MerlinundMarlene_SZ - uwe schinkel fotografie
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Er gehört zu<br />
mir Merlin und<br />
Marlene: die<br />
Geschichte einer<br />
Freundschaft,<br />
die ganz besonders<br />
ist – und<br />
trotzdem völlig<br />
normal<br />
V O N F R E D E R I K J Ö T T E N<br />
F O T O S : U W E S C H I N K E L<br />
2009 Merlins T-Shirt mit dem<br />
Aufdruck »Pump up the Volume«<br />
hat Marlene für ihn ausgesucht.<br />
Feiern geht sie meist ohne ihn –<br />
Merlin mag Partys nicht so gern.<br />
60 Süddeutsche Zeitung Magazin
Süddeutsche Zeitung Magazin 61
1988 1991<br />
1994 1995<br />
2001 2004<br />
62 Süddeutsche Zeitung Magazin
1993<br />
1997<br />
2006<br />
1988 Marlene (links) ist<br />
sieben Wochen älter als<br />
Merlin, die beiden kennen<br />
sich von Geburt an.<br />
1991 Ihre Eltern sind<br />
Stammgäste im Szenecafé<br />
»Ada«, Merlin und<br />
Marlene schauen aus<br />
dem Fenster, wenn die<br />
Erwachsenen plaudern.<br />
1993 Weil Der kleine<br />
Vampir auch in ihrer<br />
Straße gedreht wurde,<br />
kommt für beide lange<br />
Zeit nur ein Karnevalskostüm<br />
infrage.<br />
1994 Merlins erster<br />
Schultag. Den Stoffigel<br />
schenkte ihm seine<br />
Großmutter, er begleitet<br />
Merlin bis heute.<br />
1995 Huckepack im<br />
Wuppertaler Kaisergarten.<br />
Nicht im Bild:<br />
der Fußball.<br />
1997 Merlin, am Wuppertaler<br />
Bahnhof, fährt<br />
zu seinem leiblichen Vater<br />
und trägt, zur großen<br />
Freude seines Stiefvaters,<br />
das Bayern-Trikot.<br />
2001 Marlene und<br />
Merlin feiern den zehnten<br />
Geburtstag ihrer<br />
gemeinsamen Kindertagesstätte.<br />
2004 Marlene wird 18.<br />
Merlin erscheint in den<br />
Farben des künftigen<br />
Fußballweltmeisters:<br />
Italien.<br />
2006 Für Weihnachtsgeschenke<br />
bitten die<br />
beiden Merlins Stiefvater,<br />
Fotos aus dem<br />
Alltag für einen Kalender<br />
zu schießen. Hier<br />
das November-Bild.<br />
A<br />
An der Wand von Merlins Küche hängt eine<br />
Stahltafel, eine Spalte für jeden Wochentag,<br />
in jeder ein Magnetclip mit der Abbildung<br />
einer Shampoo-Flasche, die steht für<br />
Duschen. Merlin hat das Downsyndrom,<br />
er braucht diese Erinnerungsstütze, weil er<br />
Termine manchmal vergisst. Es gibt auch<br />
Clips für Tanzen, Schwimmen, Putzen, die<br />
Eltern. Ein Clip für Marlene klebt auf Montag,<br />
heute, sie treffen sich.<br />
Merlin, 24, Nerdbrille, Ziegenbart, hat eine<br />
eigene Wohnung in Wuppertal, lernt Beikoch<br />
in einem Altenheim. Er wird länger brauchen<br />
als andere Auszubildende, viereinhalb statt<br />
drei Jahre, Rechnen und Lesen sind nicht seine<br />
Stärken. Aber er ist auf einem guten Weg.<br />
Schafft er den Abschluss, kann er in einem<br />
regulären Job seinen Lebensunterhalt verdienen.<br />
In seinem Wohnzimmer hängt ein Bild,<br />
das etwas aussagt darüber, warum er das geschafft<br />
hat, trotz seines Handicaps: eine gerahmte<br />
Collage aus Fotos, auf denen er zu<br />
sehen ist – und immer wieder Marlene. Marlene,<br />
24, braune Augen, blond gefärbte Haare,<br />
nicht behindert, ist seine beste Freundin.<br />
Seit Merlin zwei Jahre alt war, lebt seine<br />
Mutter mit einem Fotografen zusammen. Er<br />
hat Merlin und Marlene oft <strong>fotografie</strong>rt. Die<br />
Bilder zeigen zwei Kleinkinder nebeneinander<br />
in Kinderwagen, fünfjährige Kinder,<br />
als Vampire geschminkt, Jugendliche, die<br />
ihre Finger zum Peace-Zeichen spreizen.<br />
Oft berühren sich die Köpfe von Merlin und<br />
Marlene, ob sie große Rockstar-Sonnenbrillen<br />
tragen oder Schlapphüte oder dreinschaun<br />
wie ein Gangsterpaar. »Da haben wir<br />
Faxen gemacht«, sagt Merlin. Seine Aussprache<br />
ist verwaschen, manchmal bleibt er hängen<br />
mitten im Satz, als würde er das Wort<br />
kennen, es wollte aber nicht heraus.<br />
Es klingelt, Merlin öffnet, jauchzt: »Marlene!«<br />
Er breitet die Arme aus, sie drücken<br />
sich wie zwei, die sich lange nicht gesehen<br />
