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Departures Germany Summer 2020

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DEPARTURES CULTURE ON

DEPARTURES CULTURE ON STAGE 36 „IRGENDWANN SAGST DU DIR: ‚Weißt du was, ab jetzt bin ich einfach ich selbst.‘“, berichtete mir der Theaterregisseur Jamie Lloyd an einem Februarmorgen bei einer Schale Porridge in einem unscheinbaren Hotel in South London. Er dachte dabei wohl an seinen unverkennbaren Stil, die Vintage-Kleidung, den Stetson-Hut und die vielen Tattoos, die sich über seine Arme bis zu seinem Kopf hinaufschlängeln. Er hätte aber genauso gut an seine unorthodoxe Herangehensweise an Bühnenklassiker denken können. Diese sorgten dafür, dass er vom Londoner Publikum in den letzten Jahren zum Regisseur der Stunde auserkoren wurde und selbst Hollywood- Stars auf seine Bühne drängen. Nach unserem Frühstück begann für ihn die dritte Probenwoche eines neuen West-End-Revivals von Tschechows großer Tragikomödie Die Möwe mit Emilia Clarke. Als Nächstes folgt dann seine eigene Version von Ibsens Nora oder Ein Puppenheim mit Jessica Chastain als Nora. „Man wird älter und kümmert sich nicht mehr so darum, was die Leute über einen denken“, erläutert Lloyd, der im November 40 Jahre alt wird. Andererseits erinnert er sich auch: „Zu einer bestimmten Zeit hatte ich auch Von oben: James McAvoy spielt in Jamie Lloyds Produktion von Cyrano de Bergerac, die Hauptrolle – ohne Nasenprothese; Indira Varma als Arkadina bei einer Probe für Die Möwe den Eindruck, Konformität und Konventionalität vermitteln zu müssen.“ Damit meint er die Zeit um das Jahr 2012 herum, als er ein geradliniges Broadway-Revival von Rostands Cyrano de Bergerac auf die Bühne brachte, in dem er auch die altmodischen Kostüme und die markante Nase des liebeskranken poetischen Recken nicht ausließ. Doch genauso wie Lloyd selbst hat sich auch seine Arbeit weiterentwickelt. Seine 2019 inszenierte Produktion desselben Stücks – das für fünf Olivier Awards nominiert wurde und dieses Jahr in der Brooklyn Academy of Music auf dem Programm steht – unterscheidet sich radikal. Der klassische Musketier-Look wurde gegen Jeans und ein schwarzes T-Shirt eingetauscht. James McAvoy erzeugt darin einen punkigen Vibe, der ein Publikum ohne jegliche weitere Stützpfeiler zu fesseln vermag. MARC BRENNER

