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Hölle von Torgau - Heidemarie Puls

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20 Christ & Leben<br />

ideaSpektrum 19/2010<br />

Die<br />

<strong>Hölle</strong><br />

<strong>von</strong><br />

<strong>Torgau</strong><br />

Die 57 DDR-Jugendwerkhöfe: Wo es den schlimmsten Kindesmissbrauch in Deutschland gab<br />

Wenn in den vergangenen Monaten <strong>von</strong> Missbrauch die Rede war, dann ging es vor allem um kirchliche und reformpädagogische<br />

Einrichtungen im Westen. Dabei fand die wohl schlimmste Form des Missbrauchs im anderen<br />

Teil Deutschlands statt – in der DDR. In sogenannten Jugendwerkhöfen sollten Jungen und Mädchen, die nicht<br />

dem Ideal des sozialistischen Bürgers entsprachen, umerzogen werden. Bei wem das nicht gelang, der kam<br />

nach <strong>Torgau</strong> – dem einzigen „Geschlossenen Jugendwerkhof“ der DDR. Hinter vier Meter hohen Mauern und<br />

Stacheldraht bestimmten Demütigung und militärischer Drill den Tagesablauf – getreu dem Motto: Wer nicht<br />

hören will, muss fühlen. Ein Beitrag <strong>von</strong> Matthias Pankau und Thomas Kretschel (Fotos)<br />

Für <strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong> (Foto oben)<br />

hat die <strong>Hölle</strong> einen Namen: <strong>Torgau</strong>.<br />

Sobald sie das Ortseingangsschild<br />

der Kleinstadt in Sachsen passiert,<br />

bekommt sie Panikattacken und<br />

Schweißausbrüche. „Dann kommen<br />

die Schmerzen zurück“, sagt sie und<br />

ihre Stimme zittert. Dabei liegt das,<br />

was die heute 52-Jährige hier erlebt<br />

hat, inzwischen 35 Jahre zurück. Zu<br />

wenig, um die ihr zugefügten Wunden<br />

zu heilen. In <strong>Torgau</strong>, wo sich<br />

1945 sowjetische und amerikanische<br />

Soldaten an der Elbe die Hände<br />

reichten, befand sich zwischen 1964<br />

und 1989 der einzige sogenannte<br />

„Geschlossene Jugendwerkhof“ der<br />

DDR – ein Erziehungslager für Jugendliche,<br />

die nicht in die propagierte<br />

heile Welt des Sozialismus passten.<br />

<strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong> ist eine <strong>von</strong><br />

mehr als 4.000 Jugendlichen, die dort<br />

gedemütigt und gequält wurden:<br />

„Was wir durchmachen mussten,<br />

kann sich niemand vorstellen.“<br />

Strandgut der Gesellschaft<br />

In der DDR gab es 57 Jugendwerkhöfe.<br />

Damit wollte DDR-Bildungsministerin<br />

Margot Honecker –<br />

Gattin <strong>von</strong> Staatschef Erich<br />

Honecker – Problemkinder zu systemtreuen<br />

Bürgern umerziehen.<br />

Dazu arbeiteten die Heimleiter mit<br />

militärischen Maßnahmen. Wer in<br />

den regulären Jugendwerkhöfen dennoch<br />

durch allzu große Aufmüpfigkeit<br />

auffiel, landete in <strong>Torgau</strong>. Das<br />

war die Endstation. Wer hierher kam,<br />

galt in den Augen der DDR-Führung<br />

als schwersterziehbar – im offiziellen<br />

Sprachgebrauch „asozial“. Der Wille<br />

dieser „widerspenstigen Subjekte“,<br />

die gern auch als „Strandgut der Gesellschaft“<br />

bezeichnet wurden, sollte<br />

hier gebrochen werden.<br />

3 Tage in der Zuführungszelle<br />

Und das wurde er auch. „In der<br />

Regel benötigen wir drei Tage,<br />

um die Jugendlichen auf unsere<br />

Forderungen einzustimmen“,<br />

schrieb der langjährige Direktor<br />

des geschlossenen Jugendwerkhofes<br />

<strong>Torgau</strong>, Horst Kretschmar,<br />

einst. Drei Tage – das war die<br />

Zeit, die Neuankömmlinge in der<br />

etwa acht Quadratmeter großen,<br />

völlig verdunkelten „Zuführungszelle“<br />

zubringen mussten, nachdem<br />

ihnen die Haare geschoren<br />

und sie in Anstaltskleidung gesteckt<br />

worden waren. „Als sich<br />

die Gittertür hinter mir schloss,<br />

war ich meiner Persönlichkeit beraubt“,<br />

erinnert sich die damals<br />

16-jährige <strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong>. Sie<br />

