1945 erinnern - Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte ...
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36<br />
über den Ort herein. Wie aus heiterem<br />
Himmel tauchten in Radenthein drei SS-<br />
Männer, geführt von einer Radentheinerin,<br />
auf. Diese junge Frau war ortsk<strong>und</strong>ig,<br />
sie kannte die Leute in Radenthein<br />
<strong>und</strong> wusste, wie es in einem kleinen Ort<br />
üblich ist, auch über deren Einstellung<br />
zum Nationalsozialismus Bescheid. Sie<br />
stammte aus einer Familie, die sich im<br />
März 1938 als „Illegale“ hervortat. Diese<br />
Frau, Rosl hieß sie, ist mit mir in die<br />
gleiche Klasse gegangen.<br />
Rosl führte nun die SS-Männer zu den<br />
Wohnungen derer, die, obwohl der Krieg<br />
bereits aus war, noch diesen Fanatikern<br />
des NS-Regimes zum Opfer fallen sollten.<br />
Drei oder vier Familienväter <strong>und</strong><br />
eine Frau, die sie als Geisel nahmen,<br />
weil ihr Ehemann nicht zu Hause war,<br />
Mutter von zwei Kindern, wurden überfallen,<br />
auf ein Auto geladen <strong>und</strong> in einem<br />
Wald in der Nähe unseres Ortes erschossen.<br />
Die Nachricht von dieser furchtbaren<br />
Bluttat verbreitete sich in Windeseile,<br />
<strong>und</strong> als wir davon erfuhren, bangten wir<br />
um das Leben unserer Tante Marie,<br />
deren Mann vor eineinhalb Jahren verhaftet<br />
<strong>und</strong> nach Dachau ins Konzentrationslager<br />
gebracht worden war; Rosl<br />
kannte ihn gut. Sein Vergehen: Er war<br />
als Sozialdemokrat im Ort bekannt, <strong>und</strong><br />
er hatte den „Feindsender“ „Radio Beromünster“<br />
gehört.<br />
<strong>1945</strong> <strong>erinnern</strong><br />
Große Trauer lag über der ganzen Gegend.<br />
Als die Opfer begraben wurden,<br />
umstellten die Engländer den Friedhof,<br />
weil be<strong>für</strong>chtet wurde, dass diese Mörder<br />
noch einmal zurückkommen <strong>und</strong> weitere<br />
Bluttaten verüben könnten. Zum Glück<br />
war das nicht der Fall. Sie verschwanden<br />
so blitzschnell wie sie gekommen waren.<br />
Es vergingen viele Jahre, bis die Fahndungen<br />
Erfolg hatten. Eines Tages, es<br />
muss in den sechziger Jahren gewesen<br />
sein, las ich in der Zeitung von der Verhaftung<br />
dieser Männer in München. Die<br />
Hinterbliebenen der Ermordeten hatten<br />
Erfolg mit ihren Ermittlungen gehabt. Sie<br />
wurden in München vor Gericht gestellt<br />
<strong>und</strong> abgeurteilt. Von der Rosl, so haben<br />
mir meine Schulfre<strong>und</strong>innen bei einem<br />
Klassentreffen erzählt, hörte <strong>und</strong> sah<br />
man in Radenthein nichts mehr. Angeblich<br />
lebt sie irgendwo unter einem anderen<br />
Namen. Tante Maries Mann hatte<br />
Dachau überlebt. Er kam nach einiger<br />
Zeit kränklich aber doch nach Hause.<br />
Den zweiten Schock bekamen wir am<br />
nächsten Tag, als wir erfuhren, dass<br />
ungefähr h<strong>und</strong>ert Meter hinter dem Haus<br />
von Tante Marie ein weiteres Opfer<br />
erschossen in einer Grube gef<strong>und</strong>en<br />
wurde. Glücklicherweise besetzten die<br />
Engländer an diesem Tag den Ort.