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Buch Doppelseiten

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Deep<br />

in<br />

the<br />

Woods


Inhalt<br />

Die zwei Brüder 3<br />

Die entzürnten Elfen 6<br />

Baba Yaga 9<br />

Der Krampus 13<br />

Die Nixe Hechta 16<br />

Das Auge des Trolls 19<br />

Das Werwolfsfell 22<br />

Baobhan- Sith 25


Die zwei Brüder


E<br />

s ist viele Jahre her, Krakau war noch die Hauptstadt Polens.<br />

Die Burg auf dem Berg Wawel in Krakau wurde vom König<br />

und Stadtgründer Krak und seiner Tochter Wanda bewohnt.<br />

Der König und seine Tochter waren sehr beliebt ob ihrer Gutherzigkeit<br />

und Wanda besonders ob ihrer Lieblichkeit. Alle<br />

lebten in Frieden und die Stadt stand in voller Blüte. Auch der tüchtige<br />

und fleißige Lehrling Dratewka, der Sohn eines Schuhmachers, lebte in<br />

der schönen Stadt.<br />

Doch eines Tages zog ein Drache in eine Höhle unter dem Berg Wawel<br />

ein. Mit seinen drei Köpfen und den vielen hässlichen Schuppen auf<br />

seinem ganzen Körper machte er den Menschen Angst. Doch noch viel<br />

schlimmer war, dass er die Menschen tyrannisierte. Er ermorderte unschuldige<br />

Bürger, stahl das Vieh und plünderte Hab und Gut. Und wenn<br />

er wütend war, tobte er: Dann bebte der ganze Berg mit dem Schloss<br />

obenauf und er spie Feuer und Rauch. Niemand wollte, dass er wütend<br />

wurde. Er wurde nur dann nicht wütend, wenn die Bewohner der Stadt<br />

täglich ein Schaf vor seine Höhle legten. Außerdem musste einmal im<br />

Jahr ein junges Mädchen geopfert werden. Da das so auf Dauer nicht<br />

weitergehen konnte, versuchten sich zahlreiche tapfere Männer aus der<br />

Stadt im Kampf gegen den Drachen. Niemand aber konnte ihn töten<br />

oder vertreiben. Die Ältesten der Stadt überlegten lange und zerbrachen<br />

sich die Köpfe, wie sie den Drachen loswerden könnten, doch ihnen viel<br />

nichts ein. Es kam der Tag, an dem kein junges Mädchen mehr in Krakau<br />

war. Nur die Prinzessin Wanda war noch da. Und der Tag, an dem der<br />

Drache sein jährliches junges Mädchen erwartete, rückte immer näher.<br />

Es war klar: Würde Wanda nicht geopfert, würde der Drache vor Wut die<br />

ganze Stadt in Schutt und Asche legen. Um seine Tochter doch noch zu<br />

retten, ließ der König im ganzen Land nach einem tapferen Ritter suchen,<br />

der den Drachen besiegen könne. Er versprach demjenigen, der ihn töten<br />

würde, die Hand seiner Tochter Wanda. Viele Ritter kamen und kämpften,<br />

doch alle blieben erfolglos. Die meisten von ihnen wurden von dem<br />

schon sehr wütenden Drachen getötet. In ganz Krakau herrschte große<br />

Trauer und es bestand keine Hoffnung mehr. Der Schuhmacherlehrling<br />

Dratewka ging in dieser Situation zur Audienz beim König und bat um


Erlaubnis, auch gegen den Drachen antreten zu können. Der König hörte<br />

ihn an und erlaubte ihm, in Sorge um seine Tochter, zu dem Drachen zu<br />

ziehen. Dratewka ging zum Metzger und fragte diesen um ein Schafsfell.<br />

Er sammelte Schwefel, Pech, Salz und Pfeffer und füllte dieses alles in das<br />

Schafsfell, welches er am Ende dicht so zusammennähte, dass es wieder<br />

wie ein Schaf aussah. Dieses legte er in der Nacht vor die Höhle des<br />

Löwen. Der Drache fraß das Schaf am kommenden Morgen, hungrig wie<br />

er war, sofort auf. Er verspürte gleich danach ein unglaubliches Brennen<br />

im Magen und suchte Wasser zum Trinken. Die Weichsel war nicht weit,<br />

und sein Durst war so stark, dass er fast die gesamte Weichsel leer trank –<br />

man konnte den Grund des Flusses sehen. Als er sich vollgetrunken hatte,<br />

platzte er mit einem großen Knall. Über diesen gelungenen Trick und<br />

den Tod des bösen Drachens herrschte große Freude in der ganzen Stadt<br />

Krakau. Dratewka heiratete Wanda, und sie lebten bis an ihr Lebensende<br />

glücklich und zufrieden.


Die entzürnten<br />

Elfen


Wer nicht beständig in Furcht vor den Geistern lebt, der thut<br />

wohl, gewißlich haben sie dann weniger Gewalt über den<br />

Menschen; wer aber gar keine Rücksicht auf sie nimmt oder<br />

gar nicht an sie glaubt, der handelt sehr unklug, sey es Mann,<br />

Weib oder Kind.<br />

Es heißt mit Recht: »an guten Sitten trägt keiner schwer,« oder: »Artigkeit<br />

