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Industrieanzeiger 11.18

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Themenheft Industrie 4.0 mit Serie Industrie 4.0 - Stand der Technik

interview Sie

interview Sie erwähnten, dass sich durch die neue Produktionsphilosophie auch die Vermarktungsstrategie ändern muss. An was denken Sie konkret? Der klassische Maschinenbauer kalkuliert etwa so: Wenn ich in eine bestehende Maschine zusätzlich Hard- und Software einbaue, erhöht das meine Herstellkosten. Wenn das beispielsweise 10 000 Euro ausmacht, kommen Preisaufschläge drauf, und die Maschine geht für 20 000 Euro mehr in den Markt. Der moderne Marktansatz sieht folgendermaßen aus: Die Maschine wird durch die Hard- und Software-Integration zwar teurer, doch das schlägt sich nicht im Abgabepreis nieder. Sondern man überlegt, durch welche Varianten sich die Mehrkosten finanzieren lassen. Mein Lieblingsbeispiel ist Facebook. Dort ist die Nutzung für Dr. Friedrich Völker ist sich sicher: „Die Vernetzung erschließt völlig neue Kunden.“ den User kostenlos. Die Firma finanziert sich über Dritte – über Werbung. Zugespitzt behaupte ich: Wenn ein deutscher Maschinenbauer Facebook erfunden hätte, würde der Zugang etwas kosten, und wahrscheinlich hätte man die Software noch über eine CD-ROM verschickt. Amerikaner sind einfach besser drauf, wenn es um Finanzierungsmodelle geht. Im einen Fall handelt es sich um einen Endkundenmarkt, im anderen aber um einen B2B-Markt. Zugegeben. Aber auch im Business-to-Business-Markt gibt es bereits moderne Strategien. Rolls-Royce baut Flugzeugturbinen. Doch die werden längst nicht mehr im klassischen Sinn verkauft. Das Unternehmen stellt die Turbinen zur Verfügung, und die Fluggesellschaften bezahlen nur noch die Dienstleistung, dass die Turbinen die Flugzeuge sicher von A nach B bringen. Damit das gut funktioniert, überwacht Rolls- Royce über das Internet of Things in Echtzeit alle wesentlichen Turbinendaten. Sobald sich eine Unregelmäßigkeit zeigt, rückt der Reparaturtrupp ran. Rolls-Royce liefert nicht mehr nur Turbinen, sondern auch den Reparaturservice, der integraler Bestandteil des Geschäftsmodells ist. Andere Bewerber gibt es nicht, weil durch die Datenübermittlung per Internet Rolls-Royce stets näher am Problem dran ist als sonstige Service- Unternehmen. Ein Patentrezept für erfolgreiche IoT-Geschäftsmodelle gibt es allerdings nicht. Was müssen Unternehmen ändern? Die Universität St. Gallen hat das in einer Studie akribisch weltweit untersucht. Das wichtigste Ergebnis: Die Ubers, Googles, Amazons und Ali Babas dieser Welt sind nicht durch Produkt- oder Prozessinno - vation erfolgreich geworden, sondern durch Innovation bei den Geschäftsmo - dellen: Sie vermarkten clever! Und: Auf die Beine gestellt haben sie ihre Geschäfts - modelle nicht durch einen völlig neuen Ansatz, sondern durch eine Rekombination existierender Muster. Laut der Universität St. Gallen gibt es grundsätzlich nur 55 Muster möglicher Geschäftsmodelle. Wer diese im Hinblick auf seine Produktion prüft, hat eine gute Chance, strukturierter vorzugehen und dadurch erfolgreicher zu sein. Können wir das Ganze einmal pragmatisch durchgehen – etwa am Beispiel eines Gabelstaplerherstellers? Als Hersteller von Gabelstaplern weiß ich, dass damit häufig Arbeitsunfälle passieren – etwa durch Zusammenstöße. Ein Kundenbedürfnis ist also Sicherheit. Nehmen wir einmal an, dass die meisten Unfälle an Kreuzungspunkten in der Lagerhalle zustande kommen. Wenn man in Echtzeit über Sensorik erkennen würde, wo sich die Gabelstapler gerade bewegen, könnte man ihre Geschwindigkeit bei einer gefahrenkritischen Einfahrt in eine Kreuzung automatisch reduzieren – egal was der Fahrer macht. Die integrierte Sicherheitssystematik wäre dann ein Kundennutzen. Ein intelligentes Geschäftsmodell wäre, dass der Kunde die neue Sicherheitseinrichtung für eine Reihe automatischer Bremsvorgänge ohne Aufpreis erhält. Er kann über einen bestimmten Zeitraum dann selbst beobachten, wie sich die Unfallrate entwickelt. Wenn er zu der Überzeugung gelangt, dass sie nachweislich kleiner geworden ist, wird er für die automatisierten Bremsvorgänge künftig gewiss gerne einen Servicebetrag bezahlen, weil seine Lagerhaltung dadurch unfallfreier ist. Und wie profitiert der Hersteller selbst? Und wenn die Gabelstapler einmal vernetzt sind, bietet sich eine Reihe weiterer Optimierungen an. Durch die vernetzte Sensorik weiß der Hersteller nun exakt, wie lange und in welchen Frequenzen die Gabelstapler eingesetzt werden. So kann er die Batterie optimieren, vielleicht sogar leichter wählen. Damit nicht genug: Durch die Vernetzung bekommt der Gabelstaplerhersteller Daten über die Lagerhaltung. Die kann er anonymisiert auswerten und Unternehmen anbieten, die bisher noch nicht mit ihm zusammengearbeitet haben – etwa Lageroptimierern. Dadurch hätte er ganz nebenbei ein neues Kundenpotenzial erschlossen. Mit herkömmlich agierenden Vertriebsmitarbeitern ist das allerdings nicht zu machen. Dazu braucht es Leute, die den Kunden herausfordern. In den USA sagt man dazu „challenger sales approach“. • Wolfgang Hess Redaktionsdirektor Sonderprojekte der Konradin Mediengruppe 28 Industrieanzeiger 11.18

