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Iwanow

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Das frühe Stück »<strong>Iwanow</strong>« hat zwar noch alle Zutaten eines »klassischen« Melodramas: Liebe, Hass, Eifersucht, Neid<br />

und Missgunst. Es beginnt mit einem vorgetäuschten Pistolenschuss und endet mit dem Pistolenschuss von <strong>Iwanow</strong>s<br />

Selbstmord. Dazwischen aber wird das Portrait einer sich im Lästern, Hetzen Geifern leerlaufenden Gesellschaft gezeichnet,<br />

unter ihnen der »fiebrige Spitzbube« Borkin, der den Menschen in ihrer inneren Ödnis wenigstens den Traum vom<br />

schnellen Geld vorgaukelt. Die Liebesgeschichte zwischen <strong>Iwanow</strong> und Sascha zieht wie ein kurzes Wetterphänomen nur<br />

schnell vorüber.<br />

Den Mittelpunkt dieser Gesellschaft bildet paradoxerweise der depressive <strong>Iwanow</strong>, über den geredet wird, über den<br />

man schimpft, herzieht, der erotisiert wird. Rückwärtsgewandt beschreibt <strong>Iwanow</strong> sein vergangenes, tätiges Leben als<br />

»Rausch«. Und dieser Rausch wurde von der Depression abgelöst. Fast hundert Jahre bevor es diesen Begriff überhaupt<br />

gibt, beschreibt Tschechow bei seinem Helden die Symptome eines Burnout-Syndroms.<br />

Das Burnout-Syndrom, die »Erschöpfungsdepression« scheint die paradigmatische Krankheit unserer Tage zu sein. Die<br />

Moderne lässt sich als eine Zeit beschreiben, in der sich das Individuum vom Gesetz der Väter und den alten Gehorsamsund<br />

Konformitätssystemen befreit hat und nicht mehr mit der Grenze zwischen Erlaubten und Verbotenem, sondern in<br />

der Spannung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen lebt (Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst). Durch<br />

die schrittweise Auflösung höherer Ordnungen in der Moderne, wie der Marginalisierung der Kirche und des Glaubens<br />

und der flacheren hierarchischen Struktur in der modernen Demokratie hat sich die Gesellschaft von einer vertikal orientierten<br />

zu einer partikularisierten Gesellschaft (mit unterschiedlichsten Lebensmilieus und den dazugehörigen höchst<br />

unterschiedlichen Normen, Werten und Rollenbildern) entwickelt, in der es nicht mehr die Gesetzen und Verboten gehorchende<br />

Orientierung nach oben gibt, sondern das »Sich-zurecht-finden-müssen« in einer unüberschaubar gewordenen,<br />

globalisierten Welt. Nicht mehr der Gehorsam sondern die persönliche Initiative ist gefragt. Der Einzelne muss sich auf<br />

seinen inneren Antrieb stützen. »Projekt«, »Motivation«, »Kommunikation« sind dann auch die Schlagworte der Stunde,<br />

die auch schnell eine Überforderung markieren können. »Ich selbst sein« ist das Ziel des modernen Menschen geworden.<br />

Mit dem Aufkommen des Begriffs der »unbegrenzten Möglichkeiten« im 20. Jahrhundert symbolisiert die Depression das<br />

Unbeherrschbare im Angesicht eines ganzen Kosmos an Möglichkeiten, gegen den sich zwangsläufig jede Entscheidung<br />

richtet. Wenn die Neurose das Drama der Schuld in einer von Verboten bestimmten Welt war, so ist die Depression das<br />

Drama der Unzulänglichkeiten. <strong>Iwanow</strong> ist unter der Vielzahl seiner hochfliegenden Pläne und dem rauschhaften Tempo,<br />

mit dem er sie angegangen war, zusammen gebrochen.<br />

»Wie soll man leben?« war die Frage, die Tschechow in all seinen Werken beschäftigt hat. »Besser!« wäre wohl seine Antwort<br />

gewesen. Den Dilemmata des Menschseins hat er ein heiteres »Trotzdem« entgegen gesetzt:<br />

»(Es) bleibt ein seltsames Trotzdem. Und man arbeitet dennoch und erzählt Geschichten und formt die Wahrheit in der<br />

dunklen Hoffnung, fast in der Zuversicht, dass Wahrheit und heitere Form wohl seelische befreiend wirken und die Welt<br />

auf ein besseres, schöneres, dem Geiste gerechteres Leben vorbereiten können.« (Thomas Mann, Versuch über Tschechow)

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