kostet kein Geld,« und doch gibt es Menschen, die so verstockt sind, daß<br />

sie sich einer Artigkeit schämen. Diese sollten sich an Caroll O‘Daly ein<br />

Beispiel nehmen. Das war ein junger Bursche aus Connaught, groß und<br />

stark gewachsen und in seiner Heimath gewöhnlich Teufel Daly genannt.<br />

Er pflegte von einem Orte zum andern zu ziehen ohne daß irgend eine<br />

Furcht ihn zurückhielt. Er gieng zu jeder Stunde der Nacht über einen<br />

verfallenen Kirchhof oder sonst einen Platz, wo die Elfen gerne hausten.<br />

Auch trat er aus einer Wohnung in die andere ohne das Zeichen des<br />

Kreuzes zu machen oder Glück auf! zu sagen.<br />

Es begab sich, daß er einmal in der Grafschaft Limerick umherzog und<br />

sich auf dem Weg nach der ehrwürdigen Stadt Kilmallock befand. Gerade<br />

am Fuße von Knockfierna erreichte er einen Mann von würdigem<br />

Ansehen, der auf einem weißen Pferdchen dahintrabte. Die Nacht war<br />

herangekommen und nachdem sie sich gegenseitig mit Artigkeit gegrüßt<br />

hatten ritten sie eine Zeit lang nebeneinander her, ohne viel Worte<br />

zu wechseln. Endlich fragte Caroll O‘Daly seinen Gefährten, wie weit er<br />

noch reite?[21]<br />

»Nicht lange mehr euern Weg«, antwortete der Pachter, von dem er das<br />

Aussehen hatte, »ich will bloß auf die Spitze dieses Berges.«<br />

»Und was treibt Euch in der Nachtzeit dahin?« fragte O‘Daly.<br />

»Wenn Ihrs doch wissen wollt«, antwortete der Pachter, »das stille Volk.«<br />

»Die Elfen meint Ihr?« rief O‘Daly.<br />

»Redet leise!« sagte der andere, »oder es könnte Euch übel bekommen.«<br />

Mit diesen Worten wendete er sein Pferdchen seitwärts nach einem<br />

schmalen Pfad, der den Berg hinauf führte, indem er dem Caroll gute<br />

Nacht und glückliche Reise anwünschte.<br />

»Der Gesell«, dachte Caroll, »hat nichts gutes vor in dieser lieben Nacht<br />

und ich wollte darauf schwören, es treibt ihn zu dieser Stunde etwas ganz<br />

anderes auf den Berg, als die Elfen oder das stille Volk!«


»Die Elfen!« wiederholte er, »sollte ein vernünftiger Mensch den kleinen<br />

Rothkäppchen nachlaufen? einige behaupten wohl, daß es solche<br />

Geschöpfe gibt, andere leugnen es. So viel weiß ich aber, daß mich kein<br />

Dutzend davon erschrecken sollte, ja keine zwei Dutzend, wenn sie nicht<br />

größer sind, als ich sagen höre.«<br />

Während diese Gedanken ihm durch den Kopf giengen, richtete er seine<br />

Augen beständig auf den Berg, hinter welchem der Vollmond in aller<br />

Pracht aufstieg. Er bemerkte auf einer Erhöhung gerade vor der Mondscheibe<br />

die schwarze Gestalt eines Mannes, der ein Pferd leitete und<br />

zweifelte nicht, daß dies derselbe Mann sey, mit dem er des Weges gekommen<br />

war.<br />

Der Entschluß ihm zu folgen fuhr blitzschnell durch seine Seele; Muth<br />

und Neugierde zusammen hatten jede Bedenklichkeit verscheucht. Ein<br />

Lied vor sich hin brummend stieg er ab, band sein Pferd an einen alten<br />

Dornstamm und stieg unerschrocken den Berg hinan. Er folgte dem Pfade<br />

in der Richtung, die der Mann mit dem Pferdchen genommen hatte;<br />

dann und wann erblickte er ihn wieder und nahm ihn zu seinem Ziel.<br />

Beinahe drei Stunden lang stieg er mühsam auf dem rauhen und manchmal<br />

sumpfigen Pfad, bis er endlich zu einem grünen Rasen auf der Spitze<br />

des Berges gelangte, wo er das Pferdchen in aller Freiheit und Ruhe[22]<br />

grasen sah. O‘Daly schaute sich rings nach dem Reiter um, er war nirgends<br />

zu sehen. Bald aber entdeckte er in der Nähe des Pferdchens eine<br />

Oeffnung in dem Berg, gleich der Mündung eines tiefen Schachts, und<br />

erinnerte sich in seiner Kindheit manche Erzählung von der schwarzen<br />

Höhle des Bergs Knockfierna gehört zu haben: sie sey der Eingang zu der<br />

Wohnung, welche das stille Volk mitten im Berge inne habe und einmal<br />

sey ein Mann, Namens Ahern, Landmesser in diesem Theil der Grafschaft,<br />

welcher mit einer Schnur versucht habe, die Tiefe der Höhlung zu<br />

ergründen, an eben dieser Schnur hinabgezogen worden, ohne daß man<br />

je wieder etwas von ihm gehört habe: und manches andere dieser Art.<br />

»Das sind alte Weibergeschichten!« dachte O‘Daly, »und da ich den weiten<br />

Weg gemacht habe, so will ich an die Hausthüre klopfen und sehen,<br />

ob die Geister daheim sind.«<br />

Und ohne sich weiter zu bedenken, faßte er einen gewaltigen Stein, so


dick, ja so dick, als seine beiden Hände, und schleuderte ihn mit aller<br />

Kraft in die Oeffnung. Er hörte, wie er hinabsprang und von einem Felsen<br />

zum andern mit gewaltigem Getöse abprallte; er bog sein Gesicht vor,<br />

um zu vernehmen, ob der Stein auf dem Grund niederfiele. Aber derselbe<br />

Stein, den er hinabgeworfen hatte, kam mit nicht geringerer Gewalt, als<br />

er hinunter gesprungen war, wieder zurück und gab ihm einen solchen<br />

Schlag ins Gesicht, daß er über Hals und Kopf von einer Klippe zur andern<br />

taumelnd, den Berg hinabrollte, viel schneller, als er hinaufgestiegen<br />

war.<br />

Am folgenden Morgen fand man Caroll O‘Daly neben seinem Pferde liegend,<br />

seine Haut war geschunden und zerrissen, die Augen geschlossen<br />

und die eingedrückte Nase entstellte ihn auf sein Lebtag.