ahnt zu dieser Zeit noch nicht,<br />

was sie hinter diesen Mauern<br />

noch alles wird erleiden müssen.<br />

Die Gebäude des ehemaligen Jugendwerkhofes in <strong>Torgau</strong> an der Elbe


ideaSpektrum 19/2010<br />

Christ & Leben 21<br />

Folge: schlechte Schulnoten<br />

Bereits mit elf Jahren kommt <strong>Heidemarie</strong><br />

ins Heim. Sie passt nicht in<br />

das Gesellschaftsbild der DDR – sie<br />

hat schlechte Noten, schwänzt die<br />

Schule und neigt zu Wutausbrüchen.<br />

Was niemand weiß: Das alles ist eine<br />

Folge der Vergewaltigungen durch<br />

ihren Stiefvater über Monate hinweg.<br />

Als sie sich der eigenen Mutter anvertraut,<br />

sagt die nur: „Erzähl das<br />

keinem. Dann komme ich ins Gefängnis<br />

und du ins Heim.“ Doch irgendwann<br />

erträgt das junge Mädchen<br />

es einfach nicht mehr, dass sich<br />

der nach Zigaretten und Alkohol stinkende<br />

Stiefvater fast jede Nacht zu<br />

ihr ins Bett schleicht und sie missbraucht.<br />

Zunächst reißt es aus. Doch<br />

es wird gefasst, kommt wieder zur<br />

Mutter. Schließlich versucht <strong>Heidemarie</strong><br />

sich das Leben zu nehmen –<br />

mit Tabletten aus dem Arzneischrank<br />

der Mutter. Daraufhin entzieht das<br />

Jugendamt der Mutter das Sorgerecht<br />

und steckt <strong>Heidemarie</strong> in ein Kinderheim.<br />

Da sie mehrfach „entweicht“ –<br />

wie die Flucht aus einem Heim im<br />

DDR-Jargon bezeichnet wird –,<br />

kommt sie in den größten Jugendwerkhof<br />

der DDR nach Burg (bei<br />

Magdeburg). Auch hier haut <strong>Heidemarie</strong><br />

ab, weil sie die Brutalität hinter<br />

den Heimmauern nicht erträgt.<br />

Sie wird erneut gefasst. Diesmal<br />

kommt sie nach <strong>Torgau</strong>.<br />

Vom Wächter geprügelt<br />

An ihren ersten Tag erinnert sich<br />

<strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong> noch genau. „Wir<br />

wurden behandelt wie Schwerverbrecher.<br />

Erst nachdem wir durch die<br />

zweite Sicherheitsschleuse gefahren<br />

waren, durften wir aussteigen“, erzählt<br />

sie. Im Flur im Erdgeschoss des<br />

Haupttraktes lässt man sie über eine<br />

Stunde stehen. Weil sie dringend auf<br />

Toilette muss, klopft sie an der Tür<br />

des Büros, öffnet und fragt, ob sie die<br />

Toilette benutzen dürfe. „In dem Moment<br />

kam der Wächter mit einem<br />

Schlagstock raus und prügelte wie<br />

wild auf mich ein“, erzählt sie.<br />

„Wenn jemand Fragen stelle, sei er<br />

das.“ Ein Vorgeschmack auf das, was<br />

noch kommen sollte.<br />

Nach den drei Tagen Einzelhaft<br />

hatte sich <strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong> wie alle<br />

