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'Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den ... - Rudolf Süsske

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Sprache und nicht-sprachliche Interaktion im psychotherapeutischen Dialog<br />

1. Beispiel (nach Streeck 2000, 14ff): Ein Mann –<br />

etwa 30 Jahre alt, sozial isoliert, wirtschaftlich am Bo<strong>den</strong><br />

– wird suizidal in die psychotherapeutische Klinik<br />

aufgenommen. Schon bald häuften sich die Klagen<br />

von Mitpatienten und Mitarbeitern: er sei zu laut, zu<br />

for<strong>der</strong>nd, missachte die Belange an<strong>der</strong>er. Der Patient<br />

lehnt die Behandlung nicht rundweg ab, aber alles sei<br />

entwe<strong>der</strong> nicht 'sein Fall' o<strong>der</strong> zu wenig. Kollegen<br />

fragten, ob die Indikation zur Therapie in <strong>der</strong> Klinik gegeben<br />

sei, <strong>der</strong> Patient wäre doch nicht motiviert etc.<br />

"Hier hatte sich innerhalb von wenigen Tagen (…) ein<br />

Muster von Interaktionen etabliert, bei dem jede Seite<br />

das eigene Verhalten als Reaktion auf das schuldhafte<br />

Fehlverhalten <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite sah, und wo<br />

je<strong>der</strong> erwartete, daß <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e sein Verhalten än<strong>der</strong>n<br />

müsse. (…) Das Geschehen war eine GEMEIN-<br />

SAME INSZENIERUNG", nicht bloß agierter Symptom-<br />

Ausdruck des Patienten.<br />

2. Beispiel: Eine Patientin – Mitte 20, arbeitslos, sozial<br />

isoliert <strong>mit</strong> Suizidgedanken – beginnt das Aufnahmegespräch<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Bemerkung, sie sei hier<br />

falsch: zu wenig Therapiegespräche, zu viele Mitpatienten;<br />

sportlich bzw. kreativ tätig könne sie auch zu<br />

Hause sein. Außerdem sei sie von ihrer ambulanten<br />

Therapeutin 'geschickt' wor<strong>den</strong>. Ich entließ sie <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Bemerkung, sie könne ja bei eindeutiger Therapiemotivation<br />

wie<strong>der</strong>kommen. Nach einem kurzen Gespräch<br />

<strong>mit</strong> einer Mitpatientin wollte sie dann doch bleiben. In<br />

<strong>der</strong> Folgezeit wie<strong>der</strong>holten sich solche Szenen: die<br />

Gesprächsgruppe wäre gar nichts für sie, aber Tanztherapie.<br />

Später, in dieser erwünschten Gruppe, war<br />

es wie<strong>der</strong> nichts für sie. Eigentlich wüsste sie gar<br />

nicht, was sie in <strong>der</strong> Tagesklinik solle, <strong>der</strong> Entlassungstermin<br />

jedoch war ihr viel zu früh angesetzt.<br />

Durch unentschuldigtes Fehlen provozierte sie dann<br />

eine vorzeitige Entlassung.<br />

Derartige Verhaltensweisen gelten als unerwünscht,<br />

sie stören <strong>den</strong> "normalen" Verlauf <strong>der</strong> Therapie. Mehr<br />

als einmal sieht man sich in Interaktionen ver-wickelt,<br />

handelt bevor man reflektiert bzw. reflektieren kann.<br />

Strukturell unterschei<strong>den</strong> sich die gerade geschil<strong>der</strong>ten<br />

Beispiele und SANDLERs 'Zuschieben des Päckchen<br />

Taschentücher' nicht. Der Patient spricht nicht<br />

über ein Thema, drückt nicht Innerseelisches sprachlich<br />

o<strong>der</strong> gestisch aus, son<strong>der</strong>n das THEMA ist das,<br />

was zwischen Patient und Therapeut geschieht, sich<br />

"im INTERAKTIVEN VOLLZUG realisiert." (Streeck 2002,<br />

255)<br />

Solch ein Patient hört oft gar nicht auf das, WAS <strong>der</strong><br />

Therapeut sagt, "was er inhaltlich <strong>mit</strong> Worten ausdrückt,<br />

son<strong>der</strong>n WIE er sich äußert". Er verhält sich so,<br />

als wolle <strong>der</strong> Therapeut ihn – jenseits dessen, was er<br />

<strong>mit</strong>teilt – "kontrollieren, ihn zu etwas drängen, ihn<br />

beschwichtigen, ihm seine Wahrnehmung streitig machen<br />

o<strong>der</strong> ihn verführen." (ebd.)<br />

Entsprechend verhält er sich dann, zieht sich zurück,<br />

ist empört o<strong>der</strong> antwortet <strong>mit</strong> verführerischen Gesten.<br />

