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Goethe in der Campagna di Roma - Joachim Kahl, Marburg

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<strong>Joachim</strong> <strong>Kahl</strong><br />

<strong>Goethe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Campagna</strong> <strong>di</strong> <strong>Roma</strong> – e<strong>in</strong> Weltbürger unterwegs<br />

und doch bei sich selbst<br />

E<strong>in</strong> humanistisches Programmbild<br />

Philosophische Bildme<strong>di</strong>tation zu Tischbe<strong>in</strong>s <strong>Goethe</strong>-Portrait<br />

Vortrag <strong>in</strong> <strong>der</strong> Philipps-Universität am 22.6.2009 auf E<strong>in</strong>ladung des <strong>Marburg</strong>er Senioren-Kollegs e. V.<br />

Wir schauen auf e<strong>in</strong>s <strong>der</strong> bekanntesten Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> deutschen Kunstgeschichte, zugleich auf<br />

e<strong>in</strong>s <strong>der</strong> berühmtesten <strong>Goethe</strong>-Porträts, auf das <strong>Goethe</strong>-Porträt schlechth<strong>in</strong>: oft reproduziert<br />

(ganz o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Ausschnitten), wie<strong>der</strong>holt paro<strong>di</strong>ert, immer we<strong>der</strong> zitiert, mehrmals als Brief-<br />

markenmotiv verwendet. Wir sehen e<strong>in</strong> ganzfiguriges Porträt Johann Wolfgang <strong>Goethe</strong>s, das<br />

ihn während se<strong>in</strong>er Reise nach Italien <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Campagna</strong> <strong>di</strong> <strong>Roma</strong> zeigt. Das großformatige<br />

Ölgemälde mit den Maßen 164 mal 206 cm hängt heute im „Städelschen Kunst<strong>in</strong>stitut“ <strong>in</strong><br />

<strong>Goethe</strong>s Heimatstadt Frankfurt am Ma<strong>in</strong>. Es gelangte dorth<strong>in</strong> im Jahre 1887 als Geschenk <strong>der</strong>


2<br />

Freifrau von Rothschild. Unübersehbar zentral und repräsentativ im ersten Stock aufgehängt,<br />

begrüßt es <strong>di</strong>e Museumsbesucher, <strong>di</strong>e oft von weither anreisen, um vornehmlich <strong>di</strong>eses Bild<br />

zu betrachten.<br />

Der Künstler, Johann H<strong>in</strong>rich Wilhelm Tischbe<strong>in</strong> – aus dem oberhessischen Ha<strong>in</strong>a stammend<br />

–, war <strong>der</strong> berühmteste Spross e<strong>in</strong>er Malerfamilie, <strong>di</strong>e mehrere Generationen umfasste. Durch<br />

<strong>Goethe</strong>s Vermittlung hatte er e<strong>in</strong> Italien-Stipen<strong>di</strong>um erhalten. Als <strong>der</strong> Dichter 1786 selbst<br />

nach Rom kam, konnte Tischbe<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em För<strong>der</strong>er Dank abstatten, <strong>in</strong>dem er ihm <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Haus unauffällige Gastfreundschaft gewährte. War <strong>Goethe</strong> doch <strong>in</strong>kognito als <strong>der</strong> deutsche<br />

Maler Philipp Müller angereist, um nicht als <strong>der</strong> berühmte Verfasser des „Werther“ und als<br />

<strong>der</strong> Weimarer M<strong>in</strong>ister erkannt und behelligt zu werden.<br />

Als klassisch gebildeter Kunst- und Fremdenführer veranstaltete Tischbe<strong>in</strong> mit se<strong>in</strong>em verehr-<br />

ten Besuch manchen Rundgang durch <strong>di</strong>e Stadt, unternahm manchen Ausflug <strong>in</strong> <strong>di</strong>e ländliche<br />

Umgebung. Auch sonst stand er dem Gast hilfreich zur Seite, <strong>in</strong>dem er ihm e<strong>in</strong>e Reihe gesell-<br />

schaftlicher Kontakte vermittelte. Mit dem Bild begann er im Dezember 1786. Er schuf es aus<br />

eigenem Antrieb, ohne von Seiten <strong>Goethe</strong>s dazu e<strong>in</strong>en förmlichen Auftrag erhalten zu haben,<br />

wie er gewöhnlich zu e<strong>in</strong>em Porträt gehört. Nachdem er e<strong>in</strong>ige Entwürfe und Skizzen<br />

angefertigt hatte, ließ er sich – um <strong>Goethe</strong> zeitraubende Sitzungen zu ersparen – eigens von<br />

e<strong>in</strong>em Bildhauer e<strong>in</strong> Tonmodell herstellen, an dem er <strong>di</strong>e Sitz-Liege-Haltung und den<br />

Faltenwurf des Mantels stu<strong>di</strong>eren konnte.<br />

Wir wollen uns dem Bild, das <strong>in</strong> Rom begonnen und <strong>in</strong> Neapel vollendet wurde, <strong>in</strong> zwei<br />

Schritten nähern. Zuerst werde ich das Bild beschreiben, se<strong>in</strong>e Komposition, se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zelhei-<br />

ten benennen. Dabei wollen wir sehen lernen, beobachten lernen. Sodann werde ich den Bild-<br />

<strong>in</strong>halt deuten. Ich versuche, den ideellen Gehalt des Kunstwerkes, se<strong>in</strong>en gedanklichen und<br />

gefühlsmäßigen Inhalt, se<strong>in</strong>e ästhetische Aussage, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tiefe zu erfassen. Dabei steht <strong>di</strong>e<br />

Deutung des Bildes im Dienste <strong>der</strong> Deutung unseres Lebens.<br />

Das Bild ist e<strong>in</strong> ganzfiguriges Bildnis, e<strong>in</strong> ganzfiguriges Porträt <strong>Goethe</strong>s, vere<strong>in</strong>t mit e<strong>in</strong>er<br />

