Alba leichthin.<br />
Seit sie in der fremden Dame die Schwester erkannt<br />
hatte, fühlte Lisetta eine ferne Unruhe in sich, die nun wie<br />
eine dunkle Wolke am Rande des Horizontes, sich verdichtend,<br />
aufstieg. «Über Ostern wohl?», frug sie vorsichtig<br />
weiter. Alba machte eine unbestimmte Bewegung, sie wisse<br />
das noch nicht, man werde sehen. Lisetta spürte an ihrem<br />
8
Herzklopfen, dass die bis jetzt noch vage Besorgnis zu<br />
deutlicher Befürchtung anwuchs. Sie schob der Schwester<br />
eine dritte Frage entgegen. Schon am Tone der Antwort<br />
würde sie erkennen, ob ihre Vorahnung von etwas Unersprießlichem,<br />
das Albas Auftauchen mit sich bringen könnte,<br />
Gestalt annehmen oder nur eine ihrer leeren Ängste<br />
bleiben würde, wie solche sie manchmal überfielen.<br />
«Und dein Mann?», lispelte sie, mit hochgezogenen<br />
Brauen, ohne die Schwester anzusehen.<br />
«Vito?», sagte Alba in singendem Tone, der ebenso leisen<br />
Spott wie leichte Trauer bedeuten konnte. «Vito ist in<br />
Mailand!» Mit dem Wort Mailand ließ sie ihre Stimme<br />
sinken, wie der Priester am Ende des Requiems.<br />
Lisetta wusste, woran sie war. Es musste sich etwas ereignet<br />
haben, das die Schwester von ihrem Manne trennte.<br />
Kein Wunder: Vito war ein leichtsinniger Mensch, in<br />
jeder Beziehung, strich den Frauen nach, spielte, verschwendete<br />
sein Geld, trieb es großartig und, weiß Gott, was man<br />
sonst noch von ihm wusste. Nie hatte bis jetzt Alba zugeben<br />
wollen, dass ihr Mann schlechte Eigenschaften besitze<br />
und Fehler begehe. Ihr versteht ihn nicht, sagte sie<br />
allemal, wenn das Gespräch darauf kam, und schnitt es<br />
damit ab. Durch dick und dünn war sie zu ihm gestanden,<br />
so verbohrt, dass sie lieber ihre Familie die letzten Jahre<br />
hindurch vernachlässigt hatte, als zu riskieren, die Wahrheit<br />
über Vito hören oder gar aussprechen zu müssen. Nun<br />
aber war bestimmt etwas geschehen, das ihre Haltung ins<br />
Wanken brachte. Was? Dies herauszufinden, musste Lisetta<br />
ihrer eigenen Fantasie überlassen, denn nie würde die<br />
Schwester mit ihr darüber sprechen. Stets hatte sie sich<br />
über Lisetta gestellt, sie nie zur Vertrauten genommen.<br />
9
Doch Lisetta hatte es gelernt, in der andern zu lesen, und<br />
mit geheimem Vergnügen, trotz des zunehmenden Unbehagens,<br />
das der Schwester Gegenwart in ihr weckte, stellte<br />
sie fest, dass sie also auch in diesem Augenblick recht genau<br />
durchschaute, weswegen Alba zum Vater gehen wollte:<br />
Sie stand schlecht mit ihrem Mann.<br />
Während Lisetta einige von Alba obenhin gestellte Fragen<br />
nach dem Ergehen ihrer Familie ebenso obenhin beant<br />
wortete: «Wir können zufrieden sein; ja, gottlob, es<br />
geht uns gut; nein, nein, wir haben wirklich Glück!», bedrängte<br />
sie die anfängliche Sorge heftiger. Sie galt nicht<br />
dem Grund von Albas Kommen, den sie glaubte, erraten<br />
zu haben – das war deren Sache und berührte sie selbst<br />
nicht –, sie galt dem, was daraus entstehen konnte, falls die<br />
Schwester lange beim Vater bliebe. Ungeschicktes, ganz<br />
und gar Ungeschicktes. Dem musste man zuvorkommen.<br />
Lisetta schaute wie zufällig nach ihrem Handgelenk, an<br />
dem der schmale Riemen ihrer Armbanduhr zwischen rötlichen<br />
Pölsterchen einsank. «Deine Post geht wohl um vier<br />
Uhr?», rief sie, als wäre sie überrascht, aus. «Verzeih, wenn<br />
