Vom Schnippeln besessen - Max Planck Institute for the History of ...
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Ihr Forschungsgebiet ist die Geschichte des wissenschaftlichen Sammelns. In dem von<br />
ihr herausgegebenen Band Sammeln als Wissen schreibt sie: „Zahlen, Daten, Kurven,<br />
Bilder und Objekte bilden eine Grundlage der Wissenschaft, und erst aufgrund solcher<br />
Ansammlungen lassen sich Regelmäßigkeiten erkennen und Schlussfolgerungen<br />
ziehen.“ Taxonomien und Klassifikationen schaffen im Chaos der Wirklichkeit Ordnung.<br />
Sie strukturieren die Wahrnehmung. Auch Gehrke wollte, indem er ein halbes Dutzend<br />
Einstein-Fotos auf eine Seite klebte, zeigen, wie sein Gegner zum zweifelhaften<br />
Medienhelden wurde. Ein seriöser Wissenschaftler, so die Intention des schnippelnden<br />
Kritikers, hätte sich für so etwas nicht hergegeben.<br />
Die Zeitungsausschnittsammlungen stehen für Anke te Heesen aber auch in der<br />
Tradition des Exzerpierens, des Zusammentragens von Lesefrüchten und Tatsachen.<br />
Seit der Erfindung des Buchdrucks wurde es immer schwieriger, aus der zunehmenden<br />
Flut des Wissens relevante In<strong>for</strong>mationen zu gewinnen. Da Abschreiben mühselig war,<br />
wurde ausgeschnitten und eingeklebt. Briefe, Bücher, fremde und eigene Notizen – der<br />
Schere des Gelehrten war nichts heilig.<br />
Die Vorstellung, allein das Stapeln von Wissensfragmenten schaffe neues Wissen, hielt<br />
lange an. Im 19. Jahrhundert aber reichten Fleiß und Ausdauer nicht mehr aus. „Das<br />
Exzerpieren verkam zu einer basalen Technik, der der Hautgout des Studentischen<br />
anhaftet“, sagt te Heesen. „So wie man bei mir zu Hause nicht über Geld sprach, redet<br />
heute kein Wissenschaftler davon, wie er seine Lektüreergebnisse archiviert.“ Sogar<br />
ihr selbst ist das Kompliment für die ordentlichen Textauszüge, die sie aus den Tiefen<br />
des Schranks hervorgräbt, eher unangenehm. Dabei manifestieren sich in den<br />
Exzerpten die wesentlichen Qualitäten des Wissenschaftlers: „Fleiß, Gedächtnis,<br />
Sitzfleisch“ nannte sie der Zettelkastenbesitzer Arno Schmidt. Ist es peinlich, nicht alles<br />
im Kopf zu haben?<br />
Bezeichnenderweise boomte der Zeitungsmarkt gerade, als das Abschreiben aus der<br />
Mode kam. Die Zeitung, billig und am nächsten Tag schon Altpapier, geriet zum idealen<br />
Schnippelobjekt. Überall schossen Presseausschnittbüros aus dem Boden, die nicht nur<br />
Wissenschaftlern, Politikern und Künstlern zu Diensten waren. „Ein Wäschefabrikant<br />
verlangt Verlobungen, ein Kindermehlfabrikant erhält Geburten, ein Grabsteinfabrikant<br />
will jene wissen, denen er ihr letztes Haus ausschmücken soll“, zitiert te Heesen eine<br />
zeitgenössische Quelle. „Jeder sammelte in irgendeiner Form Zeitungsausschnitte.<br />
Manche sehr gezielt, andere“ – und sie deutet auf das Zeitungsallerlei aus Leipzig –<br />
„eher kreuz und quer.“<br />
Persönlich, gesteht die Wissenschaftlerin, fasziniere sie vor allem eins: „Die<br />
Besessenheit, mit der diese Jäger und Sammler alles aufbewahren, was sie der<br />
täglichen In<strong>for</strong>mationsflut abtrotzen. Immer in der H<strong>of</strong>fnung, es könnte noch einmal<br />
nützlich sein.“ Kokettierend fügt sie hinzu: „Ich kann das nicht. Ich kann nicht ordnen.“<br />
Spricht man sie aber darauf an, wie sie ohne Hinsehen in der Schublade die<br />
Tesafilmrolle findet, wie ordentlich die Kopien in der Hängeregistratur ruhen – dann<br />
entschuldigt sie sich eilig, wirft ein, wie mühsam sie das alles habe lernen müssen. „Ich<br />
bin erleichtert, wenn ich für die Dinge einen Platz gefunden habe.“<br />
Jeder trägt an seinem Zeitungsstapel<br />
Immerhin den Satz „Ich kann auch Unordnung zulassen“ glaubt man ihr so<strong>for</strong>t. Zu<br />
deutlich hebt sie sich von jenem Wissenschaftlertypus ab, dem in jeder Bewegung, in<br />
jedem Satz anzumerken ist, dass er die meiste Zeit in dunklen Archiven verbringt.<br />
Gerade weil sie von ihrem Thema selbst so fasziniert ist, steckt sie andere mit ihrer<br />
Begeisterung an.<br />
„Natürlich hat das etwas Manisches. Ausschneiden, ausschneiden, ja nichts<br />
verpassen“, sagt Anke te Heesen und blickt zum Fenster hinaus auf die Baukräne<br />
Richtung Gendarmenmarkt. Am Morgen hatte ihr eine Kollegin erzählte, Sabine<br />
Christiansen trage immer ein Papiermesser mit sich rum. Indes, fragt sich die<br />
Zettel<strong>for</strong>scherin: „Schleppt nicht jeder einen Stapel Zeitungen durch sein Leben?“<br />
Artikel, die einem wichtig sind oder die man noch lesen möchte; die jahrelang<br />
herumliegen und jedes Mal, wenn man sie entstaubt, das schlechte Gewissen wecken.<br />
Schweren Herzens landen sie eines Tages im Altpapier, für immer ungelesen. Vielleicht<br />
brauchen wir solche Stapel, um uns im Leben zu verorten, überlegt sie und sagt: „Es<br />
ist nicht nur das Visuelle eines Textes, das inspiriert, sondern auch das Material in<br />
seiner puren Gegenständlichkeit.“ Viele ihrer Kollegen hätten versucht, den<br />
Schreibkram digital zu erledigen. Fast alle haben ihre Notizbücher rehabilitiert.<br />
„Es reicht nicht aus, über die Dinge zu schreiben. Man muss mit ihnen agieren, sie in<br />
verschiedenen Kontexten betrachten.“ Deshalb widmete die Wissenschaftshistorikerin<br />
den Zeitungsausschnitten vergangenes Jahr eine kleine Ausstellung. Den Auftakt zu<br />
Cut and Paste um 1900 bildete das Rezeptbuch ihrer Mutter mit einem Dresdner<br />
Christstollen aus der Neuen Ruhr Zeitung. Die wissenschaftlichen Klebebände und<br />
Karteikästen konfrontierte sie mit George Grosz’ dadaistischen Collagen und dem Berlin<br />
Alexanderplatz-Manuskript<br />
Alfred Döblins mit seinen einmontierten Zeitungsartikeln. Ihr