Landschaftsdarstellung, eben <strong>der</strong> <strong>Campagna</strong> <strong>di</strong> <strong>Roma</strong>. Der Betrachter bef<strong>in</strong>det sich <strong>di</strong>cht vor<br />

<strong>der</strong> Gestalt <strong>Goethe</strong>s und schaut – leicht von unten – zu <strong>Goethe</strong> empor, zu <strong>Goethe</strong> auf, wobei<br />

e<strong>in</strong>e gerade L<strong>in</strong>ie vom rechen Fuß über den l<strong>in</strong>ken Arm zu se<strong>in</strong>em Kopf führt. (Mehrere Li-


3<br />

nien führen zu <strong>Goethe</strong>s Kopf h<strong>in</strong>.) Wir bef<strong>in</strong>den uns <strong>in</strong> unmittelbarer Nähe <strong>Goethe</strong>s, rücken<br />

ihm aber nicht <strong>di</strong>stanzlos zu Leibe. Wir s<strong>in</strong>d ihm nahe, treten ihm aber nicht zu nahe.<br />

Ich beschreibe den Vor<strong>der</strong>grund.<br />

<strong>Goethe</strong> ruht auf Reisen. Er ist gekleidet mit e<strong>in</strong>em hellen, cremefarbenen, langen, weiten Rei-<br />

semantel. Es ist eher e<strong>in</strong> Reise-Umhang, da Ärmel zu fehlen sche<strong>in</strong>en. Insofern er<strong>in</strong>nert er an<br />

e<strong>in</strong>e altrömische Toga. Die lichte, helle Farbe hebt <strong>Goethe</strong> beson<strong>der</strong>s hervor. Er trägt e<strong>in</strong>en<br />

dunklen, breitkrempigen Hut, wie ihn damals gerne Künstler trugen. Unter dem Umhang wer-<br />

den Kragen und Ärmel e<strong>in</strong>er rotbraunen Jacke sichtbar. E<strong>in</strong>e hellbraune Kniebundhose, weiße<br />

Kniestrümpfe und schwarze, blank geputzte Halbschuhe vervollkommnen <strong>di</strong>e gepflegte Klei-<br />

dung.<br />

Der Dichter ruht auf den braunen Qua<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>es zerbrochenen altägyptischen Obelisken, <strong>der</strong><br />

<strong>di</strong>wanartig angeordnet ist. Auf dem großen Block – unterhalb des Armes – s<strong>in</strong>d Spuren von<br />

Hieroglyphen zu ahnen, <strong>di</strong>e auf Vorstu<strong>di</strong>en zu dem Bild unzweideutig zu erkennen s<strong>in</strong>d. Goe-<br />

the lagert, auf den rechten Fuß abgestützt, das l<strong>in</strong>ke, überlang wirkende Be<strong>in</strong> ist ausgestreckt.<br />

Der rechte Fuß berührt absichtsvoll <strong>di</strong>e Erde, wobei schon oft bemerkt wurde: Der rechte Fuß<br />

sieht aus wie e<strong>in</strong> zweiter l<strong>in</strong>ker Fuß – <strong>der</strong> Schuhform nach zu urteilen.<br />

Rechts h<strong>in</strong>ter den Obelisk-Blöcken, gleichsam <strong>in</strong> Tuchfühlung mit <strong>Goethe</strong>, steckt schräg im<br />

Boden e<strong>in</strong> Flachrelief (Basrelief) aus grauem Marmor mit Figuren aus <strong>der</strong> Iphigenien-Sage,<br />

<strong>di</strong>e <strong>Goethe</strong> <strong>in</strong> Rom bearbeitete und auch mit Tischbe<strong>in</strong> besprach. Zwei nackte Männer, Orest<br />

und Pylades, <strong>der</strong>en Hände auf dem Rücken gefesselt s<strong>in</strong>d, begegnen Iphigenie, <strong>der</strong> Priester<strong>in</strong>.<br />

Das Relief wirkt verwittert, es ist von Efeu bewachsen. Rechts daneben liegt e<strong>in</strong> umgestürztes<br />

Säulenkapitell mit ionischen und kor<strong>in</strong>thischen Mischformen aus römischer Zeit. Vor den<br />

Trümmern und zwischen den Trümmern sprießt frisches Grün aus dem Erdboden hervor.<br />

Im Mittelgrund sehen wir <strong>di</strong>e geographisch identifizierbare, deutlich erkennbare Landschaft<br />

<strong>der</strong> römischen <strong>Campagna</strong>. Tischbe<strong>in</strong> gestaltet ke<strong>in</strong>e arka<strong>di</strong>sche Phantasielandschaft, ke<strong>in</strong>e<br />

ideale Weltlandschaft, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Landschaftsbild <strong>in</strong> sachgetreuer Wie<strong>der</strong>gabe, e<strong>in</strong>e so ge-<br />

nannte Vedoute. Gerade noch sichtbar s<strong>in</strong>d <strong>di</strong>e Ru<strong>in</strong>en von Aquädukten, von antiken Wasser-<br />

leitungen. Wir erkennen Tempelreste, rotdachige Wohnhäuser sowie, genau <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mitte, ei-<br />

nen runden Turm mit Z<strong>in</strong>nen, das Grabmal <strong>der</strong> Caecilia Metella, e<strong>in</strong>er reichen Römer<strong>in</strong>, an<br />

<strong>der</strong> antiken Via appia gelegen. Auf klassischem Boden, auf e<strong>in</strong>er Hauptarena <strong>der</strong> römischen


4<br />

Geschichte, lagert <strong>Goethe</strong> vor verschiedenen Zeugnissen antiker Zivilisation und Kultur. Als<br />

Kompositionselemente verdeutlichen sie <strong>di</strong>e Raumtiefe. Sie s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e bloße Staffage, son-<br />

<strong>der</strong>n wesentliche Bestandteile des Bild<strong>in</strong>haltes.<br />

Im H<strong>in</strong>tergrund zieht sich <strong>di</strong>e Kette <strong>der</strong> Berge von Albano entlang, <strong>di</strong>e teilweise vulkanischen<br />

