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GraphicMagazine20: mein Lachen = weinen

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ERNA KRONSHAGE | 1922-1944<br />

1


Text und graphische Gestaltung:<br />

EDWARD WIEAND | Update 12/22<br />

2


KINDHEIT & SCHULE<br />

3


Erna wird 2 Wochen vor<br />

Weihnachten am 12. Dezember<br />

1922 in Senne II (heute heißt<br />

das „Sennestadt“) – nahe dem<br />

Bahnhofs „Kracks“ – geboren.<br />

Sie ist das 11. und jüngste Kind.<br />

Ihre Schwester Martha war<br />

<strong>mein</strong>e Mutter.<br />

Die Familie Kronshage lebt und<br />

arbeitet auf einem Bauern-Hof,<br />

– und der Vater arbeitet<br />

halbtags als Tischler in einer<br />

Fabrik.<br />

4


Dies ist das Bauern-Haus,<br />

in dem Erna Kronshage<br />

geboren wird, lebt<br />

und später dann arbeitet.<br />

So sieht das Haus heutzutage aus.<br />

5


Auf diesem Familien-Foto<br />

von ca. 1930 sieht man<br />

Erna als 2. von links …<br />

Als Jüngste und Kleinste<br />

wird Erna hauptsächlich<br />

von ihren großen<br />

Geschwistern „erzogen“.<br />

Erna ist das „Nest-<br />

Häkchen“<br />

und wird sicherlich<br />

entsprechend<br />

betüddelt und verwöhnt<br />

…<br />

6


Erna ist eine gute<br />

Schülerin.<br />

Das Lernen macht<br />

ihr Spaß.<br />

So sieht es 1935<br />

in einer Schul-Klasse<br />

aus.<br />

7


Ab 1933 ist Adolf Hitler<br />

Reichs-Kanzler in Deutschland<br />

und die schlimme Nazi-Zeit<br />

beginnt.<br />

Erna ist da erst 10,5 Jahre alt.<br />

Die Menschen jubeln den<br />

Nazis mehrheitlich zu und<br />

erhoffen sich viel Gutes.<br />

Aber ab 1939 beginnt Hitler<br />

den furchtbaren 2. Weltkrieg.<br />

Gleichzeitig sollen Menschen<br />

ausgegrenzt werden, die die<br />

Nazis als verkrüppelt, schwach<br />

und seelisch „krank“ ansehen.<br />

Auch die Juden sollen ganz<br />

aus der Öffentlichkeit<br />

verschwinden.<br />

8


Mit einem (sehr) guten<br />

Zeugnis geht Erna 1937<br />

nach 8 Schuljahren von der<br />

Schule.<br />

9


ARBEIT ALS „HAUS-TOCHTER“<br />

10


Nach ihrer Schul-Zeit arbeitet Erna<br />

als „Haus-Tochter“ zu Hause auf<br />

dem Bauern-Hof mit.<br />

„Haus-Tochter“ ist damals eine<br />

Tätigkeit für junge Frauen, um bis<br />

zur eigenen Hochzeit die Arbeiten<br />

als „Haus-Frau“ durch eigenes<br />

Mittun zu erlernen.<br />

Erna muss jetzt immer öfter ganz<br />

allein mit ihren Eltern auf dem Hof<br />

arbeiten.<br />

Die Brüder sind jetzt Soldaten,<br />

weil der Krieg begonnen hat – und<br />

die älteren Schwestern haben<br />

inzwischen eigene Familien.<br />

Erna muss Kartoffeln ernten.<br />

Und wäscht Wäsche am Brunnen vor<br />

dem Haus.<br />

11


Hier kurvt Erna mit dem großen<br />

Hand-Wagen um die Hof-Eiche.<br />

Am Baum lehnen Fahrräder<br />

von Leuten, die vom nahen<br />

Bahnhof jeden Tag mit dem Zug<br />

zur Arbeit fahren.<br />

Erna muss mit auf diese Fahrräder<br />

tagsüber aufpassen, damit sie<br />

nicht gestohlen werden.<br />

12


Plötzlich - im Frühjahr 1940 - kommt der Krieg<br />

auch bis in die Senne.<br />

Ein einsamer englischer Flieger wirft seine<br />

Bomben-Last auf den Guts-Hof gegenüber.<br />

Das ist nur 100 Meter von Ernas Bauernhof<br />

entfernt.<br />

Erna ist schockiert, denn eine fast gleichaltrige<br />

Nachbarin stirbt dabei.<br />

13


Der Hof ist kurz und klein<br />

zerbombt.<br />

Erna ist so erschrocken, weil das<br />

Unglück so nah vor der Haustür<br />

passiert.<br />

14


Aus der Groß-Familie<br />

Kronshage mit den 10<br />

Geschwistern wird eine<br />

Klein-Familie, denn Erna<br />

