Yorcker Nr. 71 (Mai/Juni 2008) - Yorck Kino GmbH
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Kinski:<br />
Jesus Christus Erlöser<br />
<strong><strong>Yorck</strong>er</strong> <strong>71</strong><br />
REGIE Peter Geyer<br />
FILMOGRAPhIE<br />
Filmdebüt<br />
BuCh Klaus Kinski<br />
JAhR <strong>2008</strong><br />
LAND Deutschland<br />
8<br />
„Jesus hätte seine Peitsche genommen und<br />
dir in die Fresse gehauen.“ Klaus Kinski mit<br />
schulterlangen Haaren, Jeans mit Schlag und<br />
Blümchenhemd, er probiert diesen Monolog<br />
aus, mit dem er auf Welttournee gehen will.<br />
Zur Dokumentation dieses Abends hat er ein<br />
paar Kameraleute arrangiert, die ihn auf der<br />
Bühne mitfilmen sollen.<br />
Am 20. November 19<strong>71</strong> möchte Klaus Kinski<br />
die erregendste Geschichte der Menschheit erzählen<br />
– das Leben von Jesus Christus. Die Berliner<br />
Deutschlandhalle ist ausverkauft, das heißt<br />
so 3.000 und ein paar Gequetschte. Studenten<br />
hauptsächlich in sachlicher Diskussionsabendgarderobe<br />
und Hippies mit verklärtem Blick auf<br />
der Suche nach Erleuchtung, strömen gut gelaunt<br />
und entspannt durch das Foyer in den Saal. Dann<br />
erscheint im kahlen Scheinwerfer ein kleines<br />
Männlein auf der leeren Bühne. „Gesucht wird<br />
Jesus Christus. Angeklagt wegen Verführung,<br />
anarchistischer Tendenzen, Verschwörungen gegen<br />
die Staatsgewalt. Besondere Kennzeichen:<br />
Narben an Händen und Füßen...” Vietnam, Kommune,<br />
Junkies, Kriegsdienstverweigerer, weinende<br />
Mütter in Vietnam, Huren, Trinker, Kriminelle.<br />
Und es entgleist sehr schnell. Kinski: „Angeblicher<br />
Beruf: Arbeiter.” Erster Zwischenrufer: „Du hast<br />
doch noch nie gearbeitet!” Zunächst übergeht<br />
der Prophet an der Rampe die kleinen Attacken,<br />
was die Nörgler wiederum offenbar ärgert. Ein entrüsteter<br />
zahlender Teilnehmer dieser Performance<br />
StARt: 15.05.08<br />
MuSIK Florian Käppler<br />
Daniel Requardt<br />
LäNGE 84 min<br />
entert die Bühne: „Ich will jetzt auch mal was sagen.”<br />
So kennt man das 19<strong>71</strong> von den Podiumsdiskussionen<br />
an der Uni. Aber Kinski beleidigt das<br />
Publikum, das Publikum wird ärgerlich.<br />
Jesus Christus Erlöser heißt das Stück, Kinski ist<br />
damals 45. Mehrmals verläßt er die Bühne, über<br />
sechs Stunden zieht sich der Versuch einer Performance<br />
hin, und je aggressiver die Zwischenrufer<br />
werden, desto pathetischer und böser wird der<br />
Prediger da oben: als wolle er das „Scheißgesindel”<br />
aus dem Tempel vertreiben, den sein Veranstalter<br />
immerhin angemietet hat – wenn auch<br />
der Eintritt zehn Mark kostete. Und dazu dieser<br />
Blick, wenn er „Arschloch“, „dumme Sau“ oder<br />
„Gesindel“ ruft: Da mischt sich unwillkürlich die<br />
Angst vor dem Irren aus den Wallace-Filmen in<br />
die Faszination des Übergeschnappten aus der<br />
bundesrepublikanischen Bohème.<br />
134 Minuten Filmmaterial hat der Kinski-Biograf<br />
und Nachlaßverwalter Peter Geyer mit Hilfe aller<br />
verfügbaren Bild- und Tondokumente des Abends<br />
– in eine verfolgbare Version gebracht: eine Groteske<br />
mit Happy End, wenn Kinski zuletzt, mitten<br />
in der Nacht, inmitten eines Häufleins ziemlich<br />
junger herumstehender Menschen wandelt und<br />
endlich seinen 30 Schreibmaschinenseiten langen<br />
Text vorträgt: gewissermaßen als szenische<br />
Rezitation, wie Jesus zwischen seinen aufmerksamen<br />
Jüngern und verträumten Jüngerinnen.<br />
GEhA LAF