Ursprungs s<strong>in</strong>d. Darüber wölbt sich e<strong>in</strong> blaugrauer Himmel, dem <strong>di</strong>e mittelmeerische Leucht-<br />

kraft fehlt und <strong>der</strong> eher nördlich düster wirkt. Nur um <strong>Goethe</strong>s Kopf herum hellt sich das Blau<br />

auf.<br />

<strong>Goethe</strong> lagert im Freien, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er weiten, offenen Landschaft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> von Menschenhand bear-<br />

beiteten Natur. Mit großer E<strong>in</strong>fühlsamkeit stellt Tischbe<strong>in</strong> ihn nicht dar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stadt, nicht <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Dorf, nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geschlossenen Raum. Denn <strong>Goethe</strong> war ja nach Italien gekommen,<br />

um <strong>der</strong> räumlichen und geistigen Enge e<strong>in</strong>es deutschen Zwergstaates zu entr<strong>in</strong>nen. Er war<br />

regelecht geflohen, ohne sich von irgendjemandem verabschiedet zu haben. We<strong>der</strong> hatte er<br />

e<strong>in</strong> Urlaubsgesuch an se<strong>in</strong>en Dienstherrn, den Herzog Carl August, gerichtet, noch hatte er<br />

se<strong>in</strong>e langjährige Seelenfreund<strong>in</strong>, <strong>di</strong>e Hofdame Charlotte von Ste<strong>in</strong>, vorher <strong>in</strong>s Vertrauen ge-<br />

zogen. Das Wagnis <strong>der</strong> heimlichen Flucht hatte er auf sich genommen, um e<strong>in</strong>e Lebens- und<br />

Schaffenskrise zu bewältigen, um <strong>in</strong>nere und äußere Freiheit zu gew<strong>in</strong>nen. Er suchte Abstand<br />

zu den spätfeudalen Konventionen des Herzogtums Sachsen-Weimar und zu den Zwängen<br />

se<strong>in</strong>er beruflichen Stellung als beamteter M<strong>in</strong>ister. Sie hatten begonnen, se<strong>in</strong>e <strong>di</strong>chterische<br />

Kraft zu ersticken und se<strong>in</strong>e Persönlichkeit <strong>in</strong>sgesamt zu beschä<strong>di</strong>gen.<br />

<strong>Goethe</strong>s Kopf, nahezu <strong>in</strong>s Profil gedreht, wird durch <strong>di</strong>e breite Krempe e<strong>in</strong>es tiefschwarzen<br />

Künstlerhutes medaillonförmig hervorgehoben. Das Haar ist sorgfältig frisiert, <strong>di</strong>e Gesichts-<br />

haut zeigt e<strong>in</strong>e gesunde, frische Farbe, <strong>di</strong>e durch den Kontrast zu dem weißen Halstuch be-<br />

son<strong>der</strong>s leben<strong>di</strong>g wirkt. Mit dem Hut und se<strong>in</strong>er klaren Umrissl<strong>in</strong>ie überragt <strong>Goethe</strong> deutlich<br />

den Horizont, ja selbst <strong>di</strong>e dunstige Bergkette.<br />

Was tut <strong>Goethe</strong>?<br />

Er liest nicht, er <strong>di</strong>chtet nicht. Er verweilt, er hält <strong>in</strong>ne auf <strong>der</strong> Reise und schaut <strong>in</strong> <strong>di</strong>e Ferne.<br />

Er denkt mit den Augen. Se<strong>in</strong> Gesicht zeigt milden Ernst und ist geprägt vom Nachs<strong>in</strong>nen<br />

über <strong>di</strong>e Vergänglichkeit aller D<strong>in</strong>ge. Er schaut nicht auf etwas E<strong>in</strong>zelnes, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

unbegrenzte, unbestimmte Weite. Se<strong>in</strong> Blick ist auf das Ganze <strong>der</strong> Welt gerichtet. Se<strong>in</strong> Blick<br />

ist <strong>der</strong> Blick des Künstlers und des Philosophen, <strong>di</strong>e nicht am E<strong>in</strong>zelnen haften bleiben (ohne


5<br />

es zu übersehen), son<strong>der</strong>n auf das Ganze schauen. Se<strong>in</strong> Be-schauen fällt mit Nach-denken<br />

zusammen. <strong>Goethe</strong> macht <strong>di</strong>e Augen auf, um sich <strong>di</strong>e Welt – betrachtend – anzueignen. Er übt<br />

sich <strong>in</strong> Horizonterweiterung, <strong>di</strong>e <strong>in</strong> Weltanschauung mündet.<br />

<strong>Goethe</strong>s Körperhaltung ist <strong>di</strong>e klassisch antike Sitz-Liege-Haltung. Er lagert gelassen, nicht<br />

lässig. Gelassenheit kann er an den Tag legen, weil se<strong>in</strong> Zeitgefühl mit Jahrtausenden rechnet<br />

und er Jahrtausende gedanklich überblickt. Lässigkeit dagegen kann mit Oberflächlichkeit<br />

e<strong>in</strong>hergehen. <strong>Goethe</strong> überragt das Gebirge und haftet doch fest mit dem Fuß am Boden. Er<br />

ruht auf den Ru<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>er untergegangen Welt und s<strong>in</strong>nt nach, wie aus ihren Elementen e<strong>in</strong>e<br />

neue Welt aufgeklärter Humanität hervor gehen könnte.<br />

Die antiken Ru<strong>in</strong>en umfassen <strong>di</strong>e römische, <strong>di</strong>e griechische und <strong>di</strong>e ägyptische Zivilisations-<br />

stufe. <strong>Goethe</strong> ruht auf e<strong>in</strong>em Obelisken aus Ägypten, dem Land, das nach dem damaligen<br />

archäologischen Kenntnisstand <strong>di</strong>e älteste Menschheitsepoche repräsentierte. Damit wird<br />

nicht nur auf außereuropäische Wurzeln <strong>der</strong> europäischen Kultur angespielt, son<strong>der</strong>n auch <strong>di</strong>e<br />