Baba Yaga


E<br />

s lebte einmal ein Mann mit seiner Frau. Sie hatten eine<br />

Tochter. Eines Tages wurde die Frau unerwartet krank und<br />

verstarb kurz darauf. Nach einer Weile heiratete der Mann<br />

wieder. Nur war die zweite Frau ein böses Weib. Von Anfang<br />

an hat sie ihre Stieftochter nicht geliebt, hat sie gescholten<br />

und geprügelt. Mit allen Mitteln wollte sie das Mädchen loswerden. Eines<br />

Tages fuhr der Mann aus dem Haus. Die Stiefmutter sprach zu dem Mädchen:<br />

„Geh zu meiner Schwester, bitte sie darum, mir Nadel und Zwirn zu geben,<br />

um dir ein Kleid zu nähen“.<br />

Ihre Schwester war aber Baba-Jaga, die grausige Hexe. Doch konnte das<br />

Mädchen nicht widersprechen und ging aus dem Haus. Unterwegs kehrte<br />

sie bei ihrer Tante ein.<br />

„Guten Tag, liebe Tante“. „Grüße dich! Was führt dich zu mir?<br />

„Meine Stiefmutter hat mich zu ihrer Schwester geschickt, um Nadel und<br />

Zwirn zu holen“.<br />

„Du hast sehr recht daran getan, dass du vorher zu mir gekommen bist!“<br />

- antwortete die Tante.<br />

„Nehme dieses Band, dieses Brot, das Öl und das Stück Fleisch. Eine<br />

Birke wird dich mit ihren Ästen schlagen und beim Gehen stören wollen,<br />

binde ihre Äste mit dem Band zusammen. Das Tor wird quietschen und<br />

knallen und wird dich nicht passieren lassen, du musst die Angeln mit<br />

dem Öl bestreichen. Die Hunde werden dich beißen und reißen, also gib<br />

ihnen das Brot. Der Kater wird versuchen dein Gesicht und deine Augen<br />

zu zerkratzen, du gibst ihm aber das Fleisch“.<br />

Das Mädchen hatte alles verstanden, bedankte sich und machte sich auf<br />

den Weg. Sie ging, ging und kam schließlich zu dem Wald.<br />

Hinter einem großen Zaun sah sie Baba-Jagas Hütte auf Hühnerfüßen<br />

stehen. In der Hütte saß Baba-Jaga, die knöcherne Hexe und webte.<br />

„Guten Tag, Großmutter“. „Guten Tag, Mädchen. Was willst du von mir?“<br />

„Meine Stiefmutter hat mich zu dir geschickt mit der Bitte um Nadel und<br />

Zwirn, damit sie mir ein Kleid nähen kann“.<br />

„Jawohl, du sollst alles bekommen, aber vorher setze dich und webe“.<br />

Das Mädchen setzte sich ans Fenster und begann zu weben. Baba-Jaga<br />

ging währenddessen aus dem Zimmer und sprach zu ihrem Dienstmäd


chen:<br />

„Ich gehe jetzt ins Bett. Du sollst die Banja heizen und das Mädchen<br />

gründlich waschen. Nach dem Schlaf fresse ich das kleine Ding auf “.<br />

Das Mädchen aber hörte ihre Worte und erschreckte sich fürchterlich.<br />

Nachdem Baba-Jaga gegangen war, bat sie die Magd:<br />

„Erbarme dich, zünde nicht das Feuer im Ofen an, sondern gieße Wasser<br />

darüber“ – und sie schenkte ihr ein Tuch.<br />

Als Baba-Jaga während der Nacht erwachte, fragte sie:<br />

„Webst du, meine Liebe?“ „Ich webe, Tantchen“ - antwortete das Mädchen<br />

und wendete sich an den Kater:<br />

„Brüderchen Kater, sag mir, wie kann ich von hier fliehen?“ Dann gab sie<br />

ihm das Fleisch, damit er ihr nicht das Gesicht zerkratzte.<br />

Der Kater sprach: „Hör mir gut zu. Schau, auf dem Tisch liegt ein Handtuch<br />

und ein Kamm. Nimm beide und laufe schnell davon. Baba-Jaga<br />

wird dich verfolgen. Du musst laufen und laufen, ab und zu musst du<br />

dich hinlegen und der Erde zuhören. Wenn du hörst, dass Baba-Jaga<br />

schon ganz nah ist, so wirf den Kamm auf die Erde. An dieser Stelle<br />

entsteht sofort ein dicker Wald. Während Baba-Jaga den Wald passiert,<br />

musst du aus allen Kräften weiterlaufen. Wenn du wieder hörst, dass<br />

Baba-Jaga ganz nahe ist, dann wirf das Handtuch auf den Boden. Sofort<br />

entsteht an dieser Stelle ein Fluss.“<br />

„Vielen Dank, Brüderchen Kater“ - erwiderte das Mädchen, bedankte<br />

sich, nahm den Kamm und ein Handtuch und lief aus der Hütte.<br />

Alsbald sprangen die Hunde auf sie und wollten das Mädchen in Stücke<br />

reißen. Es gab ihnen das Brot und sie ließen es sofort in Ruhe.<br />

Das Tor quietschte und wollte sich vor ihr schließen. Das Mädchen goss<br />

Öl in die Angeln und sofort ließ sie das Tor durch.<br />

Die Birke breitete ihre Äste aus, um es aufzuhalten. Doch das Mädchen<br />

knotete die Äste mit dem Band zusammen. Die Birke ließ sie sofort weiterlaufen.<br />

