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NK 09_2023

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18 TITEL STORY dem

18 TITEL STORY dem laufen mehrere Klagen gegen © Adobe Stock | Camerene Pendl/peopleimages.com Times“ zog der Bericht einen erneuten Fall des Aktienkurses nach sich. Der Konzern befürchtete infolge dessen eine Short-Attacke, also ein vermehrtes Aufkommen von Leerverkäufen. Dabei handelt es sich um ein spekulatives Aktiengeschäft, das zur Profitgenerierung auf sinkende Kurse baut. Um dies zu verhindern, verhängte die BaFin das Verbot und hielt damit schützend die Hand über die Wirecard AG, obwohl die Vorwürfe fingierter Umsätze aus dem Geschäft mit Drittpartnern („Third-Party Acquirer“, kurz TPA) nicht vollständig ausgeräumt werden konnten. Unter anderem unterstellte die „Financial Times“ Wirecard Bereicherung, falsch ausgewiesene Kredite sowie Kreislaufbuchungen zur Vortäuschung des TPA-Geschäfts. Sturz eines Konzernriesen Im Oktober 2019 äußerte sich die „Financial Times“ erneut mit Vorwürfen, woraufhin Wirecard eine Sonderprüfung bei KPMG in Auftrag gab. Währenddessen plante der Konzern im Hintergrund unter dem Decknamen „Projekt Panther“ ab November 2019 eine Übernahme der wesentlich größeren Deutschen Bank, um Lücken in der Bilanz zu vertuschen. Dies jedoch hätte einer weiteren umfassenden Prüfung der Bücher bedurft, weswegen Gespräche mit der Deutschen Bank über eine mögliche Zusammenarbeit ergebnislos zu Ende gingen. Schließlich veröffentlichte KPMG im April 2020 das Ergebnis der Sonderprüfung und bescheinigte der Wirecard AG unzureichende Belege im TPA-Geschäft; die Wirtschaftsprüfer sprachen von einem Untersuchungshemmnis aufgrund mangelnder Kooperationsbereitschaft der Drittpartner. Gegenüber den Anlegern behauptete Braun jedoch in einer Börsenmitteilung, Wirecard sei durch das Ergebnis entlastet und KPMG hätte keine Belege für Bilanzmanipulationen gefunden. Gleichzeitig verschob das Unternehmen die Veröffentlichung des Geschäftsberichts 2019 auf einen undefinierten späteren Zeitpunkt, woraufhin der Aktienkurs erneut einbrach. Zahlreiche Anleger erstatteten Strafanzeige gegen Wirecard; Anfang Juni 2020 folgte die Anzeige der BaFin gegen Braun wegen des Verdachts auf Marktmanipulation. Aus für Wirecard Letztendlich gestand Wirecard am 18. Juni um 10:43 Uhr in einer Ad-hoc- Mitteilung an die Anleger, dass EY für das Jahr 2019 keine ausreichenden Nachweise über die Existenz von Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden Euro ermitteln konnte. Zum ersten Mal in der Zusammenarbeit verweigerte EY das Testat für die Jahresbilanz und setzte einen sogenannten Versagungsvermerk, der erhebliche Mängel und Beanstandungen zur Gesetz- und Ordnungsmäßigkeit des Jahresabschlusses und der Buchführung kennzeichnete. Der Handel mit Wirecard- Aktien wurde ausgesetzt und nur wenige Tage später musste der Konzern einräumen, dass die fehlenden 1,9 Milliarden – ein Viertel der Bilanzsumme – vermutlich nicht existieren. Braun trat von seiner Position zurück und wurde festgenommen, Marsalek erhielt die fristlose Kündigung und setzte sich mutmaßlich nach Russland ab. Momentan befindet sich der ehemalige COO noch immer auf der Flucht. Am 25. Juni 2020 meldete die Wirecard AG aufgrund drohender Zahlungsunfähigkeit Insolvenz an, einen Monat später schied das Unternehmen aus dem DAX aus und mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vor dem Amtsgericht München wurde Rechtsanwalt Michael Jaffé zum Insolvenzverwalter bestellt. Seit November 2021 ist die Wirecard- Aktie nicht mehr an deutschen Börsen handelbar, was bei vielen Anlegern und Investoren zu einem Totalverlust führte. Juristisches Nachspiel Aktuell läuft das Strafverfahren gegen Braun sowie weitere Wirecard- Entscheidungsträger, ebenso das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Wirecard AG sowie das Kapitalanleger-Musterverfahren gegen EY. Zu- die BaFin. Daraus ergeben sich für