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„Erinnerung als Pathosformel der Gegenwart“ - Zentrum für ...

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fern <strong>der</strong> Deutschen wurden). 17 Die Opferperspektive schafft neue Zuordnungen. Sie<br />

ersetzt in gewisser Weise Staat und Regimenähe durch Tat und Täterschaft <strong>als</strong><br />

Blickpunkt, und sie organisiert ihr Narrativ in den Kategorien von Tätern und Opfern<br />

statt in den Spruchkammerkategorien von Belasteten, Mitläufern und Entlasteten.<br />

Welche dramatischen Verschiebungen mit diesem Perspektivenwechsel verbunden<br />

sind, erhellt etwa <strong>der</strong> Fall Albert Speer, mit dem sich früher insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand<br />

gegen Hitlers Nero-Befehl verband und heute seine Beteiligung an <strong>der</strong> Massenvernichtung<br />

durch Zwangsarbeit. Ähnliches lässt sich <strong>für</strong> den Konturenwandel<br />

sagen, den das Bild des Raketenspezialisten Wernher von Braun in den letzten vierzig<br />

Jahren erfahren hat. Auch die Ende <strong>der</strong> neunziger Jahre entbrannte Debatte über<br />

die NS-Verstrickung <strong>der</strong> deutschen Historikerschaft ist ohne diesen Perspektivenwechsel<br />

nicht zu verstehen, und wie sehr sich <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>streit von Heroisierung und<br />

Viktimisierung in einzelnen Personen spiegeln kann, lehrt die Umwertung des Bildes<br />

vom militärischen Wi<strong>der</strong>stand gegen Hitler, das seinen einstigen Monstranzcharakter<br />

mittlerweile weitgehend gegen die abwägende Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> oft nicht<br />

auflösbaren Verflochtenheit von Wi<strong>der</strong>ständigkeit und Verstrickung eingetauscht hat.<br />

Nur angedeutet sei, dass <strong>der</strong> Siegeszug <strong>der</strong> Opferperspektive in den letzten Jahren<br />

auch die Täterwelt erfasst, hat. Hier<strong>für</strong> spricht die mit viel Resonanz aufgenommene<br />

Beschreibung des Untergangs <strong>der</strong> Wilhelm Gustloff durch Günter Grass ebenso wie<br />

Jörg Friedrichs überraschend erfolgreiches Buch „Der Brand“, welches das Schicksal<br />

17 In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Fritz Stern am Beispiel einer Gedenkveranstaltung zum<br />

zehnten Jahrestags des Attentats vom 20. Juli 1944 anschaulich, wie verstörend er <strong>als</strong> Opfer rassischer<br />

NS-Verfolgung nach dem Krieg die Beharrungskraft eines eigenen Opferverständnisses in <strong>der</strong><br />

deutschen Tätergesellschaft erlebte: „Den einzigen Missklang beim Gedenken an den 20. Juli steuerte<br />

Otto Dibelius bei, <strong>der</strong> evangelische Bischof von Berlin, <strong>der</strong> vor <strong>der</strong> ersten Feier eine Radioansprache<br />

hielt. Er rühmte Gottes Barmherzigkeit, die sich auch in den Zeiten schrecklichster deutscher Leiden<br />

gezeigt habe, und er bezog sich ausdrücklich auf die aus den Ostgebieten vertriebenen Deutschen.<br />

Noch am selben Tage schrieb ich ihm: ‚Aber wie verwun<strong>der</strong>t, ja auch verwundet, war ich, <strong>als</strong> Ihre Predigt<br />

über die Barmherzigkeit Gottes immer nur die bitteren Erfahrungen des deutschen Volkes heraushob.<br />

Dieser ist sich ja das Volk wirklich schon bewusst. Wäre nicht diese historische Stunde geeignet<br />

gewesen, und währe [sic!] Ihre Autorität nicht geradezu berufen gewesen, auch einmal an die<br />

bitteren Erfahrungen <strong>der</strong> völlig Unschuldigen zu denken, <strong>der</strong> Millionen aus aller Welt, die durch deutsche<br />

Menschen um Alles, auch um das Leben gekommen sind?’ Seine Antwort kam prompt. Ungerührt<br />

beharrte er darauf, er habe ‚von den Millionen gesprochen, die nicht davongekommen seien und<br />

die wir nicht vergessen. Dabei habe ich auch an diejenigen gedacht, die durch deutsche Schuld ums<br />

Leben gekommen sind.’ Ich war erstaunt über seine Abgestumpftheit. Er hatte an die an<strong>der</strong>en ‚gedacht’,<br />

aber nicht von ihnen gesprochen – ein beklagenswertes Schweigen.“ Fritz Stern, Fünf<br />

Deutschland und ein Leben. Erinnerungen, München 8 2007, S. 272 f.<br />

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