Und dann rannte das Mädchen aus vollen Kräften, ohne zurückzuschauen.<br />

Inzwischen hatte der Kater Platz am Fenster genommen und begann zu<br />

weben. Da erwachte Baba-Jaga wieder und fragte:<br />

„Webst du, Mädchen? Webst du, Liebe?“


Der Kater antwortete: „Ich webe, Tantchen“.<br />

Baba-Jaga lief ins Zimmer und sah: Anstatt des Mädchens saß der Kater<br />

am Fenster und webte. Da wurde Baba-Jaga zornig:<br />

„Du Betrüger, du Räuber! Warum hast du das Mädchen nicht aufgehalten?<br />

Weshalb hast du ihr nicht das Gesicht und die Augen zerkratzt?“<br />

Der Kater sprach: „Ich diene dir nun schon seit vielen Jahren, doch hast<br />

du mir nie etwas gegeben, nicht einmal einen Knochen. Das Mädchen<br />

aber hat mir ein Stück Fleisch geschenkt!“<br />

Baba-Jaga lief aus der Hütte zu den Hunden: „Warum habt ihr das Mädchen<br />

nicht in Stücke gerissen, warum habt ihr sie nicht gebissen?“<br />

„Wir stehen schon seit so vielen Jahren in deinen Diensten. Doch gibst du<br />

uns nicht einmal eine trockene Brotrinde zu fressen. Das Mädchen aber<br />

hat uns Brot gereicht!“<br />

Baba-Jaga lief auf das Tor zu: „Warum hast du nicht gequietscht, nicht geknallt?<br />

Warum hast du das Mädchen durchgelassen?“<br />

„Ich diene dir schon seit vielen Jahren. Doch du gießt mir nicht einmal in<br />

die Angeln. Das Mädchen aber hat meine Angeln mit Öl geschmiert!“<br />

Baba-Jaga lief auf die Birke zu: „Warum hast du die Augen des Mädchens<br />

nicht mit deinen Ästen zerstochen?“<br />

Die Birke antwortete: „Ich diene dir schon seit vielen Jahren. Doch<br />

schenkst du mir nicht einmal einen Zwirn. Das Mädchen aber hat mir<br />

ein Band geschenkt!“<br />

Da begann Baba-Jaga die Magd zu beschimpfen: „Du so dumm! Wieso<br />

hast du mich nicht geweckt? Warum hast du nicht gerufen? Warum hast<br />

du dem Mädchen gestattet wegzulaufen?“ „Ich arbeite bei dir seit so vielen<br />

Jahren. Doch du sprichst nie zärtlich zu mir. Das Mädchen aber hat<br />

mir ein Tuch geschenkt!“<br />

Da sprang Baba-Jaga in ihren fliegende Reibschale und nahm die Verfolgung<br />

auf. Mit dem Stößel beschleunigte sie, mit dem Besen verbarg<br />

sie ihre Spur. Währenddessen lief das Mädchen weiter und weiter. Nach<br />

einer Weile legte sie sich auf die Erde, und hörte wie die Erde zitterte und<br />

bebte. Da wurde dem Mädchen klar, dass Baba-Jaga schon ganz in der<br />

Nähe. Es holte den Kamm heraus und warf ihn über die rechte Schulter<br />

auf die Erde. Auf dieser Stelle entstand sofort ein hoher Wald. Die Wur-


zeln der Bäume gruben sich tief ins Erdreich, die Gipfel ragten den Himmel.<br />

Und da kam schon Baba-Jaga angeflogen. Sie versuchte den Wald<br />

zu passieren, doch sie stieß gegen die Bäume. Um hindurchzukommen,<br />

musste sie die Bäume umknicken und die Äste durchbeißen. Das Mädchen<br />

aber machte keine Pause und lief weiter.<br />

Ob lang, ob kurz, hörte das Mädchen die Erde wieder zittern. Baba-Jaga<br />

war wieder ganz nah! Das Mädchen nahm das Handtuch und warf es<br />

über die rechte Schulter auf die Erde. An der Stelle entstand sofort ein<br />

Fluss, sehr tief und sehr breit. Baba-Jaga gelangte ans Ufer und musste<br />

vor Zorn mit den Zähnen knirschen. Sie konnte nicht über den Fluss! Sie<br />

kehrte zurück und trieb eine Herde von Stieren zu dem Fluss und zwang<br />

sie, das Wasser zu trinken. Die Stiere tranken und tranken. Das Wasser<br />

wurde aber nicht weniger. Da wurde Baba-Jaga wild vor Wut. Sie legte<br />

sich ans Ufer und begann selbst zu trinken. Sie trank, trank und trank,<br />

bis sie schließlich platzte!<br />

Am Abend kehrte der Vater des Mädchens zurück nach Hause und fragte<br />

seine Frau:<br />

„Wo ist denn meine Tochter?“<br />

„Sie ist zu meiner Schwester gegangen, um sie um Zwirn und um eine<br />

Nadel zu bitten. Sie ist noch nicht wieder zurückgekommen“.<br />

Als der Vater schon so besorgt war, dass er die Tochter suchen gehen<br />

wollte, lief das Mädchen ins Haus herein, vom Laufen ganz außer Atem.<br />

„Wo warst du denn?“ - fragte sie der Vater.<br />

„Oh, Vater. Die Stiefmutter hat mich zu ihrer Schwester geschickt. Ihre<br />

Schwester aber ist Baba-Jaga, die knöcherne Hexe! Sie wollte mich fressen,<br />

ich konnte ihr kaum entkommen“.<br />

Als der Vater das erfuhr, nahm er einen schmutzigen Besen und vertrieb<br />

damit das böse Weib aus dem Haus. Seitdem wohnte er mit seiner Tochter<br />

zusammen, glücklich und im Wohlstand. Und damit ist das Märchen<br />

schon zu Ende.


