28 HUNDE DER WELT · 01-2011 <strong>KANGAL</strong>S SIND HUNDE DES MITTELALTERS. LEBEN IN DER STADT IST NICHTS FÜR SIE Die Bergwelt ist ursprünglich, die Menschen leben und <strong>de</strong>nken wie früher. Für Entrüstung sorgte, dass DOGS-Fotografin Debra Bardowicks und <strong>de</strong>r Autor Philip Alsen nicht miteinan<strong>de</strong>r verheiratet sind. Kangals gelten als Nationalsymbol <strong>de</strong>r Türkei. Ihr Wert für <strong>de</strong>n Besitzer richtet sich vor allem nach Bewun<strong>de</strong>rung, die man <strong>de</strong>r Kraft und Größe seines Hun<strong>de</strong>s zollt. Der Zuchtrü<strong>de</strong> (Foto rechts) wiegt über 80 Kilogramm und hat auf <strong>de</strong>m Kangal-Festival in Kangal mehrere Preise gewonnen.
30 HUNDE DER WELT · 01-2011 AM GLÜCKLICHSTEN SIND DIESE HUNDE, WENN SIE SCHAFEN SCHUTZ GEBEN KRAL, DER KÖNIG, IST SAUER. Schlecht gelaunt liegt er vor seiner mit Wellblech ge<strong>de</strong>ckten Hütte. An seinem Hals hängt eine schwere Kette. Dass die am Hals zieht und ständig klötert, nervt ihn zwar, richtig böse aber macht ihn, dass sie ihn daran hin<strong>de</strong>rt, zum an<strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Dorfs zu gehen und <strong>de</strong>n vier dort herumlungern<strong>de</strong>n Jungrü<strong>de</strong>n zu zeigen, wer hier das Sagen hat. „Aber die gehen in ein paar Wochen in die Berge“, sagt <strong>de</strong>r Dorfälteste. „Und dann können wir ihn wie<strong>de</strong>r frei herumlaufen lassen.“ Bis dahin aber hängt er an <strong>de</strong>r Kette. „Nur nachts lassen wir ihn frei. Denn er ist <strong>de</strong>r beste Kangal in <strong>de</strong>r Gegend.“ Vor drei Monaten, erzählt <strong>de</strong>r Mann, strich ein hungriger Wolf ums Dorf. Das Vieh war unruhig, die Hun<strong>de</strong> waren in Alarmbereitschaft. Natürlich hat ihn auch <strong>de</strong>r König bemerkt. Aber er hat ihn gelassen. Zwei Nächte lag Kral einfach nur da und starrte in die Dunkelheit. In <strong>de</strong>r dritten Nacht aber – da wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Hunger wohl zu groß – versuchte <strong>de</strong>r Wolf, ins Dorf zu kommen und eines <strong>de</strong>r Schafe zu reißen: „Es ging sehr schnell“, erzählt <strong>de</strong>r Alte. „Wir hörten Jaulen und <strong>de</strong>n Lärm eines Kampfes, und als wir herausgelaufen kamen, war <strong>de</strong>r Wolf schon tot.“ Die Augen <strong>de</strong>s Alten leuchten vor Stolz, wenn er vom König spricht. „Kangal köpeg ˘ i nöbettutuyorsee rahatea uyuyabilirsiniz“, wenn ein Kangal wacht, können alle ruhig schlafen. <strong>KANGAL</strong>S SIND WÄCHTER. Die Hun<strong>de</strong> sind groß, kräftig, schnell und scheinen keine Furcht zu kennen. Sie sind Hun<strong>de</strong> einer an<strong>de</strong>ren Zeit. Ihre Geschichte beginnt im elften Jahrhun<strong>de</strong>rt. Als die Seldschuken, eine türkische Fürstendynastie, in <strong>de</strong>r Schlacht von Manzikert die Byzantiner schlugen und Zentralasien eroberten. Durch die Seldschuken kamen die Türken nach Zentralanatolien, ein Land, in <strong>de</strong>m damals wie heute viele Regionen abgelegen und unendlich einsam sind. Im Hochland gibt es keine Bäume. Auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n ge<strong>de</strong>iht wenig, die Winter sind eisig, im Sommer steigt das Thermometer auf über 45 Grad. Die Lebensgrundlage <strong>de</strong>r Menschen sind die Kangal-Schafe, eine Rasse, die nur hier im Hochland vorkommt. Sie sind größer und schwerer als an<strong>de</strong>re Schafe, geben mehr Fleisch und viel mehr Milch. Außer<strong>de</strong>m ist ihre Wolle begehrt: Kangal-Wolle ist feiner, gelockter und von viel besserer Qualität. Wollhändler kamen von weit her, um Han<strong>de</strong>l zu treiben. Doch die Berge Zentralasiens sind auch die Heimat <strong>de</strong>r Beutegreifer. Bei Tag kreisen Raubvögel über <strong>de</strong>n Her<strong>de</strong>n, nachts sind sie Ziel <strong>de</strong>r Wölfe, Füchse, Mar<strong>de</strong>r und Wildkatzen. Die Hirten sind dagegen machtlos. Wer mit <strong>de</strong>m Hirtenstock we<strong>de</strong>lnd von einem En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong> zur an<strong>de</strong>ren rennt, kommt meist zu spät, um eigene Tiere zu retten, und wer sich einem angreifen<strong>de</strong>n Adler in <strong>de</strong>n Weg stellt, trägt tiefe Wun<strong>de</strong>n davon. Kein Hirte trotzt einem Wolf. Die Weite <strong>de</strong>r Berge ist die Heimat <strong>de</strong>r Kangals, die Schafher<strong>de</strong>n sind ihre Familie. Ihnen bleiben sie ein Leben lang treu. Ein ganzes Ru<strong>de</strong>l lässt sich von Menschen schon gar nicht verjagen. Wölfe aber fürchten Hun<strong>de</strong>, selbst große Raubvögel vermei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Kampf. Denn wenn ihr Beschützerinstinkt groß genug ist, greifen Hun<strong>de</strong> sogar Adler an. Ihre Wun<strong>de</strong>n lecken sie sich später. HERDENSCHUTZHUNDE wie die Kangals sind keine normalen Hun<strong>de</strong>: Ihr Beschützerinstinkt ist übermächtig, aufpassen ihre größte Lei<strong>de</strong>nschaft. Als Welpe wer<strong>de</strong>n sie, gemeinsam mit <strong>de</strong>r Mutter, in die Her<strong>de</strong>n gesetzt und wachsen in ihr auf – so entsteht die Bindung. Ob sie später glauben, alle Schafe seien Hun<strong>de</strong>, o<strong>de</strong>r sich selbst für Schafe halten, weiß niemand, fest aber steht: Es gibt kaum bessere Hüter. Bis zu vier Hun<strong>de</strong> begleiten die Her<strong>de</strong>. Möglich, dass man keinen von ihnen sieht, ganz sicher aber ist einer von ihnen da, sobald es brenzlig wird. Und ebenso wie die Räuber, vor <strong>de</strong>nen sie die Her<strong>de</strong> beschützen, sind sie vor allem <strong>de</strong>s Nachts aktiv. Die Hündinnen patrouillieren zwischen <strong>de</strong>n Schafen, die Rü<strong>de</strong>n umkreisen die Her<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n muskulösen Hals von einem breiten, mit langen Dornen besetzten Eisenband geschützt. Sie können aggressiv sein, sind aber nie aufbrausend. Denn wer die Kontrolle verliert, fällt auch auf Ablenkungsmanöver herein. Und was taugt schon ein Wächter, <strong>de</strong>r einen Angreifer verfolgt, während <strong>de</strong>r Rest <strong>de</strong>s Ru<strong>de</strong>ls in die Her<strong>de</strong> einfällt? Das scheinen die Kangals nie zu vergessen. <strong>KANGAL</strong>S BEOBACHTEN und bewerten. Erst wenn sie ein ein<strong>de</strong>utiges Zeichen für Gefahr sehen, greifen sie an. Dann aber sind sie unerbittlich. Mustafa Kemal Atatürk, <strong>de</strong>r beinahe kultisch verehrte Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Türkei, soll einst gesehen haben, wie ein grauer Wolf gegen einen Kangal kämpfte. Atatürk wur<strong>de</strong> damals als Rebell gejagt, auf seinen Kopf war eine hohe Belohnung ausgesetzt. Er war moralisch am Bo<strong>de</strong>n, dachte daran, sich zu stellen und seine I<strong>de</strong>ale aufzugeben. Der unbändige Mut <strong>de</strong>s Wolfs aber, <strong>de</strong>r sich einem so mächtigen Gegner stellt, imponierte ihm so, dass er sich selbst <strong>de</strong>n Beinamen „Bozkurt“, grauer Wolf, gab. Im Oktober 1923 wur<strong>de</strong> er <strong>de</strong>r erste Präsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r Republik Türkei. Kangals sind vollkommen selbstständig. Auf die Rufe <strong>de</strong>s Hirten reagieren sie zwar, ob sie auf ihn hören, hängt von ihrer Laune ab. Sie sind intelligent, lernen schnell, befolgen Befehle aber nur, wenn sie ihnen auch sinnvoll erscheinen. Wer über tausend Jahre über die Her<strong>de</strong>n wacht, lernt selbst zu entschei<strong>de</strong>n. Kangals haben Besitzer, einen Herrn aber haben sie nicht – sie brauchen ihn auch nicht. Denn die Nutzgemeinschaft, in <strong>de</strong>r Hun<strong>de</strong> in vielen westlichen