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Seite 2 Thema des Tages<br />
Freitag, 20. Oktober 2<strong>01</strong>7<br />
Alte Zahlen, neuer Alarm: Schon<br />
wieder sterben die Insekten aus<br />
VonAnja Garms<br />
und Jürgen Mladek<br />
KREFELD. Bereits vor über<br />
zwei Jahren konnte man<br />
die furchteinflößende Zahl<br />
lesen: Um über 80 Prozent<br />
sollen die Insektenbestände<br />
zurückgegangen sein, behauptete<br />
der Naturschutzbund<br />
(Nabu). Damals ging<br />
es allerdings nur um Nordrhein-Westfalen.<br />
Eine neue<br />
Alarmwelle mit den gleichen<br />
Zahlen gab es dann 2<strong>01</strong>6 und<br />
dann wieder Anfang 2<strong>01</strong>7,<br />
diesmal setzten die Grünen<br />
die Zahl in die Welt. Immer<br />
noch ging es nur um Nordrhein-Westfalen.<br />
Im Sommer<br />
2<strong>01</strong>7, als ganz Berlin unter<br />
einer entsetzlichen Fliegenplage<br />
stöhnte, konnte man<br />
dann wieder lesen, die Insektenbestände<br />
seien in den<br />
vergangenen Jahrzehnten um<br />
80 Prozent zurückgegangen.<br />
Nun sei sogar ganz Deutschland<br />
betroffen. Quelle all<br />
dieser Meldungen: Die Arbeit<br />
von 50 wackeren ehrenamtlichen<br />
Vereinsmitgliedern<br />
einer Vereinigung in Krefeld,<br />
die sich um die Erforschung<br />
der Insekten kümmern und<br />
über Jahrzehnte Zählungen<br />
durchführten.<br />
Gestern dann abermals<br />
ein großes Summen und<br />
Brummen in den deutschen<br />
Medien: Und wieder die sattsam<br />
bekannten 80 Prozent!<br />
Nun allerdings ging die Meldung<br />
nicht mehr auf Krefeld<br />
zurück, sondern auf „internationale<br />
Wissenschaftler“.<br />
Die hatten sich die Krefelder<br />
Zahlen angeschaut und veröffentlicht,<br />
dass der festgestellte<br />
Rückgang plausibel<br />
sei. Die Ergebnisse dieser<br />
Untersuchung wurden im<br />
Fachmagazin „Plos One“ veröffentlicht.<br />
Caspar Hallmann von der<br />
Radboud University in Nijmegen<br />
(Niederlande) und seine<br />
Mitarbeiter hatten Daten ausgewertet,<br />
die seit 1989 vom<br />
Entomologischen Verein<br />
Aufgeregtes Gesumme gab es gestern in vielen Medien über eine „Studie“, wonach es unseren<br />
Insekten jetzt endgültig an den Kragen geht: Nur: Die Zahlen sind alt. Und umstritten.<br />
Krefeld gesammelt worden<br />
waren, also von ehrenamtlichen<br />
Insektenkundlern.<br />
Diese hatten in insgesamt<br />
63 Naturschutz-Reservaten<br />
hauptsächlich in Nordrhein-<br />
Westfalen, Rheinland-Pfalz<br />
und in Brandenburg mit Hilfe<br />
von Fallen Fluginsekten<br />
gesammelt und deren Masse<br />
bestimmt. Welche Arten in<br />
NEUBRANDENBURG. „In<br />
Deutschland verschwinden<br />
die Insekten“, „Warum sterben<br />
unsere Insekten?“: So<br />
und ähnlich lauten die Überschriften<br />
zu der aktuellen<br />
Studie, die sich mit einem<br />
möglichen Rückgang der<br />
Tiere befasst.<br />
Grundlage dieser Studie<br />
sind Daten, die nicht von<br />
einer öffentlich finanzierten<br />
Forschungseinrichtung,<br />
sondern von ehrenamtlichen<br />
Insektenkundlern erhoben<br />
worden sind. Dass die Ehrenamtler<br />
bei ihrer Arbeit wissenschaftlich<br />
korrekt vorgegangen<br />
sind, wird von den<br />
Forschern jetzt bestätigt.<br />
Universitäten haben<br />
dafür zu wenig Geld<br />
Doch stellt sich die Frage,<br />
warum bei einem so wichtigen<br />
Thema nicht auch von<br />
ausgewiesenen Experten<br />
systematisch und über lange<br />
Zeit Daten erhoben werden.<br />
„Es ist das erste Mal, dass ein<br />
Datensatz dieser Qualität erhoben<br />