wohnt jetzt allein mit den<br />

Eltern zu Haus.<br />

Sie fühlt sich deshalb immer<br />

einsamer.<br />

Sie sehnt sich nach<br />

gleichaltrigen Freunden, mit<br />

denen sie quatschen kann.<br />

Ihre Eltern sind schon über<br />

40 Jahre älter als sie.<br />

Für sie allein wird die Arbeit<br />

zu schwer.<br />

Sie will mal Ferien machen<br />

und ausspannen.<br />

15


EINWEISUNG HEIL-ANSTALT GÜTERSLOH<br />

16


Jetzt im Krieg ist die Arbeit auf einem Bauern-Hof ganz<br />

besonders wichtig, weil die Lebensmittel so knapp<br />

geworden sind. Die Nazis haben dazu sogar entsprechende<br />

Regelungen erlassen.<br />

Da wird jede Hand beim Pflanzen und Ernten und beim<br />

Vieh-Füttern und Kühe-Melken benötigt – und auch<br />

Jugendliche wie Erna sind zum Dienst verpflichtet.<br />

Im Oktober 1942 verweigert aber Erna Kronshage ihre<br />

Mitarbeit auf dem Hof.<br />

Sie schimpft mit den Eltern und hat keine Lust. Sie will sich<br />

erholen, weil sie sich schlapp fühlt von der schweren Arbeit,<br />

die nun auf ihr lastet.<br />

Ernas Mutter muss diese plötzliche Arbeits-Verweigerung –<br />

dieses „Blau-Machen“ – der Ge<strong>mein</strong>de-Fürsorgerin melden.<br />

Das ist eine „Braune Schwester“ – die man so nennt wegen<br />

der braunen Nazi-Schwesterntracht – und die hat die<br />

Aufgabe, solche Störungen zu überwachen und<br />

weiterzumelden.<br />

Denn die Arbeit auf dem Hof muss ja getan werden.<br />

17


Die „Braune Schwester“ sorgt nun dafür, dass<br />

Erna zu einer ärztliche Untersuchung ins<br />

Gesundheits-Amt muss.<br />

Hier bittet Erna selbst den Arzt darum, in die<br />

Heil-Anstalt nach Gütersloh zu kommen, um<br />

sich dort zu erholen und wieder arbeitsfähig<br />

zu werden.<br />

Ihre Schwester Frieda hat sie dazu überredet.<br />

Die war 3 Jahre vorher dort gewesen wegen<br />

eines seelischen Ausnahme-Zustandes nach<br />

einem Streit am Arbeitsplatz.<br />

Aber nach 4 Wochen war Frieda dort wieder<br />

ganz fit – und die Zeit dort hatte ihr gutgetan.<br />

Ernas Eltern sind aber gegen die Einweisung<br />

nach Gütersloh, weil Ernas Mitarbeit auf dem<br />

Hof doch so dringend erforderlich ist.<br />

18


Erna ist ganz durcheinander und benötigt deshalb<br />

dringend eine Aus-Zeit.<br />

Sie schwatzt deshalb ihrem Vater die Einweisungs-<br />

Papiere vom Amts-Arzt ab – und übergibt sie einem<br />

Streifen-Beamten der Polizei. Der parkt dort ganz<br />

zufällig in der Nähe.<br />

Und so fährt man sie dann mit Polizei-Streife und in<br />

Begleitung der inzwischen alarmierten „Braunen<br />

Schwester“ in die Heil-Anstalt nach Gütersloh.<br />

Erna setzt damit ihren Kopf durch – am Willen ihrer<br />

Eltern vorbei.<br />

Und doch: Sie versucht ja auch, etwas für sich zu tun<br />

– sie lässt sich nicht hängen. Sie zeigt, dass sie bei<br />

allem Gegen-Wind endlich wieder fit werden will.<br />

19


Die Heil-Anstalt Gütersloh ist damals eine<br />

Gesundheits-Fabrik – bestehend aus mehreren<br />

Krankenhäusern und Heimen – mit weit über 1000<br />

seelisch gestörten Menschen.<br />

Drinnen sind die Fluren lang und unpersönlich.<br />

manche Fenster sind vergittert<br />

Nazi-Ärzte und Krankenschwestern haben das<br />

Sagen.<br />

Es gibt getrennte Frauen- und Männerbereiche.<br />

20


Für Erna ist der Aufenthalt dort eine riesengroße Umstellung: Das Krankenhausklima hat nichts von der Gemütlichkeit,<br />

die sie von Zuhause kennt. Es riecht nach Reinigungsmitteln und Medikamenten – und manche Menschen dort halten<br />

laut Selbstgespräche und sind verwirrt. Geschlafen wird in einem großen Bettensaal. 21