ich dich daran erinnere, aber du weißt, es ist die letzte.»<br />
Alba, die den Gedankengängen der Schwester ungefähr<br />
gefolgt war, stand mit gemachter Lebhaftigkeit auf, dankte<br />
ihr für den Hinweis und verabschiedete sich. Aus dem<br />
Schwall von Worten, mit dem Lisetta sie entließ, hörte sie<br />
die Grüße an den Vater heraus, die auszurichten sie mit<br />
ebenso viel Worten versprach.<br />
Nun schaute die Metzgerin nochmals genauer nach der<br />
Uhr. Bis gegen vier Uhr hielt sich Burri, wenn nichts Besonderes<br />
geschah, im Grotto degli Amici auf. Er traf dort<br />
seine Jassbrüder und war übrigens mit dem Wirt, Bertolo,<br />
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der seinen ganzen Bedarf an Fleisch und Wurstwaren bei<br />
ihm eindeckte, eng befreundet. Von vier Uhr an wurde es<br />
ungewiss, wo man ihn erreichen konnte. Manchmal setzte<br />
er sich noch für eine Stunde ins Café Verbano. Er tat es<br />
der Kunden wegen, die dort verkehrten und die zu sehen<br />
immer klug war. Oder er spazierte hinunter bis ins Ristorante<br />
«Schwyzerstübli» am See – die paar Schritte erfrischten<br />
ihn – und fand sich dort mit seinen Landsleuten zusammen:<br />
Deutschschweizer, die sich, wie er, im Städtchen<br />
angesiedelt hatten und einen Laden oder ein Gewerbe betrieben.<br />
Alles bessere Leute. Sie saßen im hinteren Raum,<br />
der ganz wie eine Bauernstube zu Hause eingerichtet war,<br />
mit einem Kachelofen, schmalen Bänken den Fenstern<br />
entlang, Blumenstöcken und einer adretten, rundlichen<br />
Kellnerin. Es war notwendig, sich gelegentlich mit seinesgleichen<br />
zu unterhalten und auszusprechen, denn die<br />
Leute vom Ort, die Tessiner … Nun, gewiss, man war mit<br />
ihnen gut Freund. Warum auch nicht? Nette Menschen,<br />
die Tessiner, unterhaltend, witzig, gescheit. Aber sich so<br />
ganz mit ihnen zu verstehen, das war unmöglich. Sie hatten<br />
Züge, diese Eingeborenen … Und die Deutschschweizer<br />
ließen sich gerne und ausgiebig über diese Züge aus:<br />
Durchtriebenheit und Hinterlist, Habsucht – lagen sie sich<br />
nicht dauernd wegen ein paar Batzen vor Gericht in den<br />
Haaren? Misstrauen –, nach zehn Jahren betrachteten sie<br />
einen immer noch als Fremden; Unfähigkeit, eine Arbeit,<br />
welche es auch sei, ordentlich und sauber und zurzeit auszuführen<br />
– darüber war eigentlich kein Wort mehr zu verlieren,<br />
darüber hatte man sich müde geredet und geärgert.<br />
Und wie sie ihre Frauen behandelten: akkurat wie Sklavinnen.<br />
Und dann diese Frauen! Aus ihnen wurde man über<br />
11
haupt nicht klug. Sie waren stolz, wo es sich nicht schickte,<br />
zimperlich, wenn man es nicht erwartete, frech ohne<br />
Grund. Und das Seltsamste: Keine brachte eine richtige<br />
«Rösti» fertig. Das war einmal sicher. Vielleicht warf der<br />
eine oder andere ein, dafür verstünden sie es, eine Polenta<br />
zuzubereiten. Das gaben die anderen zu, fügten aber bei,<br />
man dürfe immerhin eine simple Polenta nicht mit einer<br />
«Speckrösti» vergleichen, oder? Dagegen hatte niemand<br />
etwas einzuwenden, und das Gespräch konnte zu anderem<br />
übergehen.<br />
Lisetta überlegte, ob sie nun im Grotto degli Amici,<br />
im Verbano oder im «Schwyzerstübli» anläuten solle. Es<br />
würde Burri ärgern, wenn sie ihn störte, wo es auch sei. Er<br />
mochte das nicht. Aber was sie ihm mitzuteilen hatte, war<br />