worden ist“, sagt etwa<br />
Wolfgang Wägele, Direktor<br />
des Zoologischen Forschungsmuseums<br />
Alexander Koenig<br />
in Bonn der Süddeutschen<br />
Zeitung. Bereits im Sommer<br />
erklärte er: „So ein Projekt –<br />
das kann sich einfach keine<br />
Universität finanziell erlauben.“<br />
Beschämend bei einem<br />
so wichtigen Thema. Da verwundert<br />
es wenig, dass es<br />
auch Wissenschaftler gibt,<br />
die Kritik an der Methodik<br />
der Studie äußern. Man habe<br />
Datenlücken mit statistischen<br />
Modellen ausgleichen<br />
müssen, was zu Unsicherheiten<br />
führe, befindet beispielsweise<br />
Alexandra-Maria Klein<br />
von der Albert-Ludwigs-Universität<br />
Freiburg im Gespräch<br />
mit dem Spiegel.<br />
Die Autoren der Studie<br />
weisen ausdrücklich darauf<br />
hin, dass an 59 Prozent der<br />
den Fallen landeten, untersuchten<br />
die Forscher nicht.<br />
Sie verglichen dann, wie<br />
sich in einzelnen Lebensräumen<br />
– etwa in Heidelandschaften,<br />
Graslandschaften<br />
oder auf Brachflächen – die<br />
Biomasse über die Zeit verändert<br />
hatte. Insgesamt<br />
landeten 53,54 Kilogramm<br />
wirbellose Tiere in den Fallen<br />
– Millionen Insekten. Die<br />
Auswertung zeigte, dass der<br />
Verlust in der Mitte des Sommers<br />
– wenn am meisten Insekten<br />
herumfliegen – in den<br />
untersuchten Gebieten am<br />
größten war: knapp 82 Prozent.<br />
„Ein Schwund wurde<br />
bereits lange vermutet, aber<br />
er ist noch größer als bisher<br />
angenommen“, sagte Erstautor<br />
Hallmann zu diesen<br />
Beobachtungen.<br />
Landwirtschaft wird<br />
pauschal verurteilt<br />
Auf der Suche nach möglichen<br />
Gründen für den Insektenschwund<br />
untersuchten die<br />
Wissenschaftler etwa den Einfluss<br />
von Klimafaktoren, der<br />
landwirtschaftlichen Nutzung<br />
Fangstationen nur in einem<br />
Jahr Erhebungen vorgenommen<br />
worden sind. Daher seien<br />
die Daten „nicht geeignet,<br />
lokalspezifische Trends abzuleiten“.<br />
Kurz darauf heißt es,<br />
dass unter Beachtung einer<br />
wissenschaftlichen Vorgehensweise<br />
doch ein Trend<br />
abgeleitet werden könne,<br />
und zwar allgemein für die<br />
Art von Schutzgebieten, in<br />
denen sich die Fangstationen<br />
befinden. Das soll gehen,<br />
wenn man nicht einmal<br />
lokale Aussagen treffen<br />
kann? Wen die Aussagen der<br />
Studie an dieser Stelle noch<br />
nicht vollkommen verwirrt<br />
haben, dem sei ein Blick auf<br />
die Einleitung empfohlen. Da<br />
heißt es: „Wir zeigen auf, dass<br />
der Rückgang wahrnehmbar<br />
ist, unabhängig vom<br />
Lebensraum.“ Jetzt gelten die<br />
Daten also auf einmal für Alles!<br />
Klingt nach schwieriger<br />
Zahlen-Jonglage.<br />
Obwohl die Autoren der<br />
Studie auch betonen, dass<br />
eine Analyse zu möglichen<br />
Ursachen des Insektensterbens<br />
keine eindeutigen Ergebnisse<br />
erbracht hat, schiebt<br />
der Nabu trotzdem den Landwirten<br />
reflexhaft die Hauptschuld<br />
zu. Die Wahrscheinlichkeit<br />
für den Einfluss<br />
der Landwirtschaft sei sehr<br />
groß, denn: „Bei den Untersuchungsflächen<br />
weisen 90<br />
Prozent der Standorte im Umfeld<br />
intensive Landwirtschaft<br />
auf.“ Thomas Kiesel, Chef des<br />
und bestimmter Lebensraumfaktoren.<br />
Die Analyse brachte<br />
jedoch keine eindeutige Erklärung<br />
für den beobachteten<br />
Rückgang.<br />
Vermutlich spiele die intensivierte<br />
Landwirtschaft samt<br />
dem Einsatz von Pestiziden<br />
und Düngemitteln sowie der<br />
ganzjährigen Bewirtschaftung<br />