Idee e<strong>in</strong>es Weltbürgertums s<strong>in</strong>nfällig gemacht, das e<strong>in</strong>en Eurozentrismus verabschiedet hat.<br />

Um <strong>di</strong>ese Idee breiter historischer Verankerung visuell darzustellen, bietet das Querformat<br />

des Bildes mit <strong>der</strong> dar<strong>in</strong> angelegten Betonung horizontaler L<strong>in</strong>ien den geeigneten komposito-<br />

rischen Rahmen.<br />

Als Meister <strong>der</strong> Porträtmalerei verb<strong>in</strong>det Tischbe<strong>in</strong> <strong>di</strong>e eigentümlichen Gesichtszüge <strong>der</strong> his-<br />

torischen Persönlichkeit aus Frankfurt am Ma<strong>in</strong> mit über<strong>in</strong><strong>di</strong>viduellen Merkmalen e<strong>in</strong>es<br />

Menschheitsrepräsentanten und Weltbürgers, e<strong>in</strong>es Zeitgenossen vieler Epochen. <strong>Goethe</strong> wird<br />

nicht vornehmlich als Künstler, nicht als Meister <strong>der</strong> deutschen Sprache dargestellt. Er hält<br />

ke<strong>in</strong> Buch, ke<strong>in</strong>en Fe<strong>der</strong>halter <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand. Diese Attribute, <strong>di</strong>e sonst zu e<strong>in</strong>em Dichterporträt<br />

gehören, würden ihn hier nur beschränken.<br />

Und doch spielt das Bild <strong>in</strong> verschwiegener Weise auch auf <strong>Goethe</strong>s Tätigkeit als Dichter an.<br />

Das marmorne Flachrelief mit <strong>der</strong> Szene aus <strong>der</strong> Iphigenien-Sage verweist darauf, dass Goe-<br />

the <strong>in</strong> Italien – gleichsam unter den Augen Tischbe<strong>in</strong>s – se<strong>in</strong> Prosaschauspiel „Iphigenie auf<br />

Tauris“ <strong>in</strong> Versform goss. In <strong>di</strong>esem Werk erhebt <strong>Goethe</strong> e<strong>in</strong>e ebenso edle wie anmutige Frau<br />

zur Titelheld<strong>in</strong> und lässt sie e<strong>in</strong>en entscheidenden Schritt von <strong>der</strong> Barbarei zur Zivilisation<br />

vollziehen. Iphigenie ist es, <strong>di</strong>e das Ritual des Menschenopfers abschafft und e<strong>in</strong> gew<strong>in</strong>nendes<br />

Beispiel gewaltfreien Handelns und lauterer Ges<strong>in</strong>nung liefert.


6<br />

<strong>Goethe</strong> lagert vor uns als Schöpfer <strong>di</strong>eses klassischen Humanitätsideals: als Vorbild, als Leit-<br />

bild, das zur Identifikation e<strong>in</strong>lädt. Deshalb ist se<strong>in</strong>e Gestalt auch so <strong>di</strong>cht an den Betrachter<br />

heran gerückt. Tischbe<strong>in</strong>s Bild zeugt von Verehrung für <strong>Goethe</strong>, aber es betreibt ke<strong>in</strong>en Per-<br />

sonenkult. <strong>Goethe</strong> wird zwar idealisiert, aber nicht heroisiert. Das Bild duftet nicht nach<br />

Weihrauch. <strong>Goethe</strong> vere<strong>in</strong>t das Bodenstän<strong>di</strong>ge mit dem geistig Aufstrebenden. Er verb<strong>in</strong>det<br />

das Erdreich mit dem Reich des Geistes, er versöhnt Materie und Geist, wie <strong>di</strong>e aufstrebende<br />

Diagonale von <strong>der</strong> Fußspitze bis zur Hutspitze anzeigt. <strong>Goethe</strong> wird als gebildeter, aufgeklär-<br />

ter Weltbürger dargestellt, als Mensch von exemplarischer Bedeutung. Innerhalb e<strong>in</strong>es kos-<br />

mopolitischen Horizontes verkörpert er das geschichtsbewusste, humanistische Subjekt <strong>der</strong><br />

Neuzeit.<br />

Das tragende ideelle Hauptmotiv des Bildes ist <strong>di</strong>e – <strong>in</strong> <strong>Goethe</strong>s Gestalt vere<strong>in</strong>te – Polarität<br />

von Ruhe und Bewegung. Er ist auf Reisen und ruht doch zugleich. Beide Pole s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ihm<br />

versöhnt, verschränkt. Er verkörpert <strong>in</strong> sich beides: schöpferische Ruhe und schöpferische<br />

Bewegung, ohne <strong>di</strong>e niemand leben kann. <strong>Goethe</strong> reist und ruht zugleich: nicht als zielloser<br />

Weltenbummler, nicht als heimatloser Vagabund, <strong>der</strong> überall und deshalb nirgendwo zu Hau-<br />

se ist, erst recht nicht als „frei schweben<strong>der</strong> Intellektueller“. Denn trotz <strong>der</strong> eigentümlichen<br />

Schwebehaltung des l<strong>in</strong>ken Be<strong>in</strong>es verliert er <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Augenblick <strong>di</strong>e Bodenhaftung.<br />

Im Italien <strong>der</strong> Antike und im Italien <strong>der</strong> Renaissance fand <strong>Goethe</strong> se<strong>in</strong>e zweite Heimat, nicht<br />

im Italien <strong>der</strong> katholischen Kirche. Er kam sich dort wie neugeboren vor und schöpfte Kraft<br />

aus den begeisternden Kunst- und Naturerlebnissen, aus <strong>der</strong> Begegnung mit e<strong>in</strong>em me<strong>di</strong>terra-<br />

nen Lebensgefühl. Se<strong>in</strong>e Reise war e<strong>in</strong>e Flucht aus <strong>der</strong> Heimat, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er sich fremd fühlte. So<br />

kam er <strong>in</strong> <strong>di</strong>e Fremde und war doch nicht heimatlos. Im Spiegel des Fremden erkannte er das<br />

