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The Red Bulletin Februar 2020 (AT)

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D<br />

er Steinadler ist ausgeflogen. Sein<br />

„Schloss“ zu Verbier überlässt der majestätische<br />

Vogel in dieser Sommersaison einer<br />

anderen Königin der Lüfte: Géraldine<br />

Fasnacht. Die Schweizer Flugpionierin<br />

nutzt die „Le Château“ getaufte Felskuppe<br />

gerne als Startplatz für ihren<br />

Morgensprung im Wingsuit. „So bequem,<br />

ohne Seil oder Steigeisen, kommt man<br />

selten zu so schönen Absprungplätzen“,<br />

schwärmt Géraldine. Vor knapp einer<br />

Stunde ist sie vor ihrer Haustür im Dorf<br />

losmarschiert, den Wanderweg entlang,<br />

von dem sie kurz vor ihrem Ziel querfeldein<br />

ausbricht, über ein paar gefallene<br />

Föhren steigt, Stolperzweige aus dem<br />

Weg räumt und das kleine Felsplateau mit<br />

steil abfallender Kante erreicht – direkt<br />

neben dem Ausguck-<br />

Ast, von dem sonst<br />

der mächtigste Raubvogel der Alpen sein<br />

Revier überblickt. Heute ist es ihr Revier.<br />

Das Walliser Alpenpanorama glitzert<br />

in der Morgensonne. Links am Horizont<br />

– Géraldine macht eine Geste, als würde<br />

sie auf eine Sitzecke in ihrem Wohnzimmer<br />

hinweisen – liegt ihr Lieblingsberg,<br />

der Pleureur: „Der ist wohl nach<br />

meinen Freudentränen benannt, die ich<br />

auf den Flügen vom Gipfel schon vergossen<br />

habe.“ Vis-à-vis strahlen der Petit<br />

Combin, die Aiguille d’Argentière, die<br />

Dents du Midi. Géraldine hat zu allen eine<br />

ganz persönliche Geschichte. Denn das<br />

hier ist ihr Spielplatz. Schon als junges<br />

Mädchen besteigt sie die Gipfel und Grate,<br />

um die Steilwände und Couloirs mit dem<br />

Snowboard zu erkunden. Wenig später<br />

erobert sie die Drei- und Viertausender,<br />

um sich im Wingsuit tausende Höhenmeter<br />

ins Tal zu stürzen. Ihre neueste<br />

Leidenschaft ist aber ein Ultraleichtflugzeug,<br />

mit dem sie den Radius ihres<br />

„In der Luft fühle<br />

ich mich privilegiert,<br />

frei wie ein Vogel<br />

und akzeptiert<br />

von den Bergen.“<br />

Spielplatzes maßgeblich erweitert. Die<br />

Vogelfrau geht auf Pirsch. „So kann ich<br />

von der Gebirgspiste in Verbier hinüber<br />

zum Gletscher am Grand Combin fliegen<br />

und unterwegs neue Snowboardrouten<br />

oder Absprungplätze entdecken.“<br />

Aber wie kommt man vom Snowboard<br />

zum Wingsuit? „Mit Leidenschaft“, sagt<br />

Géraldine. „Für mich ist alles wie Fliegen.<br />

Ein Spiel mit dem Licht, den Formen des<br />

Berges und der Landschaft, die ich mit<br />

Snowboard oder Flügeln nachzeichne.“<br />

Weiche Linien, feminine Linien, wie sie<br />

betont. Darum stört sie auch, wenn man<br />

sie als Extremsportlerin betitelt, die der<br />

Natur trotzt, sie gar bezwingt. „Ganz<br />

im Gegenteil: Ich lebe meine Passion in<br />

Harmonie mit der Natur. Ich betrachte<br />

mich vielmehr als Künstlerin, die ihre<br />

Linien zieht – wenngleich auch unter teils<br />

extremen Bedingungen.“<br />

Das Ultraleicht-Flugzeug<br />

erweitert den<br />

Radius von Géraldines<br />

Spielplatz und ermöglicht<br />

ihr bei optimalen<br />

Bedingungen sogar<br />

Gletscherlandungen.<br />

Spuren im Schnee:<br />

In ihrer Freeride-<br />

Karriere errang<br />

Géraldine bei internationalen<br />

Wettbewerben<br />

23 Podiumsplätze,<br />

davon 11 Siege.<br />

Ob Sport oder Kunst: Géraldine Fasnacht<br />

ist jedenfalls eine Meisterin<br />

ihres Metiers. Den ersten Höhepunkt<br />

ihrer Karriere feierte sie<br />

mit 21 Jahren. Gleich bei ihrer ersten<br />

Einladung zum Xtreme Verbier gewann<br />

sie als jüngste Fahrerin diesen weltweit<br />

renommiertesten Freeride-Event. Weitere<br />

Erfolge und Titel folgten. 2001 begann die<br />

heute 39-Jährige mit dem BASE-Jumping,<br />

wenig später flog sie auch im Wingsuit<br />

durch die Luft. „Ich brauchte eine Motivation,<br />

um mich zwischen den Snowboard-<br />

Saisonen in den Bergen fit zu halten.<br />

Und dieser Sport vereint viele alpine Disziplinen<br />

und fordert physische, mentale<br />

sowie technische Höchstleistungen.“<br />

Ihre sonnengebleichten Haare hat<br />

Géraldine mittlerweile unter ihrem pink-<br />

farbenen Helm gebändigt. Nun steckt sie<br />

Sonnenbrille, Mütze und Portemonnaie<br />

in die Innentaschen des alpinen Wingsuits:<br />

„Als ich bei meinem Suit-Schneider<br />

solche Taschen forderte, lachte er und<br />

fragte: ‚Für dein Make-up?‘“ Eher fürs<br />

DAVID CARLIER, RAPHAEL SURMONT, SEBASTIEN BARITUSSIO<br />

64 THE RED BULLETIN

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