02.05.2013 Aufrufe

Inhaltliches Denken vor Kalkül

Inhaltliches Denken vor Kalkül

Inhaltliches Denken vor Kalkül

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Inhaltliches</strong> <strong>Denken</strong> <strong>vor</strong> <strong>Kalkül</strong> 11<br />

Dieses Vorgehen lässt sich am Beispiel zweier Seiten aus dem Schulbuch mathe<br />

live 7 in Abb. 6 (aus Emde et al. 2000, S. 15/16) verdeutlichen, in denen Addition<br />

und Subtraktion negativer Zahlen nach diesem Ansatz eingeführt wird. Da die Mathematisierung<br />

von Größen bzgl. einer Vergleichsmarke auf einer Skala (die zentrale<br />

Grund<strong>vor</strong>stellung für negative Zahlen selbst) sich erst in der Rückschau als Vorteil<br />

erkennen lässt, wählt das Schulbuch hier im Anschluss an Hefendehl-Hebeker<br />

(1989) den Zugang über ein Spiel als Mustersituation. Im Spiel werden die Operationen<br />

handelnd erlebbar, und das Spielbrett liefert die graphische Darstellung auf<br />

dem Zahlenstrahl gleich mit. Erst nach ausreichender Erfahrung mit diesem (und<br />

einem weiteren Spiel zu Guthaben und Schulden) werden die Wirkungen der Operationen<br />

schematisch zusammengestellt und zu kalkülhaften Rechenregeln formalisiert.<br />

So werden Addition und Subtraktion ganzer Zahlen nach dem Prinzip „<strong>Inhaltliches</strong><br />

<strong>Denken</strong> <strong>vor</strong> <strong>Kalkül</strong>“ erarbeitet.<br />

Macht das guter Mathematikunterricht nicht schon immer so? Tatsächlich beginnt<br />

praktisch jedes Schulbuch ein neues Kapitel mit einem <strong>vor</strong>stellungsbezogenen<br />

Zugang, indem eine lebensweltliche Einführungsaufgabe bearbeitet wird, be<strong>vor</strong><br />

dann ein <strong>Kalkül</strong> etabliert wird. Die Schulbücher unterscheiden sich jedoch signifikant<br />

darin, wie ernst sie selbst diesen <strong>vor</strong>stellungsbezogenen Zugang nehmen, und<br />

wie schnell dann exklusiv zum <strong>Kalkül</strong> übergegangen wird (vgl. auch Prediger<br />

2008b für ein kritisches Beispiel zum Erweitern von Brüchen). Wer bleibt schon<br />

gern im Zugang stehen, sind doch Zugänge dazu da, so schnell wie möglich durchschritten<br />

und verlassen zu werden?<br />

Für nachhaltige Lernprozesse dagegen ist das Verweilen im inhaltlichen <strong>Denken</strong><br />

ebenso entscheidend wie die Aufrechterhaltung der Bezüge zum inhaltlichen <strong>Denken</strong><br />

nach Einführung des <strong>Kalkül</strong>s. In diesem Punkt zeigt auch das <strong>vor</strong>gestellte Beispiel<br />

noch Weiterentwicklungsbedarf: Die Übungsaufgaben (auf der rechten Seite in<br />

Abb. 6) nach der Schematisierung nehmen in der ersten Auflage des Buches keinerlei<br />

Bezug mehr zu den aufgebauten Mustersituationen, damit wird die inhaltliche<br />

Ebene endgültig verlassen. Wer jedoch Lernenden nur zu Beginn einer Unterrichtseinheit<br />

Aufgaben mit Bezug zu inhaltlichen Vorstellungen anbietet und dann unwiederbringlich<br />

zum <strong>Kalkül</strong> übergeht, darf sich nicht wundern, dass die Brücke zum<br />

inhaltlichen <strong>Denken</strong> bei vielen abbricht. Deswegen kommt es nicht nur auf die Qualität<br />

des Zugangs an, sondern auch darauf, die Vorstellungsorientierung weiter aufrecht<br />

zu erhalten; keinesfalls statt <strong>Kalkül</strong>, aber immer wieder in Ergänzung dazu.<br />

