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Die Zukunft des Christentums - Stiftung Gottesbeziehung in Familien

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3<br />

Impulse und<br />

Perspektiven<br />

<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>des</strong><br />

<strong>Christentums</strong><br />

Hans Joas


Reihe: Impulse und Perspektiven 3<br />

© <strong>Stiftung</strong> <strong>Gottesbeziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>Familien</strong>, 2010<br />

Liebermeisterstraße 12<br />

D-72076 Tüb<strong>in</strong>gen<br />

E-Mail: stiftung@stigofam.de<br />

www.stigofam.org<br />

Spenden-Konto:<br />

Konto-Nr.: 4 610 458<br />

BLZ: 600 501 01<br />

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Geschäftsführung:<br />

Dr. Ralf Gaus<br />

<strong>Stiftung</strong>svorstand:<br />

Prof. Dr. Albert Bies<strong>in</strong>ger<br />

Prof. Dr. Friedrich Schweitzer<br />

Prof. Helga Kohler-Spiegel<br />

<strong>Stiftung</strong>srat:<br />

Dipl. theol. Herbert Bendel<br />

Dipl. päd. Doris Beneke<br />

Prof. Dr. Dr. Klaus Kießl<strong>in</strong>g<br />

Prof. Dr. Ottmar Schneck<br />

Prof. Dr. Werner Tzscheetzsch<br />

<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>des</strong><br />

<strong>Christentums</strong><br />

Hans Joas<br />

<strong>Stiftung</strong>svortrag<br />

an der Universität Tüb<strong>in</strong>gen<br />

am 11.12.2008


<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>des</strong> <strong>Christentums</strong> 1<br />

Über die <strong>Zukunft</strong> zu sprechen ist für e<strong>in</strong>en Wissenschaftler e<strong>in</strong> riskantes<br />

Unterfangen. Der Scherz, dass Prognosen vor allem dann schwie-<br />

rig seien, wenn sie sich auf die <strong>Zukunft</strong> bezögen, hat schon e<strong>in</strong>en<br />

langen Bart. <strong>Die</strong> Etablierung e<strong>in</strong>er neuen wissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong><br />

namens „<strong>Zukunft</strong>sforschung“ war e<strong>in</strong>e recht kurzlebige Mode <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Zeit überschäumender Wissenschaftsgläubigkeit. In der Tat muss<br />

man feststellen, dass e<strong>in</strong>e ganze Reihe spektakulärer Entwicklungen<br />

der letzten Jahrzehnte von den Sozialwissenschaften <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise<br />

vorhergesagt wurden. <strong>Die</strong> Beispiele s<strong>in</strong>d allgeme<strong>in</strong> bekannt. Sie reichen<br />

von der <strong>in</strong>ternationalen Studentenrevolte Ende der 1960er Jahre,<br />

die ausbrach als die Forschung gerade die mangelnde politische Partizipationsbereitschaft<br />

der akademischen Jugend diagnostiziert hatte,<br />

über den rapiden ökonomischen Aufstieg Ostasiens zum Zusammenbruch<br />

der kommunistischen Herrschaft <strong>in</strong> Osteuropa und der Sowjet-<br />

union . 2 All diese Entwicklungen haben die wissenschaftlichen Experten<br />

überrascht, aber übrigens auch die journalistischen Beobachter und<br />

selbst die Geheimdienste – Grund genug also sich nicht wechselseitig<br />

herabzusetzen, aber auch Grund genug zur Bescheidenheit auf allen<br />

Seiten. In H<strong>in</strong>sicht auf religiöse Entwicklungen gilt diese Mahnung sogar<br />

noch mehr. <strong>Die</strong> Geschichte der Religionen ist besonders reich an<br />

überraschenden Aufbrüchen, Erweckungen und Umbrüchen, die<br />

jeder Vorstellung von e<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>earität geschichtlicher Verläufe spot-<br />

ten. Der Aufschwung e<strong>in</strong>er Politisierung <strong>des</strong> schiitischen Islam im<br />

Iran wurde erst mit dem Sturz <strong>des</strong> Schahs allgeme<strong>in</strong> zur Kenntnis<br />

genommen, und die sensationelle Expansion der Pf<strong>in</strong>gstbewegung<br />

<strong>in</strong> Afrika und Late<strong>in</strong>amerika während der letzten Jahrzehnte ist <strong>in</strong>s<br />

1 Vortrag auf dem Evangelischen Kirchentag am 09.06.2007, erstmals veröffentlicht <strong>in</strong>: Blätter<br />

für deutsche und <strong>in</strong>ternationale Politik 52 (2007), S. 976-987; auch <strong>in</strong>: Silke Lechner/Christoph<br />

Urban (Hg.), Deutscher Evangelischer Kirchentag Köln 2007, Gütersloh 2007, S. 521-529.<br />

2 David Mart<strong>in</strong>, Secularisation and the Future of Christianity, <strong>in</strong>: Journal of Contemporary<br />

Religion 20 (2005), S. 145-160.<br />

3


4<br />

Bewusstse<strong>in</strong> der deutschen Öffentlichkeit bis heute nicht wirklich e<strong>in</strong>gedrungen.<br />

Gläubige dürften von der Tatsache solcher fundamentalen<br />

Überraschungen nicht wirklich überrascht se<strong>in</strong>, da sie <strong>in</strong> der Geschichte<br />

ja auch e<strong>in</strong> Walten Gottes erwarten und Hoffnung haben wider alle<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit. Doch selbst säkulare Geister werden zugestehen,<br />

dass Optimismus und Selbstüberschätzung Grundbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong>dividueller<br />

und kollektiver Kreativität s<strong>in</strong>d und der Glaube an e<strong>in</strong>e <strong>Zukunft</strong><br />

diese manchmal herbeizuführen hilft. Man nennt das sich selbst<br />

erfüllende Prophezeiungen.<br />

E<strong>in</strong>e Prognose h<strong>in</strong>sichtlich der <strong>Zukunft</strong> der Religion hatte bis vor<br />

wenigen Jahren <strong>in</strong> Wissenschaft und Öffentlichkeit e<strong>in</strong>e fast unangefochtene<br />