In Gütersloh angekommen, führen Ärzte dort eine erste<br />

Untersuchung durch und füllen Fragebogen aus.<br />

Erna ist aufgeregt und stammelt herum. Der Aufnahme-<br />

Arzt <strong>mein</strong>t, sie sei abweisend und schnippisch.<br />

Aber sie versteht diesen Aufwand nicht – und eine solche<br />

Situation macht ihr Angst.<br />

Sie will ja nur eine Auszeit zur Erholung und<br />

Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft.<br />

Die Nazi-Ärzte dort aber bezeichnen Ernas Unlust und<br />

Arbeitsverweigerung jetzt sogar als eine schwere<br />

Geistesstörung mit dem Namen „Schizophrenie“.<br />

Sie sind damals der Ansicht, Schizophrenie sei eine<br />

seelische Störung, die nur von den Eltern und deren<br />

Vorfahren weitergereicht werden kann. Schizophrenie<br />

könne sich nur entwickeln, wenn man dazu veranlagt sei.<br />

• Bei dieser Störung lässt sich Wirklichkeit, Traum oder<br />

Fantasie nicht mehr unterscheiden. Alles fließt<br />

ineinander.<br />

• Die wirklichen oder eingebildeten Erlebnisse sind in<br />

einer Schizophrenie wie in viele kleine Scherben<br />

zersplittert.<br />

• Oft hört man Stimmen oder sogar Befehle - aber<br />

niemand spricht tatsächlich, und es sind Einbildungen.<br />

22


In Gütersloh gibt es Beschäftigungs-Angebote für die geistig<br />

verwirrten Menschen.<br />

Von solcher Arbeit und Beschäftigung verspricht man sich, dass<br />

die innere Zerrissenheit wieder geordnet und innere<br />

Spannungen abgebaut werden.<br />

Das Herum-Grübeln und das Heimweh soll verhindert werden.<br />

Erna wird zum Kartoffel-Schälen und zur Arbeits-Kolonne in der<br />

Gärtnerei abkommandiert – das kennt sie ja schon von Zuhause.<br />

23


Zusätzlich zum Beschäftgungs-Angebot werden<br />

zum inneren Spannungsabbau bei Menschen mit<br />

Schizophrenie künstlich epileptische Krampf-<br />

Anfälle ausgelöst.<br />

Das geschieht mit dem Mittel „Cardiazol“, das in<br />

die Arm-Beuge gespritzt wird.<br />

Zum Schutz vor Zungen-Bissen wird eine Beiß-<br />

Rolle aus Verbandsmull zwischen die Zähne<br />

gesteckt.<br />

Zunächst stellen sich starke Angst-Gefühle ein –<br />

und nach ein paar Minuten bricht der Anfall mit<br />

Zuckungen, Verkrampfungen und einer tiefen<br />

Bewusstlosigkeit los.<br />

Hinterher fühlt sich Erna völlig matt und verwirrt<br />

und kann sich kaum mehr an irgend etwas<br />

erinnern.<br />

Nach einigen Anfalls-Serien stellen sich anstelle<br />

irgendwelcher Besserungen eher Horror-<br />

Empfindungen und eine panische Angst davor<br />

ein…<br />

„Cardiazol-Schocks“ dienen deshalb im<br />

Anstaltsalltag eher einer Bestrafung als der<br />

Entspannung …<br />

24


„UNFRUCHTBARMACHUNG“<br />

25


1934 erlassen die Nazis ein neues Gesetz. Es<br />

heißt: „Gesetz zur Verhütung erbkranken<br />

Nachwuchses“.<br />

Darin wird festgelegt, dass Menschen mit<br />

besonderen seelischen Störungen oder<br />

Behinderungen keine Kinder bekommen dürfen.<br />

Man nimmt damals nämlich an, dass die Kinder,<br />