anderen auch ins Kollektiv einzuordnen.<br />

Insgesamt 60 Jugendliche waren<br />

im Geschlossenen Jugendwerkhof<br />

<strong>Torgau</strong> untergebracht – zwei Jungenund<br />

eine Mädchengruppe. Alle haben<br />

sich einem militärischen Befehlston,<br />

eiserner Disziplin und strengen<br />

Regeln unterzuordnen. Jede Minute<br />

des Tages ist verplant. Aufstehen um<br />

5:30 Uhr, dann Frühsport, waschen<br />

und Bettenbau. Frühstück um 7:15<br />

Uhr, danach ging‘s zur Arbeit. Und<br />

das alles im Laufschritt. Privatsphäre?<br />

Fehlanzeige. Der Gruppenzwang<br />

ging so weit, dass sogar alle gemeinsam<br />

auf Toilette gehen mussten. Und<br />

auch das nur zu festgelegten Zeiten.<br />

Furchtbarer Drill<br />

Im Umgang mit den Jugendlichen<br />

erinnerte zu DDR-Zeiten vieles an<br />

die Vergangenheit der <strong>Torgau</strong>er Anstalt<br />

als ehemaliges Wehrmachts-<br />

Sondergefängnis. Dabei wollte die<br />

DDR sich doch so gern <strong>von</strong> der Diktatur<br />

des Nationalsozialismus abheben<br />

und das moralisch überlegene<br />

System sein. „Schafften drei Mädchen<br />

aus unserer Gruppe das vorgegebene<br />

Arbeitspensum nicht, gab es<br />

für die gesamte Gruppe kein Abendessen“,<br />

erinnert sich <strong>Heidemarie</strong><br />

<strong>Puls</strong>. Konnte umgekehrt jemand sein<br />

Mittag- oder Abendessen nicht schaffen<br />

– etwa aus Krankheitsgründen –<br />

gab es zusätzlich eine Extraportion,<br />

die gegessen werden musste. Sonst<br />

drohte Einzelhaft. Machte beim<br />

Sport, bei dem die Jungs und Mädchen<br />

häufig bis zum körperlichen<br />

Zusammenbruch getrieben wurden,<br />

jemand schlapp, gab‘s Strafrunden<br />

für die gesamte Gruppe. 100 Liegestütze<br />

waren normal – auch für Mädchen.<br />

Ebenfalls gefürchtet der sogenannte<br />

„<strong>Torgau</strong>er Dreier“ – eine<br />

Kombination aus Liegestütze, Hocke<br />

und Hochstrecksprung. Als einmal<br />

ein Mädchen im Hof vor Erschöpfung<br />

zusammenbricht und der Aufseher<br />

es mit Schlägen und Tritten zum<br />

Weitermachen bewegen will, brennen<br />

bei <strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong> die Sicherungen<br />

durch, wie sie sagt. „Ich habe<br />

mich auf ihn gestürzt.“ Daraufhin<br />

wird sie vom Aufseher regelrecht zusammengeknüppelt.<br />

Vom Direktor vergewaltigt<br />

Offiziell gibt es keine Gewalt hinter<br />

<strong>Torgau</strong>er Mauern. Dabei prügeln<br />

die Aufseher nicht nur selbst, sondern<br />

lassen es bewusst zu, wenn die<br />

Gruppen abends Rache nehmen an<br />

den Schwachen und Langsamen, deretwegen<br />

sie Extra-Runden drehen<br />

mussten oder nichts zu essen bekamen.<br />

Für die Mädchen kam die Gefahr<br />

der Vergewaltigung hinzu. <strong>Heidemarie</strong><br />

<strong>Puls</strong> wurde innerhalb <strong>von</strong><br />

fünf Monaten zehn bis zwölfmal vergewaltigt.<br />

Nicht <strong>von</strong> Mithäftlingen,<br />

sondern <strong>von</strong> Horst Kretschmar – jenem<br />

Anstaltsdirektor, der so stolz<br />

verkündete, man brauche im Geschlossenen<br />

Jugendwerkhof <strong>Torgau</strong><br />

durchschnittlich drei Tage, „um die<br />

Jugendlichen auf unsere Forderungen<br />

einzustellen“.<br />

Am härtesten: „Fuchsbau“<br />

Doch das war noch nicht das<br />

Schlimmste, was Jugendliche in <strong>Torgau</strong><br />

erlebten. „Am schlimmsten war<br />

der Fuchsbau“, sagt <strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong><br />

mit bebender Stimme und starrem<br />

Blick. Zögerlich steigt sie die Stufen<br />

in den Keller hinab. Ihre Hände zittern.<br />

Ihr Atem stockt. Vor reichlich<br />

35 Jahren, nachdem ein Erzieher sie<br />

bewusstlos geschlagen hatte, weil sie<br />

sich mit einem Schraubenzieher hatte<br />

umbringen wollen, wurde sie hier<br />

hinuntergeschleift und durch eine<br />

kleine Öffnung in der Wand in den<br />

sogenannten Fuchsbau gestoßen. Er<br />

war die härteste Strafe. Ein dunkles<br />

Loch – 1,30 Meter mal 1,30 Meter.<br />

Kein Fenster, kein Hocker, kein Eimer.<br />

<strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong> weiß nicht<br />

mehr, wie lange sie hier drin zugebracht<br />

hat. „Zwei Tage, drei Tage –<br />

wie lange kann ein Mensch ohne<br />

Nahrung und Flüssigkeit überleben?“<br />

„Ich wollte sterben“<br />

Was die damals 16-Jährige noch<br />

genau weiß: „Mir tat alles so weh,<br />

dass ich nur noch einen Wunsch hatte:<br />

Ich wollte sterben.“ Doch sie<br />

stirbt nicht. Sie erwacht – auf der In-<br />

Grupppenbereich<br />

der 1. Etage um<br />

1978. Hier mussten<br />

die Jugendlichen<br />

antreten,<br />

die kommunistischen<br />

Radionachrichten<br />

anhören<br />

und den Inhalt<br />

anschließend<br />

wiedergeben.