Stellung; es war die Prognose e<strong>in</strong>er aus dem Charakter der<br />

Modernisierung sich mit <strong>in</strong>nerer Notwendigkeit ergebenden, irreversiblen<br />

und radikalen Säkularisierung. Unklar war meist nur, was dieser<br />

Begriff genau bezeichnen sollte, den Niedergang von Kirchenmitgliedschaft<br />

etwa oder der Teilnahme an religiösen Ritualen oder <strong>in</strong>dividuellen<br />

Glaubens schlechth<strong>in</strong> oder bloß den Rückzug <strong>des</strong> Glaubens <strong>in</strong>s<br />

Private, wo immer dieses sich genau bef<strong>in</strong>det. Aus vielen guten Gründen,<br />

über die hier nicht zu reden ist, 3 hat diese Prognose an Plausibilität<br />

neuerd<strong>in</strong>gs stark verloren – so stark sogar, dass viele jetzt umgekehrt<br />

von e<strong>in</strong>er „Wiederkehr der Religion“ oder „der Götter“ oder von<br />

e<strong>in</strong>er „postsäkularen Gesellschaft“ reden – alles Bezeichnungen, die<br />

mir e<strong>in</strong> fälschliches Verschw<strong>in</strong>den der Religion <strong>in</strong> der Vergangenheit<br />

zu unterstellen sche<strong>in</strong>en und die zudem den e<strong>in</strong>getretenen Wandel<br />

übertreiben. Auch wer es wünscht, dass der Glaube gestärkt wird, sollte<br />

hier klaren Kopf behalten. Gewandelt haben sich vorerst nur Aufmerksamkeitsstrukturen,<br />

vor allem der Medien, und e<strong>in</strong>e Balance der<br />

Kräfte im <strong>in</strong>tellektuellen Leben. E<strong>in</strong>e Schwächung der Vorstellung fortschreitender<br />

Säkularisierung eröffnet zwar gewiss Chancen für den<br />

Glauben, die aber erst noch genutzt werden müssen. Ebenso müssen<br />

wir, was die Diagnostik und Prognostik betrifft, die Säkularisierungsthese<br />

erst noch durch plausiblere Szenarien religiöser <strong>Zukunft</strong><br />

ersetzen.<br />

3 Vgl. dazu Hans Joas, E<strong>in</strong>leitung, <strong>in</strong>: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hg.), Säkularisierung und<br />

die Weltreligionen. Frankfurt/Ma<strong>in</strong> 2007, S. 9-43.<br />

Me<strong>in</strong>e empirisch-soziologischen Bemerkungen, die natürlich nur Aspekte<br />

<strong>des</strong> Gegenstands betreffen, habe ich unter drei Stichworte gebracht:<br />

Milieuauflösung, implizite Religion und Globalisierung <strong>des</strong><br />

<strong>Christentums</strong>. In aller Kürze: In zahlreichen Arbeiten wurde schon die<br />

Situation der Christen <strong>in</strong> der Bun<strong>des</strong>republik Deutschland durch den<br />

Kontrast zwischen geschlossenen politischen und lebensweltlichen<br />

Milieus e<strong>in</strong>st und e<strong>in</strong>er angeblichen weitgehenden Individualisierung<br />

heute dargestellt. An dieser konventionellen Sicht ist sicher viel<br />

Wahres, aber ich möchte sie doch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Aspekten korrigieren. E<strong>in</strong>e<br />

wichtige Studie über „Religiöse Sozialisation, konfessionelle Milieus<br />

und Generation“ zeigt etwa anhand der Stadt Köln zwei bemerkenswerte<br />

Befunde. 4 Zwar erschwert <strong>in</strong> der Tat die Auflösung konfessioneller<br />

Milieus den <strong>Familien</strong> die Weitergabe <strong>des</strong> Glaubens. <strong>Die</strong> tatsächliche<br />

Abnahme dieser Weitergabe sche<strong>in</strong>t die Erwartung auch zu bestätigen,<br />

dass die <strong>Familien</strong> angesichts dieser Schwierigkeit häufig unterliegen.<br />

Berücksichtigt man aber unterschiedliche Grade der Intensität<br />

der Religionsausübung, ergibt sich e<strong>in</strong> anderes Bild. Dann nimmt der<br />

Erfolg der Glaubensweitergabe <strong>in</strong> diesen Fällen sogar zu. <strong>Die</strong> Gruppe<br />

der stark Religiösen ist also zwar kle<strong>in</strong>er geworden, hat aber höhere<br />

Tradierungserfolge. <strong>Die</strong> Rolle der Konfession nimmt hierbei allerd<strong>in</strong>gs<br />

ab. Das heißt, die Trennungsl<strong>in</strong>ie verläuft immer weniger zwischen den<br />

Konfessionen und ihren Milieus und immer mehr zwischen Christen<br />

und Nicht-Christen. <strong>Die</strong>s wird durch Daten über das Heiratsverhalten<br />

bestätigt. Es gibt also durchaus Anzeichen für e<strong>in</strong> weiterbestehen<strong>des</strong>,<br />

kle<strong>in</strong>er gewordenes, aber vitales und <strong>in</strong> H<strong>in</strong>sicht auf Überkonfessionalität<br />

im Entstehen begriffenes christliches Milieu <strong>in</strong> Deutschland. Um<br />

dies wahrnehmen zu können, müssen wir freilich bedenken, dass heutige<br />

Milieus sich weniger durch räumliche Konzentration auszeichnen<br />

als früher, weil Telefon und Transportmittel Kontakt und Koord<strong>in</strong>ation<br />

auch über Entfernungen h<strong>in</strong> erleichtern. 5<br />

Das verschw<strong>in</strong>dende „katholische“ Milieu sollte zudem nicht retrospektiv<br />

verklärt werden. Es war ja gerade <strong>in</strong> Deutschland gar nicht<br />

ganz freiwillig zustandegekommen, sondern hatte sich <strong>in</strong> der Defensive<br />