Eigene und wurde schließlich fähig, nach Deutschland zurück zu kehren, um den Pflichten<br />

des Alltags zu genügen, ohne <strong>der</strong> Berufung zum Dichter zu entsagen. Das Bild zeigt <strong>Goethe</strong><br />

unterwegs und doch nicht entwurzelt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fremde und doch bei sich selbst.<br />

Wie und wo ruht <strong>Goethe</strong>?<br />

Er ruht auf dem harten Ste<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es umgestürzten und zerbrochenen Obelisken. E<strong>in</strong>e kurze<br />

Reiseunterbrechung sieht an<strong>der</strong>s aus. Das Bild ist nicht <strong>der</strong> gemalte Schnappschuss e<strong>in</strong>er zu-<br />

fälligen Rast, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e bewusste Inszenierung. Bedeutungsvoll wird <strong>Goethe</strong> <strong>in</strong> <strong>di</strong>e Land-<br />

schaft e<strong>in</strong>gebettet. Körperhaltung und Blick verraten denkmalartig Dauerhaftigkeit. Ke<strong>in</strong><br />

Stäubchen beschmutzt <strong>di</strong>e Schuhe.


7<br />

Der weite Reisemantel bedeckt große Teile des Ste<strong>in</strong>s und veranschaulicht den geistigen Vor-<br />

gang <strong>der</strong> Aneignung von Kulturerbe. Unsichtbares sichtbar zu machen, gehört zu den Aufga-<br />

ben des bildnerischen Künstlers. Tischbe<strong>in</strong> gel<strong>in</strong>gt <strong>di</strong>es, <strong>in</strong>dem er <strong>Goethe</strong>s Gewand nicht nur<br />

kunstvoll über den Obelisken drapiert, son<strong>der</strong>n es auch dem Ste<strong>in</strong> stofflich annähert. Der Um-<br />

hang wirkt weniger wie e<strong>in</strong> textiles Gewebe als wie aus Marmor modelliert. So wird auch auf<br />

<strong>di</strong>es Weise <strong>der</strong> Vorgang ideeller E<strong>in</strong>verleibung, geistiger Anverwandlung, s<strong>in</strong>nlich fassbar<br />

gemacht.<br />

<strong>Goethe</strong> ist e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> sich ruhende Persönlichkeit, weil er auf etwas ruht. Er strahlt Ruhe aus,<br />

weil er auf e<strong>in</strong>em festen Fundament ruht. Indem er das antike Kulturerbe <strong>in</strong> sich aufnimmt,<br />

hat er se<strong>in</strong>e Identität zwar nicht erst gefunden, aber erweitert, bereichert. Se<strong>in</strong>e Kraft speist<br />

sich aus den Tiefen <strong>der</strong> europäischen und außereuropäischen Zivilisation.<br />

Anhand des Obelisken möchte ich das zweite ideelle Motiv des Bildes aufzeigen: <strong>di</strong>e Ver-<br />

schränkung von Zerfall und Neubeg<strong>in</strong>n, von Vergänglichkeit und Hoffnung, von Destruktion<br />

und Konstruktion. E<strong>in</strong>st war <strong>der</strong> Obelisk das eherne Wahrzeichen altägyptischer Pharaonen-<br />

herrschaft. Jetzt <strong>di</strong>ent es als Ruhestätte e<strong>in</strong>es aufgeklärten Weltbürgers. E<strong>in</strong>st symbolisierte<br />

<strong>der</strong> Obelisk – <strong>in</strong> vertikaler Richtung – <strong>di</strong>e Verb<strong>in</strong>dung des Pharao mit dem Sonnengott. Jetzt<br />

liegt er zerschlagen, h<strong>in</strong>gestreckt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Horizontalen und verdeutlicht <strong>di</strong>e Brüchigkeit und<br />

Vergänglichkeit menschlicher Herrschaftsverhältnisse, mögen sie sich noch so sehr kosmi-<br />

scher Legitimität brüsten und deshalb von Unvergänglichkeit träumen.<br />

Als Inbegriff pathetischer Herrschaftsarchitektur drückte <strong>der</strong> Obelisk e<strong>in</strong>st <strong>di</strong>e Macht von<br />

Sonnenkönigen und Tempelpriestern aus. Jetzt ruht e<strong>in</strong> deutscher, e<strong>in</strong> europäischer, e<strong>in</strong> welt-<br />

bürgerlicher Humanist gelassen auf ihm: Johann Wolfgang <strong>Goethe</strong> aus Frankfurt am Ma<strong>in</strong>.<br />

„Das Große bleibt groß nicht und kle<strong>in</strong> nicht das Kle<strong>in</strong>e… Es wechseln <strong>di</strong>e Zeiten. Die riesi-<br />

gen Pläne <strong>der</strong> Mächtigen kommen am Ende zum Halt.“ So <strong>di</strong>chtete Bert Brecht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

„Lied an <strong>di</strong>e Moldau“.<br />

Freilich ist e<strong>in</strong> Obelisk nicht nur S<strong>in</strong>nbild hierarchischer und despotischer Herrschaft von<br />

Menschen über Menschen im Zeichen des Sonnenkultes. E<strong>in</strong> Obelisk ist auch e<strong>in</strong> kunstferti-<br />

ges Erzeugnis geschickter Handarbeit von Ste<strong>in</strong>metzen, das – dank se<strong>in</strong>er schlanken und zeit-<br />

los schönen Gestalt – auch <strong>in</strong> späteren Epochen immer wie<strong>der</strong> als architektonisches Element


8<br />

aufgegriffen wurde. <strong>Goethe</strong>s Begeisterung für Obelisken <strong>in</strong> Rom entzündete sich an <strong>der</strong>en<br />