eine Rolle, erklären die<br />
Forscher. Untersucht haben<br />
sie dies aber nicht. Die Intensivierung<br />
der Landwirtschaft<br />
sei allerdings eine plausible<br />
Ursache für den Rückgang,<br />
sagt auch Teja Tscharntke, Agrarökologe<br />
an der Georg-August-Universität<br />
Göttingen. Zu<br />
den Faktoren gehörten unter<br />
anderem große Felder, nur wenige<br />
schmale Feldränder und<br />
wenige Hecken und Gehölze.<br />
Der deutsche Bauernverband<br />
pocht auf weitere<br />
Untersuchungen. „In Anbetracht<br />
der Tatsache, dass die<br />
Erfassung der Insekten ausschließlich<br />
in Schutzgebieten<br />
stattfand, verbieten sich voreilige<br />
Schlüsse in Richtung<br />
Landwirtschaft“, sagte Generalsekretär<br />
Bernhard Krüsken.<br />
„Die neue Studie bestätigt und<br />
betont ausdrücklich, dass es<br />
noch dringenden Forschungsbedarf<br />
zum Umfang und den<br />
Ursachen des dargestellten Insektenrückgangs<br />
gibt.“<br />
Auch das Klima könne als<br />
wichtiger Faktor nicht ausgeschlossen<br />
werden, sagt Josef<br />
Settele vom Helmholtz-Zentrum<br />
für Umweltforschung<br />
(UFZ) in Halle. Was immer<br />
die Gründe für den Insektenschwund<br />
sind – sie hätten<br />
einen weit verheerenderen<br />
Effekt als bisher erkannt, fassen<br />
die Autoren der aktuellen<br />
Studie zusammen.<br />
Einig waren sich die mit<br />
der Studie befassten Personen,<br />
dass die Folgen und das geografische<br />
Ausmaß dringend<br />
genauer erforscht werden<br />
müssen.<br />
Kontakt zu den Autoren<br />
j.mladek@nordkurier.de<br />
Mit schnellen Schuldzuweisungen löst man keine Probleme<br />
Von Lutz Reuter<br />
Analyse<br />
Bei der Art und Weise, mit<br />
der Studien-Ergebnisse<br />
mitunter gedeutet werden,<br />
kann schnell der Eindruck<br />
entstehen, dass unser aller<br />
Ende nahe ist. Die bösen<br />
Landwirte stehen bereits<br />
auch schon als Verursacher<br />
fest. In diesen Chor der<br />
Anschuldigungen stimmen<br />
allerdings nicht alle<br />
Wissenschaftler ein.<br />
Hummeln tragen als wichtiger Teil des Ökosystems Blütenstaub von einer Pflanze zur anderen.<br />
Der Entomologische Verein Krefeld stellte eine Reihe Insektenfallen<br />
für ihre Untersuchung auf. FOTOS (2): ENTOMOLOGISCHER VEREIN KREFELD<br />
FOTO: © KIRILL GORLOV - FOTOLIA.COM<br />
Der Insektenforscher Heinz Schwan bestimmte die Biomasse von<br />
den kiloweise gefangenen Insekten.<br />
Eine Verbesserung ist Experten zufolge nur mit den Landwirten<br />
gemeinsam möglich.<br />
FOTO: © WOLFGANG JARGSTORFF - FOTOLIA.COM<br />
Bauernbundes Brandenburg,<br />
erklärt dagegen: „Die einzigen<br />
landwirtschaftlichen Kulturen,<br />
auf denen aus gutem<br />
Grund in nennenswertem<br />
Umfang Insektenbekämpfungsmittel<br />
ausgebracht<br />
werden, sind Raps und Kartoffeln,<br />
diese machen nicht<br />
einmal fünf Prozent der Fläche<br />
in Deutschland aus.“<br />
Thomas Schmitt, Direktor<br />
am Senckenberg Deutsches<br />
Entomologischen Institut<br />
in Müncheberg (Märkisch-<br />
Oderland) stellt diese Aussage<br />
des Bauernbundes zwar<br />
infrage. Offenbar ist es aus<br />
seiner Sicht aber auch nicht<br />
hilfreich, wie etwa der Nabu<br />
mit diesem Thema an die<br />
Öffentlichkeit geht. „Dieses<br />
Landwirte-Bashing ist billig“,<br />
sagt er. Es gehe darum, einen<br />
tragfähigen Kompromiss zu<br />
finden und das ginge nur<br />
in Zusammenarbeit mit den<br />
Landwirten.<br />
Kontakt zum Autor<br />
l.reuter@nordkurier.de<br />
TZ PZ PAZ HZ MZ SZS AZ AZD DZ MST MSM NBN NBS