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Schlossblick

Prospekt

WIRTSCHAFT & FINANZEN

WIRTSCHAFT & FINANZEN Weltweit steigt der Ressourcenverbrauch, da ist Deutschland keine Ausnahme. Gleichzeitig landen viele noch intakte und brauchbare Güter auf dem Müll. Doch es geht auch anders, wie zwei Beispiele zeigen. DAS ZWEITE LEBEN DER DINGE 1 2 3 Wer die Kellerwerkstatt in Holger Zengerles Haus in Hermaringen betritt, wird sich verwundert die Augen reiben: In dem kleinen Raum liegt seit drei Jahren quer ein strahlend blaues Segelboot im Trockendock. Zengerle war 2020 auf der Suche nach einem Boot für seine Söhne. Von einem Bekannten hat er den Tipp bekommen, dass bei einem Verein am Bodensee seit mehreren Jahren ungenutzt eine Jolle herumliegen würde, an der zwar bereits der Zahn der Zeit zu nagen begonnen habe, für die eine Rettung aber noch nicht zu spät kommen würde. Zengerle weiß, wie so etwas geht, er ist professioneller „Bootsaufbereiter“. Seit einigen Jahren verdient er sein Geld damit, die Boote anderer auf Hochglanz zu polieren oder kleinere Reparaturen durchzuführen. Anfänglich nur im Nebenjob, als er noch im Internetmarketing tätig war. Irgendwann wurden die Auftraggeber aber immer zahlreicher und seit Ende 2019 arbeitet er hauptberuflich in der eigenen Firma. Die Liebe zu Booten hat er von seinen Eltern vermittelt bekommen, mit ihnen verbrachte er „seit ich denken kann jedes Wochenende auf dem Bodensee“. Zudem hat er mit auf den Weg bekommen, „dass man das Zeug, was man hat, pflegt. Und als ich dann später so in die Häfen hineingefahren [1] Gerade mal so passt das Boot in den Kellereingang von Holger Zengerle. [2/3] Ebenso eng geht es in der Werkstatt von Klaus Feth zu mit allerlei elektronischen Geräten und Dutzenden alter Röhrenradios. bin, habe ich mir gedacht: Dieses Boot dort könnte man auch einmal ein bisschen sauber machen oder jenes ein bisschen aufpolieren.“ Der Name des Segelbootes steht noch nicht fest, „Blaubär“ ist aber in der engeren Auswahl Bei der Jolle für seine Söhne war allerdings ein bisschen mehr Aufwand gefragt, als einfach nur einen Rumpf auf Hochglanz zu polieren. Es galt Löcher zu flicken, Fehlstellen zu spachteln und Risse in den Oberflächen zu glätten. Außerdem waren der Längspant für die Beschläge des Großsegels, die Schotführung und die Fußgurte gebrochen. Der Stapellauf des kleinen Segelboots rückt jetzt näher, „diesen Sommer soll es schwimmen“, so Holger Zengerle. Und das, nachdem es eigentlich schon dem Untergang geweiht war, „wahrscheinlich wäre es irgendwann in den Schredder gekommen“, sagt er und ergänzt: „Schauen wir mal, ob meine Söhne dann ihren Spaß daran haben.“ Etwa 1300 Meter Luftlinie nordwärts von Holger Zengerles „Trockendock“ liegt die Werkstatt von Klaus Feth. Betritt man dessen Räume, wähnt man sich in einer Mischung aus Labor und Technikmuseum: Dutzende alter Röhrenradios und Türme aus elektronischen Geräten mit allerlei bunten Leuchten 8 SCHLOSSBLICK 2 / 23