Enkel oder Urenkel dieser Menschen dann<br />

ebenfalls seelisch krank oder behindert sein<br />

können. Und das soll verhindert werden.<br />

Behinderte oder Kranke sind nämlich für die Nazis<br />

nutzlos und überflüssig, denn sie kosten nur Geld<br />

und bringen nichts ein.<br />

Bei der Durchführung dieses Gesetzes sind viele<br />

beteiligt: Ärzte, Anstalten, die Polizei,<br />

Gesundheitsämter usw.<br />

Kaum jemand wehrt sich – alle machen mit oder<br />

müssen mitmachen…<br />

Und so hat der Anstaltsleiter von Gütersloh, Dr.<br />

Hartwich, für Erna Kronshage auch einen Antrag<br />

auf „Unfruchtbarmachung“ geschrieben, denn die<br />

„Schizophrenie“ galt als eine dieser vererbbaren<br />

Geistesstörungen bzw. seelischen Erkrankungen.<br />

Er fügt dem Antrag Begründungen und Auszüge<br />

aus der Krankenakte bei.<br />

Dr. Hartwich<br />

26


Adolf Kronshage mit seiner Lieblingskuh<br />

Der Vater von Erna hat noch das<br />

Sorgerecht, denn Erna ist noch nicht<br />

volljährig (damals mit 21 Jahren).<br />

Er wehrt sich gegen den Antrag auf<br />

Unfruchtbarmachung des Dr. Hartwich und<br />

legt mehrfach Widerspruchein.<br />

Gleichzeitig bittet er einige Male darum,<br />

Erna aus der Gütersloher Anstalt zu<br />

entlassen, da er <strong>mein</strong>t, Erna würde sich<br />

Zuhause am schnellsten wieder erholen.<br />

Er will Erna die Bauchoperation ersparen,<br />

die gemacht werden muss, damit sie nicht<br />

mehr schwanger werden kann. Er ahnt aber<br />

vielleicht auch noch Schlimmeres …<br />

Vater Kronshage weiß, dass eine solche<br />

Operation Erna noch mehr belasten würde.<br />

Deshalb entwickelt sich ein umfangreicher<br />

Briefverkehr zwischen der Anstalt, den<br />

beteiligten „Erb-Gerichten“ und Ernas<br />

Vater.<br />

Er kämpft trotz angeschlagener Gesundheit<br />

für seine Tochter – und erzwingt mit seinen<br />

Einsprüchen, dass sich mit dem Antrag zwei<br />

Gerichte nacheinander befassen müssen …<br />

Aber leider – es ist ein ungleicher Kampf …<br />

27


Wie tief diese Angst vor der „Unfruchtbarmachung“ bei<br />

Erna Kronshage als Einschnitt ins Leben tatsächlich geht,<br />

verdeutlicht diese Graphik, die einem Foto aus dem Jahr<br />

1940 nachempfunden ist:<br />

Hier trägt sie liebevoll einen kleinen Neffen auf dem Arm<br />

und erhofft sich bestimmt auch für sich ein solches<br />

zukünftiges Lebensglück …<br />

28


Da sitzen am 29.03.1943 in der Heil-Anstalt Gütersloh ein Amtsgerichtsrat<br />

und zwei Medizinal-Oberärzte am Tisch und bilden damit das ausgelagerte<br />

mobile „Erb-Gericht Bielefeld“.<br />

Diese Herren beschließen im 20-Minuten-Takt über die<br />

„Unfruchtbarmachung“ und damit das Lebensglück von insgesamt 11<br />

Patienten.<br />

Erna Kronshage wird als dritter „Fall“ von 8.40 bis 9.00 Uhr „vorgeführt“:<br />

Ohne Anwalt oder Beistand wird über diese das ganze Leben verändernde<br />

endgültige Maßnahme von diesen Männern entschieden …<br />

Erna ist sehr aufgebracht vor innerer Unsicherheit<br />