wichtig genug. So nahm sie den Hörer ab und verlangte die<br />
Nummer des Grotto degli Amici.<br />
Unterdessen wanderte Alba langsam zum Bahnhof. Es<br />
war zu früh zum Abgang des Postautos. Sie blieb vor jedem<br />
Schaufenster stehen und betrachtete, ohne sie recht zu<br />
sehen, die kleinstädtischen Auslagen, innerlich ganz mit<br />
anderem beschäftigt. Auf dem Platz, den sie wie träumend<br />
erreichte, stand der gelbe Wagen schon bereit. Sie stieg ein,<br />
setzte sich in die hinterste Ecke und überließ sich ihrer<br />
Stimmung.<br />
Sie war niedergeschlagen. Ja, das Wiedersehen mit der<br />
Schwester hatte sie niedergeschlagen. Sie sann dem Grund<br />
nach. War es Lisettas ungebührlich verändertes Aussehen,<br />
das sie betrübte? Sie, die einst zierliche, war dick und<br />
schwer geworden, und ihre feisten Backen glänzten rot.<br />
Es war Alba unangenehm aufgefallen und hatte sie abgestoßen.<br />
Auch die vereinfachte Redeweise der Schwester,<br />
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ihre eigentümlich blecherne, laute Stimme, die sie wohl<br />
vergessen oder früher nicht bemerkt hatte, berührten sie<br />
peinlich – von der banalen Umgebung, in der sie Lisetta<br />
traf, dem überblanken Metzgerladen mit seinem widerwärtig<br />
süßlichen Geruch und der feuchten Kühle, die der<br />
Frau zwei Halstücher übereinander aufzwang, was sie<br />
vollends unförmig erscheinen ließ, gar nicht zu reden.<br />
Aber nur das war es nicht, was sie beelendete und nun<br />
fast zum Weinen brachte. Es war die Art und Weise, wie<br />
Li setta ihr vorhin entgegengekommen war: ohne jede<br />
Herzlichkeit. Aber, hatte sie ernstlich etwas anderes, eine<br />
schwesterlich liebevolle Begrüßung und Aufnahme erwartet?<br />
Sie schluckte trocken auf. Es schmerzte in der Kehle.<br />
Wie dumm! So sentimental und wehleidig! Nein, anderes<br />
war nicht zu erhoffen gewesen, und sie selbst trug die<br />
Schuld an der Entfremdung, die ihr jetzt leidtat. Sie war<br />
zu lange, fast ohne Nachricht zu geben und Nachricht zu<br />
verlangen, fortgeblieben.<br />
Sie rechnete nach, wann sie zum letzten Male zu Hause<br />
erschienen war. Es mussten zehn Jahre her sein, zu Lisettas<br />
Hochzeit. Der Tag stand ihr in schlechter Erinnerung.<br />
Mit dem Schwager, den sie damals erst kennenlernte, hatte<br />
sie keine freundschaftliche Beziehung aufzunehmen<br />
vermocht. Sie staunte den Mann an wie ein Wesen aus<br />
einer andern Welt. Diese Ablehnung fiel Lisetta auf. Sie<br />
war gekränkt und ließ es Alba fühlen. Es kam sogar zu<br />
offener Aussprache: So, Alba, die Hochmütige, wolle mit<br />
Burri nichts zu tun haben, klagte Lisetta an, er sei ihr zu<br />
wenig. Gewiss, ein Metzger, ein Mann anderen Stammes,<br />
anderer Sprache, anderer Sitten … Gewiss, aber alle konnten<br />
nicht wie Alba das große Los ziehen!<br />
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Alba sah ein, dass sie sich falsch benommen hatte. Sie<br />
wollte einlenken, aber sie fand die guten Worte nicht, welche<br />
die Kluft, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte,<br />
überbrückt, nicht das freie Lachen, das sie und die Schwester<br />
versöhnend geeint hätte.<br />
Zu allem Missgeschick trank Burri an diesem Tag zu<br />
viel. Unversehens sank sein Kopf vornüber auf die weiß<br />
gedeckte Festtafel, und er schlief ein. Weder Späßen noch<br />