4 Christoph Wolf, Religiöse Sozialisation, konfessionelle Milieus und Generation,<br />

<strong>in</strong>: Zeitschrift für Soziologie 24 (1995), S. 345-357.<br />

5 Zu diesen Fragen ausführlicher Hans Joas/Frank Adloff, Milieuwandel und Geme<strong>in</strong>s<strong>in</strong>n, <strong>in</strong>:<br />

Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hg.), Geme<strong>in</strong>wohl und Geme<strong>in</strong>s<strong>in</strong>n, Band 4, Berl<strong>in</strong> 4 2002, S. 153-186.<br />

5


6<br />

gegen Modernisierung, Protestantismus, Nationalismus, Liberalismus<br />

und säkularistische Arbeiterbewegung konstituiert. Es war Teil e<strong>in</strong>er<br />

„Versäulung“ der deutschen Gesellschaft, wie man <strong>in</strong> Anlehnung an<br />

die Verhältnisse <strong>in</strong> den Niederlanden gesagt hat, d.h. e<strong>in</strong>er Abdichtung<br />

der Milieus gegene<strong>in</strong>ander. <strong>Die</strong>se Versäulung galt, solange sie bestand,<br />

zu Recht als H<strong>in</strong>dernis für die Entwicklung e<strong>in</strong>er nationsübergreifenden<br />

demokratischen politischen Kultur <strong>in</strong> Deutschland; entsprechend<br />

wurde der Brückenschlag zwischen den Milieus, die Auflösung der Versäulung<br />

weith<strong>in</strong> mit Erleichterung aufgenommen als sie <strong>in</strong> den 1960er<br />

Jahren begannen. 6 Gerade das katholische Milieu hatte <strong>in</strong>tellektuell<br />

und kulturell stagnative Züge. Es war <strong>in</strong> Deutschland zudem durch<br />

den Nationalsozialismus h<strong>in</strong>durchgegangen, dem gegenüber es sich<br />

ke<strong>in</strong>eswegs als immun erwiesen hatte. Politischer Autoritarismus und<br />

xenophobische kulturelle Homogenität waren dem Milieu eigen, das<br />

Karl Rahner als „Trachtenvere<strong>in</strong>skatholizismus“ gekennzeichnet hatte<br />

– e<strong>in</strong>e Bezeichnung, die für me<strong>in</strong> Empf<strong>in</strong>den den Nagel auf den Kopf<br />

traf. Man muss nur an die Rhetorik <strong>des</strong> „Politischen Aschermittwoch“<br />

<strong>in</strong> Vilshofen oder Passau denken, um zu verstehen, was ich me<strong>in</strong>e.<br />

Doch auch über die politischen Ausdrucksformen <strong>des</strong> deutschen<br />

Protestantismus, se<strong>in</strong>e Staatshörigkeit etwa, die sich seit der Gründung<br />

<strong>des</strong> Bismarck-Reiches immer mehr nationalistisch auflud, und<br />

den Antikatholizismus, den viele ehemalige Protestanten bewahren,<br />

auch wenn sie sich von ihrem protestantischen Glauben längst verabschiedet<br />

haben, ließe sich viel Unfreundliches sagen. <strong>Die</strong> Frage für die<br />

<strong>Zukunft</strong> darf <strong>des</strong>halb nicht e<strong>in</strong>fach se<strong>in</strong>, wie Milieus stabilisiert oder<br />

gerettet werden können, als wäre gesellschaftliche Des<strong>in</strong>tegration die<br />

notwendige Folge von Milieuwandel. <strong>Die</strong> Frage muss vielmehr se<strong>in</strong>,<br />

wie Werte <strong>in</strong> solchem Milieuwandel auf neue Weise weitergegeben<br />

werden und auch durch neue Erfahrungen neu entstehen können.<br />

Manchmal werden Werte und Glaube ja vielleicht gerade <strong>des</strong>halb<br />

schlecht weitergegeben, weil sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Milieu gleichsam e<strong>in</strong>gesperrt<br />

s<strong>in</strong>d. <strong>Die</strong> Großartigkeit der Botschaft <strong>des</strong> Evangeliums ist manchem im<br />

Milieukatholizismus eher aus den Augen geraten.<br />

6 M. Ra<strong>in</strong>er Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung<br />

der deutschen Gesellschaft (1966), <strong>in</strong>: Ders., Demokratie <strong>in</strong> Deutschland, Gött<strong>in</strong>gen 1993,<br />

S. 25-50.<br />

Me<strong>in</strong> zweites Stichwort „implizite Religion“ bezieht sich auf die<br />

vielfältigen Formen von Werthaltungen und Praktiken, die für<br />

Betroffene „Letztbezug und Höchstrelevanz“ (Detlef Pollack) haben. Der<br />

Begriff zielt damit auf all das, was man als Religion bezeichnen kann,<br />

was aber sich nicht selbst so bezeichnet, sowie auch was sich selbst<br />

so bezeichnet, aber von anderen nicht wirklich als Religion akzeptiert<br />

wird. Mit der Abnahme kirchlich gebundener Religiosität stieg das Interesse<br />

der Forschung an „außerkirchlichen Formen religiöser Orientierungen,<br />

<strong>in</strong> neuen religiösen Bewegungen, New Age Psychokulten,<br />

Okkultismus, Spiritismus oder kultischen Milieus (…), Neo-Sannyas-Bewegung,<br />

im neugermanischen Heidentum, der Bachblüten-Therapie,<br />

im Energie-Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g, <strong>in</strong> der Zen-Meditation oder <strong>in</strong> der ‚kle<strong>in</strong>en Welt‘<br />

der Bodybuilder, der fremden Welt der Wünschelrutengänger und<br />

Pendler, im Selbst- und Weltbild ‚postmoderner‘ Jugendlicher oder<br />

gar im Fußballkult, <strong>in</strong> der Unterhaltungsmusik“ 7 oder <strong>in</strong> politischen<br />

