Psychosomatische Beschwerden als neue Volkskrankheit - Cogito ...
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FAMILIE, GESELLSCHAFT, BERUF<br />
UND ICH IM SOZIALEN<br />
SPANNUNGSFELD<br />
Verfolgt man den strukturellen Gesellschaftswandel<br />
während der letzten 40 Jahre, so zeigen<br />
sich eindeutige Tendenzen: mehr Kopf- statt<br />
Körperarbeit, mehr Konkurrenzdruck statt Rükksicht<br />
während der Ausbildung und am Arbeitsplatz,<br />
mehr passive statt aktive Freizeitvergnügungen,<br />
mehr Zeitdruck und mehr Convenience-Food<br />
statt Selbstgemachtem im Alltag. Auf<br />
den ersten Blick lesen sich diese Gegenüberstellungen<br />
<strong>als</strong> willkürliche Aufzählung soziologischer<br />
Kenngrößen. Im Spiegel aktueller Forschungen<br />
aber haben diese Sozialfaktoren mehr<br />
miteinander zu tun, <strong>als</strong> auf Anhieb erkennbar.<br />
GLÜCK ALS LERNFAKTOR<br />
Folgt man den aktuellen Thesen des deutschen<br />
Neurowissenschaftlers Manfred Spitzer, hängt jenes<br />
Gefühl, das wir mit „glücklich sein“ verbinden,<br />
sehr eng zusammen mit jenen Erlebnissen,<br />
die uns „positiv überraschen“. Positiv überraschen<br />
uns all jene Erfahrungen, die von uns <strong>als</strong><br />
neu und für uns <strong>als</strong> vorteilhaft eingestuft werden.<br />
Diese Erfahrungen können das Erlernen einer<br />
Fremdsprache ebenso sein, wie die erfolgreiche<br />
Nutzung eines iPads, das Gelingen eines Topspins<br />
beim Tennisspiel mit Freunden oder der Anblick<br />
(und Kauf) eines <strong>neue</strong>n Paares Schuhe im<br />
Schaufenster. Die Erfahrung sollte <strong>als</strong>o möglichst<br />
neu sein für uns, möglichst überraschend und uns<br />
möglichst zum Vorteil gereichen. Dann, meint<br />
Manfred Spitzner, produzieren unsere Neuronen<br />
im Mittelhirn aktivierende Neurotransmitter wie<br />
Dopamin, Serotonin und Noradrenalin, aber<br />
auch – sozusagen <strong>als</strong> Zugabe – jene endogenen<br />
Opiate, die wir <strong>als</strong> Endorphine kennen. All diese<br />
Erfahrungen fasst Spitzer unter dem Begriff<br />
„Lernen“ zusammen, wobei die Nachhaltigkeit<br />
des Lerneffektes und des wiederkehrenden Glükksgefühls<br />
erst durch permanentes Dazulernen gegeben<br />
ist. Aus diesen Wechselwirkungen unseres<br />
„Lern-Glücks-Zentrums“ ergibt sich laut Spitzer<br />
das Faktum, dass manche Menschen <strong>als</strong> besonders<br />
wissbegierig gelten, für andere der Freizeitsport<br />
zum Leistungssport ausarten kann, andere<br />
wiederum kaufsüchtig sind. Übrigens aktivieren<br />
auch bekannte Stimulanzien wie Nikotin,<br />
Alkohol oder Kokain genau jenes Glückszentrum<br />
(Nucleus accumbens) in unserem<br />
Zwischenhirn, das auch von den genannten<br />
Neurotransmittern angeregt wird. Unser Lernund<br />
Glückszentrum ist somit auch unser Suchtzentrum.<br />
DAS WIRKSPEKTRUM UNSERER<br />
PSYCHOPHARMAKA<br />
Nehmen wir die Wirkspektren der meist verwendeten<br />
Psychopharmaka genauer unter die<br />