handfesten Versuchen Lisettas, den Mann zu wecken, gelang<br />
es, ihn aus seiner seligen Versunkenheit zu heben. Er<br />
schlief und schnarchte. Lisetta stiegen Tränen in die Augen,<br />
aber sie lächelte tapfer und entschuldigte ihren Mann<br />
rings in der Runde.<br />
Das war vor zehn Jahren gewesen, und seither hatten<br />
sie sich nicht mehr gesehen und sich auch selten genug<br />
geschrieben. Kindlich, zu meinen, die Schwester müsste<br />
sie nun mit offenen Armen aufnehmen. Auch der Vater,<br />
wer weiß, würde kaum beglückt sein, sie anrücken zu<br />
sehen. Und wenn sie ihm erst erklärt haben würde, warum<br />
sie erschien und dass sie zu bleiben gedächte, bis … ja,<br />
bis …?<br />
Hier schweiften ihre Gedanken ab und flogen zurück.<br />
Alba hatte am selben Morgen ihr Heim in Mailand verlassen.<br />
Es geschah auf Wunsch ihres Mannes, der sich vor<br />
so schwierigen Zeiten sah, dass er ihr nahelegte, ja sie bat,<br />
sie möge zu ihrem Vater zurückkehren, bis sich seine Geschäftslage<br />
geklärt hätte. Er deutete an, Haus und Garten<br />
müssten verkauft werden, auch die Möbel, der Wagen,<br />
kurzum alles, was ihr bis dahin gehörte und ihr lieb war.<br />
«Du bist ja ein tapferer Kerl», sagte er, «wirst dem Kram<br />
nicht nachheulen!» Und sie hatte nicht geweint, auch nicht,<br />
14
als er ihr zum letzten Mal die Hand küsste, die sie ihm zum<br />
Coupéfenster hinausreichte.<br />
Ungern und mit Beklemmung war sie weggefahren.<br />
Noch im Zug quälte sie die Frage, ob sie nicht besser getan<br />
hätte, statt ihrem Manne zu gehorchen und zu verreisen,<br />
bei ihm zu bleiben, was auch kommen sollte. Doch sie<br />
wusste, er ertrug keinen Widerspruch. Es wäre ihr nicht<br />
gut bekommen, seinen Willen zu missachten. Sie kannte<br />
ihn. Am Morgen beim Abschied war ihr wieder aufgefallen,<br />
wie stahlhart, fast grausam er aussah. Scharf gebogene<br />
Nase, schmales Kinn, lange, leicht geschlitzte Augen<br />
und hohe Backenknochen. Fast grausam und jedenfalls<br />
fremdartig. Es hieß, eine seiner Großmütter sei Indianerin<br />
gewesen. Leute behaupteten, seine Mutter sei es gewesen.<br />
Er wusste nichts von ihr. Sein Vater hatte ihn als kleines<br />
Kind aus Südamerika, wo er zur Welt gekommen war, in<br />
seine Heimatstadt Genua gebracht und dort in einem<br />
strengen Institut erziehen lassen. Aber er war fremdartig<br />
geblieben. Schwer zu verstehen. Solange sie nun schon mit<br />
ihm zusammenlebte, sie kannte ihn nicht besser als am<br />
ersten Tag. Manchmal wollte ihr vorkommen, sie kenne<br />
ihn weniger. Er verschloss sich mehr als früher. Seine Geschäfte<br />
und Unternehmungen, seine Erfolge und Misserfolge,<br />
seine Vergnügen, seine Passionen, sie erfuhr davon<br />
wenig. Er schwieg. Er hielt sie fern. Und doch liebte er sie<br />
auf seine Art. Es waren nicht nur Worte, wenn er ihr versicherte,<br />
sie sei ihm das Teuerste. Aber wie kam es nur, dass<br />
er so wenig und immer weniger Zeit für sie fand? Oft sah<br />
sie ihn tagelang nicht, hörte nur, dass er spätnachts nach<br />
Hause kam und am Morgen fortging, ohne ihr Guten Tag<br />
zu sagen. Und nun hatte er sie gar weggeschickt!<br />
15
Der Postwagen füllte sich indessen mit Leuten aus dem<br />
Tal, die vom Stadtmarkt nach Hause fuhren. Sie schwatzten<br />
laut und schnell durcheinander über ihre Einkäufe,<br />
über das, was sie gesehen und erfahren, über den Klatsch<br />
aus dem Dorf, auch über Alba, die sie für eine Fremde<br />
