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EGMR-E 4, 420

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20.11.1989 Kostovski (Hauptsache) 433<br />

43. Außerdem hinderte die Abwesenheit der anonymen Personen die<br />

Richter daran, deren Verhalten während der Verhandlung zu beobachten<br />

und sich selbst ein Bild von ihrer Glaubwürdigkeit zu machen. Zwar haben<br />

sie Beweis zu dieser Frage erhoben (s.o. Ziff. 17 und 19) und die entsprechenden<br />

Aussagen sorgfältig gewürdigt, wie es das niederländische Recht vorschreibt<br />

(s.o. Ziff. 32), aber das kann die direkte Beobachtung nicht ersetzen.<br />

Es trifft zu, dass die Untersuchungsrichter eine der Personen gehört haben.<br />

Dazu ist jedoch zu bemerken, dass – zusätzlich zur Abwesenheit des Bf. und<br />

seines Anwalts bei der Vernehmung – auch sie deren Identität nicht kannten<br />

(s.o. Ziff. 15-16), was nicht ohne Auswirkungen auf die Beurteilung seiner/ihrer<br />

Glaubwürdigkeit bleiben konnte. Der andere anonyme Zeuge war hingegen<br />

gar nicht vom Untersuchungsrichter vernommen worden, sondern nur<br />

von der Polizei (s.o. Ziff. 11 und 17).<br />

Unter diesen Umständen kann nicht festgestellt werden, dass das Verfahren<br />

vor den Gerichten die Nachteile, unter denen die Verteidigung arbeiten<br />

musste, ausgeglichen hätte.<br />

44. Die Regierung hatte betont, dass Rechtsprechung und Praxis in den<br />

Niederlanden mit Bezug auf anonyme Zeugen aus der Zunahme der Einschüchterung<br />

von Zeugen entstanden waren und ein Gleichgewicht zwischen<br />

den Interessen der Gesellschaft, der Angeklagten und der Zeugen herzustellen<br />

versucht. Im vorliegenden Fall war ihrer Meinung nach klar, dass die Personen,<br />

die die Aussagen gemacht hatten, zu Recht Vergeltungsmaßnahmen<br />

befürchteten (s.o. Ziff. 19).<br />

Wie auch in anderen Fällen (s. Ciulla, Urteil vom 22. Februar 1989, Série A<br />

Nr. 148, S. 18, Ziff. 41, <strong>EGMR</strong>-E 4, 246) unterschätzt der Gerichtshof auch<br />

hier keineswegs die Bedeutung des Kampfes gegen die organisierte Kriminalität,<br />

aber auch wenn die Argumente der Regierung durchaus von Gewicht<br />

sind, überzeugen sie nicht.<br />

Obwohl die Verbreitung der organisierten Kriminalität ohne Zweifel geeignete<br />

Gegenmaßnahmen erfordert, scheint die Argumentation der Regierung<br />

doch dem zu wenig Rechnung zu tragen, was der Anwalt des Bf. „das<br />

Interesse von jedermann in einer zivilisierten Gesellschaft an einem kontrollierbaren<br />

und fairen Verfahren“ genannt hat. In einer demokratischen Gesellschaft<br />

nimmt das Recht auf eine geordnete Rechtspflege einen derart herausragenden<br />

Platz ein (vgl. Delcourt, Urteil vom 17. Januar 1970, Série A Nr. 11,<br />

S. 15, Ziff. 25, <strong>EGMR</strong>-E 1, 101), dass es nicht der Zweckmäßigkeit geopfert<br />

werden darf. Die Konvention schließt nicht aus, sich im Stadium der Ermittlungen<br />

in Strafverfahren auf Quellen wie anonyme Informanten zu stützen.<br />

Aber die weitergehende Verwertung anonymer Aussagen als hinreichender<br />

Beweis zur Rechtfertigung der Verurteilung ist etwas anderes. Im vorliegenden<br />

Fall hat sie dazu geführt, die Rechte der Verteidigung in einer Weise zu<br />

beschränken, die mit den Garantien aus Art. 6 unvereinbar sind. Auch die<br />

Regierung hat eingeräumt, dass die Verurteilung des Bf. „in entscheidendem<br />

Maß“ auf die anonymen Aussagen gestützt war.<br />

45. Dementsprechend stellt der Gerichtshof fest, dass die Rechte der Verteidigung<br />

im vorliegenden Fall in einem Maß eingeschränkt wurden, dass nicht<br />

© N.P. Engel Verlag · <strong>EGMR</strong>-E 4 · Text · Seite 433 · 31.12.2010

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