haben, dabei haben sie gestern einen Ausflug<br />
zusammen gemacht. Dann sitzen sie auf der<br />
Couch, schauen Fotoalben an. Sie kennen<br />
sich, fast seit sie geboren wurden, ihre Mütter<br />
sind eng befreundet. Auch als sie älter wurden,<br />
sich selbst aussuchen konnten, mit wem<br />
sie ihre Freizeit verbringen wollten, blieben<br />
sie Freunde. Einmal nur, da waren sie noch<br />
klein, stritten sie erbittert, wer älter sei. Bis<br />
Merlins Mutter schlichtete und sagte, dass<br />
Marlene sieben Wochen älter ist.<br />
Merlin startet ein Video auf seinem Flachbildfernseher.<br />
Es zeigt Merlin und Marlene<br />
mit neun: Sie spielen Wetten, dass ..? nach,<br />
Süddeutsche Zeitung Magazin 63
2008 Die Kalender-Idee<br />
wird in den folgenden<br />
Jahren fortgesetzt – das<br />
Bild für Januar 2009<br />
wurde im Foyer der<br />
Wuppertaler Sparkasse<br />
aufgenommen.<br />
2009 Gruppenbild mit<br />
Pinguin: Merlin und<br />
Marlene besuchen die<br />
neu eröffnete Pinguinanlage<br />
im Wuppertaler<br />
Zoo.<br />
2010 Dieses Bild ist die<br />
Fortsetzung des Fotos<br />
aus dem Jahr 1995:<br />
wieder Kaisergarten,<br />
wieder Herbst. Diesmal<br />
ohne Fußball.<br />
Marlene ist Thomas Gottschalk, Merlin Jon<br />
Bon Jovi. Statt Gitarre hält er einen Federballschläger<br />
in der Hand. Marlene fragt: »Jon,<br />
wann hast du angefangen, Gitarre zu spielen?«<br />
Merlin, ein kleiner Junge mit einer Brille, die<br />
bis zur Nasenspitze nach vorn gerutscht ist,<br />
antwortet in überdrehtem Fantasie-Englisch.<br />
Marlene übersetzt: »Sein Vater hat ihn früh<br />
gezwungen, Gitarre zu spielen …«<br />
Im letzten Jahr kam der hochgelobte spanische<br />
Film Yo, también (Wer will schon normal<br />
sein?) in die Kinos. Ein Mann mit Downsyndrom<br />
verliebt sich in eine nicht behinderte<br />
Frau, einmal schlafen sie miteinander, aber<br />
eine Beziehung bleibt unmöglich. Fragt man<br />
Merlin, was er an Marlene mag, sagt er: »Sehr<br />
hübsches Mädchen – und sie macht Witze<br />
und lacht mit mir!« Aber verliebt, nein, er<br />
schüttelt energisch den Kopf, verliebt sei er<br />
nie in sie gewesen, Marlene hat einen Freund.<br />
»Sie ist meine beste Freundin, das reicht.«<br />
Merlin trägt Skater-Look, Sportschuhe,<br />
Dreiviertelhose, T-Shirt. Marlene hat die Klamotten<br />
mit ihm in Köln gekauft. »Ich suche<br />
Sachen aus, werfe sie ihm in die Kabine«, sagt<br />
sie. Sie gehen auch ins Kino. Merlin lacht laut,<br />
wenn es lustig ist, bei traurigen Stellen weint<br />
er schon mal. »Er ist mein emotionaler<br />
Freund«, sagt Marlene. Das heißt nicht, dass<br />
sie ihm ihre Probleme erzählt. »Wir reden<br />
eher über Castingshows«, sagt sie.<br />
Für Montagabend steht auf Merlins<br />
Stundenplan: Zwei Häuser weiter, in einem<br />
kurdischen Restaurant, gefülltes Fladenbrot<br />
holen. Er schlurft durch die Gaststätte, grüßt<br />
die Bedienung, umarmt den Chef. Die Leute<br />
hier im Viertel kennen ihn fast alle – und<br />
sie mögen ihn wegen seiner offenen Art. Er<br />
ging zur Grundschule, dann zur Hauptschule,<br />
zu Ferienfreizeiten, in Sportvereine.<br />
»Ich an seiner Stelle hätte längst aufgegeben«,<br />
sagt Marlene. »Ich bewundere ihn für<br />
die Hartnäckigkeit, mit der er unbedingt seinen<br />
Abschluss als Koch machen will.« Vor<br />
Kurzem waren Merlin und Marlene auf einer<br />
Geburtstagsfeier. »Nach einer Stunde hat<br />
Merlin gesagt: ›Langsam könnten wir mal<br />
fahren‹«, erzählt Marlene. »Er hat eine wunderbar<br />
direkte Art, zu sagen und zu tun, was<br />
er will. Mir ist das verloren gegangen beim<br />
Erwachsenwerden.« <br />
U W E S C H I N K E L , 44, ist Fotojournalist<br />
und Merlins Stiefvater – er hat<br />
dessen Freundschaft mit Marlene mit<br />
Hunderten Fotos begleitet. Auf Merlin<br />
hält er große Stücke, nur in Fußballfragen nicht:<br />
Bei größeren Turnieren ist Merlin grundsätzlich<br />
für Italien – auch wenn er deshalb in der Kneipe<br />
allein am Tisch sitzen muss.<br />
64 Süddeutsche Zeitung Magazin