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DAS INGMAR BERGMAN ARCHIV<br />

Filme machen<br />

Auszug aus einem Essay von Ingmar Bergman<br />

Filme machen ist für mich eine persönliche Angelegenheit,<br />

ein Bedürfnis im selben Maß wie Hunger und Durst. Manche<br />

Leute bringen sich mit Bücher schreiben, Bilder malen,<br />

Gipfel stürmen, Kinder verprügeln oder Samba tanzen<br />

zum Ausdruck. Mein Ausdruck ist das Filme machen.<br />

Der große Cocteau zeigt uns in seinem Film Das Blut eines<br />

Dichters, wie sein alter ego durch einen albtraumhaften<br />

Hotelflur wankt, und hinter verschiedenen Türen erscheinen<br />

Komponenten, die ihn hervorgebracht haben, die<br />

ihn ausmachen. Ohne die Möglichkeit, so persönlich zu<br />

werden wie Cocteau, möchte ich das verehrte Publikum<br />

heute Abend durch die Werkstatt führen, in der meine<br />

Filme entstehen. Es tut mir leid, wenn dieser Besuch nicht<br />

zufrieden stellend ausfallen sollte: die Werkstatt ist zurzeit<br />

recht schlampig, weil ihr Besitzer so viel damit zu tun<br />

hatte, sie aufzuräumen. Außerdem ist in manchen Ecken<br />

ziemlich schlechtes Licht, in manche Räume gehen wir<br />

gar nicht hinein – da steht mit Großbuchstaben „Privat“<br />

an der Tür, und der Leiter dieser Führung ist sich nicht<br />

ganz sicher – er weiß nicht, was bei einer Führung von<br />

Interesse sein könnte.<br />

Öffnen wir aber wenigstens einige Türen einen Spalt breit.<br />

Damit ist nicht gesagt, dass wir finden, was wir suchen,<br />

der Abend zeigt aber möglicherweise einzelne Stücke des<br />

Legespiels, das da heißt: Filme machen.<br />

Bis heute sage ich mir mit einem Hauch<br />

kindlicher Erregung, dass ich mich mit<br />

Zauberei beschäftige, weil die Kinematographie<br />

auf einer Unvollkommenheit des<br />

menschlichen Auges beruht<br />

Wenn wir das elementarste Prinzip der Kinematographie<br />

betrachten, den perforierten Filmstreifen, dann sehen wir<br />

auf einem Meter Länge 52 kleine Bildfenster, eins vom andern<br />

getrennt durch einen dicken schwarzen Strich. Bei<br />

genauer Betrachtung erkennt man, dass diese kleinen Bildfenster,<br />

die auf den ersten Blick wie exakt gleiche Fotos<br />

desselben Motivs aussehen, sich jeweils unterscheiden,<br />

und zwar durch eine unbedeutende Veränderung im<br />

Ausdruck des Motivs. Der Transportmechanismus des<br />

Projektionsapparats, der die kleinen Bildfenster jeweils<br />

im Abstand einer vierundzwanzigstel Sekunde auf den<br />

Bildschirm projiziert, zwingt uns die Illusion einer Bewegung<br />

auf. Beim Übergang von einem Bildfenster zum<br />

nächsten schiebt sich die Blende vor die geöffnete Linse<br />

und liefert uns in völliger Dunkelheit aus, worauf das<br />

nächste beleuchtete Fenster erscheint.<br />

Als ich ein Junge von zehn Jahren war und meinen ersten<br />

ratternden Blechkasten besaß, mit Schornstein, Petroleumlampe<br />

und Endlosfilm, der immer wieder von vorn ablief,<br />

da fand ich das oben genannte Geschehen geheimnisvoll<br />

und aufregend. Und bis heute sage ich mir mit einem<br />

Hauch kindlicher Erregung, dass ich mich eigentlich mit<br />

Zauberei beschäftige, weil die Kinematographie auf einer<br />

Unvollkommenheit des menschlichen Auges beruht, auf<br />

der Unfähigkeit, den raschen Wechsel nahezu gleichartiger<br />

Bilder zu erfassen.<br />

Ich habe ausgerechnet, dass ich in einem Film von einer<br />

Stunde Länge 27 Minuten im Stockfinsteren sitze. Wenn<br />

ich einen Film vorführe, mache ich mich also der betrügerischen<br />

Absicht schuldig. Ich benutze einen Apparat, der<br />

auf einer menschlichen Unvollkommenheit basiert, einen<br />

Apparat, mit dem ich mein Publikum heftigen emotionalen<br />

Pendelschlägen aussetze. Ich bringe es zum Lachen, zu<br />

Entsetzensschreien, zum Lächeln, zum Glauben an Märchen,<br />

ich empöre, schockiere, betöre, verführe es oder lasse<br />

es vor Langeweile gähnen. Entweder bin ich also ein Betrüger<br />

oder – falls das Publikum bei dem Betrug mitspielt<br />

– ein Zauberkünstler. Ich zaubere, und zur Verfügung<br />

steht mir die teuerste und merkwürdigste Zaubermaschine,<br />

die ein <strong>Taschen</strong>spieler seit Beginn der Welt je besessen<br />

oder benutzt hat.<br />

Dieser Tatbestand ruft, bzw. sollte einen unlösbaren Konflikt<br />