Der Krampus


I<br />

rgendwo in Österreich im Paznauntale , den Ort nennt die<br />

Sage nicht, lebte ein unglückliches Ehepaar, das unter anderem<br />

auch ein Kind hatte, welches ihnen sehr viel Verdruss<br />

machte und durchaus nicht gehorchen wollte. Oft drohte<br />

die Mutter dem Kinde: „Wenn du gar nicht folgsam sein<br />

willst, so übergebe ich dich ganz gewiss einmal dem Krampus!“ Aber<br />

die Drohungen nützten wenig oder gar nichts; das Kind blieb böswillig,<br />

halsstarrig und unfolgsam und schlug Mahnungen und Drohungen der<br />

Eltern in den Wind. Als nun der Sankt-Nikolaus-Tag herankam, welcher<br />

den guten Kindern schöne Geschenke bringt, da stellte sich am Vorabend<br />

desselben in der Stube, wo sich das ungeratene Kind mit den Eltern<br />

befand, ein furchtbar hässlicher Krampus ein, mit langen Hörnern und<br />

glühenden Augen. Dieser fragte die Eltern mit hohler Stimme: „Darf ich<br />

das schlimme Kind da mitnehmen?“<br />

Die Eltern hatten zwar keinen Krampus bestellt, meinten aber, dass ein<br />

Nachbar sich den Spaß gemacht habe, das Kind zu erschrecken und auf<br />

bessere Bahn zu lenken, und sagten: „Ja!“<br />

Der Krampus fragte zum zweiten Male: „Darf ich es wohl gewiss mitnehmen?“<br />

Und abermals erlaubten es die Eltern. Nun fragte der Krampus<br />

zum dritten Male: „Und darf ich es im vollen Ernst mitnehmen?“ Und die<br />

Gefragten bejahten es zum dritten Male. Der Krampus nahm es nun auf<br />

und trug es zur Türe hinaus. Draußen hörte man von den Lüften herab<br />

einen herzzerreißenden Schrei vom Kinde und weiter nichts mehr. Wie<br />

die Eltern sich nun hinausbegaben, um nachzusehen, wohin der Krampus<br />

mit dem Kinde gegangen sei, fand sich nirgends eine Spur, kein Tritt<br />

vor dem Hause, der frisch gefallene Schnee überdeckte alles rundherum<br />

rein und sauber, und das Kind war für immer verloren; der Krampus war<br />

kein Maskenscherz, es war der Böse. Die Mutter ist an Gewissensskrupeln<br />

siech geworden und bald gestorben.


Die Nixe Hechta


I<br />

n den dunklen Wassern des Hechtsee’s hauste einst eine Nixe<br />

namens Hechta. Ab und zu konnte sie Menschengestalt annehmen<br />

und aus den kühlen Fluten heraus ans Ufer steigen.<br />

Als sie wieder einmal, gar lieblich anzuschauen, als junges<br />

Mädchen am Ufer des Sees lustwandelte, traf sie einen jungen Jäger.<br />

Friedl hat er geheißen. Sie fanden sofort Gefallen aneinander. Deshalb<br />

trafen sie sich alle paar Tage und waren über beide Ohren ineinander<br />

verliebt. Hechta sagte dem jungen Mann, daß ihre Liebe in die Brüche<br />

gehen müsse, würde er sie jemals drängen, ihren Namen preiszugeben,<br />

oder würde er sonst wie ihren Namen erfahren.<br />

Doch der Jägersmann war ein neugieriger Bursche, und so blieb es nicht<br />

aus, daß er von der Hechtseenixe erzählen hörte und schließlich von<br />

einer alten Kiefersfeldenerin auch den Namen derselben erfragte. Bald<br />

darauf traf er seine Liebste wieder droben am Hechtsee. Da lagen sie sich<br />

in den Armen, und in seinem Glück nannte er sie zärtlich bei ihrem Namen.<br />

Im selben Augenblick rollte eine riesige Welle über den See heran<br />

und schlug über die beiden am Ufer Liegenden zusammen und riß sie in<br />

die Tiefe. Hechta verlor ihre Liebe, Friedl sein Leben.


Das Auge des<br />

Trolls


E<br />

inst lebten in alten Tagen zwei arme Leute. Die hatten viele<br />

Kinder, und zwei der Söhne mußten im Dorf betteln. Deshalb<br />

kannten sie alle Wege und Pfade.<br />

Einmal wollten sie im Wald hinter dem Moor Vögel fangen.<br />

Deshalb nahmen sie den Weg übers Moor. Doch der Pfad war undeutlich,<br />

und als es dunkel wurde, verloren sie ihn.<br />

Als sie begriffen, daß sie sich verlaufen hatten, bauten sich eine Tannenhütte<br />