Ästhetik, nicht an ihrer ursprünglichen imperialen Funktion.<br />

Als drittes ideelles Bildmotiv möchte ich <strong>di</strong>e Verschränkung von Natur und Kultur hervorhe-<br />

ben. <strong>Goethe</strong> ruht auf dem Obelisken, berührt absichtsvoll mit e<strong>in</strong>em Fuß den Erdboden und<br />

ragt mit se<strong>in</strong>em Kopf über <strong>di</strong>e Berge <strong>in</strong> den Himmel h<strong>in</strong>aus. Intuitiv hat Tischbe<strong>in</strong> so wesent-<br />

liche Aspekte von <strong>Goethe</strong>s Naturphilosophie erfasst. Der menschliche Geist überragt <strong>di</strong>e Na-<br />

tur, aber beherrscht sie nicht, weil von ihr selbst hervorgebracht. Im menschlichen Bewusst-<br />

se<strong>in</strong> kommt <strong>di</strong>e Natur zum Bewusstse<strong>in</strong> ihrer selbst, schaut sich <strong>di</strong>e Natur selbst an, selbst zu.<br />

Auch als tätiges und erkennendes Subjekt ist <strong>der</strong> Mensch e<strong>in</strong> Stück Natur, gehört ihr mit Haut<br />

und Haar, mit Körper und Geist an.<br />

Dem biblischen Gedanken, <strong>der</strong> Mensch solle sich <strong>di</strong>e Erde untertan machen, stand <strong>Goethe</strong><br />

kritisch gegenüber. Francis Bacons Utopie, <strong>der</strong> Mensch könne gar <strong>di</strong>e Natur beherrschen,<br />

lehnte er als Ausdruck menschlichen Größenwahns ab. Demgegenüber entwickelte er – <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

pantheistischen Tra<strong>di</strong>tion Sp<strong>in</strong>ozas, Her<strong>der</strong>s, Schell<strong>in</strong>gs – e<strong>in</strong>e Haltung staunen<strong>der</strong> Ehrfurcht<br />

gegenüber <strong>der</strong> Natur. Der Mensch könne und solle sich zwar e<strong>in</strong>zelne Naturkräfte nutzbar<br />

machen, etwa – wie auf dem Bild – Wasser durch Aquädukte leiten. Aber <strong>di</strong>e Natur überlisten<br />

und unterwerfen zu wollen, müsse <strong>in</strong> Selbstzerstörung münden.<br />

Die E<strong>in</strong>heit des Menschen mit <strong>der</strong> Natur hat <strong>Goethe</strong> allerd<strong>in</strong>gs nicht zum E<strong>in</strong>klang zwischen<br />

beiden verklärt. Immer wie<strong>der</strong> zeigt er <strong>di</strong>e qualitative Differenz, ja <strong>di</strong>e bleibende Fremdheit<br />

zwischen Mensch und Natur auf. In se<strong>in</strong>em Ge<strong>di</strong>cht „Das Göttliche“ aus dem Jahre 1783<br />

heißt es:<br />

„Denn unfühlend<br />

Ist <strong>di</strong>e Natur:<br />

Es leuchtet <strong>di</strong>e Sonne<br />

Über Bös’ und Gute,<br />

Und dem Verbrecher<br />

Glänzen wie dem Besten<br />

Der Mond und <strong>di</strong>e Sterne.<br />

( )<br />

Nur alle<strong>in</strong> <strong>der</strong> Mensch<br />

Vermag das Unmögliche:


Er unterscheidet,<br />

9<br />

Wählet und richtet;<br />

Er kann dem Augenblick<br />

Dauer verleihen.“<br />

Als viertes ideelles Bildmotiv möchte ich das <strong>di</strong>alektische Verhältnis von In<strong>di</strong>vidualität und<br />

Kollektivität herausgreifen. <strong>Goethe</strong> ist unzweideutig als das konkrete In<strong>di</strong>viduum aus Frank-<br />

furt am Ma<strong>in</strong> erkennbar. Zugleich wird er als Repräsentant e<strong>in</strong>er weltbürgerlich vere<strong>in</strong>ten<br />

Menschheit vorgestellt. Der Reichtum se<strong>in</strong>er Persönlichkeit ist <strong>der</strong> Reichtum se<strong>in</strong>er Bezie-<br />

hungen zu an<strong>der</strong>en Menschen, zur Natur und zur Geschichte: kurz, se<strong>in</strong>er Beziehungen zur<br />

Welt. <strong>Goethe</strong> wird als <strong>in</strong>tegrative Persönlichkeit gezeigt, als jemand, <strong>der</strong> viel <strong>in</strong> sich aufge-<br />

nommen hat vom Reichtum <strong>der</strong> Welt, von <strong>der</strong> Schönheit <strong>der</strong> Natur und <strong>der</strong> Künste, von <strong>der</strong><br />

Fülle geschichtlicher Erfahrungen. Und eben deshalb kann er viel davon an an<strong>der</strong>e weiterge-<br />

ben.<br />

Es gibt e<strong>in</strong>en <strong>Goethe</strong>-Text, <strong>der</strong> <strong>di</strong>ese Deutung des Bildes unmittelbar bestätigt – e<strong>in</strong>en Text<br />

aus den „Gesprächen mit Eckermann“, e<strong>in</strong> Dokument tiefgrün<strong>di</strong>ger Altersweisheit, <strong>in</strong> dem<br />

<strong>Goethe</strong> <strong>di</strong>e philosophische Summe se<strong>in</strong>es Lebens zog. Ich zitiere daraus: „Im Grunde aber<br />

s<strong>in</strong>d wir alle kollektive Wesen, wir mögen uns stellen, wie wir wollen. Denn wie weniges<br />

haben und s<strong>in</strong>d wir, das wir im re<strong>in</strong>sten S<strong>in</strong>ne unser Eigentum nennen! Wir müssen alle emp-<br />

fangen und lernen, sowohl von denen, <strong>di</strong>e vor uns waren, als von denen, <strong>di</strong>e mit uns s<strong>in</strong>d.<br />

Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles se<strong>in</strong>em eigenen Inneren ver-<br />

danken wollte. Das begreifen aber viele sehr gute Menschen nicht und tappen mit ihren<br />