22 Christ & Leben<br />

ideaSpektrum 19/2010<br />

Der Mädchenhof<br />

in <strong>Torgau</strong> um<br />

1978.<br />

<strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong><br />

Schattenkinder<br />

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<strong>Heidemarie</strong><br />

<strong>Puls</strong>, Schattenkinder<br />

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<strong>Torgau</strong>er Mauern,<br />

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Pfarrer: Haben weggeschaut<br />

Die Eltern der Kinder hatten in<br />

solchen Fällen im Übrigen kein Mitspracherecht.<br />

Ihnen wurde das Sorgerecht<br />

kurzerhand entzogen. Die<br />

Einwohner <strong>Torgau</strong>s, die Kirchgemeinde<br />

und die oppositionellen<br />

Gruppen kannten zwar den Gebäudekomplex<br />

mit seinen vier Meter hohen<br />

Mauern, protestierten aber nicht.<br />

„Unser Wegschauen bedrückt mich<br />

heute noch“, sagt Christian Sachse.<br />

Er war bis 1990 Pfarrer in <strong>Torgau</strong>.<br />

Wie bei wohl allen Insassen hat<br />

die Zeit in der <strong>Hölle</strong> <strong>von</strong> <strong>Torgau</strong> auch<br />

bei <strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong> tiefe Spuren<br />

hinterlassen. Geblieben sind nicht<br />

nur die seelischen Narben. „Ich war<br />

danach nicht mehr der Mensch, als<br />

den mich Gott geschaffen hat“, sagt<br />

die bekennende Christin. Seitdem sie<br />

<strong>von</strong> einem Aufseher so zusammengeschlagen<br />

wurde, dass ein Rückenwirbel<br />

angebrochen war und danach<br />

schief wieder zusammenwuchs, leidet<br />

sie unter starken Rückenschmerzen.<br />

Der Nahrungsentzug hat zu einer<br />

Kombination <strong>von</strong> Bulimie und<br />

Fresssucht geführt. Und aufgrund der<br />

Vergewaltigungen leidet die heute<br />

52-Jährige unter einem Waschzwang.<br />

Keiner wurde zur<br />

Verantwortung gezogen<br />

<strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong> ist 17, als sie<br />

freikommt. Bei ihrer Entlassung<br />

muss sie ein Papier unterschreiben,<br />

dass sie nichts über die Zustände<br />

in den Jugendwerkhöfen<br />

erzählt. Erst 2004 werden<br />

die Erziehungsmaßnahmen<br />

in <strong>Torgau</strong><br />

für rechtswidrig erklärt<br />

und die Opfer rehabilitiert.<br />

Drei Jahre<br />

und viele ärztliche Gutachten<br />

später wird <strong>Heidemarie</strong><br />

<strong>Puls</strong> schließlich<br />

eine Opferrente bewilligt.<br />

Die Täter <strong>von</strong> damals wurden<br />

nicht belangt. Nachdem<br />

der Geschlossene<br />

Jugendwerkhof <strong>Torgau</strong><br />

am 7. November 1989<br />

auf Anweisung<br />

des Ministeriums<br />

für<br />

Volksbildung<br />

geschlossen<br />

wurde, beeilte<br />

man sich, Beweise<br />

zu vernichten.<br />

Gitter und<br />

Zellentüren wurden in Nacht- und<br />

Nebenaktionen entfernt, Akten vernichtet.<br />

1990 wurden die „Erzieher<br />

<strong>von</strong> <strong>Torgau</strong>“ lediglich aus dem öffentlichen<br />

Dienst entlassen, einige<br />

zu einer Geldstrafe verurteilt. Horst<br />

Kretschmar, der Direktor und<br />

Obererzieher des Geschlossenen<br />

Jugendwerkhofes, wurde nicht<br />

mehr zur Verantwortung gezogen.<br />

Er starb wenige Tage nach dem<br />

Fall der Berliner Mauer – „unter<br />

elendigen gesundheitlichen Umständen“,<br />

wie ehemalige Mitgefangene<br />

<strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong> später berichteten.<br />