Bewegungen und politischen Religionen, wie Eric Voegel<strong>in</strong> die totalitären<br />

Bewegungen <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts nannte. 8 Ohne <strong>in</strong>s Detail ge-<br />

hen zu können möchte ich an dieser Stelle nur anmerken, dass es mir<br />

analytisch nicht hilfreich zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t den Religionsbegriff so auszuweiten,<br />

dass Säkularisierung gewissermaßen per def<strong>in</strong>itionem ausgeschlossen<br />

ist. Mit der Realität gerade <strong>in</strong> Ostdeutschland als e<strong>in</strong>em<br />

der säkularisiertesten Gebiete der Welt sche<strong>in</strong>t mir dies nicht verträglich.<br />

Ebenso sche<strong>in</strong>t mir Detlef Pollack (von dem ich obige Liste übernommen<br />

habe) Recht zu haben, wenn er die Vorstellung zurückweist,<br />

die Abnahme kirchlich gebundener Religiosität und „die Zugew<strong>in</strong>ne<br />

neuer religiöser Bewegungen, Esoterikgruppen und ostasiatischer Spiritualität“<br />

verhielten sich zue<strong>in</strong>ander wie e<strong>in</strong> System kommunizierender<br />

Röhren, <strong>in</strong> dem also „ke<strong>in</strong>e Substanz verloren gehen, sondern sich<br />

allenfalls e<strong>in</strong>e Umschichtung der Verteilungsverhältnisse vollziehen<br />

kann“. Quantitativ ist die Lage e<strong>in</strong>deutig: <strong>Die</strong> kirchlichen Verluste werden<br />

nicht durch Zugew<strong>in</strong>ne andernorts ausgeglichen – so könnte man<br />

die Lage <strong>in</strong> Europa kennzeichnen; <strong>in</strong> den USA wiederum spielt sich<br />

der Wandel zu <strong>in</strong>dividualistischer Spiritualität eher <strong>in</strong> den Religions-<br />

7 Detlef Pollack, Säkularisierung – e<strong>in</strong> moderner Mythos? Tüb<strong>in</strong>gen 2003, S. 10 f.<br />

8 Eric Voegel<strong>in</strong>, <strong>Die</strong> politischen Religionen (1938), München, 1993.<br />

7


8<br />

geme<strong>in</strong>schaften ab als außerhalb von ihnen und gegen sie. Dennoch<br />

darf all dies ke<strong>in</strong>e Ignoranz gegenüber Formen und Tendenzen frei vagierender<br />

Religiosität ebenso wie der sogenannten Kasualfrömmigkeit<br />

rechtfertigen.<br />

Me<strong>in</strong> drittes Stichwort lautet „Globalisierung <strong>des</strong> <strong>Christentums</strong>“.<br />

Es ist für die Religionsdiagnose der Gegenwart unbed<strong>in</strong>gt nötig e<strong>in</strong>e<br />

globale, d.h. nicht eurozentrische, Perspektive e<strong>in</strong>zunehmen. Schon<br />

die These, das 19. Jahrhundert sei e<strong>in</strong> Zeitalter der Säkularisierung<br />

gewesen, hat ja nur für Europa partielle Gültigkeit; <strong>in</strong> den USA nahm<br />

die Kirchenmitgliedschaft <strong>in</strong> dieser Zeit absolut und relativ kont<strong>in</strong>uierlich<br />

zu, und <strong>in</strong> der übrigen Welt gab es die verschiedensten Entwicklungen,<br />

nur e<strong>in</strong>e nicht: Säkularisierung. In Afrika breiteten sich<br />

Christentum und Islam durch missionarische Aktivitäten stark aus;<br />

<strong>in</strong> Asien und der islamischen Welt nahmen die religiösen Traditionen<br />

die Herausforderung <strong>des</strong> <strong>Christentums</strong> und der europäischen Macht<br />

<strong>in</strong> den verschiedensten Weisen auf. Selbst diejenigen unter den heutigen<br />

Sozialwissenschaftlern, die an der Vorstellung von den säkularisierenden<br />

Wirkungen der Modernisierung weiterh<strong>in</strong> festhalten – wie<br />

der bekannte Wertewandel-Forscher Ronald Inglehart – kommen jetzt<br />

<strong>in</strong>sofern zu e<strong>in</strong>er anderen Prognose der religiösen Lage der Welt, als<br />

sie die demographische Seite der Entwicklung stärker <strong>in</strong> Rechnung<br />

stellen. 9 Wenn nämlich, so argumentieren sie, Säkularisierung negativen<br />

E<strong>in</strong>fluss auf die Bevölkerungsreproduktion hat, während zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t<br />

traditionelle religiöse Orientierungen unter heutigen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

zu rapider Bevölkerungsvermehrung führen, dann wird der Anteil<br />

religiöser Menschen an der Weltbevölkerung <strong>in</strong> jedem Fall, trotz aller<br />

angenommenen Säkularisierung also, dramatisch steigen. Und dies<br />

gilt selbstverständlich noch mehr, wenn wir wie ich – gegen Inglehart<br />

– sogar die Säkularisierungsthese selbst für falsch halten und ihr e<strong>in</strong>e<br />