und Scham und muss deshalb bei der Anhörung auch<br />

mal laut „auflachen“.<br />

Auf die Frage der Herren, warum sie denn lache,<br />

antwortet sie schlagfertig mit dem Satz : „Mein<br />

<strong>Lachen</strong> ist Weinen“ …<br />

Und in der Protokoll-Notiz zum Beschluss des „Erb-<br />

Gerichtes Bielefeld“ steht dann: „In d e r<br />

mündlichen Verhandlung machte Erna<br />

Kronshage einen gespannten Eindruck<br />

und l a c h t e ohne Grund auf. Sie<br />

äußerte, ihr <strong>Lachen</strong> s e i Weinen“...<br />

Mit dieser Notiz glaubte das Gericht die von Vater<br />

Kronshage stark angezweifelte „Schizophrenie“-<br />

Erkrankung Ernas nun mit bestätigen zu können.<br />

Aber die 20-jährige Erna lacht ja, um nicht Losheulen<br />

zu müssen, weil sie sich ihrer Tränen vor diesen<br />

Männern schämen würde – denen sie da in solch<br />

einer heiklen und persönlich tiefgehenden<br />

Fragestellung allein ausgeliefert ist…<br />

29


Es hilft aber alles nichts:<br />

Nach Beschluss vom 3. Juli 1943<br />

des Erb-Obergerichtes in Hamm<br />

wird Erna Kronshage am 4.<br />

August 1943 im Krankenhaus in<br />

Gütersloh von einem Dr. Stüwe<br />

operiert und „unfruchtbar“<br />

gemacht.<br />

Dabei werden in einer<br />

Unterbauch-Operation die<br />

beiden Ei-Leiter unterbrochen,<br />

so dass Erna nicht mehr<br />

schwanger werden kann.<br />

Dr. Stüwe notiert in seinem<br />

„Ärztlichen Bericht: „Die Wunde<br />

heilte in 7 Tagen ohne Neben-<br />

Erscheinungen“.<br />

Für Erna war das alles sicherlich<br />

ein schrecklicher und tief<br />

belastender Einschnitt – im<br />

wahrsten Sinne des Wortes …<br />

30


VERLEGUNG | KRANKENMORDE<br />

TOD<br />

31


Geistig und seelisch erkrankte Menschen<br />

sind für die Nazis „unnütze Esser“, die nur<br />

Geld kosten – aber nichts einbringen.<br />

Hitler machte schon ab 1939 „kurzen<br />

Prozess“ mit ihnen und gibt den Befehl,<br />

diese Menschen zu töten.<br />

Er gibt vor, solche Menschen würden an<br />

sich selber leiden und keine Freude am<br />

Leben haben. Ihr Tod wäre deshalb ein<br />

„Gnaden-Tod“, den sich die Betroffenen<br />

und ihre Angehörigen wünschen.<br />

Er wäre das Beste für sie.<br />

Und alle machen wieder mit - wie bei der<br />

„Unfruchtbarmachung“: Anstalten,<br />

Gesundheits-Ämter und Ärzte.<br />

Per Frage-Bogen werden die Menschen<br />

ausgewählt für den Kranken-Mord:<br />

Dabei geht es um 3 Dinge:<br />

• Wie benimmt sich der Kranke?<br />

• Wie stark ist die Krankheit oder<br />

Behinderung?<br />

• Kann und will er arbeiten?<br />

Diese Kranken-Morde heißen „Euthanasie“ –<br />

das Wort kommt aus dem Griechischen – was<br />

zu deutsch „schöner Tod“ bedeutet.<br />

Ein paar Angehörige und auch Pfarrer und<br />

kirchliche Würdenträger protestieren<br />

allerdings dagegen.<br />

Während daraufhin 1941 die erste zentral<br />

geplante Phase nach insgesamt über 70.000<br />

Mord-Opfern unterbrochen wird, setzt sich<br />

die „Euthanasie“ ab Ende 1942 fort – jetzt<br />