geschädigte Anleger verschiedene Handlungsoptionen, Ausblicke und Kostenpunkte, um ihre Ansprüche bezüglich des Bilanzskandals rechtlich geltend zu machen. Als ehemaliger Vorsitzender ist Braun der Hauptangeklagte im Strafprozess gegen den Wirecard- Vorstand, der am 8. Dezember 2022 vor dem Landgericht München I eröffnet wurde. Ebenfalls unter Anklage stehen der vormalige Chefbuchhalter des Konzerns, Stefan von Erffa, sowie der Ex-Manager der Wirecard-Tochterfirma Cardsystems Middle East in Dubai, Oliver Bellenhaus. Letzterer fungiert darüber hinaus als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft. Zu den Anklagepunkten gegen Braun, Bellenhaus und von Erffa zählen unter anderem unrichtige Darstellung, Marktmanipulation, Untreue sowie gewerbsmäßiger Bandenbetrug. Dieselben Vorwürfe treffen auch Marsalek, nach dem weiterhin international gefahndet wird. Ominöses Partnergeschäft Im Fokus des Verfahrens gegen den Wirecard-Vorstand steht das sogenannte Drittpartnergeschäft: Wirecard besaß keine eigenen Lizenzen zur Zahlungsabwicklung in Asien und war in diesem Bereich – dem Hauptgeschäftssektor des Unternehmens – auf externe Partner angewiesen. Damit Zahlungen per Kreditkarte funktionieren, müssen die Issuing Bank des Kunden und die Acquiring Bank des Händlers ihre Zahlungsdaten austauschen. Als Payment Service Provider (PSP) stellte Wirecard die technische Anbindung bereit. Im TPA-Geschäft erfolgte die Erbringung der Zahlungsdienstleistung allerdings durch Dritte, Wirecard trat lediglich als Vermittler auf und berechnete dafür Provision. Hauptsächlich wurden so Zahlungen von sogenannten High-Risk-Kunden abgewickelt, beispielsweise Porno- und © Polizei München © Adobe Stock | Joaquin Corbalan 09.2023

TITEL STORY 19 Glücksspielanbieter. Erlöse aus solchen Drittpartnergeschäften sollen entweder als direkte Forderung gegen die TPA-Partner oder auf Treuhandkonten in Singapur verbucht worden sein. Insolvenzverwalter Michael Jaffé konnte anhand entsprechender Kontoauszüge jedoch keine solchen Zahlungen auffinden und vertritt daher die Position, dass es diese Erlöse nie gab. Auch KPMG konnte die betreffenden 1,9 Milliarden im Zuge der Sonderprüfung nicht auffinden. Kronzeuge Bellenhaus stützt diese Befunde durch die Aussage, dass es das Drittpartnergeschäft nie gegeben hätte und Erlöse daraus fingiert seien. Es habe eine systematische Fälschung von Bilanzen und Umsätzen innerhalb des Wirecard-Konzerns stattgefunden und Braun habe davon nicht nur Kenntnis gehabt, sondern diese sogar vorangetrieben. Dieser Darlegung entgegengesetzt steht die Schilderung der Verteidigung Brauns, nach der das Drittpartnergeschäft tatsächlich stattgefunden habe und Braun selbst Opfer der betrügerischen Machenschaften von Bellenhaus und Marsalek geworden sei, die die Gelder angeblich entwendet haben. Lebenszeichen aus dem Exil Kürzlich meldete sich der flüchtige Marsalek in dieser Debatte schriftlich zu Wort: In seinem Brief an das Landgericht München I, den Marsalek nach Angaben seines Anwalts Frank Eckstein diktiert haben soll, äußert sich der ehemalige Asienvorstand ebenfalls zum Drittpartnergeschäft und unterstützt Brauns Schilderung, dass es dieses tatsächlich gab. Zudem stellt er die Vermutung in den Raum, dass Bellenhaus sich an den Umsätzen Wirecards bereichert haben könnte. Dabei verweist er beispielsweise auf eine Liechtensteiner Stiftung in dessen Namen, die im Zuge der Ermittlungen im Bilanzskandal aufgedeckt wurde. Diese soll laut Bellenhaus’ eigener Aussage dazu gedient haben, Beträge in Millionenhöhe zu verstecken, die er von Wirecard für seine kriminellen Aktivitäten bekommen habe. Marsalek ebenso wie Braun beschuldigen den ehemaligen Generalbevollmächtigten, die Gelder unerlaubt aus dem Vermögen des Unternehmens entwendet zu haben. Allerdings enthält das Schreiben auch deutliche Widersprüche zu Aussagen, die Braun im Zuge seiner Vernehmungen getätigt hat. Diese betreffen hauptsächlich die Sonderprüfung