Unterschätzung der religiösen Vitalität <strong>in</strong> den fortgeschrittenen Gesellschaften<br />

vorwerfen. Erstaunlicherweise wird von manchen (z.B.<br />

Samuel Hunt<strong>in</strong>gton) der demographische Faktor praktisch nur auf<br />

den globalen Islam, aber nicht auf das globale Christentum bezogen.<br />

9 Pippa Norris/Ronald Inglehart, Sacred and Secular, Cambidge 2004.<br />

Dabei s<strong>in</strong>d viele der am schnellsten wachsenden Nationen ganz oder<br />

stark christlich geprägt. Man denke nur an Brasilien, Uganda oder die<br />

Philipp<strong>in</strong>en, deren Bevölkerung sich seit 1975 fast verdoppelt hat. E<strong>in</strong>ige<br />

dieser Länder werden bis 2050 erneut e<strong>in</strong>e Verdopplung oder mehr<br />

erfahren, was die Rangfolge der Staaten auf der Welt h<strong>in</strong>sichtlich ihrer<br />

Bevölkerungszahl völlig verändern wird. Dabei ist die Demographie<br />

nicht die e<strong>in</strong>zige Ursache für die rapide Ausbreitung <strong>des</strong> <strong>Christentums</strong><br />

<strong>in</strong> der Welt. Entgegen den Erwartungen der Kritiker <strong>des</strong> Kolonialismus,<br />

die das Christentum als Implantat <strong>des</strong> Westens ohne <strong>Zukunft</strong><br />

<strong>in</strong> fremder Umwelt betrachteten, begann e<strong>in</strong>e rapide Ausbreitung <strong>des</strong><br />

<strong>Christentums</strong> <strong>in</strong> Afrika auch durch massenhafte Konversionen erst<br />

recht nach Ende der Kolonialherrschaft. Schätzungen besagen, dass<br />

gegenwärtig <strong>in</strong> Afrika pro Tag 23.000 Menschen zur Zahl der Christen<br />

h<strong>in</strong>zukommen – durch Geburt, aber auch zu mehr als e<strong>in</strong>em Sechstel<br />

durch Konversion. Der christliche Anteil an der afrikanischen Bevölkerung<br />

ist von 1965 bis 2001 von 25 auf 46% gestiegen. Sicher s<strong>in</strong>d Religionsstatistiken<br />

nicht extrem zuverlässig; aber zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t die Trendaussagen<br />

sche<strong>in</strong>en unbestreitbar. Auch <strong>in</strong> Asien gibt es erstaunliche<br />

Erfolgsgeschichten <strong>des</strong> <strong>Christentums</strong>, am spektakulärsten wohl <strong>in</strong><br />

Südkorea. Über die religiöse <strong>Zukunft</strong> Ch<strong>in</strong>as will ich nicht spekulieren,<br />

aber zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t <strong>in</strong> Teilen Ch<strong>in</strong>as und unter den Auslandsch<strong>in</strong>esen gibt<br />

es e<strong>in</strong>e beträchtliche Attraktivität <strong>des</strong> <strong>Christentums</strong>. In Late<strong>in</strong>amerika<br />

ist der Siegeszug der Pf<strong>in</strong>gstbewegung und protestantischer Sekten<br />

offensichtlich mehr als e<strong>in</strong> kurzlebiges Phänomen. 10 <strong>Die</strong>se spielen vor<br />

allem auch für Frauen e<strong>in</strong>e große Rolle, weil sie sich von ihnen e<strong>in</strong>e<br />

„Reformation <strong>des</strong> machismo“ 11 versprechen. In globaler Perspektive<br />

besteht also ke<strong>in</strong>erlei Grund zweiflerisch nach den Überlebenschancen<br />

<strong>des</strong> <strong>Christentums</strong> zu fragen. Es sieht vielmehr eher so aus, als seien<br />

wir Zeitgenossen e<strong>in</strong>er der <strong>in</strong>tensivsten Ausbreitungsphasen <strong>des</strong><br />

<strong>Christentums</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Geschichte überhaupt. 12<br />

<strong>Die</strong>se Entwicklungen werden die Christen <strong>in</strong> Europa <strong>in</strong> vielfältiger<br />

Weise betreffen. Wahrsche<strong>in</strong>lich stehen wir, was die katholische Kirche<br />

10 David Mart<strong>in</strong>, Das europäische Modell der Säkularisierung und se<strong>in</strong>e Bedeutung <strong>in</strong><br />

Late<strong>in</strong>amerika und Afrika, <strong>in</strong>: Hans Joas/Klaus Wiegandt, a.a.O., S. 435-464.<br />

11 Elizabeth Brusco, The Reformation of Machismo, Texas 1995.<br />

12 Vgl. zu diesen Ausführungen Philip Jenk<strong>in</strong>s, The Next Christendom. The Com<strong>in</strong>g of<br />

Global Christianity. Oxford 2004.<br />

9


10<br />

betrifft, an der Schwelle e<strong>in</strong>er fundamentalen Kräfteverlagerung. In<br />

der anglikanischen Kirche ist diese bekanntlich schon e<strong>in</strong>getreten. Hier<br />

gibt es massive Spannungen h<strong>in</strong>sichtlich Glaubensverständnis und<br />

Glaubenspraxis zwischen den Weltteilen, neuartige Bündnisse über<br />

Entfernungen h<strong>in</strong>weg und Spaltungstendenzen. Es ist extrem schwierig<br />

aus Tendenzen der letzten Jahrzehnte die <strong>Zukunft</strong> zu extrapolieren.<br />

