Mai/Juni/Juli - Evangelische Kirchengemeinde Neckargartach
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Leben im <strong>Neckargartach</strong>er Pfarrhaus vor 100 Jahren<br />
Im Jahre 1997 erschien im Johannis-Verlag Lahr eine kleine Broschüre mit den Kindheitserinnerungen der Bad Friedrichshaller<br />
Oberschwester Elisabeth Günzler (*1888-?), die von ihrer wesentlich jüngeren Freundin Elsbeth Walch aufgeschrieben wurden<br />
„Immer fanden sich helfende Hände. Eine fröhliche Pfarrfamilie“ (Reihe: „Weg und Ziel“ Nr. 18184).<br />
Schwester Liesel, wie sie auch genannt wurde, war die Tochter des <strong>Neckargartach</strong>er Pfarrers Alfred Günzler, der zwischen 1900<br />
bis 1919 in unserer Gemeinde tätig war. Im Folgenden sind Auszüge aus der Broschüre wiedergegeben, die das Leben im <strong>Neckargartach</strong>er<br />
Pfarrhaus vor ca. 100 Jahren schildern.<br />
Es war ein bedeutungsvoller Tag für die Familie, als man<br />
in das <strong>Neckargartach</strong>er Pfarrhaus einzog. Für die Kinder<br />
wurde es die eigentliche Kinderheimat. Einschneidend<br />
war für Liesel vor allem der Schulwechsel. Sie ging jetzt<br />
nach Heilbronn zur Schule, mußte zu Fuß einen Weg von<br />
sechs Kilometern zurücklegen; eine Fahrgelegenheit gab<br />
es damals noch nicht. Freudig und erwartungsvoll zog sie<br />
jeden Morgen aus, sie liebte ihre neue Schule, und sie liebte<br />
ihren Schulweg, auch bei Dunkelheit und Kälte und klarem<br />
Sternenhimmel. Sterne am Himmel bedeuteten ihr zu allen<br />
Zeiten besondere Beglückung – bedeutungsvolle Zeichen<br />
einer Wirklichkeit, die fern und weit und unfaßbar war und<br />
doch auch nah und vertraut, wie Grüße einer allumfassenden<br />
Liebe. … Trotz mancher Meinungsverschiedenheit bestand<br />
zwischen Anton (einer mütterlichen Cousine – eigentlich<br />
Antonia, TK) und der Mutter bestes Einvernehmen. Anton<br />
war klug und überaus tüchtig, genau besehen übernahm sie<br />
schon bald das Kommando im Haus. Dieses gab der Mutter<br />
wohl manchmal zu schlucken; doch sie schätzte an ihr die<br />
Hausfraueneigenschaften, die ihr selbst abgingen. Willig<br />
fügte sich Lina, die Magd, Antons Anweisungen, auch bei den<br />
Kindern wußte sie sich Respekt zu verschaffen – überhaupt<br />
das ganze Hauswesen in Ordnung zu halten, mitsamt dem<br />
Vikar und dem Pfarramt dazu, in welches sie gelegentlich<br />
auch ein wenig eingriff, wenn irgendwas nicht stimmte. Es<br />
lag ihr heiß am Herzen, daß man in der Gemeinde zufrieden<br />
war mit dem Pfarrhaus und seinem Drum und Dran. Man<br />
konnte ihr nicht leicht widersprechen, letztlich mußte man<br />
ihr doch immer wieder recht geben. Die Mutter konnte solchen<br />
Beistand dringend gebrauchen, der Haushalt machte<br />
ihr viel Mühe und wuchs ihr leicht über den Kopf. …<br />
Die Weihnachtszeit nahte. Noch vorher war Mutters Geburtstag,<br />
und er sollte festlich begangen werden. Vater holte Liesel<br />
eines Tages in sein Amtszimmer und gab ihr einen geheimen<br />
Auftrag – niemand sonst war eingeweiht. Morgen sollte sie<br />
nach der Schule in Heilbronn zu Konditor Beiderlinden in der<br />
Kaiserstraße gehen. Dort hatte er eine Merinkentorte bestellt,<br />
die sollte Liesel abholen. Für Mutter und Anton mußte sie<br />
oft dies und jenes in der Stadt besorgen, freilich nicht beim<br />
Konditor. Mutter knetete als Festtagsgebäck für ihre Familie<br />
immer mit Hingabe dasselbe: goldgelbe duftende Laibe, die<br />
Ulmerbrot genannt wurden. Man konnte den gleichen Teig<br />
auch zu einfachen Obstkuchen verwenden. Anspruchsvolle<br />
Backkünste lagen der Mutter fern. Und nun gar eine Torte!<br />
Liesel übernahm begeistert den väterlichen Auftrag. Eine<br />
Merinkentorte – oh, da wird‘s dem Mutterle gleich viel<br />
besser gehen, wenn sie solche Herrlichkeit erblickt! Es war<br />
schon dämmrig, als sie in der Konditorei einen Holzkasten<br />
überreicht bekam, zugenagelt, ohne Tragegriffe. Ihr wurde<br />