der Wirecard-Bilanzen durch KPMG sowie die Haltung der Beschuldigten diesbezüglich. Laut Protokoll der Staatsanwaltschaft berichtete Braun, dass Marsalek sich anfangs gegen die Sonderprüfung ausgesprochen, die Entscheidung darüber aber letztendlich ihm überlassen habe. Bellenhaus sei ebenfalls gegen die Prüfung gewesen, habe sich dazu aber nur sparsam geäußert. In Marsaleks Brief heißt es stattdessen, Bellenhaus habe sich massiv über die Sonderprüfung beschwert und sei von Braun und Marsalek nicht von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen gewesen. Der Wahrheitsgehalt des Briefes gilt generell als fraglich und wird vornehmlich als Ablenkungsmanöver und Attacke auf den Kronzeugen gewertet. Für geschädigte Aktionäre und weitere Gläubiger der Wirecard AG könnte sich Marsaleks Wortmeldung jedoch insofern als interessant erweisen, als sich daraus eventuell Hinweise auf den Verbleib der fehlenden Gelder ergeben. Verwaltungs- und verfügungsbefugt darüber wäre der Insolvenzverwalter Michael Jaffé, der allerdings zu dem Ergebnis kam, dass es dieses Geld nie gegeben hat. Möglicherweise bleibt es jedoch nicht bei diesem einen Schreiben Marsaleks an das zuständige Gericht. In seinem Brief kündigt der ehemalige COO an, sich zu einem späteren Zeitpunkt gegebenenfalls mit ergänzenden Stellungn a h m e n zu melden. Es bleibt daher weiter spannend, wie sich das Strafverfahren unter anderem gegen Braun in Zukunft weiterentwickeln und welche Beweismittel das Gericht noch erhalten wird. Vorgehen gegen EY Auch die langjährigen Wirtschaftsprüfer von Wirecard, die Ernst & Young GmbH Deutschland, treffen seitens der im Bilanzskandal Geschädigten Vorwürfe: EY habe nicht rechtzeitig gehandelt und dadurch eine Mitschuld an den erheblichen Verlusten der Anleger auf sich geladen. „Daraus ergibt sich für bestimmte Aktionäre und sonstige Gläubiger ein Schadensersatzanspruch gegenüber EY“, lautet die Einschätzung von Martin Kühler, Rechtsanwalt bei der Tübinger Kanzlei TILP. „Um diesen durchzusetzen, hat unsere Kanzlei bereits am 30. Juni 2020 die Einleitung eines Musterverfahrens nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz vor dem Landgericht München I beantragt.“ Im März 2022 konnte TILP mit dem Vorlagebeschluss Az. 3 OH 2767/22 KapMuG schließlich die Eröffnung des Musterverfahrens gegen EY durch das Bayerische Oberlandesgericht (OLG) München erwirken. Zu den Feststellungszielen des Beschlusses zählen unter anderem folgende Punkte: Für die Jahre 2014 bis 2018 haben die von EY geprüften Geschäftsberichte die Verhältnisse der Wirecard AG falsch wiedergegeben, zudem war deren Unrichtigkeit zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bei der Wirecard AG bekannt und beruhte auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit. Mit dem Beschluss Az. 101 Kap 1/22 vom 13. März 2023 bestimmte das OLG München im Kapitalanleger-Musterverfahren gegen EY den Privatanleger Kurt Ebert zum Musterkläger. Damit beginnt knapp drei Jahre nach Bekanntwerden des Bilanzskandals um die Wirecard AG die juristische Aufarbeitung. „Für Geschädigte besteht noch bis zum 18. September 2023 die Möglichkeit, ihre Ansprüche über einen Rechtsanwalt zum Musterverfahren verjährungshemmend anzumelden“, weiß Martin Kühler. Der Vorteil des Musterverfahrens beläuft sich darauf, dass gleichgerichtete Individualklagen bis zum Prozessende ausgesetzt werden und dadurch keine laufenden Kosten entstehen, zudem ist für die Anmeldung keine separate Klage notwendig. Auf diese Art geltend gemachte Ansprüche sind bis drei Monate nach Abschluss des Musterverfahrens in ihrer Verjährung gehemmt, sodass es Geschädigten freisteht, erst danach eine Individualklage einzureichen. Ohne Anmeldung zum Musterverfahren oder Einreichen einer Klage drohen die Ansprüche geschädigter Anleger im Wirecard-Skandal jedoch mit Ablauf des 31. Dezembers 2023 zu verjähren. © Wikipedia | Leo Molatore

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