Das Wachstum der Pf<strong>in</strong>gstbewegung dürfte sich – so me<strong>in</strong>e Ansicht –<br />

abschwächen; die großen Kirchen werden sich aber <strong>in</strong> Konkurrenz dazu<br />

stärker „charismatisieren“. Das Verhältnis <strong>des</strong> wachsenden <strong>Christentums</strong><br />

zum ebenfalls global wachsenden Islam kann, abhängig von<br />

weltpolitischen Konstellationen, extrem verschiedene Formen annehmen.<br />

Durch Migrationsbewegungen wird die religiöse Intensität der<br />

„Dritten Welt“ auch <strong>in</strong> der „Ersten Welt“ immer präsenter se<strong>in</strong>. Migration<br />

bedeutet heute zudem nicht mehr Abbruch der E<strong>in</strong>bettung <strong>in</strong>s<br />

Heimatland, sodass wir von Wirkungen auch <strong>in</strong> umgekehrter Richtung<br />

ausgehen dürfen.<br />

All dies wird die Gleichsetzung <strong>des</strong> <strong>Christentums</strong> mit Europa<br />

oder dem Abendland oder dem Westen weiter lockern. Historisch gesehen<br />

war diese ja immer schon problematisch gewesen. Weder war<br />

Europa je so homogen christlich, wie es e<strong>in</strong>e romantische Sichtweise<br />

gerne gehabt hätte noch war das Christentum <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en ersten Jahrhunderten<br />

vornehmlich <strong>in</strong> Europa verankert. E<strong>in</strong> afrikanischer Beobachter<br />

hat <strong>in</strong>sofern völlig treffend die gegenwärtige Globalisierung<br />

<strong>des</strong> <strong>Christentums</strong> e<strong>in</strong>e „renewal of a non-Western religion“ genannt.<br />

Wie wenig dies vielen bisher verständlich ist, darf ich vielleicht mit e<strong>in</strong>er<br />

Anekdote erläutern. Bei der Vorbereitung se<strong>in</strong>es gerade erschienenen<br />

Buches über Papst Benedikt XVI. <strong>in</strong>terviewte mich e<strong>in</strong> bekannter<br />

deutscher Journalist; dabei stellte er mir die Frage, ob der Papst der<br />

neue Me<strong>in</strong>ungsführer der westlichen Welt sei. Me<strong>in</strong>e Antwort, dass<br />

der Papst ke<strong>in</strong> Sprecher <strong>des</strong> Westens sei und dies auch nicht se<strong>in</strong> solle,<br />

wurde von ihm prompt so missverstanden, als spräche ich dem Papst<br />

die Bedeutung für den Westen ab. Doch der Papst ist der wichtigste<br />

Repräsentant <strong>des</strong> <strong>Christentums</strong> und nicht <strong>des</strong> Westens, und dass das<br />

Christentum sehr viel mehr ist als der Westen, wird <strong>in</strong> den nächsten<br />

Jahren unübersehbar werden. Alle drei Tendenzen – Milieuauflösung,<br />

vagierende Religiosität, Globalisierung <strong>des</strong> <strong>Christentums</strong> – stellen<br />

Herausforderungen für die Glaubensweitergabe und das <strong>in</strong>tellektuelle<br />

Selbstverständnis <strong>des</strong> Glaubens <strong>in</strong> unserer Zeit dar. Wenn der Nexus<br />

zwischen dem Glauben und homogenen Sozialmilieus sich lockert,<br />

wenn der Glaube sich <strong>in</strong> Konkurrenz mit e<strong>in</strong>er Vielzahl teils säkularer,<br />

teils vage religiöser Weltanschauungen und Lebenspraktiken bef<strong>in</strong>det,<br />

wenn der Glaube neu angeeignet wird <strong>in</strong> der Welt außerhalb <strong>des</strong><br />

schon lange christlich geprägten Kulturkreises und unter Bed<strong>in</strong>gungen<br />

massenhafter Armut und Entwurzelung – <strong>in</strong> all diesen Fällen muss<br />

das Christliche von unbemerkten Partikularismen befreit und neu<br />

artikuliert werden. Dar<strong>in</strong> stecken auch beträchtliche <strong>in</strong>tellektuelle<br />

Herausforderungen.<br />

Der große protestantische Theologe und <strong>Christentums</strong>historiker<br />

Ernst Troeltsch, Freund und Rivale Max Webers, hat im Jahr 1910 im<br />

ersten Band der von ihm, Weber, Husserl, Simmel u.a. neu gegründeten<br />

Zeitschrift „Logos“ e<strong>in</strong>en Aufsatz über „<strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong>smöglichkeiten<br />

<strong>des</strong> <strong>Christentums</strong>“ veröffentlicht. 13 Er fragte damals – vor hundert<br />

Jahren – schon, ob wir neuen religiösen Lebensformen oder e<strong>in</strong>er religionslosen<br />

<strong>Zukunft</strong> entgegengehen oder sogar der Auflösung der<br />

europäischen Kultur, „die e<strong>in</strong> neues religiöses Lebenselement nicht<br />

wird bilden können und doch auch e<strong>in</strong> solches nicht entbehren kann“.<br />

Gegen all diese Szenarien hielt er die Aussicht offen auf e<strong>in</strong>e Sammlung<br />

der religiösen Kräfte der Gegenwart und neue Verknüpfungen<br />

der Sozialformen von Kirche, Sekte und <strong>in</strong>dividueller Spiritualität. Intellektuell<br />

sieht er das Christentum vierfach herausgefordert: <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Personalismus, der Konzentration der Mystik auf Jesus Christus, der<br />

Erschwerung der christlichen Wiedergeburts- und Liebesmoral und<br />

der Zentrierung auf die Geme<strong>in</strong>schaftlichkeit <strong>des</strong> Kults. <strong>Die</strong> Herausforderungen<br />

liegen damit im Antipersonalismus, e<strong>in</strong>er transzendenzvergessenen<br />