Träumen von Orig<strong>in</strong>alität e<strong>in</strong> halbes Leben im Dunkeln. (…)<br />

Es ist wahr, ich habe <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em langen Leben mancherlei getan und zustande gebracht, des-<br />

sen ich mich allenfalls rühmen könnte. Was hatte ich aber, wenn wir ehrlich se<strong>in</strong> wollen, das<br />

eigentlich me<strong>in</strong> war, als <strong>di</strong>e Fähigkeit und Neigung zu sehen und zu hören, zu unterscheiden<br />

und zu wählen und das Gesehene und Gehörte mit e<strong>in</strong>igem Geist zu beleben und mit e<strong>in</strong>iger<br />

Geschicklichkeit wie<strong>der</strong>zugeben. Ich verdanke me<strong>in</strong>e Werke ke<strong>in</strong>eswegs me<strong>in</strong>er eigenen<br />

Weisheit alle<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n Tausenden von D<strong>in</strong>gen und Personen außer mir, <strong>di</strong>e mir dazu das<br />

Material boten.“ (Zitiert nach: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit <strong>Goethe</strong> <strong>in</strong> den letzten<br />

Jahren se<strong>in</strong>es Lebens, München, 1984, 2. Auflage, 662/663, Gespräch am 17. Februar 1832)


10<br />

E<strong>in</strong> Text, <strong>der</strong> es <strong>in</strong> sich hat, e<strong>in</strong> klassisches Dokument, das immer wie<strong>der</strong> gelesen werden<br />

kann, e<strong>in</strong> literarisches Zeugnis, das e<strong>in</strong>e ausführliche Interpretation ver<strong>di</strong>ent. Hier nur so viel:<br />

<strong>Goethe</strong> kann geben, weil er empfangen hat. Weil er gelernt hat, kann er lehren. Er lebt <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Polarität von E<strong>in</strong>atmen und Ausatmen <strong>der</strong> Welt, von Systole und Diastole (wie er selbst gerne<br />

mit me<strong>di</strong>z<strong>in</strong>ischer Metaphorik sagt), von Zusammenziehen und Ausstoßen, von Aufnehmen<br />

und Abgeben. Nur <strong>di</strong>e Persönlichkeit kann etwas ausstrahlen, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Welt <strong>in</strong> sich aufgesogen,<br />

sie sich anverwandelt hat. Das kollektive Wesen löst <strong>di</strong>e In<strong>di</strong>vidualität nicht auf, son<strong>der</strong>n be-<br />

gründet sie. Höchste In<strong>di</strong>vidualität entspr<strong>in</strong>gt höchster Kollektivität.<br />

Tischbe<strong>in</strong>s Gemälde „<strong>Goethe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Campagna</strong> <strong>di</strong> <strong>Roma</strong>“ ist selbst von <strong>Goethe</strong>schem Lebens-<br />

gefühl und <strong>Goethe</strong>schem Geist durchdrungen. Es er<strong>in</strong>nert an Verse aus dem „West-östlichen<br />

Diwan“:<br />

„Wer nicht von dreitausend Jahren<br />

Sich weiß Rechenschaft zu geben,<br />

Bleib’ im Dunkeln unerfahren,<br />

Mag von Tag zu Tage leben.“<br />

(Buch des Unmuts)<br />

Das Bild stellt den Zahn <strong>der</strong> Zeit dar, <strong>der</strong> an allem nagt. Es verfällt darüber aber nicht <strong>der</strong><br />

Schwermut. Nichts und niemand vermag <strong>di</strong>e Zeit aufzuhalten. Sie ist <strong>di</strong>e „allmächtige Zeit“,<br />

<strong>der</strong> auch <strong>di</strong>e Götter unterworfen seien, wie es <strong>Goethe</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Sturm und Drang-Periode<br />

selbst formuliert hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ge<strong>di</strong>cht „Prometheus“. Und doch bestehen auf <strong>der</strong> Zeitachse –<br />

zwischen Vergangenheit und Zukunft, eben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart – Möglichkeiten des Innehal-<br />

tens und damit des E<strong>in</strong>greifens. Nichts zerfällt zu nichts. Es bleiben nicht nur Trümmer, es<br />

bleiben auch Ru<strong>in</strong>en, Reste: Möglichkeiten, Untergegangenes aufzuarbeiten, anzueignen, wei-<br />

terzuführen. Selbst e<strong>in</strong> Trümmerhaufen kann rekultiviert werden und als Aussichtspunkt <strong>di</strong>e-<br />

nen.<br />

Zwischen den Ru<strong>in</strong>en auf unserem Bild sprießt frisches Grün. Dass Untergang <strong>di</strong>e Vorausset-<br />

zung für Neuanfang se<strong>in</strong> kann, hat Hegel – dar<strong>in</strong> <strong>Goethe</strong> geistesverwandt – <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en „Vorle-<br />

sungen über <strong>di</strong>e Philosophie <strong>der</strong> Geschichte“ e<strong>in</strong>mal so ausgedrückt: „Welcher Reisende ist<br />

nicht unter den Ru<strong>in</strong>en von Karthago, Palmyra, Persepolis, Rom zu Betrachtungen über <strong>di</strong>e<br />

Vergänglichkeit <strong>der</strong> Reiche und Menschen, zur Trauer über e<strong>in</strong> ehemaliges kraftvolles und<br />

reiches Leben veranlasst worden? – e<strong>in</strong>e Trauer, <strong>di</strong>e nicht bei persönlichen Verlusten und <strong>der</strong>


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Vergänglichkeit <strong>der</strong> eigenen Zwecke verweilt, son<strong>der</strong>n un<strong>in</strong>teressierte Trauer über den Unter-<br />

gang glänzenden und gebildeten Menschenlebens ist. – Die nächste Bestimmung aber, welche<br />

sich an <strong>di</strong>e Verän<strong>der</strong>ung anknüpft, ist, dass <strong>di</strong>e Verän<strong>der</strong>ung, welche Untergang ist, zugleich<br />