aber hinter vorgehaltener Hand.<br />

Die Planungen zu den Tötungen finden jetzt<br />

nicht mehr zentral per Frage-Bogen statt –<br />

sondern jede Heil-Anstalt bestimmt selbst,<br />

welche Patienten als Todes-Kandidaten per<br />

Sonderzug in eine der Tötungs-Anstalten<br />

verlegt werden.<br />

Während zunächst die Tötungen in Gas-<br />

Kammern durchgeführt werden – kommt es<br />

später zu gezielten Massen-Morden mit<br />

Schlaf-Mitteln und elendigem Verhungern-<br />

Lassen, indem einfach Wassersuppen gereicht<br />

werden, ohne Nährstoffe und Trocken-Brot<br />

mit Pell-Kartoffeln.<br />

32


Der Bomben-Krieg und der Front-Einsatz fordern<br />

immer mehr Tote und Schwer-Verletzte.<br />

Die Krankenhäuser und Lazarette sind deshalb<br />

überfüllt – und man sucht ab 1943 dringend Betten,<br />

um die vielen Verletzten zu versorgen.<br />

Hier sieht man ein überfülltes Not-Krankenhaus<br />

sogar in einer Turnhalle …<br />

33


Prof. Dr. Karl Brandt, Begleitarzt<br />

Adolf Hitlers<br />

Mit dieser Aussage macht der dafür<br />

zuständige Begleitarzt Hitlers, Dr. Karl<br />

Brandt, einen Plan:<br />

Nach seinen Maßgaben müssen nun<br />

die Heil-Anstalten rasch Betten zur<br />

Pflege und Betreuung<br />

kriegsverletzter Menschen zur<br />

Verfügung stellen, in dem sie ganze<br />

Abteilungen umwandeln vom<br />

Anstalts- in ein Krankenhaus- und<br />

Lazarett-Betrieb.<br />

Aber dafür müssen natürlich seelisch<br />

gestörte „geisteskranke“ Anstalts-<br />

Insassen ihren angestammten Platz<br />

räumen - und verlegt werden …<br />

34


Diese „Sonder-Aktion Brandt“, wie<br />

sie später bezeichnet wird, macht<br />

auch nicht vor den Toren der<br />

Anstalt Gütersloh halt …<br />

Es werden deshalb die Patienten<br />

benannt, die bei einer<br />

Umwandlung in eine Krankenhausund<br />

Lazarett-Abteilung überzählig<br />

sind - und die Anstalt deshalb<br />

verlassen müssen: Erna Kronshage<br />

ist mit 99 Mit-Patienten dabei.<br />

Am 12.11.1943 fährt vom Bahnhof<br />

Gütersloh um 18 Uhr ein<br />

Sonderzug in verschiedene<br />

Zielbahnhöfe.<br />

Über Hannover und Berlin geht es<br />

für Erna ins von der Deutschen<br />

Wehrmacht besetzte Polen – in di e<br />

630 km entfernte Heil-Anstalt<br />

„Tiegenhof“ – nahe der Stadt<br />

Gnesen.<br />

35


36


Heilanstalt Tiegenhof bei Gnesen – im besetzten Polen<br />

Name vor der Deutschen Besatzung: Dziekanka/Gniezno<br />

Graphik nach einer Luftaufnahme – links unten: Typischer Pavillon<br />

rechts oben: Haupthaus auf einem Buchcover zum 100. Geburtstag 1994<br />

37


Totenzimmer, Gedenktafel für die „Euthnasie“-Opfer (1948), Pavillonansicht<br />

Dr. Victor Ratka<br />

Die Anstalt Tiegenhof bei Gnesen hat sich unter<br />

dem Direktor Dr. Victor Ratka seit 1939 zu einer<br />

Tötungs-Anstalt entwickelt.<br />

Von Ende 1939 bis Anfang 1945 sind in<br />

„Tiegenhof/Dziekanka“ mindestens 3.600<br />

Menschen gezielt getötet worden – nach<br />

neueren Forschungen wahrscheinlich sogar über<br />

5.000.<br />