eingeschärft, sie dürfe die Kiste nicht neigen, kaum bewegen,<br />
müsse sie waagrecht auf den Armen nach Hause tragen. Da<br />
stand sie, klein und schmächtig für ihr Alter, den Schulranzen<br />
auf dem Rücken, hatte einen Weg von sechs Kilometern vor<br />
sich in sinkender Nacht. Aber sie dachte an Vater und Mutter,<br />
Stolz und Glück ließen ihr Herz höher schlagen. Wie ein Wickelkind<br />
nahm sie die Kiste auf ihre ausgestreckten Arme und<br />
machte sich auf den Weg. Doch Stolz und Glück schwanden<br />
bald dahin. Ein kalter, feuchter Wind schlug ihr entgegen,<br />
schon nach wenigen Häusern mußte sie die Kiste auf dem<br />
Sockel eines Schaufensters absetzen und Atem schöpfen.<br />
Sie nahm die Last wieder auf und ging weiter, durchglüht<br />
von dem Wunsch, das Werk zu vollbringen. Aber es wurde<br />
immer schwerer. Sie biß die Zähne zusammen und zählte<br />
ihre Schritte, bis sie wieder absetzen durfte. Als sie die blendende<br />
Stadt mit ihren weihnachtlichen Auslagen hinter sich<br />
hatte, als auch der Weg über die sich dehnende Neckarbrücke<br />
bestanden war, da umfing Liesel tiefe Finsternis. Es gab keine<br />
Straßenbeleuchtung, auch keine Möglichkeit mehr, die Kiste<br />
auf irgendeinem Mauervorsprung abzusetzen. Immer nach<br />
zehn Schritten mußte sie eine Kniebeuge machen, um die<br />
Kiste auf den Boden zu stellen. Der Wind stieß gegen ihren<br />
Atem, auf dem Rücken drückte der Ranzen, ihr wurde heiß<br />
und kalt und sie fühlte ihr Herz hämmern. Panische Angst<br />
erfaßte sie. Wenn sie nun bei der Dunkelheit mit ihrer Torte<br />
in einen Graben fiel? Keine Menschenseele weit und breit,<br />
Dunkel um sie und in ihrem Innern. … Endlich erreichte<br />
sie <strong>Neckargartach</strong>, das Pfarrhaus. Der Vater war entsetzt, als<br />
er ihr die Tür öffnete und die Last abnahm, als Liesel ihm<br />
erschöpft in die Arme sank. Er empörte sich über die Roheit<br />
des Konditors und übersah dabei, wie so manchmal, für den<br />
Augenblick seinen eigenen Anteil an der Verantwortung.<br />
Aber Liesel erholte sich erstaunlich rasch, als die Wärme<br />
und Helligkeit des Elternhauses sie umfing. …<br />
Der <strong>Neckargartach</strong>er Pfarrgarten war ein kleines Paradies.<br />
Viel Arbeit gab es hier bis in den späten Herbst hinein,<br />
dafür versorgte er die vielen hungrigen Mäuler reichlich mit<br />
nahrhaften und köstlichen Erzeugnissen. Man durfte zur Zeit<br />
der Reife von allen Früchten essen, frisch vom Baum, und<br />
alle genossen es nach Herzenslust. Nur die Trauben an der<br />
Scheunenmauer waren ausgenommen, über ihnen wachte<br />
der Vater. Aber die Erntezeit brachte auch viel Mühe; Anton<br />
sorgte dafür, daß alle nach Kräften mithalfen. Die jüngeren<br />
Geschwister zeigten freilich wenig Lust, sich nützlich zu<br />
machen. …<br />
Anton hielt die Vikare zwar auf Abstand, aber sie war ihnen,<br />
wenn es not tat, immer zu Beistand und Trost bereit. Den<br />
Vikar Stahl hat sie allerdings einmal fürchterlich zusammengestaucht.<br />
Das kam so; Wie lästig der Radau der Buben<br />
oft war – als er einmal für längere Zeit verstummte, wurde<br />
Anton unruhig. Da konnte etwas nicht stimmen. Sie suchte<br />
und fand Heinz und Carl schließlich, eingeschlossen im<br />
eiskalten, schmutzstarrenden Scheunenkämmerle, die Tür<br />
von außen verriegelt. Die Beiden waren durchfroren und<br />
sehr erleichtert, als sie befreit wurden. Aber auf die Frage,<br />
wie sie in diese Lage gekommen seien, murmelten sie nur:<br />
»Mir saget‘s net.« Petzen war bei ihnen verpönt. Aber Anton<br />
fand schnell heraus, was geschehen war, dem Vikar stand<br />
das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben. Er hatte<br />
die Schelme wegen irgendeiner Missetat eingesperrt und<br />
dann vollkommen vergessen. Aber wenn es um das Wohl<br />
der Kinder ging, verstand Anton keinen Spaß. Sie besorgte<br />
es dem Vikar gründlich – so etwas würde kein zweitesmal<br />
vorkommen!<br />
Zusammenstellung des Textes: Torsten Krannich