WIRTSCHAFT & FINANZEN und kleinen Knöpfen. Dazwischen Regale und Kisten voll mit allem, was die Radiotechnik des letzten Jahrhunderts sich so ausgedacht hat. Inmitten dieser Schätze sitzen Klaus Feth und sein Kollege Thomas Mack und retten, was zu retten ist. Fragt man Feth, warum sein Herz an diesen alten Dingen hängt und was ihn an der heutigen Wegwerfkultur so stört, verweist er auf seine Herkunft. „Ich komme aus einer Flüchtlingsfamilie, es war kein Geld da.“ In seiner Kindheit in den Fünfzigern hat er neben einer Mülldeponie gewohnt, für ihn Abenteuerspielplatz und Fundgrube in einem. „Meine größte Freude war, als ich einen Muldenkipper gefunden habe. Bei dem war aber die Lenkung gebrochen.“ Mit einem Lötkolben hat er das Spielzeugauto damals wieder repariert. Mundpropaganda reicht: Die Qualität von Feths Arbeit ist so gut, dass er auf Werbung verzichten kann Feth hat sich alles, was er für seinen Job braucht, selbst beigebracht. Anfang der Siebzigerjahre begann er, aus seiner Liebe zur Musik seine Berufung zu formen. „Musik hören, Lautsprecher und Elektronik“ waren seine Hobbys als Jugendlicher. Angefangen hat Feth aber nicht mit lebensverlängernden Viel zu schade zum Entsorgen Maßnahmen an alten Röhrenradios, sondern mit dem Bau von selbstentwickelten Lautsprechern, das war 1980. Sein allererstes Paar sollte eigentlich nur für ihn selbst sein, wurde ihm aber sofort begeistert aus den Händen gerissen. „Wir waren bekannt in der Szene, jeder hat Boxen gebraucht.“ Das Geschäft kam ins Rollen. Jetzt bringen ihm die Kunden ihre Boxen und bitten: „Mach was, ich kann die nicht anhören.“ Klaus Feth leistet also „lebenserhaltende“ Maßnahmen. Und den Röhrenradios haucht er nicht nur neues Leben ein, er tauscht beispielsweise auch alle nicht keramischen Kondensatoren aus, „weil die immer Probleme machen“. Was den Vorteil hat, dass bei entsprechender Sorgfalt das zweite Leben der satt klingenden und warm glimmenden Kisten länger dauern kann als das erste. An der alten Radiotechnik schätzt er deren Klang, er sei „ehrlicher“. Ein Wesenszug, den er auch für sein Geschäft zum Credo gemacht hat. „Das macht riesigen Spaß. Du machst die Leute glücklich.“ rr Auch der Kreisabfallwirtschaftsbetrieb Heidenheim beteiligt sich daran, aus dem anfallenden Müll das zu bergen, was noch immer benutzbar ist und viel zu schade zum Entsorgen wäre. So übergibt man pro Jahr circa 500 Fahrräder, die im Entsorgungszentrum in Mergelstetten abgegeben werden, der AWO. „Die richten an den Fahrrädern, was zu richten ist. Nur das, was nicht zu reparieren ist, geht dann bei uns in den Schrott“, erläutert Bärbel Hörger, bei der Abfallwirtschaft für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Das zweite Leben haucht diesen Fahrrädern der Leiter der AWO-Fahrradwerkstatt „Rückenwind“ Bernd Görlach mit seinem Team ein. Verkauft werden die Räder dann preisgünstig im „Markt für Gebrauchtes“. Außerdem steht direkt hinter dem Eingang des Entsorgungszentrums in Mergelstetten eine ehemalige Telefonzelle, die in einen Tauschmarkt für gebrauchte Bücher, Spielzeug, Dekorationsartikel oder Geschirr umgewandelt wurde. Im Wertstoffzentrum in der Griesstraße hat man zusätzlich ein sogenanntes „Schenkregal“ für solche Kleinwaren errichtet. Und auf seiner Homepage bietet der Kreisabfallwirtschaftsbetrieb unter „Gebrauchtbörse“ eine kostenlose Möglichkeit an, nicht mehr Benötigtes wie Haushaltsgeräte oder Möbel zu verschenken, statt einfach auf den Müll zu werfen. Es können aber auch Gesuche eingestellt werden. SCHLOSSBLICK 2 / 23 9