und machten ein Feuer, denn sie hatten die kleine Axt mitgenommen.<br />

Und dann rissen sie Heide und Moos aus, und bereiteten sich<br />

daraus ein Lager.<br />

Eine Weile nachdem sie sich gelegt hatten, hörten sie jemanden laut<br />

schnaufen. Die Jungen spitzten die Ohren und lauschten gut ob es ein<br />

Tier oder ein Waldtroll war, den sie da hörten.<br />

Doch da schnaufte es noch lauter und sagte:<br />

„Hier riecht es nach Menschenblut!“<br />

Dann hörten sie einen Schritt, so daß die Erde unter ihnen bebte, und da<br />

wußten sie, daß die Trolle unterwegs waren.<br />

„Gott helfe uns, was sollen wir jetzt tun?“ fragte der jüngste Bub seinen<br />

Bruder.<br />

„Oh, du bleibst da unter der Kiefer stehen, wo du jetzt stehst, und machst<br />

dich bereit, davonzulaufen, wenn du sie kommen siehst, und ich nehme<br />

die kleine Axt“, sagte der andere.<br />

Zugleich sahen sie die Trolle dahertrotten, und die waren so groß und<br />

mächtig, daß ihre Köpfe auf einer Höhe mit den Baumkronen waren.<br />

Doch sie hatten nur ein Auge, alle drei zusammen, und sie wechselten<br />

sich beim Gebrauch desselben ab; sie hatten ein Loch in der Stirn, wo sie<br />

es reinlegten; er, der voranging, mußte es haben, und die anderen gingen<br />

hinterher und hielten sich an ihm fest.<br />

„Lauf “, sagte der älteste Bub, „doch lauf nicht zu weit, bevor du siehtst,<br />

wie es geht; da sie das Auge so hoch tragen, sehen sie mich nicht, wenn<br />

ich von hinten komme.“<br />

Ja, der Bruder rannte, und die Trolle hinterher. Inzwischen kam der ältere<br />

Bruder von hinten und hackte dem hintersten Troll ins Fußgelenk, daß<br />

dieser einen schrecklichen Schrei ausstieß, und der erste wurde so er


schreckt, daß er zusammenfuhr und das Auge fallen ließ.<br />

Der kleinere Bruder hob es schnell auf. Es war größer als wenn man zwei<br />

Kartoffelschüsseln aufeinanderlegte, und klar war es, so klar, daß es wie<br />

leuchtender Tag wurde, als er hindurchsah, obwohl es finsere Nacht war.<br />

Als die Trolle merkten, daß er ihnen das Auge weggenommen und einen<br />

von ihnen verwundet hatte, begannen sie zu schimpfen und mit allem<br />

Bösen zu drohen, das es nur gab, wenn er ihnen nicht sofort ihr Auge<br />

wiedergeben würde.<br />

„Ich habe keine Angst vor Troll und Betrug“, sagte der Junge. „Nun habe<br />

ich allein drei Augen, und ihr habt gar keins, und zusätzlich müssen zwei<br />

von euch den dritten tragen.“<br />

„Bekommen wir nicht auf der Stelle unser Auge zurück, sollst du zu<br />

Stock und Stein werden!“ kreischten die Trolle.<br />

Doch der Junge sagte, er fürchte sich weder vor Angeberei noch vor<br />

Trolltum (eine Art Hexerei); und ließen sie ihn nicht in Ruhe, zu würde<br />

er auf sie alle einhacken, so daß sie wie Kriech- und Krabbeltiere am<br />

Boden kreuchen müßten.<br />

Als das die Trolle hörten, bekamen sie Angst und gaben gute Worte. Sie<br />

baten so eindringlich und versprachen ihm Gold und Silber und alles,<br />

was er haben wolle, wenn er ihnen nur das Auge wiedergeben wolle. Ja,<br />

meinte der Junge, das sei gut und schön, doch wolle er zuerst das Gold<br />

und Silber haben. Einer der Trolle solle heimgehen und so viel Gold und<br />

Silber holen, wie in seine und seines Bruders Taschen passe, so lange<br />

würde er es behalten.<br />

Die Trolle gebärdeten sich wild und sagten, daß keiner von ihnen gehen<br />

könne, so lange sie ihr Auge nicht dabeihätten; doch so schrie einer von<br />

ihnen nach dem Weib, denn sie hatten zusammen ein Weib. Und nach<br />

einer Weile antwortete es von Norden her. Da sagten ihr die Trolle, daß<br />

sie mit zwei Eimern voller Gold und Silber kommen solle. Und es dauerte<br />

nicht lange, bis sie kam. Und da sie sah, was geschehen war, begann auch<br />

sie, mit Trolltum zu drohen. Doch die Trolle bekamen Angst und baten<br />

sie, sich vor der kleinen Wespe vorzusehen, denn sie könne nicht sicher<br />

sein, daß er nicht auch ihr Auge auch stehle. Da warf sie die Eimer mit<br />

dem Gold und Silber und die Bögen zu ihnen hin und zog im Streit mit<br />

den Trollen heim.


Seit dem hat keiner mehr davon gehört, daß die Trolle umhergingen und<br />

nach Menschenblut geschnüffelt hätten.


