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Der Archivar, Heft 4, November 2006 - Archive in Nordrhein-Westfalen

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die <strong>in</strong>sbesondere auch die Gegenwartsphänomene für die<br />

spätere Forschung berücksichtigt und aktuelles Dokumentationsgut<br />

sichert. Die jüngste Sachdokumentation rekonstruiert<br />

z. B. den Strukturwandel seit 1990. Dafür korrespondiert<br />

das Stadtarchiv mit allen wichtigen „Zukunfts<strong>in</strong>stitutionen“<br />

(Kunstmuseum, Wolfsburg AG, Auto-Uni,<br />

Autostadt usw.), die laufend Material abliefern. 5 In diesem<br />

Kontext bietet das Archiv auch Supportleistungen <strong>in</strong> Form<br />

e<strong>in</strong>er Beratung bzw. Prozessbegleitung <strong>in</strong> den ausgegliederten<br />

Gesellschaften und Anstalten des „Konzerns Stadt“<br />

an. Diese Kontakte eröffnen die große Chance, Wünsche<br />

und Notwendigkeiten für die kommunale Überlieferungsbildung<br />

auszuloten und bereiten gleichzeitig die Verhandlungsbasis<br />

für e<strong>in</strong>zelvertragliche Vere<strong>in</strong>barungen (Übernahme<br />

von Archivgut).<br />

Im Bereich der Verzeichnung ergänzen themenspezifische<br />

Sammlungen die provenienzbezogenen F<strong>in</strong>dmittel.<br />

Auch hier geben die Besucher die Nachfrage vor und werden<br />

z. T. <strong>in</strong> Erschließungsprojekte e<strong>in</strong>gebunden. Die kundenorientierte<br />

Ausrichtung des Stadtarchivs – mit demokratischem<br />

Impetus - ist Basis und Rahmen für das Wolfsburger<br />

Modell e<strong>in</strong>er reflexiv-konstruktiven Archivdidaktik.<br />

Reflexiv und konstruktiv: Das didaktische Konzept des<br />

Stadtarchivs<br />

In der Geschichtsdidaktik fehlt es bis heute an geeigneten<br />

Verfahren für den Unterricht im Archiv. Diese etwas stiefmütterliche<br />

Behandlung steht im Missverhältnis zu der<br />

steigenden Nachfrage im archivpädagogischen Segment<br />

und der <strong>in</strong>zwischen breiten Akzeptanz historischer Bildungsarbeit.<br />

6<br />

Damit der Unterricht im Stadtarchiv nicht planlos<br />

abläuft, wurde für die Arbeit mit Schulklassen im Stadtarchiv<br />

Wolfsburg e<strong>in</strong>e Konzeption entwickelt, die auf drei<br />

Klassiker zurückgreift und sich als praktikabel erwiesen<br />

hat. Diese Konzeption könnte e<strong>in</strong>er künftigen Theorie<br />

möglicherweise die Richtung weisen.<br />

Die geistigen Väter kommen aus den 1970er Jahren und<br />

heißen Karl-Ernst Jeismann, Wolfgang Klafki und Uwe<br />

Uffelmann. Ich habe für diese „hauseigene“ didaktische<br />

Konzeption den Begriff der „reflexiv-konstruktiven<br />

Archivdidaktik“ geprägt. Die wissenschaftsorientierte<br />

5 Die Sammlungsergebnisse wurden kürzlich resümiert und publiziert:<br />

Werner Strauß: Wolfsburg – Aufbruch <strong>in</strong> die Zukunft, Kle<strong>in</strong>e Stadtgeschichte,<br />

Teil 2, 1990-2005, Wolfsburg 2005.<br />

6 Die Archivpädagogik kann heute auf e<strong>in</strong>e über 20jährige Erfolgsgeschichte<br />

zurückblicken. Dem wegweisenden Plädoyer von Hans Booms<br />

für e<strong>in</strong>e aktive Öffentlichkeitsarbeit folgten <strong>in</strong> den 70er und 80er Jahren<br />

Ausstellungen, Unterrichtsmappen, die E<strong>in</strong>stellung der ersten Archivpädagogen<br />

sowie der Run von Schülern auf die <strong>Archive</strong> im Rahmen des<br />

Schülerwettbewerbs um den Preis des Bundespräsidenten. Nach französischen<br />

Vorbild („service éducatif“) boten immer mehr <strong>Archive</strong> e<strong>in</strong>e<br />

pädagogische Basisversorgung. Die Etablierung ist nicht zuletzt auch<br />

dem Engagement des „Arbeitskreises Archivpädagogik und historische<br />

Bildungsarbeit im VdA“ zu verdanken, der se<strong>in</strong>e Arbeit seit 1999 regelmäßig<br />

auf dem bundesdeutschen Archivtag vorstellt. Das Positionspapier<br />

der Bundeskonferenz der Kommunalarchive beim Deutschen Städtetag<br />

weist Historische Bildungsarbeit heute ausdrücklich als <strong>in</strong>tegralen<br />

Bestandteil der Aufgaben des Kommunalarchivs aus. E<strong>in</strong>en Überblick<br />

über den archivpädagogischen Status Quo geben Lange und Lux.<br />

Vgl. Thomas Lange/Thomas Lux: Historisches Lernen im Archiv,<br />

Schwalbach/Ts. 2004.<br />

Geschichtsdidaktik nach Karl-Ernst Jeismann bildet dabei<br />

den theoretischen Überbau. Diese <strong>in</strong> den 70er Jahren entwickelte<br />