Genugtuung bedeutet das für sie<br />

nicht. Denn sie sinnt nicht auf Rache.<br />

Aber eine Botschaft hat sie<br />

doch – besonders an alle noch lebenden<br />

Erzieher: „Unsere Kindheit<br />

und Jugend habt ihr uns genommen.<br />

Aber den Rest unseres Lebens<br />

bekommt ihr nicht!“ Entschuldigt<br />

hat sich bisher übrigens nicht einer<br />

<strong>von</strong> ihnen. l<br />

tensivstation. Einerseits ist es für sie<br />

wie eine zweite Geburt. Andererseits<br />

ist spätestens jetzt ihre Persönlichkeit<br />

gebrochen. „Ich funktionierte fortan<br />

wie ein Roboter, wollte auf keinen<br />

Fall mehr anecken, um das, was ich<br />

da unten erlebt hatte, nie wieder<br />

durchmachen zu müssen“, sagt sie<br />

rückblickend.<br />

Wussten die Anwohner in <strong>Torgau</strong><br />

nicht, was sich hinter den Mauern<br />

des Geschlossenen Jugendwerkshofes<br />

abspielte? Angeblich nicht. Offiziell<br />

waren hier Kriminelle untergebracht.<br />

Doch wirkliche Verbrechen<br />

hat sich keiner der Inhaftierten zuschulden<br />

kommen lassen. Ein Ge-<br />

richtsurteil war auch nicht dig. Es genügte, wenn etwa ein<br />

notwenfällig<br />

beim Direktor meldete. Eine<br />

Liste mit den Gründen für eine Einweisung<br />

in einen DDR-Jugendwerkhof<br />

(siehe Kasten) findet sich in dem<br />

2006 eingerichteten Dokumentationszentrum<br />

in <strong>Torgau</strong>: Sie reicht <strong>von</strong><br />

A wie „abartiges Verhalten“ bis Z<br />

wie „Zwinkertick“. Damit konnte<br />

faktisch jeder missliebige Jugendliche<br />

in einen Jugendwerkhof einge-<br />

wiesen<br />

Lehrer ein Kind als verhaltensauf-<br />

werden.<br />

Zurow Demmin<br />

Dorf Mecklenburg Rühn<br />

Tarnow<br />

Neu- Olgashof<br />

Stieten<br />

Vollrathsruhe<br />

Gerswalde<br />

Schöneberg<br />

Hennickendorf Waldsieversdorf<br />

Lehnin<br />

Ludwigsfelde<br />

Burg 2x<br />

Groß-Leuthen<br />

Pretschen<br />

Wolfersdorf<br />

Calbe<br />

Lutherstadt<br />

Wittenberg<br />

Bernburg<br />

Aschersleben<br />

Finsterwalde<br />

Freienhufen<br />

<strong>Torgau</strong><br />

Eilenburg<br />

Drehna<br />

Leipzig<br />

Moritzburg<br />

Kottmarsdorf<br />

Weinbergen<br />

Sömmerda<br />

Eckartsberga<br />

Coswig<br />

Gebesee<br />

Mittweida<br />

Freital<br />

Bad Köstritz<br />

Rödern,<br />

Erfurt<br />

Bräunsdorf Sachsenburg<br />

Ebersbach<br />

Friedrichswerth<br />

Brand-Erbisdorf<br />

Wolfersdorf<br />

Klaffenbach<br />

Ichtershausen<br />

Crimmitschau<br />

Neukirchen<br />

Hummelsheim<br />

Scharfenstein<br />

Leubnitz<br />

Johanngeorgenstadt<br />

Was es in der DDR für Problemkinder gab:<br />

474 staatliche Kinderheime, 38 Spezialkinderheime, 57 Jugendwerkhöfe<br />

und den Geschlossenen Jugendwerkhof <strong>Torgau</strong>. Hier<br />

sollten Jugendliche mit Disziplin und Arbeit zu sozialistischen<br />

Bürgern „umerzogen“ werden. Betroffen waren nicht nur Jugendliche,<br />

die beispielsweise gestohlen hatten. Es genügten oft<br />

kleinere Vergehen, wie etwa die Schule zu schwänzen.<br />

Warum man in einen Jugendwerkhof in der DDR kam:<br />

Ängstlichkeit, Bettnässen, Daumenlutschen, Dulderrolle,<br />

Einnässen am Tage, Essstörungen, Gefügigkeit, Hemmungen,<br />

Körperschaukeln, Lügen, Misserfolgsbefürchtungen,<br />

Nägelknabbern, Schadenfreude, Schulschwänzen, Schweigsamkeit,<br />

unerhörte Maßlosigkeit, Weglaufen, Wehleidigkeit,<br />

Stottern, Zerstören

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