Wie sein persönlicher Stil hat sich auch seine Arbeit verändert. „Man wird älter und kümmert sich nicht mehr so darum, was die Leute über einen denken.“ Der Einfluss McAvoys passt gut zur Herkunft Lloyds, der als Sohn eines Lastwagenfahrers in einem Arbeiterumfeld aufwuchs, das – bis auf die Andrew-Lloyd-Webber-Musicals, die auf Kassette im Lkw liefen, während Vater und Sohn zusammen unterwegs waren – weit von jeglichen Theatererlebnissen entfernt war. Keiner von beiden hätte sich damals erträumt, dass Llyod einige Jahrzehnte später eine gänzlich neu gestaltete Version von Lloyd Webbers Evita verwirklichen würde. Das letztjährige Revival der Show im Regent’s Park Open Air Theatre wird im Jahr 2020 erneut gezeigt, dieses Mal unter dem Dach des Barbican Centre. Seine Kindheit lief zwar weitgehend ohne Bezug zur Kunst ab. In seinem eigenen Haushalt ist sie heute dafür umso präsenter. Seine Frau, die Schauspielerin Suzie Toase, lernte Lloyd als Hot Box Girl und Zweitbesetzung für Jane Krakowski in der 2005 aufgeführten Produktion Guys and Dolls kennen, bei der er als Assistent des Direktors Michael Grandage tätig war. Mittlerweile hat das Paar drei Söhne. Einer von ihnen, der 13-jährige Lewin, ist selbst Schauspieler, hat seinen eigenen Twitter-Account und verfügt über eine wachsende Liste an Credits, darunter der Film Judy, die Amazon-Produktion The Aeronauts sowie die BBC/ HBO-Serie His Dark Materials, in der er zusammen mit McAvoy spielt. Der Wohnort der Familie in Hastings an der Südküste von Sussex bietet einen fast direkten Zugang zum Strand und ist zudem nur eine Zugfahrt von London entfernt. Wenn Lloyd sich durch die Welt der zeitgenössischen Kleidung stöbern will, ist die Vintage- Boutique Hawk & Dove in der Altstadt von Hastings ebenfalls nur ein paar Schritte entfernt. „Mir gefällt das Pendeln. In der Zeit kommen mir viele Gedanken – und ich bin dann kein Vater, sondern Regisseur. Im Zug bekomme ich ein echtes Gefühl von Freiheit und entdecke immer mehr, je öfter ich die Zugfahrt mache und je älter ich werde.“ Im Zug hat er mitunter seine besten Einfälle. Lloyd meint, ein wichtiger Schritt in der Auseinandersetzung mit einem bekannten Stück sei „das Loslösen von der Aufführungsgeschichte“. Durch seine Vorliebe für die Befreiung vertrauter Werke von ihren üblichen Insignien hat sich Lloyd einen Platz in einem kleinen Club hochkarätiger Ikonoklasten erarbeitet, dem unter anderem Ivo van Hove (West Side Story, A View from the Bridge) und Daniel Fish (der Regisseur des kürzlich am Broadway aufgeführten Oklahoma) angehören. Wenn ihn von diesen Regisseuren überhaupt etwas unterscheidet, dann ist es, dass Lloyd sogar noch weitergeht. Denken Sie nur einmal an seine Inszenierung von Harold Pinters 1978 entstandenem Stück Betrogen, das vergangenes Jahr auf beiden Seiten des Atlantiks Beifallsstürme auslöste. Pinters weitgehend autobiografische Schilderung von Affären unter Londons „Chattering Classes“ war wenig mehr als eine rudimentäre Requisite, sodass das Publikum von Anfang bis Ende die drei Protagonisten der quälenden Dreiecksbeziehung – ein Ehemann, seine Frau und sein bester Freund – im Auge behalten konnte. Nachdem er die Bühne befreit hatte, verließ Lloyd sich auf Töne und Klänge, um den meist leeren Raum mit einem dichten Klangbild zu füllen, das unter anderem auf das mit einem Oscar gekrönte Team um Trent Reznor und Atticus Ross zurückgeht. Pinters schlanke, elliptische Sprache nimmt seit der ersten großen Produktion Lloyds – einem 2006 aufgeführten Revival von Der Hausmeister im Crucible Theatre von Sheffield – einen wichtigen Platz in Lloyds Karriere ein. Doch erst jetzt vermag er die Weisheit, die ihm Pinter im Laufe der Zeit vermittelte, mit all ihrer bedeutungsvollen Stille und deren Ausdehnung richtig zu artikulieren. „Harold hat mir beigebracht“, so Lloyd, „dass die Präzision der Sprache zu einer Präzision des Raumes führt.“ Und aus dieser entsteht, mit Glück, ein Kraftfeld des Gefühls. „Es geht darum, den Schwerpunkt auf die Interaktionen in diesem Raum zu legen.“ Lloyd studierte in Liverpool Schauspiel, bevor ihm klarwurde, dass er als Regisseur, der hinter den Kulissen die Fäden zieht, weitaus glücklicher war. Seine Lehrjahre verbrauchte er in der Welt der West-End-Musicals (Trevor Nunns Anything Goes sowie Grandages Guys and Dolls), bevor er dann eine Stelle als Associate Director im kleinen Londoner Donmar Warehouse bekleidete. Mittlerweile hat er seine eigene West-End-Organisation, The Jamie Lloyd Company, mit der er seinen sich stets weiterentwickelnden Stil durch eine Reihe an limitierten Vorstellungen mit Stars wie McAvoy, Clarke sowie Chastain entfalten und gleichzeitig anderweitig freiberuflich tätig sein kann, wenn er gerufen wird. Lloyd räumt ein, dass es eine Zeit gab, in der das Ziel seiner Produktionen darin lag, „viel für das Publikum zu tun, um diesem ein aufregendes, dynamisches Erlebnis zu bieten. In Wahrheit gibt man dem Publikum aber etwas, wenn man einen Teil davon weglässt“. So macht das Publikum die Arbeit. Dies trifft zum Beispiel auch auf eine Bildunterschrift am Anfang von Cyrano de Bergerac zu, die auf das Jahr 1640 hinweist. Es ist der einzige Hinweis auf die Zeit, in der Rostands Stück spielt. Wie in Betrogen kompensiert der Ton die sparsame Ästhetik. McAvoy spricht meist in einem Bühnenflüstern, das dem Publikum verstärkt weitergegeben wird. „Man muss nicht in die zeitgenössischen Details gehen. Das kann das Publikum im Kopf selbst tun“, erklärt Lloyd. „Man kann gleichzeitig in der damaligen Zeit und in unserer Zeit existieren.“ 37 DEPARTURES

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