Konzeption erhebt den Begriff des Geschichtsbewusstse<strong>in</strong>s<br />

zur Schlüsselkategorie. 7<br />

Jeismann def<strong>in</strong>iert die Überführung von unreflektierten<br />

<strong>in</strong> reflektiertes Geschichtsbewusstse<strong>in</strong> als Tätigkeit der<br />

historischen Vernunft, wonach der Unterricht im Archiv<br />

geradezu e<strong>in</strong> „Garten Eden“ für die Umsetzung wissenschaftstheoretischer<br />

Prozesse wäre. Nirgendwo sonst liegen<br />

die authentischen Zeugnisse so ungeschm<strong>in</strong>kt vor; nirgendwo<br />

sonst s<strong>in</strong>d solche Freiräume gegeben. Als praktisches<br />

Handlungsmaxime empfiehlt Jeismann, die „Ambivalenz,<br />

besser die Multivalenz historischer Erkenntnis als<br />

Erkenntnischance zu nützen“. 8 <strong>Der</strong> <strong>Archivar</strong> ist demnach<br />

aufgefordert, „controversial issues“, d.h. kontroverse<br />

Materialien zur Diskussion zu stellen: „Werden unterschiedliche<br />

Geschichtsdeutungen...diskutierbar gemacht,<br />

wächst die Chance, auch differenzierende Gegenwartspositionen<br />

mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong>s Verhältnis zu setzen <strong>in</strong> Abgrenzung<br />

und prüfender Distanz“. 9<br />

Hier eröffnet sich dem Unterricht im Archiv e<strong>in</strong> breites<br />

Spektrum für die E<strong>in</strong>übung <strong>in</strong> den Umgang mit geschichtlichen<br />

Aussagen vom e<strong>in</strong>fachen Bezug bis zu komplexen<br />

Zusammenhängen. Multiperspektive und kontroverse<br />

Materialien als Übungsgegenstände s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den Beständen<br />

ebenso zugänglich wie Wertungen zu historischen Themen<br />

<strong>in</strong> der Presse. 10 Jeismann schreibt über diesen Denkprozess:<br />

„<strong>Der</strong> archimedische Punkt, an dem solcher Unterricht<br />

ansetzen kann, ist ... das Sachurteil – also die mittlere<br />

Dimension, die zwischen der gegenwartsbestimmten Stellungnahme<br />

und Wertung e<strong>in</strong>erseits, zwischen der rationalen<br />

Analyse der Zeugnisse der Vergangenheit andererseits<br />

vermittelt“. 11 Entscheidend ist, dass die unterschiedlichen<br />

Positionen sich mit Hilfe e<strong>in</strong>es diskursfähigen Geschichtsbewusstse<strong>in</strong>s<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wechselseitig aufklärenden<br />

Gespräch halten. Dialog und Diskurs blieben aber illusorisch,<br />

solange Unterricht nicht die gesellschaftlichen Voraussetzungen<br />

hat, Mündigkeit zu praktizieren. 12 Hier<strong>in</strong><br />

schon angedeutet ist der Archivdidaktik neben der reflexiven<br />

Komponente auch e<strong>in</strong> Veränderungs<strong>in</strong>teresse konstitutiv.<br />

Wolfgang Klafki hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er kritisch-konstruktiven<br />

Didaktik die Dimension des Gesellschaftlichen e<strong>in</strong>gebracht.<br />

13 Die Zielbestimmung dieses Ansatzes liegt <strong>in</strong> der<br />

7<br />

Karl-Ernst Jeismann: „Geschichtsbewusstse<strong>in</strong>“ als zentrale Kategorie<br />

der Didaktik der Geschichtsunterrichts, <strong>in</strong>: ders.: Geschichte und Bildung,<br />

Paderborn 2000, S. 46-72.<br />

8<br />

Ebenda, S. 66.<br />

9<br />

Ebenda.<br />

10<br />

Für die Wolfsburger Stadtgeschichte bietet sich z. B. <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne die<br />

kontroverse öffentliche „Porsche-Diskussion“ als Übungsgegenstand<br />

an. Ratsprotokolle, Presseberichte, Broschüren und Leserbriefe geben<br />

E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> Argumente und Wertungen und stecken breite Bereiche von<br />

Konsens und Dissens ab.<br />

11<br />

Ebenda, S. 70.<br />

12<br />

Mit diesem H<strong>in</strong>weis spielt Jeismann auf die normative Rückb<strong>in</strong>dung<br />

e<strong>in</strong>er Didaktik an, die sich um die Entwicklung von Geschichtsbewusstse<strong>in</strong><br />

bemüht, nämlich „Sie bedarf e<strong>in</strong>es rechtsstaatlichen, demokratischpluralistischen<br />

Systems, das mit se<strong>in</strong>en Sicherungen gerade e<strong>in</strong>en kontroversen<br />

Umgang mit Geschichte verträgt oder geradezu verlangt und<br />

die dogmatische Monopolisierung der Geschichtsdeutung... bereits<br />

<strong>in</strong>stitutionell verh<strong>in</strong>dert“. Ebenda, S. 72.<br />

13<br />

Nach Klafki muss Didaktik e<strong>in</strong>erseits ideologiekritisch verfahren, um<br />

Formen falschen Bewusstse<strong>in</strong>s aufzudecken. Didaktik darf anderseits<br />

nicht bei der bloßen Kritik stehen bleiben, sondern muss als Wissenschaft<br />

aus der Praxis für die Praxis durch konstruktive Entwürfe Wirklichkeit<br />

verändern. Wolfgang Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie<br />

und Didaktik. Zeitgemäße Allgeme<strong>in</strong>bildung und kritisch-konstruktive<br />

Didaktik, We<strong>in</strong>heim/Basel 1996, 5. Auflage.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Archivar</strong>, Jg. 59, <strong>2006</strong>, H. 4 343

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