Abb. 7: Variierte Aufgaben in der Neuauflage nehmen inhaltliches <strong>Denken</strong> ernst (mathe live 7)<br />

12 Susanne Prediger<br />

Wie durch leichte Veränderungen das Problem behoben werden kann, zeigt die<br />

zweite Auflage des gleichen Lehrwerks (vgl. zwei Beispiele in Abb. 7 aus Böer et<br />

al. 2007, S. 16/17), in dem auch die kalkülorientierten Aufgaben (die es zum Training<br />

der formalen Operationen selbstverständlich auch geben muss, denn die Möglichkeit<br />

der zeitweisen Ablösung vom inhaltlichen <strong>Denken</strong> ist entscheidend) immer<br />

wieder Bezug nehmen zum inhaltlichen <strong>Denken</strong>.<br />

Diese Veränderung einer exemplarischen Schulbuchseite weist bereits einen<br />

Weg, wie Lehrkräfte auch mit klassischen Schulbüchern produktiv umgehen können.<br />

Er besteht aus drei zentralen Strategien:<br />

1. Konsequent im Inhaltlichen verweilen, so dass Lernende mit dem neuen Inhalt<br />

zunächst Vertrautheit gewinnen können und selbst ein Bedürfnis nach denkentlastenden<br />

Abkürzungen empfinden. Dann kann nach dem Prinzip der fortschreitenden<br />

Schematisierung ein <strong>Kalkül</strong> angeboten werden.<br />

2. Auch nach Einführung des <strong>Kalkül</strong>s immer wieder Rechnungen an inhaltliche<br />

Denkweisen rückbinden, damit der Bezug nicht verloren geht.<br />

3. Aufgaben mit inhaltlichen Bezügen auch in der Klassenarbeit einbauen.<br />

Gerade der letzte Punkt erscheint entscheidend, denn nur wenn inhaltliche Vorstellungen<br />

auch abgeprüft werden, wird den Lernenden ihre Bedeutung bewusst und<br />

den Lehrkräften eine diesbezügliche Diagnose ermöglicht.<br />

Für eine Diagnose individueller inhaltlicher Vorstellungen ist die Abfrage von<br />

Grund<strong>vor</strong>stellungen in abstrakter Repräsentation als Stichworte aus den oben genannten<br />

Gründen untauglich, aber alle anderen Repräsentationsformen sind interessant.<br />

Für inhaltliche Vorstellungen zu Rechenoperationen (und für andere mathematische<br />

Objekte sinngemäß genauso) eignet sich daher die von Huinker (1993) dokumentierte<br />

Systematik aller sechs Übersetzungs<strong>vor</strong>gänge zwischen graphischer<br />

bzw. handelnder Darstellung, Term und Mustersituation (vgl. Abb. 4 und Gerster/Schulz<br />

2004, S 266). Dabei kann jede Aufgabe angereichert werden um den expliziten<br />

Auftrag zu erklären, wieso dies passt.<br />

• Sachsituation → graphische Darstellung: Zeige an einem Bild oder mit Material,<br />

worum es in der Textaufgabe geht.<br />

• Graphische Darstellung → Sachsituation: Erfinde eine Rechengeschichte (Textaufgabe,<br />

Situation), die zu diesem Bild passt.<br />

• Sachsituation → Term: Schreibe eine Rechenaufgabe (Gleichung, Term) auf,<br />

die zu der Situation passt. Erkläre, was jede Zahl in dem Text bedeutet. Erkläre,<br />

warum du so gerechnet hast.<br />

• Term → Sachsituation: Erfinde eine Rechengeschichte (Textaufgabe, Situation),<br />

die zu der Aufgabe (zu dem Term, Gleichung) …. passt.<br />

• Graphische Darstellung → Term: Schreibe eine Rechenaufgabe (Term, Gleichung)<br />

auf, die zu diesem Bild passt.<br />

• Term → graphische oder handelnde Darstellung: Zeige mit dem Material<br />

(oder einem Bild), was die Rechnung (der Term, die Gleichung) bedeutet.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!