<strong>Die</strong>sseitigkeit, e<strong>in</strong>em leeren Subjektivismus und e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividualistisch<br />

e<strong>in</strong>geschränkten Spiritualität. Es wäre außerordentlich<br />

13 Ernst Troeltsch, <strong>Die</strong> <strong>Zukunft</strong>smöglichkeiten <strong>des</strong> <strong>Christentums</strong>, <strong>in</strong>: Logos 1 (1910/11),<br />

S. 165-185.<br />

11


12<br />

reizvoll im Abstand von e<strong>in</strong>em Jahrhundert der Frage nachzugehen,<br />

wie sehr das Christentum <strong>in</strong> diesem Zeitraum die von Troeltsch markierten<br />

Herausforderungen angenommen hat oder ob es auch immer<br />

wieder versagt hat. Es ist aber jetzt nur die Gelegenheit auf die Radikalität<br />

dieser Fragestellung aufmerksam zu machen. Das Christentum<br />

kann sich heute <strong>in</strong>tellektuell nur verständlich machen – das ist me<strong>in</strong>e<br />

Erfahrung und me<strong>in</strong>e These – wenn ihm die Übersetzung <strong>in</strong> die Gegenwart<br />

<strong>in</strong> ganz elementarer Weise neu gel<strong>in</strong>gt. Wir müssen auch mit<br />

den Mitteln der Geschichte und Sozialwissenschaften erst wieder e<strong>in</strong><br />

Verständnis dafür schaffen, was mit dem Heiligen geme<strong>in</strong>t ist und se<strong>in</strong>er<br />

Präsenz, was mit Transzendenz und was mit Erlösung, mit Prophet,<br />

Messias und Überw<strong>in</strong>dung der Opferdynamik, um dadurch den Grund<br />

neu zu legen für e<strong>in</strong> Verständnis der Kernaussagen <strong>des</strong> christlichen<br />

Glaubens.<br />

Aus dieser Skizze religiöser Tendenzen und <strong>in</strong>tellektueller Herausforderungen<br />

für den Glauben ergeben sich Punkt für Punkt Folgerungen<br />

h<strong>in</strong>sichtlich der zukünftigen Rolle der Religionsgeme<strong>in</strong>schaften <strong>in</strong><br />

Europa:<br />

1. Wenn me<strong>in</strong>e These zutrifft, dass wir gegenwärtig Zeugen der<br />

Herausbildung e<strong>in</strong>es überkonfessionell christlichen Milieus <strong>in</strong> Deutschland<br />

s<strong>in</strong>d, also Schrumpfung der konfessionellen Milieus nicht die<br />

vollständige Beschreibung religiösen Milieuwandels ist, dann erhöht<br />

dies die Bedeutung <strong>des</strong> ökumenischen Dialogs und der ökumenischen<br />

Zusammenarbeit. E<strong>in</strong>e Profilierung der christlichen Kirchen gegene<strong>in</strong>ander<br />

verliert damit immer mehr ihre Abstützung <strong>in</strong> entsprechenden<br />

separierten Milieus; sie kann <strong>des</strong>halb vermutlich immer weniger mit<br />

der Billigung der Gläubigen rechnen. Daniel Deckers hat treffend von<br />

e<strong>in</strong>er Umkehrung der Beweislast h<strong>in</strong>sichtlich der ökumenischen Zusammenarbeit<br />

gesprochen: Begründungspflichtig wird immer mehr,<br />

wenn diese unterbleibt, nicht, wenn sie stattf<strong>in</strong>det.<br />

2. „Implizite Religion“ kann aus der Perspektive <strong>des</strong> <strong>Christentums</strong><br />

als unglaubliche Simplifizierung, als Verzicht auf e<strong>in</strong>en jahrtausendelang<br />

aufgehäuften Schatz an Weisheit und Umgangserfahrung mit<br />

dem Göttlichen, als Verlust von Transzendenz und als narzisstische<br />

Egozentrik ersche<strong>in</strong>en. Sie kann aber auch als e<strong>in</strong>e Vielfalt von Anknüpfungspunkten<br />

für die Kirchen wahrgenommen werden, die durchaus<br />

Chancen und spirituelle Herausforderungen darstellen. Franz-Xaver<br />

Kaufmann hat den Begriff der „Wechselwirkung“ e<strong>in</strong>geführt, um die<br />

Notwendigkeit, aber auch die Chance solcher Anknüpfung darzutun:<br />

„Nur wenn es gel<strong>in</strong>gt, die mit der Bewahrung und Fortentwicklung<br />

<strong>des</strong> explizit Christlichen betrauten Kirchen <strong>in</strong> Wechselwirkung mit<br />

den <strong>in</strong> Zwischenräumen angesiedelten Formen implizit christlicher<br />

Praxis und Kommunikation zu br<strong>in</strong>gen, kann auf e<strong>in</strong>e Tradierbarkeit<br />

<strong>des</strong> <strong>Christentums</strong> unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

gehofft werden.“ 14 Solche Anknüpfungsversuche und -angebote<br />

dürfen natürlich nicht opportunistisch das Eigene unter Wert<br />

verschleudern. Es wird durchaus auch konflikthaft um die Rettung der<br />

Transzendenz gegenüber den Tendenzen zu e<strong>in</strong>er Detranszendentalisierung<br />

<strong>in</strong> impliziten und auch expliziten Religionen der Gegenwart<br />

gehen. Aber jede solche Anknüpfung an Erfahrungen und Deutungen<br />

ist auch e<strong>in</strong>e produktive Herausforderung zur Neuartikulation <strong>des</strong><br />

