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D<br />
er Steinadler ist ausgeflogen. Sein<br />
„Schloss“ zu Verbier überlässt der majestätische<br />
Vogel in dieser Sommersaison einer<br />
anderen Königin der Lüfte: Géraldine<br />
Fasnacht. Die Schweizer Flugpionierin<br />
nutzt die „Le Château“ getaufte Felskuppe<br />
gerne als Startplatz für ihren<br />
Morgensprung im Wingsuit. „So bequem,<br />
ohne Seil oder Steigeisen, kommt man<br />
selten zu so schönen Absprungplätzen“,<br />
schwärmt Géraldine. Vor knapp einer<br />
Stunde ist sie vor ihrer Haustür im Dorf<br />
losmarschiert, den Wanderweg entlang,<br />
von dem sie kurz vor ihrem Ziel querfeldein<br />
ausbricht, über ein paar gefallene<br />
Föhren steigt, Stolperzweige aus dem<br />
Weg räumt und das kleine Felsplateau mit<br />
steil abfallender Kante erreicht – direkt<br />
neben dem Ausguck-<br />
Ast, von dem sonst<br />
der mächtigste Raubvogel der Alpen sein<br />
Revier überblickt. Heute ist es ihr Revier.<br />
Das Walliser Alpenpanorama glitzert<br />
in der Morgensonne. Links am Horizont<br />
– Géraldine macht eine Geste, als würde<br />
sie auf eine Sitzecke in ihrem Wohnzimmer<br />
hinweisen – liegt ihr Lieblingsberg,<br />
der Pleureur: „Der ist wohl nach<br />
meinen Freudentränen benannt, die ich<br />
auf den Flügen vom Gipfel schon vergossen<br />
habe.“ Vis-à-vis strahlen der Petit<br />
Combin, die Aiguille d’Argentière, die<br />
Dents du Midi. Géraldine hat zu allen eine<br />
ganz persönliche Geschichte. Denn das<br />
hier ist ihr Spielplatz. Schon als junges<br />
Mädchen besteigt sie die Gipfel und Grate,<br />
um die Steilwände und Couloirs mit dem<br />
Snowboard zu erkunden. Wenig später<br />
erobert sie die Drei- und Viertausender,<br />
um sich im Wingsuit tausende Höhenmeter<br />
ins Tal zu stürzen. Ihre neueste<br />
Leidenschaft ist aber ein Ultraleichtflugzeug,<br />
mit dem sie den Radius ihres<br />
„In der Luft fühle<br />
ich mich privilegiert,<br />
frei wie ein Vogel<br />
und akzeptiert<br />
von den Bergen.“<br />
Spielplatzes maßgeblich erweitert. Die<br />
Vogelfrau geht auf Pirsch. „So kann ich<br />
von der Gebirgspiste in Verbier hinüber<br />
zum Gletscher am Grand Combin fliegen<br />
und unterwegs neue Snowboardrouten<br />
oder Absprungplätze entdecken.“<br />
Aber wie kommt man vom Snowboard<br />
zum Wingsuit? „Mit Leidenschaft“, sagt<br />
Géraldine. „Für mich ist alles wie Fliegen.<br />
Ein Spiel mit dem Licht, den Formen des<br />
Berges und der Landschaft, die ich mit<br />
Snowboard oder Flügeln nachzeichne.“<br />
Weiche Linien, feminine Linien, wie sie<br />
betont. Darum stört sie auch, wenn man<br />
sie als Extremsportlerin betitelt, die der<br />
Natur trotzt, sie gar bezwingt. „Ganz<br />
im Gegenteil: Ich lebe meine Passion in<br />
Harmonie mit der Natur. Ich betrachte<br />
mich vielmehr als Künstlerin, die ihre<br />
Linien zieht – wenngleich auch unter teils<br />
extremen Bedingungen.“<br />
Das Ultraleicht-Flugzeug<br />
erweitert den<br />
Radius von Géraldines<br />
Spielplatz und ermöglicht<br />
ihr bei optimalen<br />
Bedingungen sogar<br />
Gletscherlandungen.<br />
Spuren im Schnee:<br />
In ihrer Freeride-<br />
Karriere errang<br />
Géraldine bei internationalen<br />
Wettbewerben<br />
23 Podiumsplätze,<br />
davon 11 Siege.<br />
Ob Sport oder Kunst: Géraldine Fasnacht<br />
ist jedenfalls eine Meisterin<br />
ihres Metiers. Den ersten Höhepunkt<br />
ihrer Karriere feierte sie<br />
mit 21 Jahren. Gleich bei ihrer ersten<br />
Einladung zum Xtreme Verbier gewann<br />
sie als jüngste Fahrerin diesen weltweit<br />
renommiertesten Freeride-Event. Weitere<br />
Erfolge und Titel folgten. 2001 begann die<br />
heute 39-Jährige mit dem BASE-Jumping,<br />
wenig später flog sie auch im Wingsuit<br />
durch die Luft. „Ich brauchte eine Motivation,<br />
um mich zwischen den Snowboard-<br />
Saisonen in den Bergen fit zu halten.<br />
Und dieser Sport vereint viele alpine Disziplinen<br />
und fordert physische, mentale<br />
sowie technische Höchstleistungen.“<br />
Ihre sonnengebleichten Haare hat<br />
Géraldine mittlerweile unter ihrem pink-<br />
farbenen Helm gebändigt. Nun steckt sie<br />
Sonnenbrille, Mütze und Portemonnaie<br />
in die Innentaschen des alpinen Wingsuits:<br />
„Als ich bei meinem Suit-Schneider<br />
solche Taschen forderte, lachte er und<br />
fragte: ‚Für dein Make-up?‘“ Eher fürs<br />
DAVID CARLIER, RAPHAEL SURMONT, SEBASTIEN BARITUSSIO<br />
64 THE RED BULLETIN