bei denjenigen hervorrufen, die sich mit der Hervorbringung<br />

und Verwertung von Produkten der Filmindustrie<br />

befassen. Wie oft sich die kommerziellen Partner<br />

schon versündigt haben, das dürfte den Rahmen des<br />

heutigen Vortrags sprengen, interessant wäre aber, wenn<br />

ein Wissenschaftler eines Tages ein Gewicht- oder Größenmaß<br />

erfinden würde, mit dem man messen könnte, wie<br />

viel Begabung, Initiative, Genialität und schöpferische<br />

Kraft die Filmindustrie in ihren ziemlich effektiven<br />

Fleischwölfen schon zermalmt hat. Zugleich muss man<br />

natürlich bedenken, dass der, der sich auf das Spiel einlässt,<br />

auch dafür bezahlen muss, es gibt im Grunde keinen<br />

Anlass anzunehmen, dass die Filmarbeit weniger rücksichtslos<br />

sein sollte als jede andere Art der Nutzung. Der<br />

Unterschied liegt wohl nur darin, dass die Brutalität so unmaskiert<br />

auftritt, was ja aber eher von Vorteil sein müsste.<br />

Der Balanceakt, den der ehrgeizige Filmemacher vollführt,<br />

ist halsbrecherischer als ein Salto mortale unter einer Zirkuskuppel<br />

ohne Netz und doppelten Boden. Hochseilartisten<br />

und Filmemacher leben mit dem gleichen unabsehbaren<br />

Risiko: man kann herunterfallen und tot sein.<br />

Das hält nun mancher eindeutig für übertrieben, so gefährlich<br />

ist das Filme machen ja wohl nicht. Doch, sage<br />

ich, genau so gefährlich. Zwar ist man, wie ich bereits<br />

sagte, ein bisschen Zauberkünstler, aber Produzenten,<br />

Bankdirektoren, Kinobesitzer oder Kritiker verzaubert<br />

kein Mensch, wenn das Publikum sich weigert, ins Kino<br />

zu gehen und das Scherflein abzugeben, von dem der<br />

Produzent, der Bankdirektor, der Kinobesitzer, der Kritiker<br />

und der Zauberkünstler leben muss!<br />

Der Balanceakt, den der ehrgeizige Filmemacher<br />

vollführt, ist halsbrecherischer<br />

als ein Salto mortale unter einer Zirkuskuppel<br />

ohne Netz<br />

Ich kann von einem ausgesprochen schmerzhaften und<br />

aktuellen Beispiel berichten, wie ich selbst in überaus<br />

riskante Schwankungen geriet. Ein besonders abenteuerlustiger<br />

Produzent stellte Geld für einen meiner Filme zur<br />

Verfügung, und ein enormer Arbeitseinsatz brachte nach<br />

einem Jahr den hier gezeigten Film Abend der Gaukler<br />

zustande.<br />

Die Presse war durchweg verheerend, das Publikum blieb<br />

aus, der Produzent zählt seine Verluste, und ich darf zehn<br />

Jahre warten auf einen nächsten Versuch in diesem Genre.<br />

Sollte ich also noch zwei oder drei Filme machen, die sich<br />

wirtschaftlich nicht rechnen, dann ist der Produzent mit<br />

Recht der Ansicht, dass er es nicht wagen kann, meine<br />

Talente mit seinem Gold zu fördern.<br />

Ganz plötzlich finde ich mich also als verdächtige Gestalt<br />

wieder, die Geld veruntreut. Ich brauche viel Zeit zum<br />

Nachdenken darüber, was mein so genannter künstlerischer<br />

Ehrgeiz eigentlich für einen Nutzen hatte. Man hat<br />

dem Zauberkünstler seine Apparatur weggenommen.<br />

Aus dem Spiel ist ein erbitterter Kampf geworden. Der<br />

Balanceakt vollzieht sich bei vollem Bewusstsein, und die<br />

Eckpunkte des Seils heißen Angst und Unsicherheit. Der<br />

schöpferische Akt ist eine zwingende Notwendigkeit, aus<br />

inneren Gründen ebenso wie aus äußeren, ökonomischen.<br />

Scheitern, Kritik, Kälte des Publikums schlagen heute<br />

tiefere Wunden als gestern. Die Wunden eitern, und es<br />

bleiben tiefe Narben.<br />

Jean Anouilh spielte immer ein kleines Spiel, um die<br />

Angst vor jedem neuen oder begonnenen Werk in Schach<br />

zu halten. Er sagte sich: „Mein Vater ist Schneider. Er hatte<br />

viel Vergnügen am Werk seiner Hände: einem Paar prachtvoller<br />

Hosen oder einem eleganten Mantel. Freude und<br />

Oben links: Liv Ullmann, Bibi Andersson und Ingmar<br />

Bergman am Set von Persona, 1966 Oben rechts: Bergman<br />

und Sven Nykvist bereiten eine Großaufnahme von Alma vor.<br />

Fotos: Bo A. Vibenius © Svensk Filmindustri Rechte Seite:<br />

Die Zeit mit Monika, 1953. Foto: Louis Huch © Svensk<br />

Filmindustri<br />

| 12 | “Opening this weighty tome is like getting your hands on cinema’s Holy Grail.”—METRO, London, on The Stanley Kubrick Archives

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