Das Werwolfsfell


E<br />

s war einmal ein König, der hatte zwei Bräute. Die eine heiratete<br />

er, die andere ließ er sitzen. Aber dieses andere Mädchen,<br />

dem er einen solchen Kummer bereitet hatte, schwor<br />

ihm lebenslängliche Rache.<br />

Der König hielt Hochzeit, und nach einem Jahr wurde ihm ein schöner<br />

Knabe geboren. Da bekam der König aber die Nachricht, daß er in den<br />

Krieg ziehen müsse. Seine kranke Gemahlin mit dem kleinen Sohne blieb<br />

zu Hause. Und zu jener Zeit, wo der König im Kriege war, suchte seine<br />

andere, verlassene Braut nach einer Gelegenheit zur Rache. Eine alte<br />

Zigeunerin lehrte sie neunmal unter den Wurzeln einer Kiefer durchzukriechen,<br />

um sich in einen Werwolf zu verwandeln. Und jenes Mädchen<br />

ging hin, kroch neunmal unter den Wurzeln einer Kiefer durch und wurde<br />

zu einem Werwolf. Das auf solche Weise erlangte Werwolfsfell wollte<br />

sie der jungen Königin überwerfen, sie fand aber auf keine Weise Gelegenheit,<br />

bis zur Königin durchzudringen. Da ging sie zu einem Diener<br />

des Königs und bat um Arbeit. Der Diener meldete dies der Königin, und<br />

die Königin ließ sie anstellen, damit sie den Hof in Ordnung halte. Der<br />

Diener ließ das Mädchen sofort ihren Dienst antreten, und nun ging sie<br />

herum und lauerte der Königin auf.<br />

Eines schönen Abends säugte die Königin am offenen Fenster ihr Kind<br />

- da warf das Dienstmädchen ihr durchs Fenster das Werwolfsfell über.<br />

Sogleich wurde die Königin zu einem Werwolf, legte das Kind nieder und<br />

schlich in den Wald. Jenes Mädchen stieg nun selbst zum Fenster hinein,<br />

nahm das Kind in seine Arme und begann es zu säugen. Sie hatte aber<br />

zum Säugen gar keine Milch, und das Kind schrie und weinte gar sehr.<br />

Doch ließ das Mädchen keinen Menschen zu sich heran.<br />

Als nun der König nach Hause kam, da klagte man ihm, die Königin<br />

lasse niemand in ihre Nähe, wo das Kind doch so sehr schreie. Der König<br />

begriff nicht, was seinem guten Weibe so Böses zugestoßen sei; er ging<br />

selbst zu seiner Frau und begehrte Einlaß. Jemand tat die Tür auf und<br />

ließ den König ein. Die Frau lag platt auf dem Bett, und das Kind schrie<br />

ganz schrecklich. Die Frau hatte die Augen geschlossen, und als der König<br />

fragte, was ihr fehle, da winkte sie nur mit der Hand und sagte, sie sei<br />

sehr krank. Augenblicklich rief der König den Diener und sagte ihm,


er solle rasch einen Arzt holen, und war noch über ihn böse, weil er nicht<br />

von selbst zur kranken Königin einen Arzt gerufen hatte. Der Diener<br />

verteidigte sich, er sei nicht schuld, denn die Königin selber habe keinen<br />

Menschen in ihre Nähe gelassen. Da fragte der König seine Frau, ob sie<br />

einen Arzt wolle, und die Frau bat ihn und sagte, sie wolle keinen; und<br />

sie sprach zum König kein Wort mehr, sondern winkte nur mit der Hand,<br />

daß man sie verlassen solle. Der König konnte nicht herausbekommen,<br />

was seiner Frau fehle; doch ließ er den Arzt holen, und dieser erklärte,<br />

die Königin müsse allein sein und niemand dürfe sie stören.<br />

Da saß nun an einem sehr, sehr schönen Abend der alte Diener des<br />

Königs draußen auf einem Stein und dachte an seinen kummervollen<br />

Herrn. Die Mitternacht kam heran. Da sah der Diener mit seinen eigenen<br />

Augen einen Werwolf herankommen. Der Diener saß so regungslos,<br />

wie er nur konnte, und wollte sehen, was für ein Tier das eigentlich sei.<br />

Der Werwolf ging geradewegs unter das Fenster der Königin und sprach<br />

diese Worte: »Wenn man nur das Kind herausbringen und auf dem Hof<br />

niederlegen wollte, dann würde ich es säugen.« Der alte Diener horchte<br />

und schaute und begriff nun klar, daß die jetzige Königin nicht die rechte<br />

sei, sondern daß hier ein schreckliches, großes Verbrechen geschehen<br />

sein müsse. Und der Diener erzählte am Morgen dem Könige alles, was<br />

er in der Nacht gesehen und gehört hatte.<br />

In der nächsten Nacht ging der König auch selbst lauschen. Die beiden<br />

legten das Kind auf den Erdboden und setzten sich auf den Stein, um den<br />

Werwolf zu erwarten. Dieser kam, nahm das Kind und ging damit zur<br />

Ecke der königlichen Vorratskammer. Da war ein sehr großer Stein. Dort<br />

zog der Werwolf sein Fell aus, legte es auf den Stein, setzte sich darauf<br />

und säugte das Kind. Nun sah auch der König deutlich, daß es seine eigene<br />

Frau war, und wollte sogleich zu ihr eilen; aber der Diener hielt ihn<br />

fest und ließ ihn nicht hin. Als die Frau das Kind gesäugt hatte, brachte<br />

sie es zurück, legte es hin und sprach diese Worte: »Noch zwei Abende<br />

und dann niemals mehr!« Und sie schlich fort. Der König nahm sein<br />

Kind auf und brachte es in die Stube; dann ließ er durch seine Diener die<br />

Königin im Bett festnehmen und ins Gefängnis werfen. Mit dem Diener<br />

aber hielt er Rat, wie sie den Werwolf in ihre Hände bekommen sollten.<br />

Und sie verabredeten sich, das Kind am Abend wieder hinauszutragen