Sein eigenes Sprechen hat oft nicht <strong>den</strong> Zweck, etwas<br />

MIT-zu-TEILEN, son<strong>der</strong>n etwas zu BEWIRKEN, seinerseits<br />

zu kontrollieren, abzuwehren, zu provozieren<br />

o<strong>der</strong> zu verführen.<br />

Vortrag: Abt. f. Psychotherapeutische Medizin, CKQ Quakenbrück<br />

5. Kommunikation als "gemeinsame<br />

Hervorbringung"<br />

In therapeutischen Dialogen – beson<strong>der</strong>s im Gegenübersitzen<br />

– ist <strong>der</strong> Therapeut selten nur teilnehmendempathischer<br />

Beobachter, viel häufiger Akteur einer<br />

gemeinsamen Inszenierung. Gerade im nicht-sprachlichen<br />

Verhalten zeigt sich eine Wechselseitigkeit, die<br />

kaum in eindeutige Aktionen und Re-aktionen auflösbar<br />

ist.<br />

"Hier »antworten« Patienten noch auf feine körperlichgestische<br />

Elemente <strong>der</strong> Äußerungen des Analytikers,<br />

und umgekehrt reagiert auch <strong>der</strong> Therapeut auf unterschwellige<br />

gestische Verhaltensweisen seines Patienten,<br />

ohne es selbst zu bemerken". (ebd., 265) Im<br />

gerade skizzierten Fall <strong>der</strong> Patientin (2. Beisp.):<br />

Welchen Einfluss hatten ihr "herablassen<strong>der</strong>" Blick,<br />

die "abfällige" Gestik und ihr "emotionsarmes" Sprechen<br />

auf die Entscheidung, sie sofort zu entlassen<br />

bzw. später, dringlich – o<strong>der</strong> zudringlich? – auf kleine<br />

Erfolge hinzuweisen?<br />

"Ein körperliches Verhalten des Einen zieht ein gestisches<br />

Verhalten des An<strong>der</strong>en nach sich. Beine, die<br />

sich bewegen, während <strong>der</strong> Therapeut vom »in Gang<br />

kommen« spricht, induziert ähnliche Bewegungen<br />

beim Gegenüber; Selbstberührungen und Gesten <strong>der</strong><br />

»Selbstpflege« beantwortet <strong>der</strong> An<strong>der</strong>e <strong>mit</strong> korrespondieren<strong>den</strong><br />

Gesten". (ebd.) Patient/in und Therapeut/in<br />

»BE-HANDELN« sich gegenseitig. Die Bestimmung einer<br />

eindeutigen "Interpunktion <strong>der</strong> Kommunikation"<br />

verdankt sich möglicherweise erst einer nachträglichen<br />

(Re-)Konstruktion.<br />

Szenische Verstrickung und wechselseitige Be-Handlung<br />

"ergänzen" nicht einfach das klassisch analytische<br />

Selbstverständnis, son<strong>der</strong>n stellen es durchaus<br />

in Frage. STREECK tritt pointiert für ein "interpersonelles"<br />

Verständnis <strong>der</strong> Therapiesituation ein und befindet<br />

sich da<strong>mit</strong> in einem Theorienstreit, <strong>der</strong> insbeson<strong>der</strong>e<br />

durch die post-kohutianische Selbstpsychologie<br />

ausgelöst wurde. (9) Unter <strong>den</strong> Titeln "Intersubjektivität"<br />

und "Postmo<strong>der</strong>ne" wird – beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> amerikanischen<br />

Diskussion – eine Neubestimmung des Verhältnisses<br />

von Interaktion und Deutung konzeptualisiert,<br />

die <strong>mit</strong> (sozial)-konstruktivistischen Argumenten<br />

auch die wirklichkeits-definierende Rolle des Analytikers<br />

zu depotenzieren sucht. Wir können diese<br />

Diskussion hier jedoch nicht weiterverfolgen. (10)<br />

STREECK favorisiert ein INTER-PERSONELLes, kein<br />

INTER-SUBJEKTIVes Verständnis <strong>der</strong> therapeutischen<br />

Situation, um sich von <strong>den</strong> selbstpsychologischen Intersubjektivitätsvertretern<br />

abzugrenzen. Diese – z.B.<br />

STOLOROW et.al. – definieren das Selbst in folgen<strong>der</strong><br />

Weise:<br />

„Das Selbst (...) ist eine innere seelische Struktur,<br />

durch die das Selbsterleben Kohärenz und Kontinuität<br />

erfährt und kraft <strong>der</strong>er das Selbsterleben seine charakteristische<br />

Form und dauerhafte Organisation annimmt.<br />

Wir fan<strong>den</strong> es wichtig, zwischen dem Konzept<br />

des Selbst als seelischer Struktur und dem Konzept<br />

<strong>der</strong> Person als ein sich erlebendes Subjekt und Verursacher<br />

seiner Handlungen scharf zu unterschei<strong>den</strong>.<br />

Während das SELBST-ALS-STRUKTUR tatsächlich in <strong>den</strong><br />

Bereich psychoanalytischer Forschung fällt, liegt <strong>der</strong><br />

ontologische Begriff <strong>der</strong> PERSON-ALS-HANDELNDE un-<br />

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