Hervorgehen e<strong>in</strong>es neuen Lebens ist, dass aus dem Leben Tod, aber aus dem Tod Leben her-<br />

vorgeht. Es ist <strong>di</strong>es e<strong>in</strong> großer Gedanke,…“ (G.W.F. Hegel, Werke <strong>in</strong> zwanzig Bänden, Band<br />

12, Frankfurt/M., 1970, Seite 97f.)<br />

In <strong>der</strong> Tat ist <strong>di</strong>es e<strong>in</strong> „ großer Gedanke“, und er prägt den ideellen Gehalt des Bildes. Aus<br />

<strong>Goethe</strong>s Blick spricht ke<strong>in</strong>e lähmende Trübsal, ke<strong>in</strong>e pathetische Endzeitstimmung, son<strong>der</strong>n<br />

jene „un<strong>in</strong>teressierte“, sehende, stille Trauer über den Weltlauf, <strong>di</strong>e zu je<strong>der</strong> tieferen Lebens-<br />

freude gehört.<br />

Weshalb lohnt es sich, Tischbe<strong>in</strong>s <strong>Goethe</strong>-Porträt genauer zu betrachten? Das Bild kann uns<br />

helfen, <strong>in</strong> unserer schnelllebigen Zeit jene <strong>in</strong>nere Ruhe zu f<strong>in</strong>den, <strong>di</strong>e wir alle so dr<strong>in</strong>gend<br />

benötigen. Die Muße, <strong>di</strong>e <strong>Goethe</strong>s Gestalt verkörpert, ist Kernbestandteil e<strong>in</strong>er Lebenskunst,<br />

<strong>di</strong>e nicht an <strong>di</strong>e Postkutschenzeit gebunden ist, son<strong>der</strong>n auch im Me<strong>di</strong>enzeitalter möglich und<br />

erst recht nötig ist. Die Schnelllebigkeit unsere Tage überfor<strong>der</strong>t <strong>di</strong>e Menschen und entfrem-<br />

det sie sich selbst. Das rasante Tempo im technischen Wandel, namentlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kommuni-<br />

kations-, Verkehrs- und Waffentechnik, begünstigt falsche Maßstäbe für das menschliche<br />

Leben. Inneres Reifen, Charakterbildung, gedankliches und gefühlsmäßiges Verarbeiten von<br />

Erlebtem, bedächtiges Handeln werden so erschwert. Menschliche Beziehungen verschleißen<br />

immer schneller.<br />

Tischbe<strong>in</strong>s Bild kann uns dabei behilflich se<strong>in</strong>, den Kult <strong>der</strong> Geschw<strong>in</strong><strong>di</strong>gkeit auf e<strong>in</strong> be-<br />

kömmliches Maß zurück zu führen und <strong>di</strong>e Wohltaten <strong>der</strong> Langsamkeit (wie<strong>der</strong>) zu entdecken.<br />

<strong>Goethe</strong> selbst hat im Alter vor dem „Veloziferischen“, vor <strong>der</strong> unheilvollen Beschleunigung<br />

aller Lebensbereiche durch <strong>di</strong>e Masch<strong>in</strong>entechnik, gewarnt. Ke<strong>in</strong> Kunstwerk kann uns <strong>di</strong>e<br />

jeweils eigene Antwort auf Lebensfragen abnehmen. Ke<strong>in</strong> Kunstwerk kann uns von eigenem<br />

Handeln entlasten. Aber e<strong>in</strong> gutes Bild kann uns anregen, nachdenklich stimmen, unseren<br />

Blick auf Wesentliches richten: darauf, worauf es ankommt im Leben, im verwirrenden Vie-<br />

lerlei des Alltags.<br />

Gewiss hat Tischbe<strong>in</strong>s Bild handwerkliche Mängel und künstlerische Schwachpunkte, <strong>di</strong>e<br />

nicht unerwähnt bleiben sollen, auch schon oft erwähnt wurden. Die zwei l<strong>in</strong>ken Schuhe –


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vielfach registriert und moniert – gehören freilich nicht dazu. Denn erst im neunzehnten Jahr-<br />

hun<strong>der</strong>t setzte sich <strong>di</strong>e feste Unterscheidung zwischen l<strong>in</strong>kem und rechtem Schuh allgeme<strong>in</strong><br />

durch. Zu <strong>Goethe</strong>s und Tischbe<strong>in</strong>s Zeiten wurden beide noch über e<strong>in</strong>en Leisten geschlagen.<br />

(Vgl. Charles Panati, Universalgeschichte <strong>der</strong> ganz gewöhnlichen D<strong>in</strong>ge, Büchergilde Guten-<br />

berg, Frankfurt/M – Wien, 1994, Seite 229)<br />

Aber <strong>di</strong>e Farben des Bildes s<strong>in</strong>d – außer um <strong>di</strong>e Kopfpartie herum – ausgesprochen matt, flau,<br />

uns<strong>in</strong>nlich. Ihre akademische Blässe wird we<strong>der</strong> dem mittelmeerischen Licht noch <strong>Goethe</strong>s<br />

Glücks- und Freiheitsgefühl auf <strong>der</strong> italienischen Reise gerecht. Mit <strong>di</strong>eser E<strong>in</strong>schränkung<br />

kann uns das Bild viel geben, wenn wir es, wie hier versucht, als humanistisches Programm-<br />

bild lesen. Es spricht gerade uns K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Jahrtausendwende an, <strong>di</strong>e wir Aufstieg und Fall<br />

stabil geglaubter Verhältnisse miterlebt haben. In e<strong>in</strong>er Zeit kultureller Demontage und ethi-<br />

scher Beliebigkeit kann es uns e<strong>in</strong> Stück geistiger Orientierung vermitteln und unseren Hun-<br />

ger nach Wahrheit und Klarheit, nach Würde und Schönheit für e<strong>in</strong> Weilchen stillen. Möge<br />

das Bild uns im Alltag begleiten und uns ermuntern, auch <strong>Goethe</strong> selbst zum Lebensgefährten<br />

zu erwählen.

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