und dann in der Nacht den Werwolf dort festzunehmen. Sie brachten<br />

das Kind auch hinaus und warteten auf das Kommen des Werwolfs. Der<br />

Werwolf kam, nahm das Kind auf und ging wieder zum selben Stein,<br />

um es zu säugen. Als die Frau das Werwolfsfell ausgezogen hatte und das<br />

Kind zu säugen begann, da lief der König hinzu und wollte sie festhalten;<br />

aber sowie sie das merkte, warf sie das Kind hin und lief davon und<br />

sprach nur noch diese Worte: »Noch morgen nacht und dann niemals<br />

mehr!«<br />

Der König konnte kein Mittel erdenken, um den Werwolf zu fangen. Da<br />

gab ihm der alte Diener einen guten Rat: man solle auf dem Stein ein<br />

Feuer anlegen und den Stein glühend machen; wenn da der Wolf sein<br />

Fell ausziehe und auf den Stein lege, so werde das Fell am Stein haften<br />

bleiben, und ohne das Fell werde der Wolf nicht fortlaufen. Das taten sie<br />

auch: sie heizten den Stein glühend und warteten, bis der Werwolf kam.<br />

Dieser nahm sogleich das Kind und ging, es zu säugen; er zog sein Fell<br />

aus, legte es auf den Stein und setzte sich darauf. Der König aber und sein<br />

Diener warteten noch, damit die Frau länger auf dem Stein sitze - dann<br />

bleibt das Fell fester am Stein haften. Als die Frau das Kind gesäugt hatte,<br />

küßte sie es noch dreimal, legte es nieder und wollte das Fell nehmen, sie<br />

konnte es aber nicht, denn das Fell war am Stein haften geblieben. Nun<br />

stürmte der König herbei und hielt sie fest und überzeugte sich jetzt, daß<br />

es seine rechte Frau war, welche sechs Monate lang das Werwolfsfell getragen<br />

hatte.<br />

Da führte der König seine Frau ins Zimmer und ließ jene andere, welche<br />

im Gefängnis saß, an einen Pferdeschweif binden, damit das Pferd sie zu<br />

Tode trete. Und der König selbst hielt mit seiner ersten Frau zum zweitenmal<br />

Hochzeit; und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch<br />

heute.


Baobhan- Sith


V<br />

ier junge Jäger schlugen einst ihr Nachtlager auf einer Waldlichtung<br />

auf. Sie machten ein Feuer, aßen und begannen sich<br />

Geschichten zu erzählen und zu musizieren.<br />

Da tauchten plötzlich vier schöne junge Frauen, allesamt<br />

gekleidet in grünen Gewändern, auf der Lichtung auf und wollten den<br />

Jägersleuten Gesellschaft leisten. Sie blieben und sangen und scherzent<br />

mit Ihnen.<br />

Als es an der Schlafenzeit war, war es einem der Jäger jedoch nicht geheuer<br />

und er stahlt sich heimlich davon an der Stelle vorbei, an der sie<br />

ihre Pferde zum Ruhen angebunden hatten.<br />

Er schlief in einer kleinen Höhle in der Nähe. Als er morgens erwachte<br />

und in Richtung des Rastplatzes ging, hörte er keine Stimmen seiner Mitreisenden<br />

und kein einziger Vogel sang in den Bäumen.<br />

Bei der Lichtung angekommen, bot sich ihm ein schauriges Bild: Den<br />

anderen jungen Jägersmännern waren die Kehlen aufgeschlitzt und sie<br />

lagen blutleer bis auf den letzten Tropfen da mit leerem, toten Blich gen<br />

Himmel.<br />

Die vier Frauen waren Baobhan-Sith, Vampirinnen, die man in schottischen<br />

Wäldern antrifft. Die eisernen Hufeisen hatten wie eine Barriere<br />

gewirkt, die sie nicht durchdringen konnten und so den überlebenden<br />

Jäger vor gleichem grausamen Schicksal bewart, welches den Anderen<br />

zuteil wurde. Mit dem Morgengrauen lösten sich die Baobhan-Sith im<br />

Sonnenlicht auf und waren verschwunden.


Literaturhinweise<br />

Die zwei Brüder<br />

Gebrüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, 1819<br />

Die entzürnten Elfen<br />

Irisches Volksmärchen, Thomas Crofton Croker, Fairy legends and traditions<br />

of the South of Ireland, 1825<br />

Baba Yaga<br />

Russisches Märchen, Sibelan Forrester ,Baba Yaga: The Wild Witch of the<br />

East in Russian Fairy Tales, 2013<br />

Der Krampus<br />

Österreichisches Märchen, http://www.sagen.at/<br />

Die Nixe Hechta<br />

Österreichisches Märchen, http://www.sagen.at/<br />

Das Auge des Trolls<br />

Skandinavisches Märchen, Heinz Barüske, Skandinavische Märchen,<br />

1975<br />

Das Werwolfsfell<br />

Estländisches Märchen, August von Löwis of Menar: Finnische und estnische<br />

Märchen - Livische Märchen, 1922<br />

Baobhan- Sith<br />

Irisches Volksmärchen


Der Wald-<br />

Kulisse für Märchen und Sagen<br />

In vielen Märchen und Sagen ist der Wald ein wesentlicher<br />

Handlungsort.<br />

Er ist nicht nur Teil früherer Lebenswirklichkeit als<br />

Quelle für Nahrung und Baumaterial, sondern auch<br />

als ungeordnete, bisweilen undurchdringliche Wildnis<br />

als Gegenpol zur Menschlichen Zivilisation.<br />

Als perfekter Raum für Fantasien und Projektionen<br />

der menschlichen Psyche bilden sich Archetypen<br />

heraus, die ohne lokale Begernzung immer wieder<br />

auftauschen.<br />

Dieser Band versammelt einige von Ihnen und stellt<br />

sie stellvertretend durch ausgewählte Sagen und<br />

Märchen vor.

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