Wer sich bereits intensiv mit Industrie 4.0 be - schäftigt, ist im Vorteil, wenn die Konjunktur nicht mehr auf Hoch - touren läuft. Bild: PTW/TU Darmstadt Industrie 4.0 im produzierenden Gewerbe Als Ganzes längst nicht umgesetzt Digitalisierung | Für die WGP ist Industrie 4.0 noch lange nicht umgesetzt. Die Produktionstechnikprofessoren mahnen wichtige Schritte an, um die Fertigung in Deutschland zukunftsfähig zu halten. Es sollte ein Weckruf an Politik und Wirtschaft sein: das vor zwei Jahren veröffentlichte „Standpunktpapier I ndustrie 4.0“ der Wissenschaftlichen Gesellschaft Produktionstechnik (WGP), die führende deutsche Professoren dieses Fachgebiets vereint. Zwar habe sich bis heute einiges getan, zieht WGP-Präsident Prof. Dr. Berend Denkena ein erstes Fazit. Doch immer noch würden wichtige Schritte fehlen, um die Produktion in Deutschland zukunftsfähig zu halten. Mittlerweile hätten sich die meisten Unternehmen des produzierenden Gewerbes mit der Digitalisierung auseinandergesetzt, meistens würden jedoch nur einzelne Projekte in Angriff genommen. „Die digitale Transformation als Ganzes ist längst noch nicht umgesetzt. Das liegt daran, dass die alten Geschäftsmodelle, die seit vielen Jahren funktionieren, jetzt in der Sonderkonjunktur weiter sehr gut laufen“, schätzt Prof. Thomas Bauernhansl die Lage ein. „Ist diese Phase aber vorbei, werden diejenigen einen Wettbewerbsvorteil haben, die sich intensiv mit Industrie 4.0 beschäftigt haben“, so der Leiter des Stuttgarter Uni- Instituts IFF und des Fraunhofer IPA. Dass die Politik das Thema Digitalisierung massiv aufgegriffen hat – darin sind sich die Autoren des Standpunktpapiers einig. Die von der WGP-geforderten Living Labs gibt es demnach noch immer nicht. Die Idee war, ganze Fabriken als eine Art reales Labor aufzubauen, um zu verstehen, wie Industrie 4.0 in der Praxis funktioniert. „Es hat sich aber eine sehr gute Projektlandschaft entwickelt und bundesweit sind Zentren entstanden, die Unternehmen bei der Umsetzung von Industrie-4.0-Projekten unterstützen“, sagt Prof. Gunther Reinhart, Institutsleiter des Münchener IWB. So sind in den letzten zwei Jahren bundesweit 22 öffentlich geförderte Mittelstand 4.0-Kompetenzzentren entstanden. Dennoch soll es an grundlegenden Ecken haken. So fehlt es an Infrastruktur und Standards. Vor allem in ländlichen Gebieten hinkt Deutschland bei Mobilfunk und Internet weit hinterher. „Wir sollten Pilotregionen schaffen, wo man Dinge auf höchstem technischem Niveau ausprobieren kann“, regt Bauernhansl an. Benötigt würden förderliche gesetzliche Rahmenbedingungen, etwa beim Datenschutz. Die WGP-Autoren warnen zudem davor, dass „wir in der Entwicklung von Zukunftstechnologien wie dem maschinellen Lernen in starker Konkurrenz zu Google und Co. stehen“, sagt Prof. Jörg Krüger, Institutsleiter des Berliner IWF. „Das heißt, wir benötigen auch aus diesem Grund jetzt dringend einen weiteren Schub und Unterstützung seitens der Politik, um unsere Stärken in der praxisorientierten Umsetzung von Industrie 4.0 mit neuen Technologien weiter ausbauen zu können.“ Denn „die Hochtechnologien finden nur schwer den Weg in den Mittelstand“, moniert Krüger. Auch wären neue Aus- und Weiterbildungskonzepte dringend notwendig, um die rasant fortschreitende Entwicklung in den I+K-Technologien in der Lehre abzubilden. (dk) • Industrieanzeiger 11.18 29

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