Eigenen. Wenn es zutrifft, dass Konkurrenz das religiöse Leben <strong>in</strong>tensiviert,<br />

dann muss die Herausforderung zur Konkurrenz mit Engage-<br />

ment angenommen werden.<br />

3. <strong>Die</strong> Globalisierung <strong>des</strong> <strong>Christentums</strong> und e<strong>in</strong>e durch Migration<br />

verstärkte religiöse Vielfalt <strong>in</strong> Europa erhöhen die Bedeutung <strong>des</strong> <strong>in</strong>terreligiösen<br />

Dialogs und der Kooperation der christlichen Kirchen mit<br />

nicht-christlichen Religionsgeme<strong>in</strong>schaften. Weder der ökumenische<br />

noch der jüdisch-christliche Dialog s<strong>in</strong>d bisher an ihr Ziel gelangt; ganz<br />

unübersehbar aber stellt sich jetzt als Aufgabe mit höchster Priorität<br />

der Dialog der abrahamitischen Religionen. <strong>Die</strong> politische Aufladung<br />

<strong>des</strong> Islam <strong>in</strong> der Gegenwart kann zu Islamophobie führen, die dieser<br />

großen Religion nicht gerecht wird, ja sogar Stereotypen <strong>des</strong> christlichen<br />

Antijudaismus jetzt auf den Islam überträgt. Selbstverständlich<br />

s<strong>in</strong>d genauso gefährlich antijüdische und antichristliche Zerrbilder,<br />

die von Moslems geglaubt werden. E<strong>in</strong>e zentrale Stelle <strong>in</strong> diesem<br />

14 Franz-Xaver Kaufmann, Zwischenräume und Wechselwirkungen. Der Verlust der Zentral-<br />

perspektive und das Christentum, <strong>in</strong>: Theologie und Glaube 96 (2006), S.309-323.<br />

13


14<br />

Dialog sche<strong>in</strong>t mir dabei die christliche Lehre vom dreifaltigen Gott<br />

e<strong>in</strong>zunehmen. Was aus moslemischer Perspektive wie e<strong>in</strong> Rückfall <strong>in</strong><br />

den Polytheismus ersche<strong>in</strong>en mag, muss für die Christen Anlass zur<br />

Reflexion auf die Tiefe der eigenen Gotteskonzeption se<strong>in</strong>. Es meldet<br />

sich auch bereits die nächste große Aufgabe jenseits <strong>des</strong> „abrahamitischen“<br />

Dialogs, nämlich die Verständigung mit den Formen süd- und<br />

ostasiatischer Religiosität. 15<br />

4. Zusätzlich zu diesen Formen <strong>in</strong>terreligiösen Dialogs stellen<br />

sich die Aufgaben e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tellektuellen Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den<br />

Formen säkularistischer Rationalität. Ich habe vorh<strong>in</strong> schon unter Verweis<br />

auf Ernst Troeltsch zentrale Punkte benannt, die hier zum Thema<br />

werden. Wo die Frage nach den Religionsgeme<strong>in</strong>schaften im Mittelpunkt<br />

steht, wird es vornehmlich darum gehen, den S<strong>in</strong>n von „Kirche“<br />

unter Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er vorherrschend <strong>in</strong>dividualistischen Sichtweise<br />

neu zu artikulieren. Jeder kirchlich Gebundene kennt vermutlich<br />

das Unverständnis von Zeitgenossen, wenn man Sorgen, Zweifel,<br />

Leiden an der eigenen Kirche zu Wort kommen läßt und doch se<strong>in</strong>e<br />

Zugehörigkeit nicht <strong>in</strong> Frage stellt. Das Unverständnis rührt von e<strong>in</strong>er<br />

zur Selbstverständlichkeit gewordenen Auffassung her, soziale Gebilde<br />

hätten auf dem freiwilligen Zusammenschluß ihrer Mitglieder<br />

zu beruhen und stellten <strong>des</strong>halb nie mehr dar als e<strong>in</strong>e Art Vere<strong>in</strong>, <strong>in</strong><br />

unserem Fall also e<strong>in</strong>en „Kultvere<strong>in</strong>“. In der Vorstellung von der Kirche<br />

aber als e<strong>in</strong>em Gebilde, das den Individuen übergeordnet ist und<br />

ihnen erst möglich macht gläubig zu se<strong>in</strong> und sie selbst zu werden,<br />

steckt damit e<strong>in</strong>e tiefe Unzeitgemäßkeit. Es ist vielleicht die entscheidende<br />

<strong>Zukunft</strong>sfrage, ob es gel<strong>in</strong>gt diesem Gedanken von der Kirche<br />

heute Kraft zu geben trotz Schrumpfungsprozessen und umfassender<br />

Individualisierung.<br />

15 Vgl. dazu Hans Joas, Werte und Religion, <strong>in</strong> Liz Mohn u.a. (Hg.), Werte. Was die Gesellschaft<br />

zusammenhält, Gütersloh 2006, S. 19-32..


Prof. Dr. Hans Joas<br />

Hans Joas (Jg. 1948) ist Max-Weber-Professor und Leiter <strong>des</strong> „Max-Weber-<br />

Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien“ an der Universität<br />

Erfurt sowie Professor und Mitglied <strong>des</strong> „Committee on Social<br />

Thought“ an der University of Chicago. Er ist ordentliches Mitglied<br />

der „Berl<strong>in</strong>-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften“, Non-<br />

resident Fellow <strong>des</strong> „Swedish Collegium for Advanced Study“, Uppsala,<br />

und Vize-Präsident der „International Sociological Association“. Se<strong>in</strong>e<br />

Arbeitsschwerpunkte liegen <strong>in</strong> der soziologischen Theorie und Sozialphilosophie,<br />

der Soziologie Nordamerikas, der Soziologie <strong>des</strong> Krieges<br />

sowie der Religionssoziologie.

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