Lupe, fällt vor allem eine Gemeinsamkeit auf:<br />
Sie hemmen den Abbau aktivierender und stimulierender<br />
Neurotransmitter wie Dopamin,<br />
Noradrenalin und/oder Serotonin. Der pharmakologische<br />
Ansatz der meisten Psychopharmaka,<br />
egal, ob bei Indikationen wie ADS, ADHS, Depressionen<br />
und/oder Burnout eingesetzt, beruht<br />
<strong>als</strong>o darauf, die Konzentration jener Neurotransmitter<br />
länger aufrecht zu erhalten, die zuvor<br />
durch endogene Synthese gebildet worden waren.<br />
Mit anderen Worten: Jene Nervenbotenstoffe,<br />
deren Abbau durch die unterschiedlichen<br />
Psychopharmaka verzögert wird, müssen zuvor –<br />
vermittelt durch externe Stimuli aus unserem sozialen<br />
Umfeld – in unseren Gehirnen gebildet<br />
worden sein.<br />
GLÜCK ALS ERNÄHRUNGSFAKTOR<br />
Verfolgt man die Erkenntnisse der Ernährungsmedizin,<br />
so sticht ein zusätzliches Moment ins<br />
Auge: All jene Neurotransmitter, die im Fokus<br />
MAG. NORBERT FUCHS<br />
des pharmakologischen Interesses stehen, werden<br />
in unseren Neuronen aus alimentär zugeführten<br />
Aminosäuren metabolisiert: Dopamin<br />
und Noradrenalin aus L-Phenylalanin und L-Tyrosin,<br />
Serotonin aus L-Tryptophan. Ein Blick tiefer<br />
in diese Stoffwechselkaskaden der Neurobiologie<br />
zeigt uns jene essentiellen Cofaktoren auf,<br />
die unsere Neuronen für die endogene Neurotransmittersynthese<br />
benötigen: Riboflavine, Folsäure,<br />
Niacin, Pyridoxin, Kupfer und Vitamin C<br />
– durchaus bekannte Kenngrößen der Biochemie.<br />
Mikronährstoff-Defizite schränken <strong>als</strong>o unsere<br />
Synthesekapazität zur reizadäquaten Neurotransmitterbildung<br />
ein.<br />
PSYCHOSOMATISCHE BESCHWER-<br />
DEN ALS LEHRBEISPIELE FÜR MUL-<br />
TIFAKTORIELLE ERKRANKUNGEN<br />
Neurotransmitter sind die biochemische Antwort<br />
unseres Organismus auf externe Signale und<br />
Reize unseres sozialen Umfeldes. Eine konstruktiv-kritische<br />
Analyse dieses sozialen Umfeldes<br />
zur nachhaltigen Ausschaltung belastender Faktoren<br />
ist dabei ebenso wichtig wie eine kritische<br />
Anamnese der Ernährungsgewohnheiten der Betroffenen.<br />
Beide Maßnahmen stellen wirksame<br />
zusätzliche therapeutische Hebel zur dauerhaften<br />
Lösung psychosomatischer Probleme dar.<br />
MAG. NORBERT FUCHS<br />
Norbert Fuchs, Jahrgang 1955, studierte in Graz Pharmazie.<br />
Seit 1990 beschäftigt sich der Autor vorwiegend mit angewandter<br />
Biochemie und ernährungsmedizinischer Forschung.<br />
Norbert Fuchs ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der<br />
Nährstoff-Akademie Salzburg, Autor zahlreicher Fachpublikationen<br />
und Fachbücher sowie Referent ernährungsmedizinischer<br />
Themen.<br />
In der vorliegenden Themenreihe „Ernährungsmedizin – kritisch<br />
betrachtet“ versucht der Autor, Themen aus der Apothekenpraxis<br />
aus ernährungsmedizinischer Sicht kritisch und<br />
unkonventionell zu hinterfragen.<br />
HARMA-TIME 0/12<br />
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