hielten. Sie saß still an ihrem Platz und fragte sich, wieso<br />
man sie nicht wiedererkannte. Hatte sie sich so verändert?<br />
Ihr war, als sei sie erst gestern mit derselben Post zum Tal<br />
hinausgefahren, die sie nun nach Hause brachte. Sie erinnerte<br />
sich an jede Biegung der Straße, jeden vorspringenden<br />
Felsen, jede Brücke, jeden Wasserfall, an den Ausblick<br />
durchs Tal hinauf bis zum dreieckigen Kegel, der es<br />
im Norden abschloss, und durchs Tal hinunter bis zur<br />
kleinen Fläche des Sees, der zwischen niederfallenden<br />
Hängen in der Märzsonne glänzte.<br />
Als sie beim Postamt ihres Dorfes ausstieg und dem<br />
Wagenführer, der ihr das Gepäck herunterreichte, in der<br />
Landessprache dankte, verstummten die übrigen Reisenden.<br />
Sie schauten ihr nach, wie sie gegen das Dorf hinanstieg,<br />
das etwas höher lag. Einer rief aus: «War es nicht die<br />
Alba Morsini?»<br />
Mit den gleichen Worten empfing sie der Vater: «Ist das<br />
nicht die Alba?» Er schloss sie zitternd in die Arme und<br />
küsste sie auf die Stirn. Doch hielt die Freude über das<br />
Kommen der Tochter nicht lange an. Nach dem Essen frug<br />
er, wie es ihrem Manne gehe. Sie antwortete vorsichtig.<br />
Sie wollte nicht mehr sagen, als zu sagen war. Doch der<br />
Alte spürte aus ihren kurzen Sätzen heraus, dass sie bekümmert<br />
war. Auch er ließ sich in eine umdüsterte Stimmung<br />
gleiten, und bald schwiegen beide. Er wollte nur<br />
noch wissen, ob Alba bei ihrer Schwester eingetreten sei.<br />
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Als sie dies bejahte und die Grüße ausrichtete, sah er sie<br />
prüfend an, überlegte einen Augenblick und schüttelte<br />
dann den Kopf. Er wird alt, dachte sie, er vergisst, was er<br />
sagen will. Dann suchte jedes seine Kammer auf.<br />
Die Casa Conti stand am Anfang des Dorfes, allein, inmitten<br />
eines sanft ansteigenden und in Terrassen geordneten<br />
Geländes, auf welchem zuunterst Reben, weiter oben Kartoffeln<br />
und ums Haus herum Gemüse und Blumen wuchsen.<br />
Zwei Reihen Palmen säumten den breiten, geraden<br />
Treppenweg vom großen Tor der Besitzung bis zur obersten<br />
Plattform. Links neben dem Hause waren kleinere Gebäude,<br />
Ställe und Remisen zusammengedrängt, rechts<br />
davon zog sich der Garten einer hohen Mauer entlang, die<br />
ihn gegen Norden schützte, dem Obstgarten zu, der weiter<br />
drüben in Wiesen und kleine Äcker auslief. Das ganze<br />
Anwesen war etwas verwahrlost. Man sah auf den ersten<br />
Blick, dass seit Langem nicht der volle Nutzen aus dem<br />
Boden gezogen wurde und die Gebäulichkeiten schlecht<br />
unterhalten waren. Die Windfahne auf dem Türmchen<br />
winkte schief. Die Traufen, die um das schwere Steindach<br />
liefen, waren undicht, sodass ein Wasserschleier das Haus<br />
einhüllte, wenn es regnete; die schönen Gitter der Balkone<br />
waren vom Rost angefressen, und hier und dort gähnte<br />
schwarz das Loch einer zerbrochenen Scheibe. Doch tat<br />
das der Schönheit und dem Stolz des Hauses wenig Abbruch.<br />
Es stand mit dicken Mauern wie für die Ewigkeit<br />
geschaffen da, schaute etwas hochmütig aus seinen durch<br />
Malereien verzierten und erhöhten Fenstern übers Land<br />
hinaus, und das Wappen der Conti über der Haustüre war<br />
frisch wie am ersten Tag.<br />
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