Von Ende 1939 bis 1941 wurden zunächst über<br />

1.000 polnische Insassen in Dziekanka ermordet<br />

– z.T. mit dem Gas-Wagen, bei dem die Auspuff-<br />

Gase auf die Lade-Fläche eines Anhängers<br />

umgeleitet wurde, auf der die „Fahrgäste“ saßen.<br />

38


Die Patienten, die aus dem „Reichs-<br />

Gebiet“ ab Ende 1941 bis Anfang<br />

1945 in Tiegenhof ankommen,<br />

werden nach dem sogenannten<br />

„Luminal-Schema“ getötet – ein<br />

Tötungs-“Rezept“, was extra dafür<br />

von dem Arzt Dr. Hermann Paul<br />

Nitsche erdacht worden ist.<br />

Dieses Tötungs-Rezept probierte er<br />

an 60 Patienten geradezu<br />

„wissenschaftlich“ aus, um es dann<br />

nach und nach zu verfeinern.<br />

Das „Luminal-Schema“ besteht aus<br />

fettlosen Speisen mit beigemischten<br />

in Wasser aufgelösten Schlaf-Mitteln<br />

(z.B. Luminal) - in nur leicht<br />

erhöhten Einzel-Mengen.<br />

Der Tod tritt so erst nach Wochen<br />

oder Monaten ein.<br />

Dieser Tod ist dann letztlich die schleichende Vergiftung bei einem durch eine solche Hunger-Kost geschwächten Körper. Und so entstehen dann<br />

Infektionen wie Lungen-Entzündung oder Bronchitis, die eine „natürliche“ Todes-Ursache aber nur vortäuschen – oder eben eine „Vollkommene<br />

Erschöpfung des Körpers“ wie es auf dem Totenschein von Erna Kronshage zu lesen ist.<br />

Das alles geschieht ohne äußere Gewaltanwendungsspuren – kaum nachweisbar – und wird so zum fast „perfekten“ Massen-Mord – ohne<br />

Einzeltäter …<br />

39


Erna Kronshage wird am 20.02.1944 mit diesen Maßnahmen in Tiegenhof/Gnesen getötet.<br />

Vom Tag der Anreise aus Gütersloh bis zu ihrer Ermordung dauert es genau 100 Tage …<br />

40


Auf Antrag der Eltern wird der Leichnam Erna Kronshages nach<br />

Senne II rücküberführt.<br />

Dazu wird der Sarg in einem Pack-Waggon der Reichs-Bahn 600 km<br />

– genau bis auf die Rangier-Gleise des Bahnhofs „Kracks“ gefahren –<br />

also ganz in die Nähe des Bauern-Hofes der Familie Kronshage, in<br />

dem Erna 21 Jahre zuvor geboren wurde.<br />

Die Familie öffnet heimlich den Sarg und vergewissert sich<br />

oberflächlich und laienhaft, dass keine Spuren von Gewalt-<br />

Anwendung an der Leiche sichtbar sind.<br />

Am 5.Marz 1944 wird Erna Kronshage auf dem Alten Friedhof in<br />

Senne II – heute Sennestadt – in der Familien-Grabstätte beerdigt.<br />

Die Grabstätte ist inzwischen aufgelöst und in eine Parkfläche<br />

verwandelt worden.<br />

41


42


GEDENKEN<br />

43


Am 6. Dezember 2012 wurde in der<br />

Nähe des Geburtshauses von Erna<br />

Kronshage zum Gedenken ein<br />

„Stolperstein“ gelegt – zu ihrem 90.<br />

Geburtstag – und fast 70 Jahre nach<br />

ihrem Tod.<br />

Im „Raum der Namen“ gedenkt man<br />

seit Herbst 2014 in der Klinik-<br />

Kapelle in Gütersloh – auf dem<br />

Gelände der ehemaligen Heil-<br />

Anstalt – mit einem leuchtenden<br />

Namens-Band den 1.017 Opfern, die<br />

von hier in die Tötungs-Anstalten<br />

verbracht wurden.<br />

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